Читать книгу Sophienlust Box 16 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Denise von Schoenecker hörte aufmerksam zu, als Flugkapitän Alexander Rethy erzählte. Es war eine höchst seltsame Geschichte, die sie zu hören bekam.

»Alexa stand vor mir in einer Art, dass ich nicht an ihr vorbeigehen konnte, gnädige Frau. Wir kamen gerade aus Kairo zurück, und ich war herzlich müde. Aber da stand dieses kleine blonde Mädchen und schien etwas von mir zu wollen. Ich fragte sie, woher sie komme und ob sie zu mir wolle.

›Ja, zu dir‹, antwortete sie. Sie war sehr scheu. Doch es gehört allerlei Mut dazu, auf dem Flughafen auf einen fremden Mann zuzugehen, wenn man erst fünf Jahre alt ist. Dann erklärte sie mir, dass ihre Mutter ihr aufgetragen habe, zu mir zu gehen. Doch das hielt ich für eine Verwechslung.«

Der Flugkapitän schwieg einen Moment. Dann fügte er hinzu: »Ich hole so weit aus, damit es Ihnen möglich ist, das nachzuempfinden, was sich danach ereignete, verehrte Frau von Schoenecker.«

Er warf einen Blick auf das Ölgemälde, das Sophie von Wellentin darstellte, nach der das Gut Sophienlust wohl seinen Namen trug, dieses Gut mit dem wundervollen alten Herrenhaus, das in ein Kinderheim umgewandelt worden war. Dr. Josefa Klinger hatte ihm geraten, Alexa hier unterzubringen. Es gefiel Alexander Rethy, dass es sich bei der Besitzerin des Kinderheims nicht um eine grämliche alte Dame, sondern um eine bildschöne, lebensprühende, glücklich verheiratete Frau und Mutter handelte, bei der sein Töchterchen Alexa gut aufgehoben sein würde.

Alexander Rethy räusperte sich und fuhr fort: »Als ich die kleine Dame fragte, wie sie heiße, sagte sie, sie hieße Alexa von Stöcken. Und plötzlich ahnte ich, dass sie Vivian von Stöckens Tochter sein musste. Ich will Sie nun nicht mit allen Einzelheiten aufhalten, gnädige Frau …«

»Doch, doch, erzählen Sie nur ausführlich, Herr Rethy. Für mich ist das alles wissenswert. Die Geschichte eines Kindes ist für mich immer wichtig. Ich habe diesen Nachmittag für Sie und Alexa reserviert. Erzählen Sie also genau, wie Sie Alexa gefunden haben!«

»Wenn Sie wollen, gnädige Frau? Ich ging nun mit dem Kind Kakao trinken, wie das wohl jeder in meiner Situation getan hätte. Eine Bekannte von mir setzte sich zu uns. Sie ist Stewardess auf unserer Linie, und als Frau verstand sie es wohl noch etwas besser als ich, sich des fremden, schüchternen Kindes anzunehmen. Wenn ich ehrlich bin, dann dämmerte mir bereits in diesem Augenblick, dass Alexa möglicherweise mein eigenes Kind sei. Aber ich wies diesen Gedanken zunächst heftig von mir. Selbst die Verwandtschaft der Namen – ich heiße Alexander, die Kleine Alexa – wollte ich mir gern durch einen Zufall erklären.

Nun ja, meine Freundin Bonny machte das Beste aus allem. Sie brachte Alexa zum Lachen und beschäftigte sie mit Papier und bunten Stiften, während ich an der Information für Frau von Stöcken die Nachricht deponierte, dass wir im Flughafenrestaurant auf sie warteten. Leider konnte meine Freundin Bonny nicht allzu lange bleiben, denn ihre Maschine nach Hamburg wurde aufgerufen. Sie hatte – genau wie ich – vier freie Tage vor sich und wollte diese zu Hause bei ihren Eltern verbringen. Ich hatte kein Recht, sie von ihrem Flug abzuhalten, obwohl ich ihr dankbar gewesen wäre, wenn sie sich freiwillig zum Bleiben entschlossen hätte. Denn ich war wirklich in arger Verlegenheit, was ich mit Alexa anfangen sollte.

Ich begann nun, die Kleine geduldig und zielbewusst auszufragen. So erfuhr ich, dass ihre Mutter krank sei. Doch das machte die Situation nicht gerade übersichtlicher oder einfacher für mich. Dann hörte ich, dass ihre Mutter mit Vornamen Vivian hieße. Es konnte für mich also keinen Zweifel mehr geben, selbst wenn ich die Augen vor Alexas Ähnlichkeit mit ihrer Mutter verschloss.«

Der Flugkapitän holte tief Atem und legte die Hand über die Augen. Denise von Schoenecker ließ ihm Zeit. Außerdem wusste sie von Dr. Josefa Klinger bereits einiges über diesen seltsamen und tragischen Fall. Die Ärztin erholte sich im Augenblick nach schwerer Krankheit in Sophienlust. Sie war zu früh zum Dienst im Krankenhaus zurückgekehrt und hatte das büßen müssen. Aber vielleicht hatte auch das so sein sollen. Denn Josefa Klinger hatte dadurch Vivian von Stöcken in ihren letzten Lebenstagen ärztlich betreut und so Alexas Schicksal kennengelernt. Es schien gütige Fügung gewesen zu sein. Denn Alexa brauchte ein Heim und Liebe. Beides sollte sie nun in Sophienlust finden!

Nun fuhr Alexander Rethy in seinem Bericht wieder fort: »Als ich dann fragte, wann ihre Mutter denn eigentlich kommen werde, bekam ich heraus, dass die Kleine mit Vivian auf mich gewartet hatte. Dann musste Vivian sich aber nicht wohlgefühlt haben. Sie hatte auf mich gezeigt und das Kind zu mir geschickt. Ach, es war eine lange und traurige Odyssee, ehe ich sie im Krankenhaus endlich fand – dem Tod geweiht, wie man mir zuraunte. Dort musste ich mich dann der Tatsache stellen, dass die tapfere Vivian mein Kind zur Welt gebracht hatte, ohne mir jemals etwas davon gesagt zu haben. Sie hätte sich wahrscheinlich nie an mich gewandt, wenn sie nicht gespürt hätte, dass ihre Tage gezählt wären. Ihre Mutter war vor einem guten Jahr gestorben, sodass sie ganz allein mit dem Kind dastand. Deshalb wollte sie mir Alexa anvertrauen.

Ich schämte mich entsetzlich, doch es gelang mir, allen Widerständen zum Trotz, Vivian noch zu heiraten. Sie ist mit der Gewissheit gestorben, dass ich vor dem Gesetz die volle Verantwortung für mein Kind trage, das ich selbstverständlich sofort anerkannt habe. Die Behörden sind langsam und umständlich. Aber sie haben in unserem Fall das Unmögliche wahr gemacht. Vor allem Frau Dr. Klinger verdanke ich viel. Vivian und ich haben geheiratet, und Alexa heißt heute Alexa Rethy. Ich danke Gott, dass mir das alles noch gelang, ehe die unglückliche Vivian für immer die Augen schloss.«

Die Erschütterung ließ den Besucher abermals für kurze Zeit verstummen. Alexander Rethy dachte an die Blumen, mit denen er Vivians Krankenzimmer geschmückt hatte, und an die kleine, eindrucksvolle Hochzeitsfeier, die der Geistliche für sie gehalten hatte. Alexa hatte der Mutter einen Strauß Blumen aufs Bett legen dürfen. Doch schon kurze Zeit später hatte die tückische Krankheit die schöne Vivian dahingerafft – diese Frau, der er so viel angetan und die er dann für Jahre vergessen hatte. Das war ein Vorwurf, den er sich bis an sein Lebensende machen würde. Aber er hatte das Kind! Alexa sollte es an nichts fehlen. Deshalb fand er Sophienlust gerade richtig für sein Töchterchen.

Selbstverständlich gehörte der Flugkapitän nicht zu dem Personenkreis, der die Stiftung, die mit dem Vermächtnis der früheren Besitzerin von Sophienlust, Sophie von Wellentin, verbunden war, in Anspruch nehmen musste. Er war von Haus aus vermögend und bezog außerdem ein gutes Einkommen als Flugkapitän. Er wollte den vollen Pensionspreis zahlen, und er hatte Frau Dr. Klinger gebeten, Alexa für den Aufenthalt auf Sophienlust großzügig und passend auszustatten. Das war bereits geschehen.

Josefa Klinger, mit der Schwiegertochter der Heimleiterin, Carola Rennert, befreundet, hatte ihm die Geschichte des Kinderheims Sophienlust erzählt. Er wusste, dass Dominik von Wellentin-Schoenecker aus der ersten Ehe der früh verwitweten Denise von Schoenecker stammte und der Alleinerbe von Sophienlust und des riesigen Vermögens seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin war. Doch solange der Junge, nun bereits fünfzehn Jahre alt, das Heim für in Not geratene Kinder nicht selbst verwalten konnte, lag die Verantwortung dafür in den Händen seiner Mutter, die in ihrem zweiten Mann, Alexander von Schoenecker, jederzeit Unterstützung fand. Alexander war Besitzer des benachbarten Gutes Schoeneich und beaufsichtigte beide Güter, Sophienlust und Schoeneich, gemeinsam. Leiterin des Kinderheims war Frau Rennert, von den Kindern ›Tante Ma‹ genannt. Ihr Sohn Wolfgang war als Haus- und Musiklehrer des Heimes tätig. Seine junge Frau Carola, die selbst einmal ein Kind dieses Heimes gewesen war, unterstützte ihn dabei.

Denise von Schoenecker ließ Alexander Rethy auch diesmal Zeit. Sie war

eine gute Zuhörerin. Doch jetzt schöpfte der Besucher Atem und sprach weiter.

»Es war für mein Töchterchen Alexa am Anfang eine höchst erstaunliche Tatsache, dass ich ihre Mutter kannte. Sie wunderte sich darüber. Aber jetzt hat sie sich daran gewöhnt. Für mich ist die Situation allerdings etwas schwierig. Ich bin ständig unterwegs und muss erst einmal darüber nachdenken, wie ich mich als Vater eines kleinen Mädchens zu verhalten habe. Deshalb bin ich Frau Dr. Klinger und auch Ihnen für die angebotene Lösung hier in Sophienlust herzlich dankbar. Die Kinder haben Alexa gleich in ihre Mitte aufgenommen. Glücklicherweise ist sie Kindern gegenüber nicht scheu. Da war ein blonder Junge, ich glaube Henrik hieß er …«

»Das ist mein Jüngster«, schaltete sich Denise lächelnd ein. »Ich habe eine große Familie. Henrik stammt aus meiner zweiten Ehe. Er ist zwar erst sieben Jahre alt, gibt sich aber schon jetzt viel Mühe, uns in Sophienlust zu helfen. Deshalb hat er sich auch gleich um Alexa bemüht.«

»Eine schöne und dankbare Aufgabe, die Sie übernommen haben, gnädige Frau. Ich bewundere Sie.«

»Für uns war es ein großes Glück, als wir nach Sophienlust kamen, lieber Herr Rethy. Heute erscheint es mir nur selbstverständlich, dass wir von unserer sicheren Geborgenheit anderen Menschen und vor allem vereinsamten und unglücklichen Kindern etwas abgeben. Bewunderung verdiene ich sicherlich nicht. Unsere Arbeit ist für uns ein täglicher Quell der Freude, der die Sorgen, die unvermeidlich sind, vergessen lässt.«

»Sie sind eine Idealistin. Das findet man heutzutage selten. Aber es gefällt mir, dass meine Tochter gerade hier sein darf. Ein Jammer, dass Sie Alexas Mutter nicht mehr kennengelernt haben.«

»Ich kann mir Ihre Frau gut vorstellen. Sie war sehr tapfer, nicht wahr?«

Er nickte. »Erst als sie für das Kind keinen Ausweg mehr sah, trat sie an mich heran. Ach, ich wünschte, sie hätte es früher getan! Zwar versichern mir die Ärzte, dass sie unrettbar verloren und dem Tode geweiht war, aber ich kann mich der Vorstellung nicht erwehren, dass man vielleicht doch noch hätte helfen können.«

Wieder brach er ab. Es waren traurige und bittere Erinnerungen, die ihn quälten. Er selbst kam dabei nicht gut davon. Warum habe ich Vivian damals nur verlassen, klagte er sich an. Warum nur? Sie war eine wunderbare Frau!

Aber es war endgültig zu spät. Sie ruhte unter dem Hügel mit den vielen Blumen. Für immer.

Jetzt fuhr er aus seinen Gedanken auf. »Frau Dr. Klinger hat viel für Alexa und mich getan. Sehe ich sie hier noch? Ich möchte ihr danken.«

»Sie wohnt drüben im Anbau bei dem jungen Ehepaar Rennert, weil sie sich ein paar Wochen lang hier in der guten Landluft erholen will. Sie war schwer krank und ist hinterher zu früh wieder in den Dienst in der Klinik gegangen. Jetzt sieht sie selbst ein, dass sie sich zu viel zugemutet hatte.«

Der Gast nickte, denn das war ihm bekannt.

Denise läutete. Als kurz darauf ein junges Mädchen eintrat, bat sie, Dr. Josefa Klinger herzubitten, falls sie im Moment zu finden sei.

Wenig später erschien die junge Ärztin, eine aparte Erscheinung mit dunklem Haar und klaren blauen Augen. Sie war zierlich und wirkte neben der hünenhaften Gestalt des Flugkapitäns wie eine Puppe.

Die Begrüßung fiel herzlich aus. Doch schon bald sprachen sie wieder von Vivian von Stöcken.

»Heute ist mir alles klar«, bekannte Alexander Rethy. »Auf Grund ihrer Schwangerschaft konnte Vivian nicht mehr als Stewardess tätig sein. Deshalb bewarb sie sich wohl um eine Anstellung im Büro der Fluglinie. Dadurch verloren wir uns aus den Augen. Die ganze Situation muss unendlich hart für sie gewesen sein. Als Arzttochter wusste sie sicher sowohl über ihren Zustand als auch darüber Bescheid, dass ihre Krankheit unheilbar war. Ich glaube, sie wollte mir nicht zur Last fallen, sondern verhindern, dass ich sie aus Pflichtgefühl heiratete. Denn sie wusste wohl auch, dass sich ihr Leiden über Jahre hinziehen konnte. Alexa ist immerhin schon gut fünf Jahre alt. Was muss Vivian in dieser Zeit gelitten haben! Und ich hatte keine Ahnung davon! Man sollte doch meinen, dass man so etwas spüren müsste.«

»Quälen Sie sich nicht mit Vorwürfen«, mahnte die Ärztin sanft. »Es ist vorbei, und es war nun einmal der Wille Vivian von Stöckens. Sie haben ihr zuletzt noch Ihren Namen gegeben und Alexa anerkannt. Ich weiß, dass der Tod Ihrer Frau friedlich und leicht war. Das muss Ihnen ein Trost sein, Herr Rethy.«

Die junge Ärztin sprach überzeugend und ruhig. Dennoch vermochte sich Alexander Rethy von Vorwürfen nicht freizusprechen. Undeutlich war ihm bewusst, dass er sein Kind nicht für alle Zeiten in Sophienlust lassen könnte. Es war nur eine Übergangslösung. Alexa hatte ein Anrecht darauf, einen Platz in seinem Leben zu erhalten. Aber er konnte sich vorerst nicht vorstellen, wie das zugehen sollte.

»Sie sind sehr freundlich, Frau Dr. Klinger«, antwortete er leise. »Was hätte ich überhaupt ohne Ihre Hilfe anfangen sollen?«

Sie lächelte. »Es hat mir Freude bereitet, mich in der ersten Zeit um Alexa kümmern zu können. Jetzt freue ich mich schon auf unser Wiedersehen. Es ist zwar erst zwei Tage her, dass wir uns getrennt haben, aber ich habe Alexa sehr ins Herz geschlossen.«

»Sie mag Sie ebenfalls gut leiden. Die beiden Tage mit mir im Hotel hat sie sich gründlich gelangweilt und jeden Tag nach Ihnen gefragt. Ich fürchte, ich bin ein unbegabter Vater und muss mich an meine Rolle erst gewöhnen.«

»Alexa ist stolz auf ihren Vati. Sie hat immer geglaubt, dass sie keinen habe. Erst neulich äußerte sie, dass sie sehr glücklich sei. ›Mutti ist im Himmel bei Omi, Tante Josi‹, sagte sie zu mir. ›Aber sie sieht, dass ich bei Vati bin. Und deshalb bin ich nicht traurig. Ich habe Mutti nämlich versprochen, dass ich immer fröhlich sein werde.‹ Seltsame Worte für ein so kleines Mädchen, nicht wahr?«

»Sie spürt, dass sie bei Ihnen geborgen ist und sich auf Sie verlassen kann, Herr Rethy«, schaltete sich nun Denise von Schoenecker ein.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ohne anzuklopfen stürmten Henrik von Schoenecker und Alexa herein.

»Es gibt Ponys hier, auf denen wir reiten dürfen, Vati«, stieß das blonde Mädchen aufgeregt hervor. »Nick, Henriks großer Bruder, will mir zeigen, wie man reitet. Darf ich reiten? Bekomme ich auch Reithosen wie die anderen Kinder?«

»Natürlich, Alexa. Du sollst alles haben, was man in Sophienlust braucht.«

»Es gibt auch andere Tiere, Sophienlust ist ein richtiger großer Bauernhof, Vati«, fuhr Alexa mit blanken Augen fort. »Henrik hat mir alles gezeigt. Und hier im Wintergarten haben sie einen Papagei, der sprechen kann. Er heißt …«

»Habakuk«, half Henrik aus.

»Habakuk«, wiederholte Alexa. »Vicky Langenbach hat ein Meerschweinchen, andere Kinder haben Kaninchen oder Vögel oder Goldhamster.«

»Sie sehen, Alexa ist schon ganz zu Hause hier.« Denise von Schoenecker sah den in seiner Rolle noch so unsicheren Vater aufmunternd an. »Sophienlust heißt das Haus der glücklichen Kinder, sagt Henrik«, plauderte Alexa nun unbefangen weiter. »Jetzt bin ich auch ein glückliches Kind, weil ich hier wohne. Nicht wahr, Tante Josi?«

Dr. Josefa Klinger, die als Assistenzärztin das tragische Ende und die vom Tod überschattete Hochzeitsfeier Vivian von Stöckens miterlebt hatte, zog Alexa auf ihre Knie. »Ja, du bist ein glückliches Kind«, raunte sie ihr zärtlich ins Ohr, wobei ihre Lippen das halblange blonde Haar des Kindes streiften. Doch sie errötete, als sie bemerkte, dass Alexander Rethy die kleine Szene beobachtete. Als sie die Augen wegwenden wollte, begegnete sie dennoch dem Blick des hochgewachsenen Mannes, der ständig um den Erdball flog und doch so ganz anders war, als Josefa Klinger sich einen Flugkapitän vorgestellt hatte.

So also hielt Alexa Rethy Einzug in Sophienlust.

*

Bonny steuerte sofort auf Alexander Rethy zu, als sie ihn entdeckte.

»Hallo, Alex! Was war mit der Kleinen?«, erkundigte sie sich. »Du hast Urlaub genommen. Das kam ziemlich plötzlich. Aber mit der kakaotrinkenden jungen Dame hatte es wohl nichts zu tun?«

Alexander nahm die Hand der Stewardess und sah sie nachdenklich an. »Doch«, erklärte er leise. »Mir fällt erst jetzt wieder ein, dass du sie ja gesehen und im Restaurant sogar beschäftigt und betreut hast. Findest du es sehr erstaunlich, wenn ich dir sage, dass sie meine Tochter ist?«

Bonny blinzelte, als schaue sie plötzlich in ein zu grelles Licht. »Deine – was?«

»Meine Tochter Alexa. Leider ist ihre Mutter tot.« Er sagte es traurig und ernst, denn er trauerte aufrichtig um Vivian, der das Leben so viel schuldig geblieben war.

»Das verstehe ich nicht. Ihr habt doch auf die Mutter gewartet neulich. Da lebte sie offenbar noch. Oder war es nicht die Mutter?« Bonny kam die Sache etwas unheimlich vor. Auch hatte sie den Eindruck, dass Alexander auf seltsame Weise verändert sei. Hätte er nicht so ernst und traurig ausgesehen, sie wäre geneigt gewesen, das Ganze für einen Scherz zu halten. Denn woher sollte er plötzlich eine fünfjährige Tochter haben?

»Ihre Mutter ist vor ein paar Tagen gestorben. Es blieb mir gerade noch Zeit, sie zu heiraten. Alexa trägt jetzt meinen Namen.«

»Alex, du hast ein sterbendes Mädchen geheiratet, weil es ein Kind von dir hatte?«, stammelte Bonny unsicher. »Bist du wenigstens überzeugt, dass die Kleine wirklich dein eigenes Fleisch und Blut ist?«

»Ich habe die Frau geheiratet, die ich immer liebte, Bonny«, wies er die hübsche Stewardess beinahe scharf zurecht. »Einen Zweifel an der Herkunft meiner Tochter gibt es nicht.«

»Das …, das passt einfach nicht zu dir, Alex. Ich hab’ mir immer eingebildet, dass du dir nicht viel aus Mädchen machst.« Bonny schluckte einmal.

»Woraus du ersiehst, dass man sich irren kann, Bonny. Doch ich will dir gestehen, dass ich es selbst nicht gewusst habe. Und jetzt muss ich mich erst daran gewöhnen, dass ich nur noch an meinem Kind gutmachen kann, was ich an der Mutter versäumt habe – sechs Jahre lang!«

»Was …, was wird aus dem Kind, Alex? Es muss doch irgendwo bleiben, wenn es keine Mutter mehr hat.«

»Zunächst hatte sich eine Ärztin des Krankenhauses, in dem Vivian starb, Alexas angenommen. Durch deren Vermittlung befindet sich die Kleine jetzt in einem sehr guten Kinderheim. Ich bin Frau Klinger natürlich sehr zu Dank verpflichtet. Ehrlich gesagt, ich wäre ohne ihre Hilfe in arger Verlegenheit gewesen.«

»Nun hast du also plötzlich eine Tochter. Kommt dir das nicht geradezu unwahrscheinlich vor?«, wunderte sich Bonny, indem sie die reizende kleine Nase kraus zog. »Es passt einfach nicht zu dir.«

»Alexa ist ein hübsches Kind. Das kannst du nicht abstreiten«, spottete Alexander Rethy.

»Doch, doch – sehr niedlich. Trotzdem, es kommt so …, so unerwartet. Ich muss mich an den Gedanken erst gewöhnen.«

»Für dich macht es doch nun wirklich keinen Unterschied, Bonny«, tröstete der Flugkapitän die Stewardess.

Sie hob die Schultern. »Vielleicht doch, Alex. Das kannst du gar nicht beurteilen.«

Sie hätten wohl noch länger geplaudert, wenn die Arbeit nicht ihr Recht gefordert hätte. Alexander Rethy übernahm die Papiere für seinen nächsten Flug und führte einige Telefongespräche. Vor allem vertiefte er sich in den soeben eingegangenen Wetterbericht. Kurz bevor er sich ins Cockpit seiner Maschine begeben musste, rief er noch einmal in Sophienlust an. Nachdem Frau Rennert ihm versichert hatte, dass mit Alexa alles in bester Ordnung sei, ließ er Dr. Josefa Klinger an den Apparat rufen.

»Ich wollte mich verabschieden, Doktorin. Ist alles im Lot bei Ihnen? Erholen Sie sich, und lassen Sie sich von Alexa nicht allzu sehr tyrannisieren.«

»Mir geht’s blendend. Hier muss man sich einfach erholen. Das macht die Sophienluster Luft, Herr Rethy. Alexa ist bereits ganz zu Hause hier. Jetzt liegt sie schon im Bett. Sicher möchte sie gern mit Ihnen sprechen. Ich lasse nachsehen, ob sie noch wach ist.«

»Danke, Frau Doktor. Geben Sie nur gut auf sich acht. Für mich ist es wunderbar, dass Sie zusammen mit meiner Kleinen in Sophienlust sind. Sie hatte ja nur ihre Mutti. Irgendwann wird die Sehnsucht kommen und die Erkenntnis, dass sie von Vivian für immer allein gelassen worden ist. Ich danke Ihnen nochmals für alles, was Sie für das Kind und für mich getan haben.«

»Nichts zu danken. Es sollte wohl so sein, Herr Rethy. Hier kommt Alexa.«

»Hallo, Vati. Wann kommst du mich besuchen?«

»Hm, so bald werde ich nicht kommen können. Aber ich schicke dir Postkarten von unterwegs, Alexa. Leider muss ich viel unterwegs sein. Es ist ein unpraktischer Beruf, wenn man Flugkapitän ist.«

»Henrik sagt, es ist große Klasse«, erklärte Alexa überzeugt. »Stimmt es, dass du ein Flugzeug allein in die Luft steigen lässt?«

»Nun ja, das stimmt, Alexa. Aber ich kann dich aus diesem Grund nicht gerade oft besuchen. Jetzt geht es gleich los.«

»Aber es ist Abend, Vati.«

»Man fliegt auch nachts, Kleines. Ich erkläre es dir später mal genau. Irgendwann werde ich dich auch mitnehmen, wenn du ein bisschen größer bist. Dann fliegen wir zusammen nach Amerika.«

»Oder in den Himmel, zu Omi und Mutti?«

Ihm stockte der Atem. »Nein, Alexa, so hoch kann kein Flugzeug der Welt fliegen«, sagte er schließlich bedrückt. »Dahin kommen wir nicht, solange wir leben.«

»Schade, Vati. Es wäre am schönsten, wenn es doch ginge.«

»Nicht traurig sein, Kleines.«

»Nein, Vati, ich bin ja im Haus der glücklichen Kinder, und ich habe Mutti versprochen, dass ich fröhlich bleiben werde.«

»Recht so, Alexa. Bis bald. Sei lieb und vergiss mich nicht. Ich bin dein Vati.«

»Ja, Vati, Tante Josi hat es mir erklärt. Ich konnte es nämlich nicht verstehen, weil alles so schnell gegangen ist. Magst du mich überhaupt? Du hast mich doch vorher nicht gekannt.«

»Ich mag dich sehr gern, Alexa.«

Dann kam Dr. Josefa Klinger nochmals an den Apparat, und endlich hängte er ein. Ein wehmütiges Lächeln stand in seinem sonnengebräunten Gesicht, als er zu seiner Maschine ging. Zum ersten Mal ließ er jemanden zurück – ein kleines Mädchen, seine Tochter Alexa!

Bonny nickte ihm zu. Sie stand mit Käppchen und Handschuhen am Einstieg zur Ersten Klasse und empfing die Fluggäste, die die umständlichen Kontrollen schon hinter sich hatten.

Bonny war Alexander Rethy sehr sympathisch. Sie war ein typisches Hamburger Mädchen, blond und sauber und anständig.

Doch schon bald hatte der Flugkapitän keine Zeit mehr, an Alexa oder Bonny zu denken. Auch an Josefa Klinger dachte er nicht mehr, als er die Checkliste zur Hand nahm und nun gemeinsam mit seinem Co-Piloten Punkt für Punkt die Kontrolle aller Geräte durchführte, wie es sich für einen gewissenhaften Flugzeugführer vor dem Start gehörte. Dann erhielt er das Zeichen, dass er zum Start fahren könne. Die Leute vom Turm meldeten, dass alles klar sei, die Männer vom Bodenpersonal traten von der Maschine zurück. Jemand winkte ihn zum Start ein. Es war wie immer und doch anders, weil diesmal jemand zurückblieb: ein kleines blondes Mädchen.

Als Alexander Rethy die Boeing schon hoch in der Luft hatte, wurde ihm klar, dass die zurückliegenden wenigen Tage die ereignisreichsten seines Lebens gewesen waren. Er hatte Vivian wiedergefunden, und sie war seine Frau geworden. Unbewusst hatte er es sich immer gewünscht, doch erfüllt hatte sich sein Wunsch erst an dem Tag, an dem Vivian gestorben war. Und jetzt wartete dort unten irgendwo in der Dunkelheit sein Kind auf ihn, die kleine Alexa, die seit wenigen Tagen seinen Namen trug.

Der Flugkapitän besann sich nun und hielt die übliche kleine Ansprache an seine Passagiere, indem er ihnen einen angenehmen Flug wünschte. Er flog für eine amerikanische Linie. Also sprach er zunächst Englisch, dann Deutsch, zuletzt Französisch.

Der Co-Pilot grinste ihm zu: »Immer derselbe Käse …«

Alexander Rethy ärgerte sich über das alberne Benehmen des anderen. Schließlich wollte jedermann einen guten Flug haben und heil ankommen. Seine Stimmung besserte sich erst, als Bonny ihm einen sündhaft starken Kaffee brachte.

»Danke, Bonny. Du bist und bleibst ein Engelchen.«

»Kommt mir gar nicht so vor. Eben hat mich ein dicker Kerl gefragt, ob ich morgen Abend mit ihm im Hotel bleiben will. Auf den scheine ich einen durchaus irdischen Eindruck zu machen.«

»Unverschämter Bursche. Soll ich ihm Bescheid sagen?«, bot er an.

»Nicht nötig. Ich habe ihm erklärt, dass ich bei meiner Großtante übernachten müsse. Sein dummes Gesicht hättest du sehen sollen, Alex. Wahrscheinlich bildet er sich ein, dass er mit ein paar hundert Dollar die Welt erobern kann.«

Der Co-Pilot tat Zucker in seine Tasse und rührte um. »Du versäumst die besten Chancen, Bonny«, spöttelte er. »Möglicherweise ist er ein Millionär und würde dich heiraten.«

»Kann schon sein«, erwiderte sie schulterzuckend. »Aber ich würde ihn nicht heiraten. Und da zum Heiraten bekanntlich zwei gehören …«

Als Bony das Cockpit verlassen hatte, sagte der Co-Pilot leise: »Sie ist ein prima Mädchen.«

Diesmal war Alexander ganz und gar seiner Meinung. »Das ist sie«, antwortete er mit Überzeugung.

*

»So – fertig!« Befriedigt betrachtete Nick sein Werk. Alexa stand neben ihm. Beide befanden sich im Augenblick im Wald von Sophienlust.

»Steht wirklich mein Name darauf?«, fragte die Kleine.

»Natürlich, Lexi. Jedes Kind, das in Sophienlust wohnt, bekommt einen solchen Baum mit seinem Namensschild. Wir nennen unseren kleinen Wald hier den Märchenwald. Zuerst gab es mal einen Waldbrand. Dadurch entstand die kahle Stelle. Und dann kam uns die Idee mit den Namensbäumchen. Gefällt dir dein Baum?«

»Er ist sehr schön. Aber es gibt sehr viele Bäume hier. Wo sind die Kinder denn alle geblieben?«

»Leider bleiben sie nicht immer hier, Lexi«, erklärte Dominik der kleinen Neuen mit einem Seufzer. »Wenn es nach mir ginge, würden sie alle für immer bei uns bleiben. Denn es gibt bestimmt keinen Platz auf der Welt, an dem es schöner ist als in Sophienlust.«

»Ja, es ist wunderbar hier«, stimmte Alexa, die inzwischen von allen Kindern Lexi gerufen wurde, ihm aus vollem Herzen zu. »Ich bleibe bestimmt für immer, denn meine Mutti ist im Himmel und meine Omi auch. Mein Vati aber muss immerzu mit dem Flugzeug fliegen. Er hat nicht viel Zeit für mich. Deshalb gehe ich auch nicht fort.«

»Hm, wir behalten dich gern.«

»Glaubst du eigentlich, dass mein Vati mich überhaupt mag? Er war auf einmal da. Mutti sagte, ich sollte hingehen. Da wusste ich noch gar nicht, dass er mein Vati ist. Dann kam das Fest mit den vielen Blumen, und jetzt ist er mein Vati. Ob er mich lieb hat – so wie euer Vati euch?«, zweifelte sie besorgt.

»Bestimmt hat er dich lieb. Ich habe ihn gesehen und verstehe mich auf die Leute. Er ist ein prima Kerl, sonst wäre er bestimmt nicht Flugkapitän.«

»Das Fliegen ist mir ziemlich wurscht«, erklärte Lexi matt. »Mit so einem Flugzeug kann man nicht einmal in den Himmel fliegen – ich meine, in den richtigen Himmel, wo meine Mutti ist.«

Die Kinderstimme schwankte verdächtig. Doch der Fünfzehnjährige verstand sich auf solche Fälle. Er warf einen letzten Blick auf das frisch gepflanzte Bäumchen im Märchenwald und hob die kleine Lexi dann auf seine Arme.

»Komm, ich trage dich huckepack. Du sagst hüh und hott, und ich trabe zum Gutshaus zurück. Dort darfst du dann noch ein bisschen auf einem der Ponys reiten bis zum Abendbrot.«

»Ja, Nick, das ist fein.« Schon war Lexi getröstet. Sie lachte und jauchzte, während Nick mit ihr durch den Wald trabte. Unterwegs trafen sie den alten Oberförster Bullinger, der sich eine Weile mit Nick unterhielt.

»Warum nennt er dich junger Herr, Nick?«, wollte Lexi wissen, als sie weiterzogen.

»Nun ja, der alte Justus sagt das auch. Es ist, weil Sophienlust eigentlich mir gehört. Aber du musst dir nichts daraus machen, denn ich kann nichts dafür und bilde mir auch nichts darauf ein.«

»Ich dachte, Sophienlust gehört deiner Mutti.«

»Nein, meine Urgroßmutter hat es mir hinterlassen. Aber es macht in unserer Familie keinen Unterschied. Alles gehört uns gemeinsam. Ich bin Mutti und Vati dankbar, dass sie bis jetzt das Kinderheim und das Gut so gewissenhaft für mich verwaltet haben und das auch weiterhin tun werden. Ich muss ja noch zur Schule gehen und dann zur Universität, bis ich einmal selbst Herr auf Sophienlust werden kann. Aber so alten Leuten wie dem Oberförster Bullinger oder dem früheren Verwalter Justus, denen kann man die Gebräuche von früher nicht abgewöhnen. Sie wären unglücklich, wenn sie bloß Nick zu mir sagen müssten. Deshalb lasse ich ihnen den kleinen Spaß.«

»Soll ich auch junger Herr sagen?«

»Bloß nicht! Die Kinder würden uns beide auslachen.«

»Was ist eigentlich eine Urgroßmutter?«, erkundigte sich Lexi, als das Herrenhaus schon in Sicht kam.

»Das ist die Mutter der Großmutter. Also, zum Beispiel die Mutti von deiner Omi im Himmel war deine Urgroßmutter.«

»Aber die habe ich doch nie gesehen«, wunderte sich Lexi.

»Ich meine Urgroßmutter auch nicht. Im Biedermeierzimmer hängt ihr Bild. Ich habe nicht einmal meinen richtigen Vati gekannt. Er starb, ehe ich geboren wurde.«

»Ach so, und jetzt ist Onkel Alexander dein Vati. Es ist komisch, dass er genauso heißt wie mein Vati.«

»Na ja, das kommt eben vor. So, jetzt wirst du mir zu schwer. Du bist ja schon ein großes Mädchen. Hol rasch deine Reithosen. Ich werde inzwischen das Pony satteln, Lexi.«

Alexa schoss davon wie ein Pfeil. Wenig später saß sie stolz auf dem kleinen Pony, das Nick an der Leine führte.

»Du stellst dich geschickt an. Bald kannst du ganz allein reiten«, lobte Nick seine neueste Schülerin.

»Es macht Spaß, Nick«, sagte Lexi strahlend.

»Natürlich macht es Spaß«, erklang jetzt eine fröhliche Stimme. Sie kam von Dr. Josefa Klinger, die eben von einem ausgedehnten Spaziergang zurückkehrte. »Du siehst auf dem Pferd aus wie eine Prinzessin, Lexi.«

»Tante Josi, Nick sagt, dass ich es schon gut mache«, berichtete das Kind voller Stolz.

»Stimmt das, Nick?«

»Sie stellt sich besonders geschickt an. Vielleicht haben wir eine Nachwuchsreiterin für unsere Juniorenklasse vor uns.« Nick war ein Pferdenarr und ein begeisterter Reiter, der in Jugendturnieren schon manchen Preis nach Hause gebracht hatte. Gewiss gab er sich auch deshalb so besonders geduldig mit der fünfjährigen Alexa ab, weil er in ihr ein Reitertalent entdeckt zu haben glaubte.

Die junge Ärztin lehnte sich an die Umzäunung des Reitplatzes und schaute zu, wie Nick mit Lexi die einzelnen Gangarten übte. Das Pony war brav und kannte die einzelnen Befehle recht gut. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass Lexi fest und mit angeborenem Talent im Sattel saß.

Josefa Klinger schaute über sich in den Himmel, wo einsam ein Flugzeug seine Bahn zog. Sie dachte an den Flugkapitän Alexander Rethy, der ihr eine Postkarte aus Los Angeles und eine andere aus Kairo geschickt hatte. Auch an Lexi waren Karten gekommen, aber immer hatten nur ein paar nichtssagende Worte darauf gestanden. Das Schreiben schien nicht seine starke Seite zu sein, und das tat der jungen Ärztin aus Gründen, die sie sich selbst nicht recht eingestehen mochte, von Herzen leid. Er

hatte doch sicherlich Zeit zu einem Brief! Verdiente sie nicht ein bisschen mehr, als zwei armselige Ansichtskarten mit bunten fremden Marken, die ihr sofort von den Kindern abgehandelt wurden?

Carola Rennert kam mit ihrem Zwillingswagen vorüber. »Wie geht’s, Josi?«, rief sie der Ärztin zu. »Bist du auch nicht zu weit gelaufen? Frau Dr. Frey sagte mir heute, als ich sie traf, dass du dich noch sehr schonen müsstest. Ich fürchte, du bist bei dir selbst eine ziemlich unvernünftige Ärztin.«

»Ich bin nicht weit gegangen und habe mich unterwegs ausgeruht. Jetzt schaue ich hier Lexis Reitkünsten zu.«

»Wenn erst deine Zwillinge bei mir reiten lernen, Carola«, meinte Nick lachend.

»Das hat noch ein bisschen Zeit«, gab die hübsche junge Frau mit einem sanften Lächeln zurück. Carola Rennert war selbst einmal ein Sophienluster Kind gewesen. Sie hatte hier Wolfgang Rennert, den Haus- und Musiklehrer, kennen- und lieben gelernt und so eine endgültige Heimat in Sophienlust gefunden. Denise von Schoenecker hatte für das junge Paar eigens einen Anbau errichtet. Inzwischen waren die Zwillinge Alexandra und Andreas die ganze Freude der glücklichen Eltern und Gegenstand der ständigen Bewunderung aller Sophienluster Bewohner geworden.

Vom Haus her erklang der Gong, der die Kinder zum Abendessen rief.

»Schluss für heute«, sagte Nick und half Lexi sachgerecht beim Absitzen. Das Kind wollte davonlaufen. »Halt, kleine Dame, eine richtige Reiterin kümmert sich um ihr Pferd. Jetzt werden wir gemeinsam das Pony absatteln, wie sich das gehört. Zum Händewaschen vor dem Essen bleibt dann immer noch Zeit, denn es gongt zweimal, wie du weißt.«

Ein lang aufgeschossenes Mädchen mit lustigen Sommersprossen auf der Nase schloss sich ihnen an, während Josefa Klinger mit Carola Rennert und dem Kinderwagen zum Anbau ging.

»Sie reitet gut, Pünktchen«, sagte Nick. »Hast du sie beobachtet?«

»Hm.«

»Bist du schlechter Laune, Pünktchen? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte Nick.

»Überhaupt nicht. Ich hab’ bloß keine Lust zum Reden.«

»Na schön, dann sei still.«

Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß, aber nicht einmal in der Schule mit ihrem richtigen Namen gerufen wurde, hatte keine Angehörigen mehr, die sich um sie kümmerten. Ihre Heimat war nun Sophienlust, und es stand für sie bereits fest, dass sie einmal Nick heiraten würde. Denn der Erbe von Sophienlust hatte sie vor Jahren gefunden und nach Sophienlust gebracht, als sie verzweifelt und verlassen gewesen war. Deshalb hatte er einen besonderen Platz in ihrem kleinen Herzen, aber deshalb litt Pünktchen auch ständig unter Eifersucht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Nick sich jetzt so intensiv mit Lexi beschäftigte, obwohl diese noch nicht einmal zur Schule ging.

Als das Pony in seiner Box war, rannte Lexi zum Haus, um sich zu waschen. Pünktchen wanderte langsam neben Nick einher. »Sooo besonders geschickt stellt sie sich auch nicht an«, schmollte sie.

Nick lachte. »Ach, Pünktchen! Du wirst doch nicht auf Lexi eifersüchtig sein? Sie ist wirklich sehr geschickt, und es ist nun mal meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern. Wir haben heute ihr Namensbäumchen im Märchenwald gepflanzt und jetzt eine Reitstunde abgehalten. Wenn du magst, reiten wir zwei nach dem Abendessen noch ein bisschen.«

Pünktchen war sofort versöhnt. »Bleibst du in Sophienlust?«, fragte sie. »Oder fährst du dann nach Schoen­eich?«

Nick hatte als künftiger Herr von Sophienlust ein eigenes Zimmer im Herrenhaus. Doch er wohnte im Allgemeinen drüben in Schoeneich bei seinen Eltern.

»Ich fahre später rüber, denn nach dem Abendessen kommt Andrea mit Hans-Joachim.«

Andrea war Nicks Stiefschwester. Sie stammte aus Alexander von Schoeneckers erster Ehe und war mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet. Die beiden lebten in Bachenau, wo sie ein Tierheim gegründet hatten, das den Namen ›Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere‹ trug. Für die Sophienluster Kinder spielte das Tierheim eine große Rolle. Es gab dort eine Braunbärin mit zwei Jungen, zwei Schimpansen, eine Ringelnatter namens Olga, einen uralten Esel, der den Namen Benjamin trug, und noch andere Tiere. Fast mit jedem dieser Tiere war einmal ein Kinderschicksal verknüpft gewesen, doch alle diese Kinder hatten Sophienlust inzwischen wieder verlassen, weil sie in einer Familie ein neues Glück gefunden hatten.

Nick hatte auch noch einen großen Stiefbruder. Sascha studierte in Heidelberg und kam nur noch selten heim nach Schoeneich. Auch er stammte aus der ersten Ehe Alexander von Schoeneckers. Als der Gutsherr von Schoen­eich Denise geheiratet hatte, hatten Sascha und Andrea eine zweite Mutter, Nick einen zweiten Vater bekommen. Henrik aber war der Spross dieser neuen, unendlich glücklichen Verbindung.

»Dann wirst du keine Zeit mehr zum Reiten haben«, bemerkte Pünktchen enttäuscht. »Ich dachte, wir könnten heute Abend noch Halma spielen. Aber du bleibst bloß, weil Magda heute rote Grütze gemacht hat.«

»Das mit der roten Grütze stimmt. Magda ist nun mal die beste Köchin der Welt«, gestand Nick freimütig. »Aber zu einem kurzen Galopp nach dem Essen reicht die Zeit auf jeden Fall, Pünktchen. Du kannst es mir doch nicht verübeln, dass ich meine Schwester sehen will, wo sie jetzt so selten kommt und meistens nur noch für ihren Mann und das Tierheim Zeit hat?«

»Schon gut, Nick. Dir ist immer alles andere wichtiger«, seufzte Pünktchen.

Nick wurde einer Antwort enthoben, denn jetzt ertönte der Gong zum zweiten Mal. Eilig wuschen sich die beiden die Hände und erschienen danach am großen Esstisch, wo Tante Ma eben die Hände faltete, um das Tischgebet zu sprechen.

*

Josefa Klinger half Carola, die Zwillinge zu versorgen und schlafen zu legen. Dann bereiteten die beiden Frauen gemeinsam das Abendessen zu. Gerade als sie fertig waren, kam Wolfgang Rennert mit dem Wagen aus Bachenau zurück, wo er etwas zu erledigen gehabt hatte.

»Hm, das duftet beinahe so gut wie bei Magda drüben in der Küche vom Herrenhaus«, stellte er schnuppernd fest.

»Josi ist nicht nur eine gute Ärztin, sondern auch eine ausgezeichnete Köchin«, entgegnete Carola lachend. »Sie hat einen Käseauflauf gemacht. In fünf Minuten können wir essen.«

»Herrlich. Sie könnten für immer und ewig bei uns bleiben, Frau Dr. Klinger«, meinte Wolfgang Rennert in bester Laune. »Wenn Carola Ihnen die Küche überließe, wäre die Arbeit tadellos aufgeteilt. Allerdings könnten wir Ihnen kein Gehalt zahlen«, scherzte er.

»Ich würde auch keines nehmen, Herr Rennert«, erwiderte Josefa Klinger. »Mein Chefarzt hätte da im Übrigen auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich bin krankheitshalber beurlaubt, aber nicht frei, um bei Ihnen die Stelle einer Köchin anzunehmen, wenn ich das auch gern täte. Außerdem kann Ihre Frau selbst so gut kochen, dass das auch gar nicht nottut.«

»Sie hätte dann aber mehr Zeit zum Malen. Ich habe nicht behauptet, dass sie nicht kochen kann«, wehrte sich Wolfgang Rennert.

Carola Rennert war eine begabte Malerin, die ihre knappe Freizeit gern diesem schönen Hobby widmete und ihre Bilder auch gut verkaufte.

»Es geht trotzdem nicht, denn ich habe nun mal den Beruf einer Ärztin und werde in der Klinik zurzeit von einer ausländischen Kollegin vertreten, die jedoch nur für eine begrenzte Zeit bleiben kann. Nicht, dass ich mich für unersetzlich hielte, aber ich liebe nun mal meinen Beruf.«

»Schade«, seufzte Wolfgang Rennert. »Essen wir also den Käseauflauf.«

Inzwischen hatte Carola aufgedeckt und das lecker duftende Gericht auf den Tisch gestellt. Dazu gab es einen bunten Salat, der einem Schlemmerlokal alle Ehre gemacht hätte.

»Was hören Sie von Lexis Vater?«, erkundigte sich der Hauslehrer.

Josefa spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. Sie senkte den Blick auf ihren Teller, als sie antwortete: »Nicht viel. Er hat zwei Postkarten geschrieben. Offenbar ist es nicht leicht für ihn, sich freizumachen und sein Töchterchen zu besuchen, wie er es sich vorgenommen hatte.«

»Als Pilot einer US-Fluglinie hat er sicherlich allerlei anderes im Kopf als ein Kind von fünf Jahren, von dessen Existenz er bisher keine Ahnung hatte«, mutmaßte Wolfgang Rennert. »Ein Glück, dass Lexi sich bei uns wohlfühlt und nichts entbehrt. Ihr Vater wird sie wahrscheinlich nach und nach vergessen, sodass unser Freund Nick endlich wieder einmal ein Kind haben wird, das für immer bei uns bleibt.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Josefa etwas verständnislos.

»Nick nimmt die Aufgabe von Sophienlust so ernst, dass er die Kinder, die zu uns kommen, nicht gern wieder hergibt – selbst dann nicht, wenn sich durch Adoption oder ähnliche Möglichkeiten ein wirkliches Glück für ein Kind ergibt. Sein einziger Trost ist dann meist nur eine Hochzeitsfeier hier in Sophienlust. Aber unser Flugkapitän wird kaum um seines Töchterchens willen eine Ehe eingehen. Jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck von ihm. Er sieht blendend aus und hat all die vielen hübschen Stewardessen seiner Luftlinie, von den hübschen Fluggästen weiblichen Geschlechts ganz zu schweigen. Warum sollte er es um einer einzigen Frau willen, mit allen übrigen Frauen verderben? Ich finde, zwei Postkarten sind für solch einen Mann schon eine echte Leistung.«

»Warum fällst du so ein summarisches Urteil? Er hat doch eben erst Lexis Mutter zu seiner Frau gemacht …«

»… nachdem er sie zunächst mit dem Kind hat sitzenlassen«, vollendete Wolfgang Rennert trocken. »Mag sein, dass er nichts von dem Kind gewusst hat. Doch immerhin hat er sich der Mutter gegenüber nicht gerade wie ein Gentleman betragen. Oder bist du anderer Meinung, mein liebe kleine Carola?«

»Wir kennen die genaue Vorgeschichte nicht und sollten nicht vorschnell urteilen. Vielleicht weiß Josi mehr.« Fragend sah Carola die junge Ärztin an.

Doch Josefa Klinger schüttelte stumm den Kopf. Der Käseauflauf schmeckte ihr plötzlich nicht mehr.

»Ärzte sind an die Schweigepflicht gebunden«, stellte Wolfgang Rennert fest. »Halten wir also den Daumen, dass der Herr Flugkapitän Lexi nicht vergisst, sondern in absehbarer Zeit eine hübsche Stewardess zu seiner Frau macht, die auch bereit ist, Lexi bei sich aufzunehmen. Aber das hört sich für mich wie ein schönes Märchen an, das niemals wahr werden wird. Macht nichts, dann bleibt Lexi eben bei uns. Es lässt sich leben in Sophienlust, nicht wahr, Carola? Du bist doch auch hergekommen, um niemals wieder fortzugehen.« Er küsste seiner geliebten Frau die Hand.

»Vielleicht heiratet Nick oder Henrik die Kleine? Wer kann das heute wissen?«, sagte Josefa Klinger leise, um zu einem neuen Thema überzugehen.

»Nick wird von Pünktchen mit Beschlag belegt. Ich weiß nicht, wie der Junge darüber denkt, aber für Pünktchen steht fest, dass sie einmal seine Frau sein wird«, wandte Carola ein. »Manchmal mache ich mir Sorgen wegen Pünktchen, denn sie hat sich in diesen Gedanken fest verrannt, viel zu fest für ein Kind von elf Jahren.«

»Sie sind beide noch Kinder, doch vielleicht wird die Geschichte mit der hübschen Stewardess Wirklichkeit«, meinte Wolfgang Rennert lachend.

Wenig später hoben sie die kleine, gemütliche Tafel auf. Josefa Klinger, die müde war, zog sich in ihr Zimmer zurück. Dort saß sie im bequemen Sessel und legte den Kopf gegen die Rückenlehne, um nachzudenken. Ohne ihr Zutun beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem Flugkapitän Alexander Rethy.

Hätte ich mich um Lexi gekümmert, wenn ich ihren Vater nicht gekannt hätte, fragte sie sich und fand keine Antwort darauf. Eines hatte sich aus dem anderen ergeben. Vivian von Stöcken, das Kind und der Flugkapitän waren gleichzeitig in ihr Leben getreten. Doch wenn sie ehrlich gegen sich selbst war, so musste sie sich eingestehen, dass manches für sie ein neues und anderes Aussehen gewonnen hatte, seit der Flugkapitän Alexander Rethy mit seinem Töchterchen an das Sterbebett Vivian von Stöckens gekommen war.

Josefa Klinger schloss die Augen. Deutlich sah sie das sonnengebräunte Gesicht des großen Flugkapitäns vor sich. Ja, sie konnte sich vorstellen,

dass die hübschen Stewardessen es auf einen solchen Mann abgesehen hatten! Wolfgang Rennert hatte kaum übertrieben.

Die Ärztin seufzte. Bisher hatte sie nie ans Heiraten gedacht. Sie stammte aus Weißrussland und hatte früh beide Eltern verloren. Durch Stipendien war ihr das Studium ermöglicht worden, das sie trotzdem teilweise hatte selbst verdienen und erhungern müssen. Vielleicht hatte die Leberentzündung sie auch deshalb so besonders schwer mitgenommen. Sie jedoch, daran gewohnt, auf sich selbst nicht die geringste Rücksicht zu nehmen, hatte gemeint, dass sie das Gesundwerden erzwingen könne. Doch ihr Chef, ein erfahrener alter Arzt, hatte gerade noch zur rechten Zeit erkannt, dass sie im Begriff war, sich einen Schaden fürs ganze Leben zu erwerben. Er hatte ein Machtwort gesprochen und ihr einen längeren Urlaub verordnet, den sie nun bei ihrer Freundin Carola auf Sophienlust erlebte.

Josefa Klinger fühlte sich glücklich auf Sophienlust. Sie hatte hier nie Langeweile, denn die Kinder waren dankbar und begeistert, wenn sie sich mit ihnen beschäftigte. Sie las ihnen Geschichten vor und malte Bilder mit den Kleinen, wofür ihr die Kinderschwester Regine herzlich dankbar war. Manchmal nahm Josefa Klinger auch auf einem Spaziergang ein Grüppchen Kinder mit, oder sie half am Nachmittag den Größeren bei den Schulaufgaben.

Trotzdem fühlte sich Josefa Klinger neuerdings manchmal vereinsamt. Auch hielt sie oft nach dem Postauto Ausschau, in der Hoffnung, dass es ihr eine Karte von Alexander Rethy bringe. Und wenn Lexi, die sich besonders an sie angeschlossen hatte, sie sehnsüchtig nach dem Vater fragte, dann schlug ihr das Herz bis zum Hals herauf, weil sie nicht wusste, was sie dem Kind antworten sollte.

»Was ist mit mir?«, flüsterte Josefa Klinger in die Dunkelheit des kleinen Zimmers hinein. »Ich habe mich doch nicht etwa in ihn verliebt?«

Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein, für die Liebe war im Leben einer Ärztin, wenn sie erfolgreich sein wollte, kein Raum. Bisher hatte sie immer nur gearbeitet und nur daran gedacht, ihr Studium und die Medizinalassistentenzeit so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Nun war sie schon das zweite Jahr Assistenzärztin. Nein, jetzt durfte ihr so etwas wie Liebe nicht in die Quere kommen! Noch dazu die Liebe zu einem Flugkapitän, der sie sicherlich schon wieder vergessen hatte, wie er möglicherweise auch Lexi nach und nach aus dem Gedächtnis verlieren würde. Ein Dauerauftrag bei der Bank regelte die monatlichen Verbindlichkeiten für das Kind, und mehr Sorgen hatte er nicht!

Josefa Klinger stellte plötzlich fest, dass sie auf Alexander Rethy wütend war – wütend, weil er sie aus ihrem inneren Gleichgewicht gebracht hatte, wenn das auch durchaus nicht seine Schuld und wahrscheinlich nicht einmal seine Absicht gewesen war.

*

Am nächsten Tag erhielt die junge Ärztin einen Brief von einem Kollegen, dem Oberarzt Dr. Fred Wellner, der ihr launig vom Betrieb in der Klinik berichtete und durchblicken ließ, dass sie von ihm nicht nur bei der Arbeit vermisst werde.

Wenn ich überhaupt jemals heirate, so muss es ein Arzt sein, beschloss Josefa Klinger trotzig. Fred Wellner käme vielleicht infrage. Er hat sich schon öfter um mich bemüht. Aber ich halte es für möglich, dass er es nicht ernst meint, sondern mich nur gern mag, so ganz unverbindlich und allgemein. Er ist ehrgeizig und möchte einmal ein eigene Klinik haben. Ein Vermögen besitzt er nicht, also wird er nach einer Frau mit Geld Ausschau halten. Dass ich keinen Centbesitze, dürfte ihm bekannt sein, denn von meinem Gehalt als Assistenzärztin zahle ich jetzt noch die letzten Schulden aus der Studienzeit ab, wenn das auch glücklicherweise bis Ende des Jahres geregelt sein wird.

Immerhin – der Brief des Oberarztes hatte ihr ein wenig von ihrer inneren Sicherheit wiedergegeben, und dafür war sie dem Kollegen von Herzen dankbar, wenn er es auch nie erfahren würde.

Alexander Rethy kam unangemeldet, doch machte das in Sophienlust keinem etwas aus. Er habe Zeit – fünf volle

Tage –, und er wolle in Maibach im Gasthof ›Zum Bären‹ wohnen, erklärte er, um niemandem Mühe zu verursachen.

Josefa Klinger war verwirrt, als er ihr plötzlich gegenüberstand. Ihr erster Gedanke war, dass sie glücklicherweise am Tag zuvor beim Friseur gewesen war. Dann fiel ihr ein, dass sie sich umziehen müsse, denn das alte grüne Kleid war alles andere als vorteilhaft.

Alexa ging dem Vater langsam entgegen. »Guten Tag, Vati.«

Alexander Rethy hob sie auf seine Arme. »Grüß dich, kleine Maus. Freust du dich denn gar nicht, dass ich da bin?«

»Du fährst ja doch gleich wieder weg. Nick und Henrik sagen, Flugkapitän zu sein ist etwas Feines. Aber ich finde es dumm, dass du einer bist. Ich glaube, ich würde keinen Mann heiraten, der immer bloß weg ist und mal ’ne Karte schreibt.«

»Stimmt, Lexi, ich hätte öfter schreiben sollen«, gestand Alexander Rethy beschämt. »Weißt du, das Schreiben ist nun mal eine Sache, die ich nicht sehr gern tue. Aber ich werde versuchen, mich zu bessern, damit du nicht wieder auf mich schimpfen musst.«

»Ich schimpfe gar nicht. Ich bin bloß traurig, weil ich glaube, dass du mich nicht magst«, sagte Alexa leise.

»Wie kannst du das nur denken? Du schaust aus wie deine Mutter. Und die habe ich sehr, sehr lieb gehabt.«

Josefa Klinger hörte das alles, weil sie genau daneben stand. Ihr tat das Herz seltsam weh. Er hatte Vivian von Stöcken also geliebt, denn dem Kind sagte er sicherlich die Wahrheit. In diese Kinderaugen hinein log man nicht.

»Ja, Mutti hast du lieb gehabt, aber mich magst du nicht«, wiederholte das Kind, weil es damit wohl einen Beweis der Zuneigung von seiten des Vaters herausfordern wollte.

Diese Rechnung schien auch aufzugehen.

»Du kannst dir etwas von mir wünschen, Lexi«, sagte der Flugkapitän

ein bisschen verlegen, »etwas ganz Tolles.«

Alexa, immer noch auf seinem Arm, lehnte sich weit zurück, um besser in sein Gesicht sehen zu können. Dann sagte sie entschlossen: »Mit dir nach Frankfurt auf den Flughafen fahren und zu sehen, wie es da zugeht. Nick hat mir davon erzählt. Aber ich kann es mir nicht so richtig vorstellen. Vielleicht …, vielleicht möchte ich auch mal richtig fliegen mit dir.«

»Das kommt erst später dran, Lexi. Nur so zum Spaß kann ich dich nicht mitfliegen lassen. Das ist verboten. Aber eine Fahrt nach Frankfurt – das können wir machen. Gleich morgen, wenn du magst. Wir müssen nur Tante Ma und Tante Isi fragen, ob ich dich mitnehmen darf.«

»Wenn du doch mein Vati bist, darfst du’s bestimmt«, behauptete Lexi zuversichtlich.

Josefa Klinger wartete darauf, dass auch sie eine Einladung zu der Fahrt nach Frankfurt erhielte. Doch offenbar kam weder das Kind auf diesen Gedanken noch dessen Vater, der nichts anderes im Sinn hatte, als die Zuneigung seines Töchterchens zu erobern.

Alexander Rethy verbrachte den Abend auf Schoeneich am Kamin der Familie von Schoenecker. Er übernachtet im ›Bären‹ und holte seine Tochter am anderen Morgen mit dem Wagen ab, wie er es versprochen hatte.

Auf der Fahrt zum Flughafen plauderte Alexa ununterbrochen. Dann erreichten sie ihr Ziel.

Lexi fand es aufregend und interessant, wie viele Leute ihren Vater grüßten und erkannten. Sie durfte mit ihm zum Kontrollturm, nachdem ihr Vater sich eine Sondererlaubnis besorgt hatte.

Dann begegneten sie rein zufällig der Stewardess Bonny.

»Nanu, alles trifft sich am Ort der Tat?«, meinte Alexander Rethy lachend, als er die blonde Hamburgerin entdeckte. »Wir beide haben doch heute hier eigentlich gar nichts zu suchen.«

Bonny hob die Schultern. »Ich hatte etwas vergessen. Für einen Tag nach Hamburg zu fliegen lohnt sich für mich nicht. Morgen habe ich dann wieder Dienst.«

»Lexi, das ist Bonny. Sie fliegt immer mit mir – in meiner Crew, sagt man bei uns.«

Alexa musterte Bonny kritisch. »Du darfst mit Vati fliegen? Ich kenne dich noch – von damals. Aber dass du beim Fliegen immer dabei sein kannst, wusste ich nicht. Ich darf nämlich nicht mitfliegen.«

»Deine Mutti ist früher auch geflogen, Lexi«, erzählte Alexander Rethy seiner Tochter nun zum ersten Mal.

»Dann will ich es auch, wenn ich groß bin«, beschloss das kleine Ding.

Bonny nickte ihr zu. »Warum nicht, Alexa? Es ist ein feiner Beruf. Mir macht’s Spaß.«

»Dann musst du mich immer mitnehmen, Vati, wie Bonny«, forderte Alexa. »Ich kriege doch dann auch so eine schicke Uniform, nicht wahr?«

»Natürlich, die Uniform ist wichtig«, behauptete Bonny todernst.

Es ergab sich ganz von selbst, dass sie für den Rest dieses herrlichen Sonnentages etwas Gemeinsames planten. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, in ein Schwimmbad zu gehen. Alexander Rethy erwies sich als besonders findig. Irgendwo entdeckte er einen kleinen See, an dem es trotz des herrlichen Wetters nicht allzu viele Leute gab, weil sich die Straße zum See nur schlecht finden und befahren ließ.

Alexa planschte in einem neuen knallroten Badeanzug, den ihr Vater ihr auf dem Flughafen gekauft hatte, nach Herzenslust im Wasser herum. Bonny und Alexander Rethy hatten Schwimmsachen stets bei sich. Das gehörte im Sommer sozusagen zu ihrem Standardgepäck.

Jetzt lag Bonny neben Alexander in der Sonne und ließ sich trocknen.

»Herrlich, so ein freier Tag«, seufzte sie zufrieden.

»Ohne dich wär’s vielleicht ein bisschen langweilig für mich, Bonny, denn meine Tochter tobt da mit anderen Kindern herum und kümmert sich kaum noch um ihren armen Vater.«

Sie lachten sich an.

»Du scheinst dich gut in deine neue Rolle eingelebt zu haben«, stellte Bonny fest, indem sie den Kopf kokett zurücklegte. »Zuerst habe ich gedacht, es passt nicht zu dir. Aber das war ein Irrtum.«

»Was heißt schon, ›passen‹?« Alexander hob die breiten, sonnengebräunten Schultern. »Alexa ist mein Kind und gehört zu mir. Damit habe ich mich abzufinden. Aber ich gestehe, dass es mir Spaß macht.«

»Was ist aus der Ärztin geworden, die sich damals um Alexa kümmerte?«, erkundigte sich Bonny angelegentlich.

»Sie ist erholungsbedürftig und verbringt ihren Urlaub an dem Ort, an dem sich auch Alexa aufhält. Es ist ein glückliches Zusammentreffen, denn die Kleine hatte sich an die Doktorin ziemlich fest angeschlossen. Dass ich Alexa allein lassen muss, kann ich leider nicht ändern. So aber hat das Kind wenigstens die Ärztin. Im Übrigen ist das Kinderheim erstklassig, und Alexa fühlt sich dort wohl. Ich verdanke die Empfehlung der Doktorin. Ein Segen, dass sich alles so gefügt hat, sonst wär’s ein echtes Problem für mich.«

»Versteht es die Doktorin mit Kindern? Ist sie schon älter?«, wollte Bonny wissen.

Alexander Rethy schmunzelte. »Du denkst wohl an eine Frau mit grauem Haar, flachen Absätzen und Hornbrille? Weit gefehlt! Sie ist jung und hübsch, hat dunkles Haar und unwahrscheinlich blaue Augen. Sie ist deutschstämmig, kommt aber aus Weißrussland und ist eine äußerst interessante Erscheinung, zierlich und klein wie ein Püppchen.«

Bonny hob den Kopf. »Hast du dich in sie verliebt?«

Er wehrte ab. »Nein, ich fürchte, so etwas tue ich nicht sehr oft in meinem Leben. Vivian – das war etwas Einmaliges. Es wird sich nicht wiederholen. Damit muss ich mich abfinden.«

»Für die Kleine wäre es gut …«

»Es macht kaum einen Unterschied, Bonny, denn ich wäre so und so nur selten da. Wenn ich im Lande bin, kann ich Alexa im Kinderheim besuchen, wo sie wirklich phantastisch gut aufgehoben ist und zurzeit obendrein die Doktorin als Mutter-Stellvertreterin oder Bezugsperson hat, wie man heute so schön gelehrt sagt.«

»Du beschäftigst dich um der Kleinen willen mit Pädagogik? Ich habe mir bis jetzt ein ganz anderes Bild von dir gemacht.«

»Besser oder schlechter?«, scherzte er.

Sie senkte die Lider. »Schwer zu sagen, Alex. Jedenfalls nicht so, wie du offenbar wirklich bist.«

Er nahm ihre Hand in die seine. »Denke nicht zu viel über mich nach, Bonny. Das ist eine gut gemeinte Warnung.«

»Ich mag dich, Alex«, seufzte sie.

»Ich dich auch, Bonny. Aber wir wollen es bei der guten Freundschaft bewenden lassen. Mehr ist bei mir nicht drin.«

Bonny schwieg. Sie legte den Kopf wieder zurück und gab sich scheinbar ganz dem Genuß des Sonnenbades hin. In Wirklichkeit aber war sie traurig. Sie kannte Alexander seit anderthalb Jahren. Er hatte ihr von Anfang an gefallen. Obwohl es für ein hübsches Mädchen wie sie fast jeden Tag eine Chance gab, sich zu verlieben, war sie außerordentlich wählerisch. Sie ließ niemanden zu nahe an sich herankommen, und sie genoss unter ihren Kollegen männlichen Geschlechts den Ruf, ein anständiger, feiner Kerl zu sein. Das konnte man nicht von allen Mädchen, die als Stewardess arbeiteten, sagen.

Bonny wäre herzlich gern Alexas zweite Mutter geworden. Sie war auch bereit, ihr eine gute und zärtliche Mutter zu sein. Aber der Traum ging zu Ende, noch bevor er begonnen hatte. Gar zu deutlich hatte Alexander Rethy abgewinkt. Gewaltsam schüttelte das junge Mädchen seinen Kummer ab. Vielleicht musste sie warten und Geduld haben. Alexas Mutter war schließlich noch nicht lange tot …

Bonny sprang auf und lief wieder ins Wasser. Sie begann mit den Kindern zu spielen und gab sich lustig und ausgelassen. Nach einer Weile folgte ihr Alexander.

Als sie sich heiße Würstchen und Coca-Cola kauften, hockte Alexa selig zwischen ihnen auf dem grünen Rasen. Und Bonny schlug die Warnung des Flugkapitäns nun in den Wind. Sie träumte davon, dass es noch viele Tage geben würde wie diesen.

Sie blieben draußen, bis es schon fast dunkel wurde. Erst spät erreichten Vater und Tochter Sophienlust, nachdem sie zuvor Bonny in einer Unterkunft der Fluglinie abgesetzt hatten.

War es nur Zufall, dass Josefa Klinger noch vor dem Herrenhaus auf und ab wanderte?

»Ganz braun bist du geworden von all dem Sonnenschein, Lexi«, begrüßte sie das Kind. »Was habt ihr gemacht?«

»Erst hat Vati mir den Flughafen gezeigt, und dann sind wir mit Bonny zum Schwimmen gefahren.«

»Ist Bonny ein anderes Kind?«

»Nein«, entgegnete Alexa. »Sie ist schon groß und darf immer mit Vati ins Flugzeug.«

»Eine Stewardess unserer Linie. Wir trafen uns auf dem Flughafen. Sie hat sich reizend mit Alexa beschäftigt, nicht wahr?«, wandte sich Alexander Rethy an seine Tochter.

Alexa nickte. »Sie ist nett.«

»Das ist sie wirklich«, bestätigte Alexander Rethy, ohne zu ahnen, dass er Josefa Klinger mit dieser Äußerung alles andere als glücklich machte.

»Unsere Mädchen werden geschult, sich mit Kindern zu beschäftigen. Bonny hat mir Alexa schon einmal abgenommen – damals, als ich meine Tochter plötzlich auf dem Flughafen traf und versuchte, Vivian zu finden. Aber Bonny tut es nicht routinemäßig. Ich glaube, sie mag Kinder wie Lexi wirklich gut leiden.«

»Klar mag sie mich leiden«, mischte sich Alexa ein. »Sie hat es mir selbst gesagt. Wenn ich groß bin, werde ich Stewar… Wie heißt das noch, Vati?«

»Stewardess, Lexi. Aber vielleicht überlegst du es dir noch einmal. Es ist ein anstrengender Beruf. Möglicherweise möchtest du lieber Ärztin werden wie Tante Josi.«

»Doktor, das ist auch was Feines. Man trägt einen weißen Kittel und hat ein Hörrohr, wie Frau Dr. Frey und Tante Josi, wenn sie im Krankenhaus ist. Aber die Uniform von Bonny gefällt mir besser.«

Die Erwachsenen lachten sich an.

»Muss ich noch mit ins Haus kommen, um meine Tochter abzuliefern, Frau Doktor?«, erkundigte sich Alexander Rethy. »Oder wollen Sie mir das abnehmen? Es ist ein bisschen spät geworden. Aber ich musste diesen ersten Tag mit meiner Tochter genießen. Frau Rennert wird uns hoffentlich nicht böse sein. Zu Abend hat Lexi schon gegessen.«

»Natürlich bringe ich Lexi ins Haus und richte alles aus, Herr Rethy. Kommen Sie morgen wieder?«

»Ja, ich möchte die Zeit nutzen, damit Lexi nicht wieder fragt, ob ich sie überhaupt leiden mag. Wollen Sie uns morgen die Freude machen, uns zu begleiten? Ich dachte, dass der Flughafenbetrieb Sie nicht interessieren würde. Aber ein netter Ausflug hier in der Gegend? Wie denken Sie darüber?«

»Ich komme herzlich gern mit«, versicherte Josefa Klinger. Auf einmal kam es ihr vor, als schiene plötzlich die Sonne, obwohl es doch schon dunkel geworden war.

Josefa Klinger zog ein helles Kleid an und war schon viel zu früh fertig, denn vor zehn Uhr wollte Alexander Rethy sie und Lexi nicht abholen.

Endlich kam der große Wagen des Flugkapitäns in Sicht. Lexi hüpfte vor Freude wie ein Gummiball, und die junge Ärztin hätte es am liebsten genauso gemacht. Ihr Herz schlug sehr rasch, und ihre Augen leuchteten, als sie Alexas Vater begrüßte.

»Alles klar?«, fragte er, als handle es sich um den Start zu einem Flug.

»Jawohl, Herr Kapitän«, meinte Josefa lachend. »Ich habe Frau Rennert Bescheid gesagt und zusätzlich noch Frau von Schoenecker, die heute in Sophienlust ist. Alle freuen sich, dass Sie Ihre knappe Freizeit für Lexi opfern.«

»Das ist kein Opfer. Ich tue es gern«, erwiderte er knapp und hielt den Schlag des Wagens für die beiden Damen auf. Lexi kletterte auf den Rücksitz. Das Wetter war auch an diesem Tag strahlend, und das Badezeug war auf alle Fälle eingepackt worden.

»Es ist ein zauberhaftes Fleckchen Erde, auf dem sich Sophienlust befindet«, stellte Alexander Rethy fest. »Eigentlich braucht man gar nicht weit zu fahren. Da aber meine kleine Tochter gern Auto fährt, werden wir uns ein entferntes Ziel ausdenken, damit sie zu ihrem Recht kommt.«

»In Sophienlust bin ich jeden Tag. Aber Auto fahren mit dir ist etwas Besonderes«, kam es von hinten, sodass die beiden Erwachsenen einen belustigten Blick tauschten.

»Mein Vati hat eine Wohnung in … Wie heißt es noch?«, fuhr Lexi fort.

»In Wiesbaden«, half Alexander Rethy. »Aber vielleicht interessiert das Frau Dr. Klinger gar nicht?«

»Doch, sehr«, widersprach sie hastig. »Ich weiß viel und dennoch wenig von Ihnen. Viel in Bezug auf Ihre Ehe und dieses Kind, aber sonst eigentlich kaum etwas. Erzählen Sie ein bisschen.«

»Viel Interessantes gibt es da nicht zu berichten. Meine Wohnung ist groß, ziemlich modern eingerichtet und mein Eigentum. Aber ich bin selten zu Hause. Eine Frau aus der Nachbarschaft sorgt für Ordnung und Sauberkeit. Wenn ich da bin, kocht sie auch für mich und verwöhnt mich, weil sie meint, dass ein unverheirateter Mann nie etwas Richtiges zu essen bekäme.«

»Kriegst du denn etwas zu essen?«, erkundigte sich Lexi, die aufmerksam zuhörte.

»Natürlich, man kann immer etwas haben, Lexi. Wir zum Beispiel werden uns heute ein hübsches Gasthaus suchen, und dann darfst du dir dreimal Eis wünschen oder auch einen gebratenen Storch, falls sie einen haben.«

»Ich möchte aber Schnitzel und Pommes frites.«

»Das haben sie bestimmt in jedem Gasthaus.«

»Störche haben viel zu lange Beine, die kann man nicht essen«, meinte Josefa Klinger lachend. Sie fühlte sich an diesem Tag wie verzaubert. War es nur ein Traum, oder fuhr sie wirklich und wahrhaftig mit Alexander Rethy und dessen Töchterchen durch das sommerliche Land?

Der Ausflug wurde ein voller Erfolg. Sie machten eine Wanderung durch den Wald und aßen schließlich in einem schönen Restaurant, das an einem Berghang lag und einen weiten Blick über das Land bot, zu Mittag. Lexi bekam das gewünschte Menü und durfte zum Nachtisch so viel Eis bestellen, dass sie schließlich von selbst abwinkte, weil sie nicht mehr essen konnte.

Am Nachmittag machten sie wie am Vortag ein Schwimmbad ausfindig. Bei dem herrlichen Wetter war es allerdings ziemlich besucht, doch Lexi fand auf diese Weise andere Kinder zum Herumtollen im Wasser und auf der Spielwiese.

Alexander und Josefa legten sich faul in die Sonne. Der Mann betrachtete die ranke Figur der jungen Ärztin mit wohlgefälligem Blick. Josefa schaute angelegentlich über das Wasser und tat, als bemerkte sie es nicht.

»Ich möchte Ihnen so gern in der richtigen Weise sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Josefa«, hörte sie nun die Stimme des Flugkapitäns dicht neben sich. »Wissen Sie, dass ich unterwegs mehrmals einen Brief an Sie angefangen habe?«

Überrascht wandte sie ihm das Gesicht zu. »Nein, woher sollte ich das auch wissen?«

»Ich bin kein besonderer Briefeschreiber. Doch ohne Ihre Hilfe wären die Tage nach Vivians Tod für mich schwer zu ertragen gewesen. Sie haben Alexa damals bei sich aufgenommen, obwohl es Ihnen selbst gesundheitlich nicht einmal sonderlich gut ging. Wenn ich an diese traurige Zeit zurückdenke, so stehen Sie als guter Engel über allem, was geschah. Sie halfen und versuchten, für Alexa einen Ausweg zu finden. Kein Wunder, dass Lexi nun so an Ihnen hängt.«

Die Wangen der Ärztin waren brennend rot geworden. »Ich habe nicht viel getan, Herr Rethy.«

»Lassen wir doch die feierlichen

Anreden. Ich finde es viel schöner, wenn ich Josefa sagen darf. Dass ich Alexander heiße, wissen Sie ja inzwischen.«

»Ja, Alexander.« Es klang hübsch und ein wenig fremdländisch, als sie seinen Namen mit dem russischen, stark gerollten ›R‹ aussprach.

Dieser Akzent war es auch gewesen, der ihn gleich zu Anfang hatte fragen lassen, woher sie stammte. So hatte er erfahren, dass sie die Heimat schon als Kind verloren hatte und gemeinsam mit den Eltern in Deutschland angekommen war. Wie schwer war ihr Leben gewesen, wie hart hatte sie kämpfen müssen! Beinahe schämte er sich jetzt, dass er selbst es immer leicht gehabt hatte. Zwar hatte auch er die Eltern früh verloren, doch sie hatten ihm ein ansehnliches Vermögen hinterlassen, das es ihm erlaubt hatte, den Beruf zu wählen, der seiner Leidenschaft für das Fliegen entgegenkam. Als Chefpilot einer amerikanischen Fluglinie bezog er nun schon seit Jahren ein hohes Einkommen.

All diese Gedanken hatte das russische ›R‹ in Josefas Aussprache in ihm wachgerufen. »Beherrschen Sie das Russische noch?«, fragte er nachdenklich und versonnen.

»Ja, es war die Sprache meiner Kindertage. Aber ich habe selten Gelegenheit, Russisch zu sprechen. Hin und wieder kommt es vor, dass ich bei Patienten dolmetschen muss.«

»Ich möchte Ihnen eine Freude mache, Josefa«, sagte Alexander Rethy spontan. »Aber mir fällt nichts ein als dieser Sommerausflug. Wir könnten morgen noch einen zweiten unternehmen, falls es Ihnen nicht zu langweilig ist, mit einem Vater und seiner Tochter unterwegs zu sein, die beide erst lernen müssen, dass sie zueinandergehören.«

»Sie machen mir eine große Freude mit dieser Einladung. Aber ich glaube, dass auch die von Schoeneckers zu ihrem Recht kommen sollten. Frau von Schoenecker hat mir aufgetragen, Sie für morgen oder übermorgen einzuladen, damit Sie einen Tag in Sophienlust miterleben und den Abend dann nochmals drüben in Schoeneich verbringen können.«

»Wie nett von Frau von Schoenecker! Ich werde so unbescheiden sein und den Wunsch äußern, dass die abendliche Einladung auch auf Sie ausgedehnt wird. Gäste haben doch sicherlich einen Wunsch frei.«

Sie schaute ihn aus ihren unwahrscheinlich blauen Augen an und lächelte. »Die von Schoeneckers sind die gastfreieste Familie, die ich kenne. Darüber brauchen wir uns gewiss keine Sorgen zu machen.«

»Bleiben wir also morgen in Sophienlust«, beschloss Alexander Rethy. »Lexi will mir auch ihre Reitkünste zeigen. Darauf bin ich wirklich gespannt, denn Vivian ritt wie der Teufel. Sie war ein Naturtalent. Vielleicht hat unser Töchterchen diese Begabung geerbt.«

»Vivian muss eine ungewöhnliche Frau gewesen sein«, meinte Josefa leise.

»Sie war anders als alle Frauen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Trotzdem habe ich sie verlassen. Ich kann mir selbst nicht mehr erklären, wie es dazu kommen konnte. Vielleicht, weil sie nicht mehr mit meiner Crew flog, sondern im Büro tätig war. Ich bin so faul und dumm im Schreiben. Sie mag wohl gedacht haben, ich wolle nichts mehr von ihr wissen, weil ich mich nicht bei ihr meldete. Später besuchte ich sie, doch sie war kühl und abweisend und zu stolz, um mir zu gestehen, wie bitter mein Schweigen sie gekränkt hatte. Sie ließ mich nichts von ihrer Erkrankung wissen und auch nichts davon, dass sie ein Kind erwartete. Ich blieb von diesem Tag an ausgeschlossen aus ihrem Leben. Trotzdem haben wir niemals aufgehört, einander zu lieben, obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte. Aber wir haben beide ein Glück versäumt, das immerhin sechs Jahre hätte dauern können. Ich fürchte, dass ich mir das nie werde verzeihen können.«

»Sie haben Vivian wahrscheinlich in den letzten Stunden ihres Erdendaseins für all das entschädigt, was sie in den vergangenen sechs Jahren hatte entbehren müssen. Nie werde ich ihr glückliches Lächeln vergessen.« Josefa konnte darüber urteilen, denn sie war gemeinsam mit dem Kollegen Dr. Wellner Trauzeugin bei der Eheschließung gewesen.

»Wie lieb Sie das sagen, Josefa! Trotzdem kann ich mich von meinen eigenen Vorwürfen nicht so leicht freisprechen. Ich muss mit der Erinnerung an Vivian leben, mit dem Bewusstsein, dass ich mich ihr gegenüber schlecht benommen habe.«

»Ist es nur Schuldbewusstsein, das jetzt Ihre Haltung Alexa gegenüber bestimmt?«, forschte sie ein wenig erschrocken.

»Nein, ich liebe mein Kind. Ich muss mich nur daran gewöhnen. Es fällt mir immer wieder ein – ganz plötzlich, wenn ich die Maschine hoch in der Luft habe, wenn ich einen Sonnenaufgang erlebe oder einen besonders schönen Ausblick auf ein Gebirge mit Schnee, auf die sich kräuselnden Wellen des Meeres oder auch auf die unendliche, drohende Weite der Wüste Afrikas. In Deutschland wartet Vivians Kind auf mich! Das ist ein schöner Gedanke, der mich jedoch auch hin und wieder etwas erschreckt. Werde ich der Aufgabe, Alexa zu einem Menschen, wie Vivian es war, zu erziehen, gewachsen sein?«

»Das sind Sie sicher. Warum zweifeln Sie an sich? Sie sollten mehr Vertrauen zu sich selbst haben, dann würde das Verhältnis zwischen Ihnen und Lexi von selbst natürlicher werden.«

»Sie geben also zu, dass es das bis jetzt nicht ist?«

»Nun ja, Sie kennen einander ja kaum. Lexi sucht Ihre Liebe. Der Liebe ihrer Mutter konnte sie gewiss sein. Sicher hat Vivian in ihrer Verlassenheit das Kind täglich zärtlich in die Arme genommen und ihm versichert, dass sie es lieb habe. Jetzt ist sich Lexi nicht recht darüber klar, ob sie auch von Ihnen Liebe erwarten kann. ›Mag er mich eigentlich, Tante Josi?‹, fragte sie immer wieder. Doch es nützt nicht viel, wenn ich ihr das versichere. Alexa muss es selbst erleben und spüren. Dazu gehört Zeit und Geduld von Ihrer Seite.«

»Sie glauben also nicht an die Stimme des Blutes?«

»Doch, denn Lexi vertraut Ihnen und sucht Ihre Zuneigung. Aber für das Kind ist zu viel geschehen. Es muss die Dinge erst einmal innerlich verarbeiten. Manchmal weint Lexi bitterlich, weil ihre Mutti nicht wiederkommen kann. Aber meist gibt sie sich Mühe, fröhlich zu sein, weil sie Vivian dieses Versprechen gegeben hat.«

»Ich dachte, ein fünfjähriges Kind vergisst rasch.«

»Nein, Vivian wird von Lexi nie vergessen werden. Dazu ist das Kind innerlich schon zu reif. Im Grunde ist das auch gut so. Denn die Erinnerung an die Mutter ist etwas unendlich Kostbares.«

Sie konnten gut miteinander sprechen. So, wie Alexa sich bei Josefa ausweinen konnte, vermochte der Vater der Ärztin gegenüber all das auszusprechen, was sein Herz bewegte, seit das Kind auf dem Flughafen unerwartet vor ihm gestanden hatte.

Später schwammen sie um die Wette, und er konnte feststellen, dass die kluge Doktorin ausgezeichnete sportliche Fähigkeiten besaß. Doch er erinnerte sie rechtzeitig daran, dass sie sich wegen der überstandenen Krankheit nicht überanstrengen dürfte.

»Vorsicht, Josefa! Sie vergessen, dass Sie noch Patientin sind. Es ist zwar ein sehr plumper Versuch, meine eigenen schwachen Fähigkeiten im Schwimmen zu entschuldigen, aber wir sollten kein Wettschwimmen veranstalten, sondern uns gemächlich fortbewegen und dann wieder in die Sonne legen.«

Josefa lachte ihn an. »Sie können sowieso schneller schwimmen als ich, wenn ich auch im Gymnasium alle Schwimmpreise nach Hause holte und noch als Studentin allerlei Medaillen gewann. Aber Sie haben recht, ich darf mich nicht überanstrengen. Also werde ich vernünftig sein.«

Als die Sonne schon schräg stand, riefen sie Lexi, die das warme klare Wasser nur ungern verlassen wollte, sich aber am Ende doch anzog, als sie hörte, dass man unterwegs noch anhalten wolle, um Kuchen zu essen.

»Und Kakao?«, fragte sie, indem sie sich die Lippen leckte.

»Natürlich bekommst du Kakao – so wie damals, als wir uns kennengelernt haben.«

Lexi nickte. »Warum hast du mir nicht gleich gesagt, dass du mein Vati bist?«, forschte sie ernsthaft. »Das wäre viel besser gewesen.«

Alexander holte tief Atem und warf Josefa einen hilfesuchenden Blick zu.

»Vielleicht hat dein Vati gedacht, dass du es weißt«, warf die Ärztin vorsichtig ein.

»Nein, Lexi«, widersprach er, »ich will dich nicht anschwindeln. Ich habe es damals selbst nicht gewusst. Mutti hat es mir erst später gesagt.« Er sagte es, weil er das Gefühl hatte, er müsse seiner Tochter die Wahrheit sagen, ob sie sie nun verstehen könne oder nicht.

Lexi ließ sich von Josefa das feuchte blonde Haar kämmen und schlug die Augen zu ihrem Vater auf. »Na ja, ich hab’s auch nicht gewusst«, meinte sie gönnerhaft. »Bloß gut, dass meine Mutti es uns noch gesagt hat.«

Er legte die Hand auf die schmale Kinderschulter. »Ja, Alexa, darüber bin ich auch froh.«

*

Den folgenden Tag verbrachte Alexander Rethy auf Sophienlust. Er lernte auf diese Weise das Leben kennen, das seine Tochter dort führte. Alexa führte ihre beachtlich fortgeschrittenen Reitkünste vor und brachte es sogar fertig, das Pony nach getaner Arbeit selbst abzureiben und abzusatteln. Nur den Riegel der Box durfte Justus, der wohlwollend zugeschaut hatte, am Ende zuschieben, weil er für Lexi zu schwer war.

Auch eine Fahrt nach Bachenau stand auf dem Programm, wo Andrea von Lehn, Nicks verheiratete Schwester, die Gäste mit Pflaumenkuchen bewirtete und anschließend das berühmte Tierheim Waldi & Co. besichtigt wurde.

»Wie jung Frau von Schoeneckers Tochter aussieht. Man könnte sie für ein Schulmädchen halten«, raunte Alexander Rethy Josefa ins Ohr.

»Sie ist ja auch erst knapp neunzehn, denn sie hat von der Schulbank weg geheiratet«, erwiderte die Ärztin ebenso leise. »Aber sie ist sehr glücklich in ihrer Ehe geworden. Ihr Mann, Dr. Hans-Joachim von Lehn, ist Tierarzt, und sie selbst liebt Tiere über alles. So haben die beiden in jeder Hinsicht die gleichen Interessen. Ich kenne die Geschichte dieser Ehe durch meine Freundin Carola Rennert. Da Andreas Schwiegervater den Wunsch hatte, sich zur Ruhe zu setzen, konnte sein Sohn das Haus, das große Grundstück und die ausgedehnte Praxis bereits in sehr jungen Jahren übernehmen.«

Waldi, der Namenspatron des Tierheims, stolzierte die ganze Zeit hinter der kleinen Gesellschaft her, während die große schwarze Dogge Severin nicht von Andreas Seite wich und die Fremden die ganze Zeit aufmerksam musterte.

»Da haben Sie einen getreuen Beschützer, Frau von Lehn«, meinte Alexander Rethy, als der Rundgang beendet war und er auch Helmut Koster, den Tierpfleger, der zugleich den großen Garten in Ordnung hielt und sich um die Wagen der von Lehns kümmerte, begrüßt hatte.

»Mein Mann hat mir Severin geschenkt. Das arme Tier war damals völlig verwahrlost und gehörte Fabian Schöller, der durch die Dogge in Sophienlust eine neue Heimat gefunden hat. Severin ist tatsächlich mein ständiger Beschützer und Begleiter geworden, obwohl man einen Schutz hier in Bachenau kaum nötig hat. Unsere Welt ist friedvoll und klein, Herr Rethy. Sie leben zwischen den Kontinenten und kommen täglich mit Gefahren und aufregenden Ereignissen in Berührung, doch bei uns gibt es nur die Tiere und die Kinder in Sophienlust. Aber ganz ohne Aufregung geht es erstaunlicherweise auch in unserem kleinen Bereich nicht ab.«

»Das kann ich mir vorstellen. Das Leben ist immer dramatisch, und meist da, wo man es am wenigsten erwartet«, antwortete der Flugkapitän höflich. Andrea gefiel ihm, so wie ihm alle Leute gefielen, die zu Sophienlust gehörten. Das Ehepaar von Schoenecker schien den Menschen seiner Umgebung und insbesondere der eigenen Familie einen besonderen Stempel aufzuprägen. Alexander Rethy freute sich immer mehr darüber, dass seine kleine Tochter in dieser Atmosphäre von Humanität und echter Freundlichkeit aufwachsen sollte.

Am Abend saßen Alexander Rethy und Josefa Klinger am Kamin von Schoeneich, wo ein paar Buchenscheite knisterten – nicht unbedingt der Kälte wegen, sondern weil es dadurch gemütlich war. Alexander von Schoenecker bewirtete die Gäste mit seinem besten Rotwein, und die Stimmung war gelöst und heiter.

»Nehmen Sie sich für die Angehörigen Ihrer Kinder immer so viel Zeit, und sind Sie immer so gastlich?«, erkundigte sich der Flugkapitän, der sich nicht erinnern konnte, jemals einen Abend in einem so harmonischen Kreis verbracht zu haben.

»Wir sind alle eine große Familie«, antwortete der Hausherr lächelnd. »Wenn ich nicht an dem Anteil nähme, was für meine Frau zum schönsten Lebensinhalt geworden ist, wäre unsere Ehe recht traurig. Denn meine Frau ist fast täglich drüben in Sophienlust, und unser Sohn Nick verbringt sogar gelegentlich die Nächte dort in seinem Zimmer.«

Nick, der schon gelegentlich mit bei den Erwachsenen sitzen durfte, hob den Kopf. »Wenn ich nicht ab und zu dort bliebe, gehöre ich nicht richtig dazu, Vati. Sophienlust ist doch mein späterer Beruf.«

»Ja, mein Junge, so ist es.« Denise von Schoenecker nickte dem bildhübschen Fünfzehnjährigen mit dem lockigen dunklen Haar zu. »Eines Tages werde ich diese Aufgabe in deine Hände legen.«

»Das hat noch viel Zeit, Mutti«, meinte Nick. »Erst einmal kommt mein Abitur, und dann muss ich studieren, genau wie Sascha. Du bist ja noch jung, Mutti. Gott sei Dank!«

In der Tat wirkte die schöne Denise erstaunlich jugendlich. Man traute ihr den großen Sohn kaum zu.

»Zu alt komme ich mir auch nicht vor, Nick. Aber ich möchte manchmal mehr Zeit für Vati haben. Auch für ihn wird es leichter werden, wenn er nicht mehr beide Güter allein verwalten muss. In ein paar Jahren wird Sascha ihn unterstützen.«

»Ohne dich ist Sophienlust nicht mehr Sophienlust, Mutti. Du darfst das nicht aufgeben, nie«, erklärte Nick leidenschaftlich. »Es war zwar der Gedanke meiner Urgroßmutter, aber du hast dem Heim seinen besonderen Charakter gegeben. Ich mag gar nicht daran denken, dass du dich irgendwann einmal aus dieser Aufgabe zurückziehen wirst.«

»Es hat noch Zeit, mein guter Junge«, meinte Alexander von Schoenecker lächelnd. »Leben wir in der Gegenwart und genießen wir diesen guten Tropfen. Trinken wir auf Muttis Wohl!«

Sie hoben die Gläser. Auch Henrik hielt mit, wenn sich auch in seinem Glas nur roter Fruchtsaft befand. Dann wurde es für den Jüngsten Schlafenszeit. Er schmollte ein wenig, denn er war sich im Kreise der Großen schon beinahe erwachsen vorgekommen. Doch seine gute Erziehung siegte. Er verabschiedete sich von den Gästen und seinen Eltern, nicht ohne von Denise das Versprechen zu erschmeicheln, dass sie in zwanzig Minuten noch einmal zu ihm hinaufkommen werde.

»Er ist ein besonders netter Bursche«, sagte Alexander Rethy, nachdem Henrik verschwunden war. »Ich erinnere mich noch genau, wie freundlich er sich gleich am ersten Tag Alexas angenommen hat. Da wusste ich allerdings noch nicht, dass er Ihr Sohn ist, gnädige Frau.«

»Alle Kinder in Sophienlust sind nett zu neuen Heimbewohnern«, warf Nick ein. »Ich glaube, es ist wichtig, wie man aufgenommen wird in einem Heim. Ich bin selbst als kleiner Junge in einem Kinderheim gewesen und habe oft unter schrecklicher Sehnsucht nach meiner Mutter gelitten.«

Unwillkürlich griff Denise nach Dominiks kräftiger Jungenhand. Ja, das waren schwere Zeiten gewesen damals, nach dem Tod ihres ersten Mannes. Erst das Testament der Sophie von Wellentin, das Nick mit einem Schlage zu einem reichen Jungen gemacht und ihr die Aufgabe gestellt hatte, Sophienlust in eine Heimstatt für in Not geratene Kinder zu verwandeln, hatte ihrem Leben die entscheidende, glückliche Wende gegeben.

Josefa Klinger saß still neben dem Feuer und lauschte den Worten der anderen. Sie fühlte sich geborgen und glücklich. Insgeheim freute sie sich auf die Rückfahrt nach Sophienlust, denn Alexander Rethy hatte versprochen, sie dort abzusetzen, wenn er in die Kreisstadt zurückfahre. Er selbst hatte ja im ›Bären‹ ein Zimmer, das er noch zwei Tage bewohnen würde.

Zwei Tage, überlegte die Ärztin. Dann fährt er weg und wird wieder nicht schreiben. Doch dann dachte sie an die soeben ausgesprochene Mahnung des Gastgebers, nicht an die Zukunft zu denken, sondern dem frohen Augenblick zu leben, und genoss die Harmonie des Abends sowie die Anwesenheit Alexander Rethys.

*

Am letzten Tag des Aufenthaltes des Flugkapitäns in Sophienlust kam überraschender Besuch für Josefa Klinger. Es war Dr. Fred Wellner, der Oberarzt der Klinik, der drei Tage Urlaub nutzen wollte, um die Kollegin an ihrem Ferienort aufzusuchen.

Der Zufall fügte es, dass Dr. Wellner genau das Zimmer im Gasthof ›Zum Bären‹ mietete, in dem eben noch der Koffer von Alexander Rethy gestanden hatte. Die Herren begegneten einander im Flur und grüßten beide höflich. Umso größer war ihr beiderseitiges Erstaunen, als sie sich in Sophienlust wiedersahen und ein jeder sich als guter Bekannter Josefa Klingers erwies.

Die junge Ärztin geriet in einige Verwirrung. Zwar freute sie sich über den Besuch Fred Wellners, doch hätte sie viel darum gegeben, wenn der Oberarzt erst einen Tag später erschienen wäre. Denn Alexander Rethy zeigte sich über das Auftauchen dieses Kollegen etwas befremdet. Und gerade das hätte Josefa Klinger herzlich gern vermieden.

Aber nun war es nicht zu ändern. Josefa machte die beiden Herren miteinander bekannt, und Alexander Rethy bemerkte lachend, dass man sich bereits aus dem Gasthof kenne.

»Ich habe Herrn Rethy sozusagen aus dem Zimmer vertrieben. Der Gasthof scheint ziemlich ausgebucht zu sein

im Sommer«, sagte der Oberarzt. Es klang ein bisschen steif. Doch Lexi rettete die Situation dadurch, dass sie einen gemeinsamen Ausflug in ihres Vaters Auto vorschlug. Was blieb den Erwachsenen übrig, als sich in die Situation zu fügen?

Josefa Klinger verhielt sich ziemlich schweigsam. Wie gern hätte sie Alexander Rethy erklärt, dass zwischen ihr und Fred Wellner nichts als eine oberflächliche berufliche Freundschaft bestand. Aber dazu ergab sich an diesem Tag keine Gelegenheit, und eigentlich bestand auch gar kein Grund zu einer solchen Erklärung, denn auch zwischen Alexander und ihr gab es nichts als eine herzliche Freundschaft.

Am späten Nachmittag setzte Alexander Rethy Josefa Klinger, Dr. Wellner und sein Töchterchen wieder in Sophienlust ab. Die Abschiedsstunde hatte für ihn geschlagen. Er küsste Denise von Schoenecker die Hand und dankte ihr und Frau Rennert für alles, was sie für Lexi taten, sowie für die großzügige Gastfreundschaft, die ihm selbst gewährt worden war. Auch von den Kindern nahm er Abschied. Denn besonders unter den Jungen genoss er als Pilot von Düsenmaschinen großes Ansehen.

Zuletzt drückte er Josefa Klinger die Hand. »Dank für alles, Josefa«, sagte er warm. »Hoffentlich sehe ich Sie das nächste Mal, wenn ich Lexi wieder besuche, noch hier.«

»Ja«, entgegnete sie leise, »ja, vielleicht bin ich dann noch hier. Ich bin ja für mehrere Monate von der Klinik beurlaubt worden, und meine liebe Freundin Carola hat mich aufgefordert, die ganze Zeit hier bei ihr zu bleiben.«

»Was für ein Glück für Lexi und mich«, meinte Alexander Rethy und schaute ihr in die unwahrscheinlich blauen Augen, bis sie errötend die Lider senkte.

»Alexa«, wandte er sich nun an seine Tochter, »ich hoffe, es hat dir gefallen. Wenn ich das nächste Mal komme, kannst du dir wieder etwas von mir wünschen.«

»Ich wünsche mir bloß, dass du bald wiederkommst, Vati. Schau, Nick und Henrik haben ihren Vati jeden Tag. Warum kann das bei uns nicht auch so sein?«

»Weil ich einen anderen Beruf habe als Herr von Schoenecker, Kleines. Du musst brav und vernünftig sein. Es lässt sich leider nicht ändern.«

Alexa schob die Unterlippe vor. »Wenn du mich richtig lieb hättest, würdest du immer bei mir bleiben, Vati«, schmollte sie. »Mutti war auch immer bei mir. Die hatte mich lieb.«

Der geplagte Vater seufzte und umarmte das kleine Mädchen. »Sei mir nicht böse, Lexi«, schmeichelte er. »Es geht wirklich nicht anders. Du musst mir glauben, dass ich dich genauso lieb habe wie früher Mutti. Wenn du größer bist, kannst du vielleicht öfter mal mitkommen und in meiner Wohnung in Wiesbaden auf mich warten. Aber dazu bist du jetzt noch zu klein.«

»Immer ist man zu klein«, beklagte sich Lexi.

Josefa Klinger verstand es, das Kind abzulenken, als Alexander Rethy in seinen Wagen stieg und winkend davonfuhr. Trotzdem flossen bei Lexi ein paar Tränen. »Er hat mich eben gar nicht lieb, Tante Josi«, behauptete sie schluchzend.

Es war wieder einmal Nick, der die Kleine zu trösten verstand. Er schlug Lexi vor, ein bisschen zu reiten, damit Dr. Wellner sehe, was sie schon alles könne.

Sofort stimmte das Kind begeistert zu.

»Ich habe das Reiten ganz schnell gelernt, Onkel Wellner«, berichtete es und reckte sich zu seiner vollen Höhe auf. »Nick sagt, dass ich Talent habe.«

Josefa Klinger und ihr Kollege folgten den Kindern zum Ponystall, wo Nick mit Lexis tatkräftiger Unterstützung das Pony sattelte, das sie immer ritt.

Fred Wellner und Josefa Klinger schauten zu. Der Oberarzt war ehrlich erstaunt, denn er stammte aus der Stadt und hatte vom Reiten keine Ahnung. »Mich brächte man nicht auf so ein wildes Tier«, sagte er mit ehrlicher Bewunderung, als Alexa an das Gatter geritten kam, um festzustellen, was die Zuschauer von ihren Künsten hielten.

»Es ist doch kein wildes Tier. Wilde Tiere sind Löwen und Tiger«, entgegnete Alexa unbekümmert und trabte wieder davon.

»Sie hat den Kummer über den Abschied von ihrem Vater schon vergessen«, meinte der Arzt, indem er sich Josefa Klinger zuwandte.

»Vergessen nicht. Alexa beschäftigt sich mit diesem Problem. Sie denkt nur im Augenblick nicht daran. Und das ist gut so. Noch hat sie nicht das rechte Vertrauen zu ihrem Vater gewonnen, der gar so plötzlich in ihr kleines Leben gekommen ist – unglücklicherweise zugleich mit dem Tod der Mutter.«

»Ja, es ist eine seltsame Geschichte, Josefa. Auch Sie haben eine Rolle darin gespielt.«

»Nur eine recht unwichtige, Fred«, gab sie leise zurück. »Ich habe Alexa für eine kurze Zeit in meiner kleinen Wohnung aufgenommen, ehe sie hier in Sophienlust Unterkunft fand. Dieses Angebot hätte jede Frau in einer solchen Situation gemacht. Lexi ist ein liebes kleines Ding. Sie hat mir nicht viel Mühe gemacht.«

»Jetzt hängt sie an Ihnen wie eine Klette. Sie sind Mutterersatz, nicht wahr?«

»Nein, nein, diese Rolle hat hier in Sophienlust nur Tante Isi, also Frau von Schoenecker, für alle mutterlosen Kinder übernommen, denn sie begrüßt jeden Gast in Sophienlust. Denise von Schoenecker ist eine schöne, ungewöhnliche Frau, die es versteht, diesem Heim sein besonderes Gepräge zu geben, für einen jeden Zeit zu haben und dennoch die eigene große Familie in Schoeneich nicht zu vernachlässigen. Ich habe noch nie einen Menschen wie sie getroffen. Auch für Lexi ist Tante Isi in gewisser Weise der Ersatz für die verstorbene Mutter geworden. Und das ist gut so, denn ich kann ja nicht immer hierbleiben, sondern werde in die Klinik zurückkehren, sobald mein Zwangsurlaub abgelaufen ist.«

»Ich hatte schon Sorge, Sie kämen nicht zurück«, gestand der Oberarzt. »Dies Sophienlust hat etwas, was einen Menschen fesseln und festhalten kann.«

»Aber ich bin nur zu Gast hier, Fred. Auf die Dauer fehlt mir mein Beruf. Schon jetzt würde ich der Hausärztin, einer reizenden Kollegin namens Dr. Frey, die Arbeit gern ein wenig abnehmen, besonders dann, wenn sie sonntags oder spätabends gerufen werden muss. Aber ich halte mich zurück und vergesse für diese Zeit ganz und gar, dass ich Medizin studiert habe.«

»Sehr vernünftig. Kinder sind oft krank. Ich könnte mir denken, dass es in einem Kinderheim für einen Arzt eine ganze Menge Arbeit gibt. Und wenn Sie erst den kleinen Finger reichen, wird man die ganze Hand nehmen, wie das im Leben so geht.«

»Es wäre unfair gegenüber der Kollegin. Außerdem kennt sie die Kinder besser als ich. Ich bin eine Fremde.«

»Den Eindruck hat man kaum, wenn man beobachtet, wie vertraut die Kinder mit Ihnen sind. Werden Sie eigentlich Tante Josi gerufen?«

»Von den kleineren Kindern schon. Die älteren titulieren mich höflich mit Frau Doktor. Man hält auf gute Manieren in Sophienlust, so frei die Kinder auch sonst aufwachsen mögen.«

Der Oberarzt nahm ihren Arm. »Wollen wir einen Spaziergang unternehmen, Josefa? Später würde ich Sie zum Abendessen gern in meinen Gasthof entführen, falls das Hausprogramm nicht dagegensteht.«

»Was sollte dagegenstehen? Sollten Sie Frau von Schoenecker heute nicht mehr kennenlernen, so wird es morgen geschehen. Dann allerdings ist nach Sophienluster Sitte eine Einladung für Sie fällig – entweder hier im Kinderheim oder drüben in Schoeneich bei den von Schoeneckers.«

»Kann ich das annehmen? Ich habe schließlich kein Kind im Heim wie Herr Rethy.«

»Darauf kommt es nicht an. Hier sind Gäste immer gern gesehen. Besonders die Kinder freuen sich über jeden Besuch.«

»Dann würde ich den Kindern von Sophienlust gern ein Fest geben. Oder ist so etwas gegen die Regel?«

»Hier ist nichts gegen die Regel, was den Kinden Spaß macht. Sie werden mit Ihrem Vorschlag helle Begeisterung auslösen.«

Das Kinderfest wurde am nächsten Tag ein voller Erfolg. Nicht nur das Wetter war programmgemäß strahlend. Auch die Wettspiele verliefen ohne jeden Missklang. Dr. Fred Wellner verteilte mit Begeisterung Preise an die Gewinner und Trostpreise an die Verlierer. Limonade und Gebäck fanden reißenden Absatz, und zum Schluss teilten Pünktchen und Angelika Langenbach, Vickys ältere Schwester, aus einem großen Behälter Vanille-Eis aus.

Es ließ sich schwer entscheiden, wer an diesem Fest mehr Freude hatte – die Kinder, für die es gegeben wurde, oder die Erwachsenen, die den ganzen Morgen mit den Vorbereitungen verbracht hatten. Dr. Fred Wellner war ungeheuer erfinderisch gewesen und gestand Josefa am Abend ein, dass ihm ein ähnliches Fest aus seiner eigenen Kindheit in Erinnerung geblieben sei. Deshalb habe es ihm auch keine besondere Mühe bereitet, sich etwas einfallen zu lassen.

Denise entführte ihn und Josefa Klinger am Abend nach Schoeneich, wo die beiden zusammen mit der Familie von Schoenecker zu Abend aßen.

»Lexi hat sich bei mir beklagt, dass ihr Vater nicht auch ein Fest für die Kinder gegeben habe«, berichtet die Ärztin bei Tisch. »Wenn Herr Rethy wiederkommt, wird sie bestimmt von ihm verlangen, dass er auch ein Fest veranstaltet.«

Denise hob lächelnd die Schultern. »Macht das etwas, Frau Dr. Klinger? Auf diese Weise kommen unsere Kinder noch einmal zu einer Freude. Ich glaube, dass Freude wichtig ist – in jedem Leben, besonders aber im Leben unserer Kinder, die doch ein richtiges Familienleben entbehren müssen, so gut sie es auch bei uns in Sophienlust haben mögen.«

»Ich muss gestehen, dass ich mir unter dem Kinderheim Sophienlust etwas ganz anderes vorgestellt hatte«, warf Dr. Wellner ein. »Dass ich während

meines kurzen Urlaubs ein Fest mit Sackhüpfen und Lampions veranstalten würde, hätte ich mir nicht träumen lassen!«

Als der Oberarzt später die junge Kollegin im Wagen zurück nach Sophienlust brachte, hielt er unweit des großen Sees kurz an und nahm ihre Hand. »Sie werden wiederkommen in unsere Klinik?«, fragte er noch einmal und schaute sie dabei eindringlich an.

»Ja, Fred, bestimmt. Dies sind Ferien, sonst nichts.«

»Und Alexa Rethy?«

»Was hat das mit Alexa zu tun? Sie wird hierbleiben, im Herbst die Schule besuchen und vielleicht später einmal von ihrem Vater weggeholt werden, dann nämlich, wenn er sich zu einem sesshafteren Leben entschließen oder gar heiraten sollte.«

»Ich dachte …«

»Was, Fred?«

»Ach, nichts, Josefa. Sie werden wiederkommen. Alles andere geht mich nichts an. Vielleicht irre ich mich auch, deshalb wollen wir lieber nicht mehr davon sprechen. Nur so viel, Josefa – ich wäre sehr betrübt, wenn Sie sich anders entscheiden würden und nicht zu uns zurückkämen.« Er stockte und fügte dann hinzu: »Ich liebe dich nämlich, Josefa.«

Sie konnte ihm plötzlich im blassen Mondlicht nicht mehr in die Augen sehen. Auch brachte sie kein einziges Wort über die Lippen.

Auch er sprach nun nicht mehr, sondern ließ den Wagen auf der glatten Verbindungsstraße zwischen Schoeneich und Sophienlust langsam wieder anrollen.

Am folgenden Tag fuhr der Oberarzt ab. Auf das Gespräch in der Nacht war er nicht mehr zurückgekommen.

*

Einige Tage später wurde Josefa Klinger ans Telefon gerufen. Es sei ein auswärtiges Gespräch, richtete Pünktchen aus, die eilig in den Anbau gelaufen war.

Josefa trabte im Dauerlauf zum Büro, wo sie den Hörer neben dem Apparat fand. Frau Rennert ließ sie taktvoll allein, sodass sie ungestört war.

»Hallo, Josefa. Ich bin’s.«

Sie erkannte seine Stimme sofort. Ihr Herz schlug unvernünftig rasch.

»Nett, dass Sie anrufen, Alexander. Wie geht es Ihnen? Wo sind Sie im Augenblick?«

»Ich sitze in Wiesbaden in meiner Wohnung und ärgere mich, dass die Zeit nicht ausreicht, um nach Sophienlust zu fahren. Ich habe leider sehr viel Dienst zurzeit, weil ein paar Kollegen ausgefallen sind.«

»Soll ich Lexi rufen? Sicher wollen Sie nicht mit mir, sondern mit ihr sprechen.«

»Nein, ich möchte in erster Linie mit Ihnen reden, Josefa. Aber es handelt sich auch um Alexa. Insofern haben Sie recht.«

»Kann ich etwas für Sie oder Lexi tun?«, bot sie sofort bereitwillig an.

»Hm, das können Sie. Aber ich weiß nicht, ob Ihre Großzügigkeit so weit gehen wird. Es ist eine ziemlich wichtige Angelegenheit, und man sollte so etwas eigentlich nicht am Telefon besprechen. Da es aber auch eilig ist, habe ich mich entschlossen, Sie sofort anzurufen.«

Josefa wartete. Warum war ihr plötzlich so seltsam zumute? Doch Alexander Rethy war ein ziemlich unberechenbarer Mann …

»Hören Sie mich noch?«, erklang jetzt seine Stimme aus dem Apparat.

»Ja, Alexander, Sie wollten mir etwas Wichtiges mitteilen.«

»Es ist eine Frage, die ich Ihnen stellen möchte. Bitte, fassen Sie es nicht falsch auf. Man sollte es wirklich nicht am Telefon sagen. Kurz und gut, ich habe mir überlegt, dass es das Beste wäre, wenn wir heiraten würden, Josefa. Wegen Lexi.«

Undeutlich hatte sie geahnt! Vielleicht auch gehofft. Doch jetzt verschlug es ihr trotzdem den Atem. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas, aber sie brachte kein Wort über die zitternden Lippen.

»Josefa, es geht natürlich nur, wenn Sie nicht an Ihren Kollegen Dr. Wellner gebunden sind. Ich könnte das nicht verantworten. Aber Sie deuteten verschiedentlich an, dass Sie allein und einsam seien. Da habe ich mir eingebildet, dass es in Ihrem Leben keinen Mann gäbe, der Ihnen etwas bedeutet.«

»Nein, es gibt keinen Mann, Alexander. Da haben Sie recht. Fred Wellner ist ein sehr guter Freund – mehr nicht. Das wird sich niemals ändern, obwohl er selbst es gern anders haben möchte. Aber ich wäre nicht die richtige Frau für ihn.« Sie konnte nur stockend sprechen.

»Danke, Josefa. Es ist lieb von Ihnen, dass Sie so ehrlich sind. Unsere Ehe wäre sozusagen ein nüchterner Vertragsabschluss. Ich kann nicht von Ihnen erwarten, dass Sie mich lieben, weil ich zufällig Alexas Vater bin. Deshalb ist mir das Ganze eigentlich ziemlich peinlich. Eine Bekannte hat mich heute darauf gebracht, ohne es zu wollen. Sie meinte, dass ich heiraten müsste, damit Alexa ihre Ordnung hat und mehr Vertrauen zu ihrem Vater gewinnt. Leider weiß ich beim besten Willen keine andere Frau als Sie, Josefa, vor allem, weil Lexi Sie lieb hat und Sie wohl auch braucht.« Er hielt inne und holte tief Atem, wie sie deutlich hören konnte, um dann fortzufahren: »Selbstverständlich können Sie jetzt nein sagen und mir erklären, dass es eine Unverschämtheit von mir ist, einen solchen Gedanken überhaupt nur zu erwägen …«

Nun schwiegen sie beide. Endlich ergriff er erneut das Wort. »Sind Sie mir jetzt böse, Josefa?«, fragte er leise.

»Nein, Alexander, ich verstehe Sie sogar«, antwortete sie und war dem Himmel dankbar, dass ihr ihre Stimme wieder gehorchte. »Es wäre ein Ausweg, obwohl Alexa in Sophienlust wirklich glücklich ist.«

»Aber sie wird sich nicht davon überzeugen lassen, dass ich sie genauso lieb habe wie ihre Mutti. Ich werde das bei gelegentlichen Besuchen im Heim nicht reparieren können. Sie muss in meinem Haushalt leben und mich jedes Mal sehen, wenn ich für ein paar Stunden oder Tage heimkommen kann. Das bin ich ihr schuldig. Sie ist kein Waisenkind, dem Sophienlust beide Eltern ersetzen muss.«

»Möglicherweise haben Sie recht, Alexander. Aber ich muss darüber nachdenken. Eigentlich wollte ich nie heiraten, sondern nur meinem Beruf leben. Ich habe mir diesen Beruf schwer erkämpft, wie Sie wissen.«

»Sie würden es gut haben bei mir, das verspreche ich Ihnen, Josefa. Wir haben uns in den Tagen in Sophienlust so großartig verstanden. Sonst brächte ich gar nicht den Mut zu meiner Frage auf. Ich glaube, Alexa ist ein Kind, das ein Elternhaus braucht. Ich würde mir auch Mühe geben, Ihnen nicht allzu sehr zur Last zu fallen, Josefa. Sie wissen, dass ich nicht viel zu Hause bin.«

»Nein, leider nicht. Das ist es, was Lexi Kummer macht. Würde es besser werden durch eine … Scheinehe?«

»Ich glaube fest daran. Wenn Sie mir heute versprechen, dass Sie es sich überlegen wollen, Josefa, bin ich Ihnen schon dankbar. Sobald ich mehr Zeit habe, werde ich mir Ihre Antwort holen.«

»Also gut, ich werde nachdenken. Vielleicht ist es tatsächlich ein guter Vorschlag.« Sie bemühte sich, die Sache wie eine geschäftliche Angelegenheit zu behandeln.

»Sehen Sie, ich könnte meine Eigentumswohnung vermieten und ein Haus kaufen. Es wäre besser für Lexi, wenn sie einen Garten hätte.«

Er hatte also bereits feste Vorstellungen von seinem Plan. Es war mehr als nur eine Augenblickslaune!

»Ja, Alexander, vielleicht ein Haus«, erwiderte Joefa zögernd. »Aber ein bisschen Zeit müssen Sie mir lassen.«

»Entschuldigen Sie, ich bin mal wieder zu voreilig, nicht wahr? Ich will sofort Entscheidungen haben, aber das kann und darf ich nicht von Ihnen verlangen.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Alexander.« Sie war erleichtert, dass er ihr Lächeln nicht sehen konnte.

»Ich …, ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Sie sich dazu entschließen könnten, Josefa. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine andere Frau gibt, die so lieb zu meiner Alexa sein würde wie Sie.«

»Wir …, wir reden das nächste Mal darüber, Alexander. Bis dahin habe ich mich sicher etwas an den Gedanken gewöhnt.« Ihre Stimme klang jetzt hell und zuversichtlich.

»Ich verspreche, dass ich mir nicht das Leben nehmen werde, falls Sie anderer Meinung sein sollten als ich, Josefa«, scherzte er rau. »Aber ich bilde mir ein, es müsste gut gehen mit uns beiden. Wir sind zwei vernünftige Menschen und machen uns keine Illusionen. Außerdem wünschen wir uns beide, dass Alexa glücklich wird.«

»Ja«, wiederholte Josefa Klinger, »ja, wir sind vernünftig und machen uns keine Illusionen.«

»Danke, dass Sie mir zugehört und nicht den Hörer hingeworfen haben, Josefa. Bis zum nächsten Mal. Hoffentlich können Sie trotz meines Anrufs heute Nacht gut schlafen. Wenn nicht, dann denken Sie mal an mich. Ich werde die Route Dakar-Südamerika fliegen.«

»Ich denke, ich werde schlafen können. Hier ist alles so friedvoll in Sophienlust. Aber ich verspreche, dass ich an Sie denken werde, falls ich aufwache.«

»Nett von Ihnen. Ich habe jetzt nämlich doch ein schlechtes Gewissen wegen dieses Telefonanrufs. Aber nachdem ich Sie einmal an den Apparat holen ließ, musste ich schließlich auch Farbe bekennen. Bis bald, Josefa.«

Er legte auf, sodass sie nicht mehr antworten konnte. Auch sie legte nun den Hörer auf die Gabel zurück und stützte den Kopf schwer in ihre Hände.

Ein Heiratsantrag durchs Telefon, überlegte sie. Nein, eigentlich war es kein wirklicher Heiratsantrag. Alexander Rethy wollte sich nur die Liebe seines Kindes sichern und ihr, Josefa, damit einen Vertrag anbieten, der ihr finanzielle Sicherheit, einen guten Namen und auch gesellschaftlich einen gewissen Platz garantierte. Mit Liebe hatte dieser Heiratsantrag jedoch nichts zu tun!

Josefa schloss die Augen. Sie wusste, dass die Sache einfacher gewesen wäre, wenn auch von ihrer Seite keine Liebe im Spiel gewesen wäre. Aber sie liebte Alexander Rethy! Das wusste sie genau.

Josefas Herz schlug rasch und laut. Sie dachte an den Tag zurück, als Alexander Rethy Vivian von Stöcken zu seiner Frau gemacht hatte. Diese Frau hatte er geliebt, und doch hatte er jenen Schritt in erster Linie getan, um sein Kind anzuerkennen und die rechtliche Stellung des kleinen Mädchens zu sichern. Aus ähnlichen Erwägungen sollte nun sie selbst den Namen Klinger mit dem des Flugkapitäns vertauschen. Sie sollte seinen Ring am Finger tragen und für Alexa nicht länger Tante Josi sein, sondern ihre zweite Mutter.

Alexander Rethy war ein gewissenhafter, pflichtbewusster Vater. Doch hätte ihr Fred Wellner einen solchen Antrag gemacht, sie hätte bestimmt sofort und mit entschiedener Freundlichkeit abgelehnt. Das erkannte Josefa ganz plötzlich.

Die Ärztin stand auf und verließ das kleine Büro. Sie fand Alexa im Gartenpavillon beim Spiel mit den anderen Kindern. Zum ersten Mal sah sie, dass Alexa große Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte.

Ich liebe ihn, dachte sie und wunderte sich kaum noch darüber, denn sie hatte es ja schon immer gewusst. Ihr Herz gehörte nicht nur dem Kind, es gehörte auch dem Vater – für immer!

Er darf es niemals erfahren, überlegte sie weiter. Er soll denken, dass ich genauso kühl über seinen Vorschlag denke wie er. Ich werde darauf eingehen. Es wird wunderbar werden, wenn wir gemeinsam ein Haus einrichten, wenn er im Garten das Gras schneidet und mit Lexi spielt …

Alexa kam auf sie zu. Josefa beugte sich nieder und küsste das Kind aufs blonde Haar. »Ich habe dich lieb, Lexi«, flüsterte sie zärtlich.

»Ja, Tante Josi«, antwortete Lexi und schlang die Ärmchen um ihren Hals.

Vom Anruf des Vaters sagte die Ärztin dem Kind nichts.

*

Es dauerte fast einen Monat, ehe Alexander Rethy wieder nach Sophienlust kam. In diesen vier Wochen hatte Josefa Klinger genügend Zeit, über den Vorschlag des Flugkapitäns nachzudenken. Sie hörte in dieser Zeit nichts von ihm, sodass es ihr manchmal vorkam, als hätte sie das Telefongespräch nur geträumt. Hin und wieder war sie nahe daran, sich Denise von Schoenecker gegenüber auszusprechen, denn ihre Freundin Carola erschien ihr zu jung, um sie mit einem so seltsamen und ernsten Problem zu belasten. Doch dann schwieg sie auch Denise gegenüber, denn sie glaubte, dass sie allein über den Vorschlag entscheiden müsse.

Alexa fragte oft nach dem Vater, von dem keinerlei Lebenszeichen kam. Wieder und wieder äußerte sie, dass er sie nicht richtig lieb habe und sie vergesse, wenn er im Flugzeug sitze und hoch oben über den Wolken fliege. Sah sie eine Maschine in der Luft, dann fragte sie regelmäßig, ob ihr Vati drin sitze. Aber niemand konnte ihr diese Frage mit Sicherheit beantworten.

Alexander hat recht, dachte Josefa, das Kind braucht die Geborgenheit in der Familie. Dann wird Alexa auch nach und nach erkennen, dass ihr Vater wirklich zu ihr gehört. Sie kennt ihn ja kaum.

Aber kannte sie selbst denn den Flugkapitän Alexander Rethy besser?

Er kam an einem Montagnachmittag, unverhofft und ohne vorherige Anmeldung, nachdem Josefa während des ganzen Wochenendes vergeblich auf seine Ankunft gehofft hatte. Sein Wagen stand plötzlich vor dem Haus. Josefa musste stehen bleiben und tief Atem holen. Dann erst vermochte sie weiterzugehen. In ihren Ohren war ein feines Klingen, und die Freude über das ersehnte Wiedersehen ließ ihre Pulse jagen.

»Hallo, Josefa, ich hatte gehofft, dich hier zu erwischen.« Er schien es nun für ganz selbstverständlich zu halten, sie zu duzen, nachdem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Ihre Knie zitterten ein bisschen. »Haben Sie …, hast du Lexi schon gesehen?«, stotterte sie.

»Nein, ich habe hier auf dich gewartet, um mir deine Antwort zu holen, Josefa. Ich hatte keinen Mut, dir von unterwegs eine Karte zu schreiben. Ich dachte, ich müsste dir Zeit lassen. Ich war sogar mehrmals in Deutschland und hätte auch ein paar Stunden Zeit gehabt, dich zu besuchen. Aber mir war, als sei es noch verfrüht. Vor zwei Wochen hatte ich ganze vier Tage frei. Ich verbrachte sie damit, mir Häuser und Grundstücke anzusehen. Hoffentlich bist du nicht entsetzt, wenn du daraus ersiehst, dass ich mir ernste Hoffnungen auf dich mache.«

»Du irrst dich nicht, Alexander. Ich bin einverstanden. Gerade diese letzten vier Wochen haben mir bewiesen, dass Lexi an ihrem Vati zweifelt, so glücklich sie sich auch sonst in Sophienlust fühlen mag. Selbst Frau von Schoenecker macht sich deswegen Sorgen.«

»Hast du ihr etwas von unserem Plan verraten?«

»Nein, ich musste erst mit mir selbst ins Reine kommen. Jetzt bin ich so weit.«

»Dann feiern wir also Verlobung?«

»Wenn du willst? Aber wir müssen Lexi davon sagen.«

»Ich finde, wenn es schon um ihretwillen geschieht, kann sie ein bisschen warten, Josefa. Musst du dich zum Essen abmelden?«

»Bei Carola schon. Aber das dauert nur eine Minute. Außerdem möchte ich ein anderes Kleid anziehen. Es geht schnell.«

»Hoffentlich! Sonst spürt mich meine Tochter hier auf, und dann misslingt mein schöner Plan, dich zu entführen.«

Josefa lief leichtfüßig zum Anbau hinüber und rief Carola zu, dass sie zum Essen mit Kapitän Rethy wegfahre, weil sie etwas Wichtiges besprechen müssten. Lexi solle vorerst noch nicht wissen, dass ihr Vater gekommen sei.

Carola nickte ihr zu. »Zieh dich nur hübsch an, wenn es so wichtig ist«, meinte sie augenzwinkernd.

Josefa spürte, dass sie rot wurde. Hatte Carola etwa bemerkt, dass sie Lexis Vater liebte?

Doch jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie riss das frisch gebügelte hellblaue Kleid aus dem Schrank und kämmte hastig das dunkle Haar. »Bis bald, Carola. Grüße bitte deinen Mann von mir.«

»Bis bald, Josi. Und viel Vergnügen!«

»Danke.«

Anerkennend schaute Alexander auf seine Uhr. »Donnerwetter, das hat wirklich nicht lange gedauert. Komm, steig ein.« Er öffnete für sie den Schlag und setzte sich dann hinter das Steuer.

Als er anfuhr, sagte er: »Jetzt bist du meine Braut. Aber ich bin ziemlich unromantisch, fürchte ich. Heiratsantrag per Telefon, Verlobung auf dem Gutshof von Sophienlust, sozusagen zwischen Tür und Angel, aber dafür habe ich unterwegs ein Lokal entdeckt, in dem wir das große Ereignis würdig feiern können.«

»Hier in der Nähe?«, wunderte sie sich.

»Auf dem halben Weg nach Frankfurt. Wir nehmen die Autobahn.«

Sein Tempo raubte ihr ein wenig den Atem. Doch sie ließ den Ereignissen nun freie Bahn.

Auf der Fahrt sprachen sie kaum miteinander. Selbst ein Mann wie Alexander Rethy musste sich erst mit der veränderten Situation anfreunden. Ob es ihm viel ausmachte, dass er sie heiraten musste, um seinem Töchterchen ein Heim zu bieten, fragte sich Josefa.

Das Restaurant war so elegant, dass Josefa fürchtete, in ihrem hellblauen Sommerkleid nicht passend angezogen zu sein. Doch Alexander widersprach ihr. »Du bist bildschön«, meinte er. »Wenn du wüsstest, wie deine Augen zu dem Kleid oder das Kleid zu deinen Augen passt! Das ist raffinierte Schlichtheit, möchte ich sagen.«

»Ohne jede Absicht«, gestand Josefa errötend. »Es war frisch gewaschen und gebügelt, deshalb habe ich es rasch übergezogen.«

»Um so eine harmlose Ausrede ist keine Frau der Welt verlegen. Da, der Tisch am Fenster gefällt mir. Dir auch?«

»Natürlich. Ich bin mit allem einverstanden.«

»In Ordnung, dann stelle ich das Menü zusammen.« Er tat es mit Hilfe des herbeieilenden Obers, und Josefa bekam es mit der Angst, weil er die teuersten und kostbarsten Sachen auswählte.

»Was trinken die Herrschaften?«

»Nur französischen Champagner. Den besten, den Sie haben.«

»Du bist leichtsinnig«, tadelte sie ihn mit großen Augen. »Russischen Kaviar, französischen Sekt, kanadischer Lachs – was soll aus unserer Haushaltskasse werden?«

Er lachte sie an. »Ich habe in New York einen Kursus absolviert und bin anschließend befördert worden. Jetzt verdiene ich runde dreihundert Dollar mehr im Monat. Außerdem sind damit automatisch die Sonderzahlungen für die Langstreckenflüge erhöht worden. Geldsorgen haben wir nicht, Josefa. Übrigens, ich habe mir gedacht, dass du die Stellung in der Klinik aufgeben solltest. Es wäre schön für Lexi, wenn du immer nur für sie da wärest.«

Josefa senkte die Lider. »Das kommt mir ein bisschen überraschend. Eigentlich möchte ich weitermachen. Ich wollte dich bitten, ein Haus in der Umgebung von Frankfurt zu suchen.«

Der Sekt wurde gebracht. Alexander lächelte sie an. »Dann also auf unsere Verlobung und unseren Vertrag, Josefa. Ich danke dir, dass du darauf eingehen willst. Hast du dir auch alles gründlich überlegt?«

»Doch, Alexander, sehr gründlich. Nur …, meine Tätigkeit aufzugeben, dazu kann ich mich nicht sofort entschließen. Frau Dr. Frey, die Hausärztin von Sophienlust, ist auch verheiratet und übt ihre Tätigkeit weiter aus.«

»Natürlich will ich dich nicht zwingen, aber ich dachte, wir heiraten, bevor Alexa eingeschult wird, damit es nicht gleich einen Schulwechsel für sie gibt.«

»Hör mal, das neue Schuljahr fängt doch gleich an. So rasch geht es keinesfalls.«

»Ich habe ein Angebot von einem Haus in Oberursel bei Frankfurt erhalten. So weit ich es übersehen kann, ist es genau das, was wir brauchen. Wenn es klappt, kaufe ich es sofort. Heiraten geht schnell, darin habe ich Erfahrung, und ein Umzug ist auch kein wirkliches Problem. Wenn du darauf bestehst, kannst du weiter in der Klinik bleiben. Du bekommst selbstverständlich ein Auto, damit du jeden Tag in die Stadt fahren kannst. Aber ich denke, dass es für dich doch schöner sein sollte, nicht im Beruf zu stehen.«

»Vielleicht, Alexander. Aber unsere Ehe wurde aus besonderen Erwägungen beschlossen und wird nur eine Art Gemeinschaftsvertrag sein. Deshalb sollte ich mein Leben besser nicht ändern.« Groß und fragend waren die blauen Augen auf ihn gerichtet.

»Es wird dein Leben verändern, Josefa. Wenn du Angst hast, dann sag es jetzt. Es ist wie beim Fliegen. Wenn man einmal aufsteigt, kann man nicht mehr umkehren. Du musst dich auf mich verlassen. Ich werde dafür sorgen, dass du gesichert bist, falls mir etwas passieren sollte. Wenn es zum Schlimmsten käme, hättest du in jedem Fall genug, um eine eigene Praxis zu finanzieren.«

Sie erschauerte. Der Kaviar, der eben auf Eis serviert wurde, brachte glücklicherweise eine Ablenkung von den ernsten Gedanken, die seine Worte heraufbeschworen hatten. Von dem blauen Deckel las sie in fließendem Russisch die Aufschrift ab.

»Das klingt schön, du kleine Russin«, meinte Alexander. »Aber ich verstehe leider kein Wort davon. Sprich lieber Deutsch mit mir und sage mir, ob du unbedingt weiterhin kranke Leute bedoktern musst.«

»Stört es dich?« Ganz kampflos wollte sie nicht aufgeben, obwohl sie schon wusste, dass sie ihm seinen Wunsch erfüllen würde.

»Möglich, dass es mich stört. Wenn du schon so nett und großzügig sein willst, Lexis zweite Mutter zu werden, dann musst du mir auch erlauben, ganz und gar für dich zu sorgen. Kannst du das verstehen?«

Sie nickte. »Hm – absolut vergangenes Jahrhundert, Alexander. Trotzdem – ich bin einverstanden. Ich werde mich nach den Kündigungsbedingungen erkundigen. Da ich für mehrere Monate krankgeschrieben bin, werde ich wahrscheinlich gar nicht in die Klinik zurückgehen müssen. Aber ich gestehe, dass es mir ein bisschen schwer fällt. Es war so ein weiter Weg, bis ich mein Ziel erreicht hatte.«

»Du bist ein liebes Mädchen, Josefa. Ich danke dir. Ich werde mit deinem Chef reden. Wetten, dass er jedes nur mögliche Zugeständnis macht? Bis zur Hochzeit habe ich dich frei.«

Josefa nahm einen Schluck Champagner, weil ihre Kehle trocken wurde. »Und wann ist unsere Hochzeit?«, fragte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd im Ohr klang.

»In etwa zwei bis drei Wochen, würde ich meinen. Ich habe jetzt ein paar Tage Zeit, um alles einzuleiten. Überlass das getrost mir. Deine Papiere sind doch hoffentlich in Ordnung?«

»Ja, Alexander, das sind sie.« Sie hatte die Urkunden bereits herausgesucht und zurechtgelegt. Da sie die Absicht gehabt hatte, auf lange Zeit zu verreisen, war es ihr richtiger erschienen, die wichtigsten Dokumente mitzunehmen. Oder war das bereits eine Vorahnung dessen gewesen, was in Sophienlust geschehen sollte?

»Du bist eine patente Frau, Josefa. Ich glaube, ich kann mir gratulieren. Auf dein Wohl, Josefa, und auf Lexi!«

»Auf Alexa, Alexander!« Sie schaute aufs Tischtuch, weil sie dem Blick seiner Augen nicht begegnen wollte. Ihre Hand zitterte ein bisschen, aber sie hoffte, dass er es nicht bemerkte.

Ich bin seine Braut, überlegte sie. In spätestens drei Wochen werde ich Josefa Rethy heißen. Keine Sekunde zweifelte sie daran, dass Alexander alles erreichen würde, was er sich vorgenommen hatte. Ihr Chef würde sie aus ihrem Vertrag entlassen, und die Trauung würde genau an dem Tag stattfinden, den Alexander dafür auswählen würde.

»Nachher fahren wir nach Sophienlust und teilen es Lexi und allen Leuten mit, Josefa. Von unserem Geheimabkommen darf aber kein Mensch etwas erfahren. Einverstanden?«

Ihre Wangen glühten. »Ja, Alexander.« Er hatte recht. Niemand sollte erfahren, aus welchen Beweggründen diese Ehe geschlossen wurde! Was Carola Rennert wohl dazu sagen würde?

»Ob Lexi sich gewaltig freuen wird?«, fragte er.

Sie nickte. »Bestimmt, Alexander. Wir hatten so lange nichts von dir gehört. Ich persönlich habe mir sogar Sorgen gemacht.«

Sein Blick trieb ihr wieder das Blut in die Wangen.

»Wirklich? Sorgen um mich? Das ist nicht nötig, Josefa. Ich gehöre zu den Leuten, denen nie etwas Ernstliches zustößt.«

»Gegen Unfälle und Krankheiten ist niemand gefeit, Alexander. Das weiß ich durch meinen Beruf nur allzu gut.«

Er wurde ernst. »Du hast recht. Trotzdem, mir liegt nicht allzu viel am Leben. Menschen mit solch einer Einstellung passiert im Allgemeinen nichts. Als Vivian in meinem Arm plötzlich nicht mehr atmete, da habe ich mehr verloren, als ich dir schildern kann. Ich wollte es nicht glauben. Eben noch hatten wir miteinander gesprochen. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass sie starb.« Er stöhnte. »Jetzt geschieht alles, was ich tue, für das Kind, für Vivians Vermächtnis an mich«, fügte er nach einer Pause hinzu.

Wie bitter seine Worte sie schmerzten! Sie kämpfte mit den Tränen. »Ja, Alexander, für die kleine Lexi«, flüsterte sie mit versagender Stimme.

Während des Essens sprachen sie nur wenig. Josefa, die nicht an so reichhaltige Mahlzeiten gewöhnt war, gab sich Mühe, den köstlichen Speisen die nötige Ehre zuteil werden zu lassen. Alexander aber aß mit Genuss. Dennoch wirkte sein sonnengebräuntes Gesicht verschlossen und ernst.

Er tut es für Alexa, dachte sie. Vielleicht sogar deshalb, weil er glaubt, dass er damit in Vivians Sinn handelt. Sie war unendlich traurig, denn sie hatte keine Hoffnung, dass er ihre Liebe jemals erkennen oder gar erwidern würde.

In den vergangenen Wochen hatte sie sich hin und wieder ausgemalt, dass es anders werden könnte, dass Alexander zwar von Vernunft und einem Abkommen rede, aber doch mehr für sie empfinde. Doch jetzt hatte er ihr klipp und klar erklärt, dass ihm alles gleichgültig geworden sei seit Vivians Tod – das Leben, die Liebe und die Gefahr, in der er sich aufgrund seines Berufes ständig befand.

Josefa wusste, sie würde sich darauf verlassen können, dass er den Vertrag genau einhielt. Doch sie durfte darüber hinaus nichts erwarten. Gar nichts. Dennoch war sie entschlossen, seine Frau zu werden. Sie hatte ja gesagt, weil sie Alexander Rethy liebte und weil sie seinem Kind Mutter sein wollte.

*

Lexi lief sofort auf ihren Vater zu. »Endlich, Vati! Wo bist du gewesen? Du hast Tante Josi mitgenommen und mir nichts davon gesagt.« Schon wieder kam Vorwurf von den roten Kinderlippen!

»Dafür habe ich jetzt eine große Überraschung für dich.«

»Was, Vati?« Neugierde glitzerte in den großen Kinderaugen.

»Eigentlich müssten wir dich eine Weile raten lassen. Aber du würdest vielleicht gar nicht darauf kommen.« Er küsste das weiche hellblonde Haar des kleinen Mädchens, indem er dabei Josefa anblickte.

»Ein Geschenk?«, fragte Lexi gespannt.

»Nein. Jedenfalls ist es nichts, was man in die Hand nehmen oder aufessen kann oder womit man spielen kann.«

»Das ist zu schwer, Vati. Sag’s mir.«

»Magst du Tante Josi?«

»Klar! Sehr mag ich sie, das weißt du doch.«

»Dann stimmt die Sache. Tante Josi wird deine zweite Mutti, und ich heirate sie. Bist du einverstanden?«

Ein wenig sorgte sich Josefa, wie das Kind diese unvorbereitete Mitteilung aufnehmen würde. Alexanders Tempo war wirklich atemberaubend. Doch Alexa schien es ganz natürlich zu finden und zeigte sich kaum überrascht. Sie schaute die Ärztin nur an.

»Fein, Tante Josi. Man braucht eine richtige Mutti, wenn man einen Vati hat. Die Kinder in Sophienlust haben alle bloß einen Onkel oder gar niemanden. Aber bei mir ist es anders, weil ich einen Vati habe, auch wenn er vorher nicht da war und nur so selten kommt. Gibt es eine Hochzeit? Henrik sagt, Hochzeit ist am schönsten in Sophienlust, noch schöner als ein Kinderfest.«

»In Sophienlust? Nun, ich fürchte, das können wir Frau von Schoenecker kaum zumuten.«

Henrik ging in diesem Augenblick in einiger Entfernung mit Vicky und Angelika Langenbach vorüber. Die drei wollten zu den Ställen.

»Kommt mal her, ich kriege eine neue Mutti«, rief Alexa unbefangen und enthob das verlobte Paar damit jeglicher Überlegung, ob es seinen Entschluss noch ein paar Tage für sich behalten sollte.

Die drei Kinder trabten im Dauerlauf heran. »Bloß eine Verlobung oder auch eine richtige Hochzeit?«, fragte Vicky Langenbach. »Wir haben in Sophienlust schon viele Hochzeiten gefeiert. Wir lieben Hochzeiten.«

Henrik nickte. »Aber dann gehst du sicherlich fort von Sophienlust, Lexi. Und das ist schade. Nick und ich haben geglaubt, dass du für immer bei uns bleibst. Wer wird denn deine neue Mutti?«

»Hier, meine liebe Tante Josi!«

Die Kinder starrten Josefa an wie das achte Weltwunder, die dadurch ein bisschen in Verlegenheit gebracht wurde. Angelika, als Älteste, besann sich schließlich und streckte Josefa die Hand hin. »Wir gratulieren zur Verlobung!«

»Ja, wir gratulieren«, schrie Henrik nun. »Wir müssen es gleich Mutti und Tante Ma und allen anderen sagen.«

Alexander Rethy lachte, als Lexi mit den Kindern davonstürmte. »Anzeigen brauchen wir nicht drucken zu lassen. Das besorgt die Hauspost.«

Am Abend tranken sie auf Schoen­eich noch einmal Sekt. »Auf das Brautpaar«, sagte Alexander von Schoenecker feierlich. »Im Namen meiner lieben Frau darf ich die Einladung aussprechen, dass Sie Ihre Hochzeit in Sophienlust feiern. Es ist eine Tradition, der Sie sich nicht entziehen dürfen.«

»Außerdem gibt es keine schöneren Hochzeiten als die auf Sophienlust«, fügte Nick im Brustton der Überzeugung hinzu.

Spät am Abend brachte Alexander Rethy Josefa nach Sophienlust zurück. »Ich danke dir. Du hast es mir sehr leicht gemacht. Und eine romantische Hochzeitsfeier in Sophienlust wird für Lexi zur schönen Erinnerung werden. Ich bin Frau von Schoenecker für diese Einladung dankbar. Es scheint meist so gehalten zu werden, wenn ein Kind fortgeht von Sophienlust und damit eine Eheschließung verbunden ist.«

»Ja, ich weiß es von Carola. Magda macht dann das Hochzeitsessen, und ich glaube, selbst dein verwöhnter Gaumen wird zufriedengestellt werden.«

»Das Essen sollte nicht das Wichtigste sein«, gab er versonnen zurück. »Schau, wie hübsch der Mond hinter dem Herrenhaus von Sophienlust steht. Unter diesem Dach schläft Alexa, die in kurzer Zeit auch dein Töchterchen sein wird, Josefa.«

»Ja, Alexander.« Mehr brachte Josefa nicht über die Lippen.

*

Am anderen Tag fuhr Alexander Rethy ab, weil er die nötigen Vorbereitungen zur Hochzeit treffen wollte. Wie immer, konnte ihm alles nicht schnell genug gehen.

Josefa Klinger setzte sich nach kurzem Überlegen an den Tisch in ihrem gemütlichen Zimmer bei Carola Rennert und schrieb einen Brief an Dr. Fred Wellner. Es kam ihr vor, als sei sie ihm, gerade ihm, Rechenschaft schuldig über ihren Schritt. Er sollte der Einzige sein, der erfuhr, warum sie sich zur Ehe mit Alexander Rehty entschlossen hatte. Auch wollte sie ihm gestehen, dass sie ihr Wort brechen und nicht mehr in die Klinik zurückkehren würde. Sie schloss den Brief, der ihr seltsam schwerfiel, mit der Bitte, dass sie auch künftig Freunde bleiben wollten, wenn das nicht zu viel verlangt sei.

Als Josefa noch einmal das durchlas, was sie geschrieben hatte, erschien es ihr fast zu nüchtern. Da stand viel von einem Vertrag auf Gegenseitigkeit, von Alexas Interesse und von fairer Partnerschaft. Sicher würde ein Mann wie Fred Wellner den Kopf schütteln und sich darüber seine eigenen Gedanken machen. Vielleicht würde er ihr sogar antworten und sie vor dieser Heirat warnen, weil es ohne Liebe kein Glück geben könne …

Zunächst aber war es Denise von Schoenecker, die eine Gelegenheit suchte und fand, mit Josefa ungestört sprechen zu können.

»Sie haben sich sehr schnell entschlossen, Josefa. Ich freue mich für Alexa und auch für Sie. Aber ich frage mich, ob Sie sich die volle Tragweite Ihres Entschlusses überlegt haben. In knapp drei Wochen soll schon die Hochzeit sein. Es macht uns nichts aus, dies Fest so schnell auszurichten. Aber haben Sie sich auch innerlich auf diese große Umstellung in Ihrem Leben vorbereitet? Bitte, verstehen Sie meine Frage richtig. Ich sorge mich, dass Sie – weil Sie bisher immer allein waren – allzu schnell in diese Ehe gehen könnten. Für Alexa wird es gut werden, daran zweifle ich nicht. Aber wie steht es mit Ihnen und Kapitän Rethy? Ich habe, das bringt das Schicksal unserer Sophienluster Kinder nun einmal mit sich, schon manches verlobte Paar erlebt. Keines wirkte so ernst wie Sie beide gestern Abend. Herr Rethy schaute nachdenklich drein und – entschuldigen Sie – weder er noch Sie machten auf mich den Eindruck, dass Sie verliebt seien. Noch ist Zeit, die Hochzeit ein wenig aufzuschieben. Dr. Wellner zum Beispiel hat sich ganz gewiss aufrichtig für Sie interessiert. Sie dürfen sich nicht um des kleinen Mädchens willen zu etwas entschließen, das Sie später bereuen könnten.«

»Fred Wellner und ich sind befreundet. Das ist zwischen uns vollkommen klar. Er …, er möchte später eine eigene Klinik gründen. Deshalb käme ich als Frau sowieso für ihn nicht infrage, denn für eine eigene Klinik braucht man Geld. Ich aber bin ganz arm.«

»Dr. Wellner denkt nicht so, Josefa, und das wissen Sie auch recht gut. Eine Ehe kann nur dann glücklich werden, wenn sie sich auf gegenseitige, vertrauende Liebe gründet. Bitte, denken Sie nach, ehe Sie vor dem Gesetz und dem Altar Ihr Jawort geben. Nur Lexi zuliebe dürfen Sie es nicht tun.«

Josefa senkte den Kopf. Denise hatte sie durchschaut! Dieser lebensklugen Frau konnte man so leicht nichts vormachen.

Sie kämpfte einen kurzen Kampf, dann sagte sie ihr die Wahrheit.

Denise hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, wie es ihre Art war. Dann dachte sie eine Weile nach, ehe sie leise sagte: »Ich weiß nicht, was ich Ihnen raten soll. Vielleicht sollten Sie wenigstens etwas Zeit verstreichen lassen, damit Sie mit sich selbst ins Reine kommen können. Sie gehen jetzt mit großer Begeisterung in diese Sache hinein, die sich am Ende für Sie und auch für Alexas Vater als ein Opfergang erweisen könnte. Natürlich gibt es Ehen, die aus solchen und ähnlichen Erwägungen geschlossen werden und in denen im Laufe der Zeit aus gegenseitiger Achtung schließlich Liebe wird. Aber es wäre sicherlich ein Fehler, wenn man darauf zählen wollte. Kapitän Rethy ist ein ungewöhnlich gut aussehender Mann. Er trifft täglich viele Menschen, auch Frauen! Es ist nicht auszuschließen, dass er irgendwann einmal ein Mädchen trifft, das ihm so viel bedeutet wie Alexas Mutter. Das wäre dann sehr hart für Sie, weil Sie Ihren Beruf und Ihre Karriere für ihn und das Kind aufgeben wollen.«

»Ich habe es gründlich bedacht, vier volle Wochen lang, Frau von Schoenecker. Soweit ich es beurteilen kann, glaube ich, dass ich auf Alexander Rethys Fairness zählen darf. Wir wollen beide das Beste für Lexi. Das verpflichtet uns und wird uns in schweren Augenblicken helfen, denn die Liebe zu Lexi ist ein Band, das uns fest verbindet.«

Denise nahm Josefas Hand. »Sophienlust steht Ihnen und Alexa immer offen, falls es einmal zu schwer für Sie werden sollte, Josefa«, sagte sie nur. »Wir werden für eine besonders schöne Hochzeit für Sie sorgen. Die Kinder sind schon jetzt Feuer und Flamme. Kapitän Rethy ist in ihrer Achtung noch gestiegen. Dass er Pilot ist, stempelt ihn

bei den Jungen sowieso zum Helden. Dass er nun aber sogar Anlass zu einer Hochzeitsfeier wird, macht ihn zum Liebling des ganzen Hauses«, versicherte sie lächelnd. »Die älteren Mädchen träumen schon von einem Hochzeitskleid. Sie werden doch ein weißes Kleid tragen?«

»Ich glaube, ich sollte es tun, wenn die Feier in so festlichem Rahmen stattfindet. An und für sich halte ich das Kleid für unwichtig. Ich will Alexander Rethys Frau werden, um Alexa die Mutter zu ersetzen. Aber wir würden die Kinder von Sophienlust enttäuschen, wenn ich im grauen Schneiderkostüm vor den Altar treten würde. Alexander Rethy meinte auch, dass Alexa stolz sein sollte auf die Hochzeit und auf ihre neue Mutti.«

»Sie werden eine schöne Braut sein. Trotzdem mache ich mir Sorgen um Sie. Denn die Hochzeit geht vorüber, und dann folgt der Alltag, der Ihnen Schwierigkeiten bringen wird, auch wenn Sie einen noch so guten Willen haben.«

»Ich denke, dass ich genug Kraft habe, Frau von Schoenecker. Mein Leben war immer hart. Ich erwarte keine Wunder. Deshalb kann ich auch nicht enttäuscht werden. Aber ich werde halten, was ich vor dem Altar verspreche. Ich werde eine treue Ehefrau und eine liebevolle, pflichtbewusste Mutter sein.«

»Gott möge Ihnen helfen, Josefa.« Denise sagte es sehr leise. Etwas im Gesichtsausdruck und Tonfall der jungen Ärztin ließ sie ahnen, dass diese Ehe für Josefa vielleicht doch nicht nur ein nüchterner Vertrag war. Aber sie hütete sich, darüber ein Wort zu verlieren.

*

Fred Wellner beantwortete Josefas Brief sofort. Er schrieb ihr, dass sie von Ehe und Liebe rede wie ein Kind. Dabei sei sie doch erwachsen und eine kluge Frau. Entweder sei bei diesem sogenannten Vertrag doch die Liebe mit im Spiel, oder alles werde mit einem schrecklichen Fiasko enden. Aber er sehe ein, dass er sie nicht zurückhalten könne – nicht einmal mit der Versicherung, dass er sie liebe. Sie wolle offenbar sehenden Auges in ihr Unglück laufen. Er könne nichts tun, als ihr seine Freundschaft zusichern, um die er nicht erst gebeten zu werden brauche. Darüber hinaus wünsche er ihr alles Gute, so weit das überhaupt einen Sinn habe.

Es war ein bitterer Brief, der Josefa die Tränen in die Augen trieb. Aber sie war erleichtert, dass Fred Wellner nun Bescheid wusste.

Indessen erwies sich Alexander Rethy als ein wahrer Zauberer. Er schaffte alles, was er sich vorgenommen hatte, in genau zwei Wochen und fünf Tagen. Zwischendurch flog er zweimal nach Australien. Müdigkeit schien er nicht zu kennen, und Schwierigkeiten existierten für ihn einfach nicht.

Dann fuhr er mit Josefa nach Oberursel, um ihr das wunderbar im Grünen gelegene Häuschen zu zeigen. Als sie sagte, dass es ihr gefalle, erfuhr sie, dass er es bereits gekauft hätte. Sie musste nur noch ihren Namen unter den Vertrag setzen, damit ihnen das Haus, in dem bereits die Handwerker an der Arbeit waren, gemeinsam gehörte.

Josefa ließ Alexander schalten und walten. Ihre eigene kleine Wohnung hatte sie möbliert gemietet. Sie besaß nicht viel und ganz gewiss keine Möbelstücke von irgendwelchem Wert, die sie in ihre Ehe hätte mitbringen können. Da es Alexander gelungen war, auch ihre vorzeitige Entlassung aus der Klinik zu erreichen, stand ihrer Eheschließung nun nichts mehr im Wege.

*

Die Hochzeit verging für Josefa wie ein einziger Traum. Als sie vor dem Altar stand, den Blick auf Alexa in ihrem Festkleidchen geheftet, fragte sie sich bang: Warum muss ich ihn lieben? Dann aber war ihr, als sei es gut so, denn ohne die Liebe im Herzen hätte sie diesen Schritt niemals tun können.

Als sie Sophienlust verließen, sangen die Kinder ein Lied, das Wolfgang Rennert mit ihnen einstudiert hatte.

»Komm uns bald besuchen, Alexa«, rief Henrik hinter dem Wagen her.

»Bestimmt, Henrik, ich bin doch ein Sophienluster Kind«, antwortete Lexi strahlend und lachte ihre neue Mutti an.

Als sie das Haus betraten, stockte Josefa der Atem. Alexander musste sämtliche Handwerker und Lieferfirmen zur Verzweiflung gebracht haben, denn alles war fertig, und die Haushälterin, etwa vierzig Jahre alt, betulich und freundlich, begrüßte das neuvermählte Paar in einer blendendweißen Schürze.

»Alexander, es ist wunderschön geworden«, flüsterte Josefa ihm voller Dankbarkeit zu.

Zu dritt wanderten sie durch sämtliche Räume des großen Hauses, das in einem weitläufigen Garten lag. Im Erdgeschoss gab es drei große Wohnräume, eine supermoderne Küche und einige Nebenräume sowie die Eingangshalle mit der Garderobe. Die Einrichtung war geschmackvoll und harmonisch. Josefa fragte sich immer wieder, wie Alexander das in so kurzer Zeit geschafft hatte. Er hatte es im Tempo des Düsenflugzeugs geschafft, aber es war gut geworden.

»Willst du auch gleich oben alles sehen?«, fragte er.

»Natürlich, Alexander.«

Sie stiegen die Treppe hinauf, denn auch Lexi wollte ihr neues eigenes Reich sehen. Josefa war davon genauso entzückt wie das Kind. An alles war gedacht, auch an den Schreibtisch für den bevorstehenden Schulanfang.

»Jetzt dein Zimmer, Josefa«, sagte Alexander.

Es war das schönste Zimmer im ersten Stockwerk. Es hatte einen Balkon, von dem aus man den Garten mit dem Schwimmbecken überblickte, und ein eigenes Bad. Aber es stand nur ein Bett darin. Natürlich. Doch niemand ahnte, wie traurig die kostbare Einrichtung dieses Zimmers Josefa Rethy geborene Klinger machte.

»Magst du’s?«, fragte Alexander leichthin. »Da hängt auch eine Ikone fürs Heimweh nach Russland.«

»Es ist wunderschön geworden, Alexander. Ich danke dir«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor.

»Gut«, sagte er befriedigt. »Schließlich sollst du dich wohlfühlen. Telefon hast du neben dem Bett. Man kann es umstellen von unten. Du weißt, dass ich manchmal zu den unmöglichsten Zeiten anrufen werde, weil es unter Umständen bei euch Nacht ist, wenn es in Aus­tralien Tag ist. Dann brauchst du wenigstens nicht aufzustehen.«

Das hatte fast ironisch geklungen. Josefa fand keine Entgegnung, sondern legte den leichten Mantel aufs Bett. Das Brautkleid hatte sie schon in Sophienlust ausgezogen und in einen kleinen Koffer verpackt. Würde es nur eine Erinnerung an einen Traum sein, der sich niemals verwirklichen sollte?

»Interessiert dich meine Klause?«, fragte Alexander jetzt wie beiläufig.

Sein Zimmer lag direkt neben dem ihren. Es gab sogar eine verbindende Tür, doch sie war auf ihrer Seite durch einen Vorhang verborgen. Deshalb entdeckte sie die Tür erst drüben in seinem Zimmer, das modern und außerordentlich nüchtern eingerichtet war. Auch

ein Schreibtisch stand darin, auf dem sich allerlei Post und Papiere häuften. Neben seinem Bett war ebenfalls ein Telefon.

»Wenn ich Bereitschaft habe«, erklärte er ihr, »ist das nötig.«

»Ich verstehe«, entgegnete Josefa.

»An den Schreibtisch im Schlafzimmer bin ich nun mal gewöhnt«, fuhr er fort. »Es ist wahnsinnig praktisch, vor allem, wenn man so unregelmäßig kommt und geht wie ich. Hoffentlich stört dich diese Angelegenheit nicht.«

»Aber, Alexander – es ist dein Haus und dein Zimmer.«

»Irrtum, Josefa, es ist unser Haus.«

»Immerhin dein Zimmer«, beharrte sie auf ihrer Meinung.

Alexa hatte sich verzogen, weil sie mit der neuen Haushälterin Freundschaft schließen wollte, die aus Hamburg stammte und Frau Gesine hieß. Sie hatte ihr kleines Reich im zweiten Stockwerk, sehr gemütlich mit eigenem Bad, Fernseher und allen modernen Annehmlichkeiten.

Frau Gesine erschien gerade im rechten Augenblick und bot an, beim Kofferauspacken zu helfen. Auch fragte sie, ob sie etwas für das Abendessen richten solle.

»Für mich nicht«, sagte Alexander mit einem Blick auf seine Uhr, die stets auf die Sekunde genau ging. »Ich muss genau in einer Stunde zum Flughafen.«

Josefa war es, als bliebe ihr das Herz stehen. »Heute schon?«, fragte sie stockend.

»Es ließ sich nicht ändern, Josefa. Ich habe so ziemlich alles genau hingekriegt mit unserer Blitzhochzeit. Nur ein paar Tage Urlaub, die müssen wir auf später verschieben. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht. Immerhin hast du auf diese Weise Zeit, dich hier ganz und gar einzurichten. Ich bin in drei Tagen wieder zurück.«

»Wir bringen ihn zum Flughafen, nicht wahr?«, rief Lexi ahnungslos und fröhlich dazwischen. »Mutti hat das noch nicht gesehen.«

»Wenn ihr mitkommen wollt? Ich lasse meinen Wagen sonst dort stehen. Aber es geht natürlich auch mal anders. Oder wir fahren in zwei Autos.« Denn auch der zweite Wagen für seine Frau stand bereits in der Garage des Hauses.

»Ja, Alexander, wir begleiten dich. Lexi möchte es so gern.« Auf diese Weise brauchte Josefa wenigstens nicht einzugestehen, wie sehr sie selbst es ebenfalls wünschte.

*

Es tat weh, dass Alexander die hübsche Stewardess Bonny duzte und von ihr kameradschaftlich mit Alex angeredet wurde. Es tat auch weh, dass Alexander sein Töchterchen zum Abschied küsste, während Josefa sich damit begnügen musste, dass er ihre Hand höflich und korrekt an die Lippen zog.

Sogar Frau Gesines Betulichkeit tat weh, als Josefa mit Lexi heimkehrte.

»Ich habe den Tisch gedeckt, Frau Doktor.«

Lexi konnte tatsächlich schon wieder essen, obwohl Magdas Hochzeitsmahl überaus reichlich gewesen war, von den Torten zum Kaffee ganz zu schweigen. Das Kind plauderte beim Essen unentwegt über die schöne Hochzeit, über Sophienlust und über das neue Haus. Vor allem aber beschäftigte sich Alexa mit dem Schulbeginn, der in genau drei Tagen sein sollte.

»Sie müssen etwas essen, Frau Doktor«, mahnte Frau Gesine, und Josefa tat ihr den Gefallen, weil sie sie nicht enttäuschen wollte. Die Haushälterin hatte sich schließlich Mühe gegeben.

Josefa brachte nach dem Essen Alexa in ihr neues Bett, das sich tagsüber in eine Couch verwandeln ließ.

»Schlaf gut, Lexi. In drei Tagen ist Vati wieder hier. Merke dir, was du träumst. Der erste Traum in der ersten Nacht unter einem neuen Dach geht manchmal in Erfüllung.«

Sie küsste das Kind – ach, wenigstens das durfte sie tun. Dann verließ sie das hübsche Zimmer und kam sich unendlich verlassen vor. Das war das Ende ihres Hochzeitstages, eines Festes, das eigentlich nur eine Show für Lexi gewesen war. Vor ihr aber lag nun eine einsame Nacht in einem fremden Haus.

Ob Alexander an sie dachte, während er über den Atlantik flog? Wenn sie wenigstens nicht ständig an die Stewardess Bonny denken müsste …

Josefa ging zu Bett, fand aber die ganze Nacht keinen Schlaf.

*

Am anderen Tag kam ein großes Paket, das ein schweres Silbertablett enthielt. Es war ein Hochzeitsgeschenk von Fred Wellner. Josefa rief ihn in der Klinik an, um ihm zu danken. Warum er das tue, fragte sie bedrückt.

»Zur Erinnerung, Josefa. Und wenn ich dir mal irgendwie helfen kann, dann musst du mir Bescheid sagen. Versprich mir das. Ich mache mir Vorwürfe. Es hätte nicht geschehen dürfen.«

»Ich bin zufrieden, Fred«, widersprach Josefa trotzig. »Wenn du magst, kannst du mich mal besuchen und dir unser Haus ansehen. Es ist schön geworden, sehr schön sogar. Die kleine Lexi aber ist glücklich, dass sie nun Vati und Mutti hat.«

»Du bist eine hoffnungslose Romantikerin, Josefa. Ich komme gern mal vorbei. Bis bald also.«

Die Zeit verging schleppend, obwohl es allerlei zu tun gab, um sich in dem neuen Haus richtig einzuleben. Ihre Bücher mussten noch geordnet werden, und auch sonst blieb manches, das sie persönlich erledigen musste. Am Ende wurde es doch Abend, und sie brachte Lexi, die bereits in der Nachbarschaft eine kleine Freundin gefunden hatte, wieder zu Bett.

Josefa selbst fühlte sich nach der vorangegangenen schlaflosen Nacht todmüde und legte sich zeitig nieder, um sofort in einen bleiernen Schlummer zu sinken. Als das Telefon neben ihr läutete, griff sie in der Dunkelheit danach und meldete sich mit »Dr. Klinger«, ohne daran zu denken, dass dies kein Anruf aus der Klinik sein könne und dass sie nicht mehr Klinger, sondern Rethy hieß.

»Hör mal, jetzt habe ich dich erwischt. Du bist Frau Dr. Josefa Rethy seit gestern.«

Plötzlich war sie hellwach. Ihr Atem ging rascher. »Du, Alexander? Von wo?«

»Aus New York. Aber ich höre dich, als wären wir ganz nahe beieinander. Kannst du mich auch so gut verstehen?«

»Ja, Alexander, tadellos. Wie geht es dir?«

»Das wollte ich dich fragen. Tut mir leid, dass ich dich aus dem Schlaf geholt habe.«

»Das macht nichts, Alexander. Es geht uns gut. Lexi ist schon zu Hause hier und freut sich auf die Schule.«

»Erzähle mir von dir.«

»Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich einen anderen Namen habe und in einem fremden Haus wohne, das mein eigenes sein soll.«

»Du wirst es lernen. Du bist doch eine kluge Frau. Und dann hast du ja Lexi. Übrigens – das ist der eigentliche Grund meines Anrufes – hier ist etwas im Dienstplan geändert worden. Ich kann Lexi nicht zu ihrem ersten Schultag führen. Glaub mir, es tut mir schrecklich leid, denn es wäre wichtig für das Kind gewesen. Du musst es Lexi richtig erklären, damit sie nicht denkt, ich hätte mein Versprechen gebrochen.«

»Sie …, sie wird enttäuscht sein, Alexander. Sie redet von nichts anderem und erwartet eine riesige Zuckertüte von ihrem Vati.«

»Kaufe die größte, die du auftreiben kannst. Ich komme einen Tag später und bringe ihr ein schönes Geschenk mit. Es ist nicht meine Schuld.«

»Ich weiß, Alexander. Trotzdem ist es schade.«

»Es scheint, als verpasste ich immer das Wichtigste«, sagte er leise. Es klang resigniert und traurig. Josefa hatte heißes Mitleid mit ihm. Er war so einsam wie sie und nicht glücklich. Er hatte Vivian verloren und sie, Josefa, nur geheiratet, damit Alexa wieder eine Mutter bekam.

»Wir feiern den Schulanfang später. Ich denke mir etwas aus«, versuchte sie ihn zu trösten.

»Danke, sehr freundlich von dir. Also, ich schicke noch ein Telegramm, wann ich ankomme. Es ist vorläufig unsicher.«

»Bis bald, Alexander.«

Sie lag und lauschte dem eigenen Herzschlag. Eben noch hatte sie Alexanders Stimme gehört, obwohl die ganze Weite des Atlantiks zwischen ihnen lag. Das aber, was sie voneinander trennte, selbst dann, wenn er bei ihr war, war weiter und tiefer als das Meer.

Er liebte sie nicht. Selbst dieser nächtliche Anruf war nur um Alexas willen geschehen.

*

Alexa machte zum ersten Mal eine richtige Szene, als sie erfuhr, dass ihr Vati nicht mit in die Schule kommen könne. Sie trampelte mit den Füßen und schrie wie am Spieß.

Josefa versuchte vergeblich, das Kind zu beruhigen. Sie war ehrlich verzweifelt, als ihre Bemühungen fehlschlugen. Scheiterte sie gleich in den ersten Tagen?

Es war Frau Gesine, die die Sache so beendete, wie das wahrscheinlich bei ihr zu Hause üblich gewesen war. Sie brachte das Kunststück fertig, noch lauter zu schreien als das kleine zornige Mädchen. Alexa war daraufhin so verblüfft, dass sie ihr Gebrüll einstellte.

Frau Gesine sagte nichts mehr, sondern ging in die Küche, aus der sie mit einem Glas kalter Milch zurückkehrte. »Da, trink das«, sagte sie mit normaler Stimme und vollkommen ruhig. »Und jetzt denk einmal darüber nach, ob es nicht für deinen Vati genauso traurig ist, dass er deinen Schulanfang versäumt, wie für dich.«

Lexi trank ihre Milch. »Ja, er ist bestimmt traurig«, gab sie dann zu und hatte ihren Zorn offenbar schon ganz vergessen. Aber später gestand sie Josefa doch ein, dass sie glaube, ihr Vati habe sie nicht lieb genug.

»Tante Isi würde so etwas nicht machen, und Onkel Alexander auch nicht«, äußerte sie. »Sie haben immer für die Kinder Zeit, nicht nur für die von Schoeneich, sondern auch für die von Sophienlust.«

»Vati bringt dir ein Geschenk mit. Aber du darfst nicht wieder so ein schreckliches Geschrei machen. Da bekomme ich ja Angst, dass es dir hier gar nicht gefällt.«

»Doch, es gefällt mir. Aber wenn Vati immer weg ist, wenn ich ihn brauche, dann hätte ich auch in Sophienlust bleiben können.«

»Wir können ja mal hinfahren und alle besuchen, wenn du Lust hast.«

»Hm, vielleicht. Aber ich werde nicht mehr viel Zeit haben. Man muss jeden Tag in die Schule gehen, das weiß ich. Ob die Kinder mir glauben, dass ich einen richtigen Vati habe, wenn sie ihn nicht sehen?«

Das also war das eigentliche Problem!

»Natürlich glauben sie es. Sein Name ist im Register eingetragen, und du heißt jetzt Alexa Rethy.«

»Ja, aber die Kinder können nicht lesen. Haben wir nicht einen Onkel, der mitgehen könnte, weil Vati in Amerika bleiben muss?«

»Dummchen, das wäre doch dann auch nicht der richtige Vati.«

»Na ja, du bist ja auch nicht meine richtige Mutti.«

Das war eine entwaffnende Antwort, die Josefa sehr zu denken gab. Sie gab sich einen Ruck, rief Fred Wellner an und bat ihn, mit ihr und Alexa übermorgen um zehn Uhr vormittags zum ersten Schultag zu gehen. Er sagte zu.

»Barbara sagt, alle Kinder kommen mit Vater und Mutter«, behauptete Alexa. »Jetzt ist es in Ordnung. Ich finde es sehr nett von Onkel Wellner. An den hätte ich gar nicht gedacht. Dabei ist er ein richtiger Kinderonkel.« Das war sicherlich das höchste Lob, das Alexa in dieser Beziehung zu vergeben hatte.

Zwei Tage später fand die Einschulung statt. Die Feier war sehr nett und ganz auf die Kinder zugeschnitten. Fred Wallner wurde selbstverständlich für Alexas Vater gehalten. Josefa war das peinlich, während der Oberarzt darüber nur lachte. »Was macht das schon? Ich sehe die Leute nicht mehr.« Aber Josefa hielt es für notwendig, ein paarmal ausdrücklich zu betonen, dass Dr. Wellner ihren Mann vertrete, weil er dienstlich unterwegs sein müsse.

»Kommt es eigentlich bei dir auf ein bisschen mehr oder weniger Theater noch an?«, fragte Fred Wellner, als sie unbeobachtet waren.

»Doch, Fred. Alexander ist Alexas Vater, und ich bin seine Frau. Das sind die Tatsachen.«

»Natürlich«, murmelte er, ohne sie anzusehen. »Ich muss mich wohl daran gewöhnen.«

*

Alexander kam mitten in der Nacht, viele Stunden später, als er telegraphisch angekündigt hatte. Er sah abgespannt aus.

»Tut mir leid, dass ich dich wieder einmal um deine Nachtruhe bringe«, sagte er und küsste ihr die Hand.

»Ich bin froh, dass du da bist. Möchtest du etwas zu essen oder zu trinken haben?«

»Danke, nicht nötig. In dieser Beziehung sind wir unterwegs fast zu gut versorgt. Stört es dich, wenn ich noch bade?«

»Wieso? Du hast doch dein eigenes Bad?«

»Ich meine das Geräusch beim Wasserlaufen.«

»So empfindlich bin ich nicht. Dann also gute Nacht, Alexander. Morgen feiern wir nachträglich Alexas Schulanfang.«

»Ja, so! Wie war’s?«

»Alexa hat darauf bestanden, dass ein Mann mitkommt. Deshalb habe ich Dr. Wellner aufgefordert, der meine Bitte auch erfüllt hat. Lexi sah süß aus in ihrem neuen Kleid und mit dem roten Schulranzen.«

»So, Dr. Wellner ist mitgegangen. Meine Tochter ist ziemlich anspruchsvoll.«

Josefa verbarg ihre Verwirrung und berichtete ihm indessen von der Szene, die Lexi veranstaltet hatte.

»Armes Ding«, meinte Alexander mitleidig. »Ich habe eben zu wenig Zeit für sie. Aber jetzt bist du wenigstens immer für sie da.«

»Sie mag mich gut leiden und nennt mich Mutti, Alexander. Aber sie unterscheidet sehr genau zwischen Vivian und mir«, erklärte Josefa leise. »Du bist ihr richtiger Vater, deshalb braucht sie dich.«

»Mehr, als ich getan habe, kann ich nicht tun«, begehrte er auf. »Soll ich meinen Beruf wechseln?«

»Aber nein, Alexander. So ist es nicht gemeint. Doch jetzt wollen wir schlafen gehen. Es wird immer später.«

Als Josefa im Bett lag, klangen seine letzten Worte noch immer schmerzhaft an ihr Ohr: »Mehr, als ich getan habe, kann ich nicht tun«.

Ja, er hatte eine ungeliebte Frau geheiratet, damit sein Kind eine Heimat finden sollte!

*

Es wurde noch einmal warm, und Josefa gab sich Mühe, Lexi das Schwimmen beizubringen, denn die Schule nahm das Kind noch nicht allzu sehr in Anspruch. Barbara, Lexis kleine Freundin, beteiligte sich an diesem Vergnügen. Der Garten, in dem sich das kleine Schwimmbad befand, hallte vom Lachen der Kinder wider. Wer nicht wusste, dass die Ehe zwischen dem Flugkapitän und der Ärztin nur auf dem Papier stand, musste zu der Überzeugung kommen, dass in diesem Haus und Garten das Glück wohne.

Als Alexander eine Woche Urlaub bekam, widmete er sich intensiv seiner kleinen Tochter. Schwimmen bei Sonnenschein, Ausflüge in die Umgebung – ein Vergnügen nach dem anderen stand auf dem Programm, und es war gut, dass die Schule jeden Tag nur zwei Stunden in Anspruch nahm.

Frau Gesine besorgte den Haushalt mustergültig. Josefa hatte nichts zu tun und fand viel zu viel Zeit, darüber nachzudenken, wie nun alles weitergehen sollte. Sie konnte sich über Alexander nicht beklagen. Er war stets höflich und rücksichtsvoll zu ihr. Auch gab er sich Mühe, Fremden gegenüber den Schein zu wahren.

Am letzten Tag von Alexanders Urlaub lagen sie am Schwimmbecken in der Sonne.

»Wohin geht es diesmal?«, fragte Josefa.

»Keine Ahnung«, erwiderte er gleichmütig. »Ich habe mir den neuen Plan noch nicht angesehen. Ist ja auch ziemlich gleichgültig. Vielleicht wieder die Australienroute. Ich mache das ganz gern.«

»Und Bonny?«, mischte sich Lexi ein. »Kommt sie immer mit?«

»Ich nehme an, dass sie noch zu meiner Crew gehört, Lexi. Manchmal werden die Mädchen auch ausgetauscht. Das täte mir leid, denn Bonny ist tüchtig und zuverlässig.« Das war an Josefas Adresse gerichtet.

»Sie ist nett. Sie soll uns mal besuchen, wenn sie frei hat«, ließ sich Lexi von Neuem vernehmen. »Weißt du noch, wie wir an dem kleinen See mit ihr gewesen sind? Sicher staunt sie, wenn sie sieht, dass ich jetzt beinahe schwimmen kann.«

»Hm, aber Bonny wohnt in Hamburg bei ihren Eltern.«

Lexi schob die Unterlippe vor. »Schade. Ich möchte sie nämlich gern fragen, was man lernen muss, damit man Stewardess wird.«

Alexander lachte. »Das hat noch ein paar Jahre Zeit, mein Schätzchen. Zuerst einmal musst du lesen und schreiben und rechnen lernen. Damit hast du eben erst angefangen.«

Seine Tochter war gekränkt. »Ich kann schon viel, Vati«, erklärte sie herablassend. »Die Lehrerin hat gesagt, dass wir alle gut sind.«

»Das stimmt«, schaltete sich Josefa ein. »Lexi schreibt ganz sauber auf der Tafel. Gestern haben wir zum ersten Mal Tinte benutzt.«

»Wenn ich richtig lesen kann, schenkt mir Onkel Wellner ein dickes Buch. Das hat er mir versprochen.«

Josefa spürte den Blick ihres Mannes.

»Er ist wirklich rührend, der Onkel Wellner«, äußerte Alexander ironisch.

Wie alle Kinder wurde Lexi durch den Spott gereizt und unsicher.

»Onkel Wellner ist lieb, Vati«, erklärte sie trotzig. »Er hat mir eine Tüte geschenkt und mich am ersten Tag in die Schule gebracht, weil du nicht da warst.«

»In Ordnung – er ist lieb und gut.« Alexander stand auf. »Ich finde es jetzt langweilig hier. Gehen wir ins Haus und sehen nach, was Frau Gesine für uns gekocht hat.«

Alexa wurde von Josefa nach oben geschickt, damit sie sich ein Kleid anzog. Auch sie selbst ging in ihr Zimmer und kleidete sich an. Sie fröstelte plötzlich. Man spürte doch schon den Herbst.

Es stellte sich heraus, dass bis zum Essen noch eine halbe Stunde blieb. Lexi war in der Küche, und das Ehepaar setzte sich auf die Terrasse.

»Stört es dich, dass Fred Wellner manchmal hier zu Gast ist?«, fragte Josefa leise.

Unwillig schüttelte er den Kopf. »Warum sollte es mich stören? Du bist mit ihm befreundet, und ich kann kaum erwarten, dass du wie eine Einsiedlerin hier lebst. Außerdem scheint Lexi an ihm zu hängen.« Er lachte. »Irgendwie bin ich eifersüchtig auf ihn. Er hat Lexi in die Schule geführt, und das hat sie mir nun mindestens schon fünfmal aufs Butterbrot geschmiert. Er sticht mich bei meiner Tochter aus, obwohl das gewiss nicht seine Absicht ist.«

»Niemand kann dich bei Lexi ausstechen, Alexander«, widersprach Josefa. »Sie wäre unglücklich und verloren ohne dich. Gerade ihr ständiges Fragen und Zweifeln, ob du sie liebst, beweist, wie sehr sie dich braucht. Ich frage mich oft, ob ich genug für sie tun kann.«

»Du bist zu gewissenhaft, Josefa. Du machst es schon richtig. Wenn ich unterwegs an Lexi denke, bin ich vollkommen ruhig.«

Es tat weh, dass er immer nur an das Kind dachte.

»Es gibt Eis zum Nachtisch«, verkündete Lexi in diesem Augenblick. Sie kam auf die Terrasse gelaufen und hatte einen winzigen Klecks Sahne auf der Nase.

»Hast du gekostet?«, fragte Josefa lächelnd.

»Geholfen«, verbesserte das Kind. »Frau Gesine hat Sahne geschlagen, und ich habe den Topf festgehalten und ihn nachher ausgeschleckt.«

Alexander zog sein Taschentuch hervor und wischte Lexi über die Nase. Das Kind ließ sich von ihm aufs Knie ziehen und schmiegte sich zärtlich wie ein Kätzchen an ihn.

»Kann ich mal was fragen, Vati?«

»Warum nicht?«

»Also, Barbaras Mutti hat gesagt, es gehört ganz einfach dazu, und Frau Gesine meint, dass der liebe Gott etwas damit zu tun hat. Ich dachte, dass du es bestimmt weißt.«

Das war ein weitschweifiger Anfang, der aber noch nicht beim Kern der Sache war.

»Es war doch eine richtige Hochzeit, obwohl es nicht mehr meine richtige Mutti ist?«, ging es weiter.

»Klar. Hat dir die Hochzeit in Sophienlust etwa nicht gefallen?«

»Doch, das schon. Aber ich möchte, dass wir ein Baby kriegen.«

»So schnell geht das meistens nicht, Lexi.« Alexander war in ernste Verlegenheit gebracht, und Josefa stand eilig auf, indem sie behauptete, dass sie in der Küche nach dem Essen sehen müsse, obgleich das durchaus nicht notwendig war.

»Irgendwann kriegen wir sicherlich ein Baby, wenn du dir eins wünschst«, hörte sie Alexanders Stimme, als sie die Terrasse verließ.

Josefa ging nicht in die Küche, sondern floh hinauf in ihr Zimmer, wo sie die Hände gegen ihr wild schlagendes Herz presste.

Ich hätte ihn nicht heiraten dürfen, dachte sie verzweifelt. Wenn ich ihn nicht liebte, ließe sich das alles ertragen.

Als Josefa zum Essen kam, waren ihre Augen rot vom Weinen. Vater und Tochter sprachen jetzt von der Schule. Das verfängliche Thema schien längst vergessen zu sein.

Doch am Abend kam Alexander auf die Sache zurück. »Es tut mir leid, Josefa. Hoffentlich bist du nicht entsetzt über Lexis höchst richtige und natürliche Vorstellungen von der Ehe.«

Sie fühlte wieder einmal seinen Blick. Wie dumm von mir, dachte sie. Schließlich sind wir beide jung und gesund. Täglich tun es Millionen von Paaren – auch ohne Liebe und Leidenschaft. Vielleicht wünscht er sich sogar einen Sohn …

Doch sie wusste, dass es ihr unmöglich sein würde, weil sie ihn liebte!

Zu ihrer Überraschung gab er dem Gespräch eine neue Wendung: »Wir könnten ein Kind adoptieren, Josefa. Ich habe mir das eben flüchtig durch den Kopf gehen lassen. Es ist vielleicht nicht gut, wenn Alexa als Einzelkind aufwächst. In Sophienlust oder durch die dortige Hilfe finden wir bestimmt einen kleinen Jungen, der Waise ist.«

»Ja, das wäre schon möglich«, hörte sie sich antworten.

»Es klingt nicht, als wärst du von meinem Vorschlag begeistert.«

»Doch«, widersprach sie erschrocken. »Ich halte es für gut, wenn Lexi nicht allein bleibt. Sie ist schon ein bisschen altklug geworden. Es ist eine gute Idee.« Josefa sagte es, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass das Ganze dumm und albern sei.

Nach einer Weile stand Alexander auf und schaltete das Radio ein. Eine Violinsonate von Beethoven erklang. Josefa legte den Kopf gegen die Sessellehne und schloss die Augen. Die quälende Spannung verging ein wenig.

Plötzlich fühlte sie seine Hand für den Bruchteil einer Sekunde auf ihrem Haar. Ein heißes Glücksempfinden durchflutete sie. Doch schon nahm er die Hand wieder fort und ging aus dem Zimmer. Josefa blieb mit der unsterblichen Musik und mit ihrer Sehnsucht allein.

*

Es folgten Wochen, in denen Josefa Alexander nur selten zu sehen bekam. Er musste öfters Vertretungen übernehmen, weil mehrere Piloten durch Krankheit ausgefallen waren. Josefa begann das Telefon neben ihrem Bett zu hassen, weil es nur dann läutete, wenn ihr Mann ihr mitteilen wollte, dass er seine Rückkehr aus dienstlichen Gründen wieder einmal aufschieben müsse.

Im November bekam Alexa zuerst Masern und dann Scharlach. Beide Erkrankungen grassierten zu dieser Zeit. Josefa machte sich Vorwürfe, weil sie Alexa nicht hatte impfen lassen, als noch Zeit gewesen wäre. Nun also lag Alexa mit hohem Fieber im Bett, und die erste Krankheit ging in die zweite über.

Josefa isolierte die kleine Patientin vollkommen und erlangte, da sie selbst Ärztin war, die Erlaubnis, das Kind zu Hause zu pflegen.

Fred Wellner stand ihr mit ärztlichem Rat zur Seite, soweit sie solchen benötigte. Er kam täglich, während von Alexander gerade in den schlimmsten Tagen keine Nachricht eintraf. Josefa wusste nicht einmal, wo sie ihn hätte erreichen können.

Am Abend des achten Tages ihrer Erkrankung jammerte Alexa: »Vati soll endlich kommen. Er ist nie da.«

»Vielleicht kommt er schon morgen oder übermorgen«, tröstete Josefa und brachte Lexi eisgekühlten Saft gegen den Fieberdurst. Als das Kind endlich eingeschlafen war, saß sie mit Fred Wellner bei geöffneter Tür im Wohnzimmer, um jeden Laut von oben hören zu können.

»Ich bin dir so dankbar, Fred«, sagte sie müde. »Gerade jetzt müsste Alexander wirklich hier sein.«

»Rufe doch auf dem Flughafen an und erkundige dich, wie du ihn erreichen kannst. Ich würde ihm ein Telegramm schicken an deiner Stelle. Er bildet sich ein, dass es auf der Welt nichts Wichtigeres gibt als seinen Dienst.«

»Sei nicht ungerecht, Fred. Auch du lässt dich in dringenden Fällen nachts aus dem Bett holen.«

»Das ist etwas anderes.«

»Jeder hält seinen Beruf für den wichtigsten.«

»Alexa ist schwerkrank. Das brauche ich dir nicht auseinanderzusetzen, denn du bist selbst Medizinerin.«

»Hast du Sorge, sie könnte es nicht überstehen?«, fragte Josefa erschrocken, denn so ernst hatte sie es durchaus nicht angesehen.

»Wenn das Herz in Ordnung ist, schafft es die Kleine. Sorge dich nicht, Josefa«, beruhigte er sie. »Trotzdem ist es reichlich anspruchsvoll vom Herrn Flugkapitän, dass er dich mit diesem Problem allein lässt. Er hat sich entschieden den angenehmeren Teil dieser Ehe ausgesucht.«

Josefa schüttelte den Kopf. »Er weiß nicht einmal, dass Lexi krank geworden ist.«

»Gerade das mache ich ihm zum Vorwurf. Seit einer Woche hat er sich nicht mehr gemeldet. Das ist rücksichtslos dir gegenüber.«

»Es ist nicht ganz einfach mit dem Telefonieren von Übersee. Von Australien aus dauert es oft viele Stunden, bis ein Gespräch durchkommt.«

»Er könnte ein Telegramm schicken, wo er zu erreichen ist. Aber es ist selbstverständlich viel bequemer, sich unerreichbar zu machen. Auf diese Weise kann er sogar ungestört ein paar freie Tage irgendwo verbringen, ohne dass es sonderlich auffällt.«

»Warum sagst du so hässliche Dinge? Es ist bestimmt nicht wahr.«

»Du willst die Wahrheit einfach nicht sehen. Dein Mann hat sich mit dieser Ehe, mit dem schönen Haus und dem ganzen Drum und Dran von seiner Verantwortung für das Kind freigekauft. Wenn es nicht gerade um dich ginge, könnte es mir gleichgültig sein. Aber du hast dein Leben verpfuscht für einen Egoisten!«

Josefa antwortete nicht. Wie hätte sie Fred auch eingestehen können, dass sie ihren Mann liebte?

»Er liebt dich nicht, er liebt nicht einmal das Kind«, fuhr Fred Wellner ärgerlich fort. »Aber er ist zu eitel, um das zuzugeben. Also hat er diesen pompösen Rahmen für ein hübsches Bild angeschafft, das leider nicht die Wahrheit darstellt. Ihm selbst ist es allerdings zu langweilig, sich in diesem Rahmen einsperren zu lassen. Du machst es ihm leicht genug. Keine seiner Behauptungen prüfst du nach, niemals telefonierst du hinter ihm her, wie es andere Ehefrauen tun würden in deiner Lage. Nein, du sagst ganz brav ja und Amen zu allem. Doch falls der kleinen Alexa etwas passieren sollte, würde er dir wahrscheinlich die bittersten Vorwürfe machen. Denn er bezahlt dich ja gut für deine Pflichterfüllung.«

Sie legte die Hände über die Ohren. »Hör auf, Fred! Das alles stimmt nicht. Ich müsste dich bitten, nicht mehr wiederzukommen, wenn du weitersprächest.«

Er nahm ihre Hände in die seinen, sodass sie gezwungen war, ihn weiter anzuhören. »Du kannst es nicht ertragen, weil es die Wahrheit ist, Josefa«, sagte er.

In diesem Augenblick erklang von oben ein Geräusch. Josefa sprang auf und lief in Alexas Zimmer hinauf. Zu ihrer grenzenlosen Überraschung fand sie Alexander neben Alexas Bett. Er trug noch die Uniform und sah müde aus. Sie mussten sein Kommen überhört haben.

Er wollte etwas sagen, doch sie legte den Finger auf die Lippen. Da folgte er ihr die Treppe hinunter, genauso lautlos, wie er hinaufgestiegen sein mochte.

Die beiden Männer grüßten einander steif und förmlich.

»Alexa hat Scharlach«, berichtete Josefa mit starrem Gesicht. »Du musst dich gleich gründlich desinfizieren. Zuerst waren es die Masern. Sie verliefen sehr leicht. Doch jetzt hat sie hohes Fieber. Ich bin erleichtert, dass du endlich da bist. Lexi hat immer nach dir gefragt – noch vorhin, vor dem Einschlafen.«

Fred Wellner fügte ein paar ärztliche Erläuterungen hinzu und betonte, dass das Kind schwer krank sei.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich um meine Frau und mein Kind kümmern, Doktor«, sagte Alexander kühl. Es war eine deutliche Verabschiedung.

Fred Wellner wünschte eine gute Nacht. Er sei jederzeit erreichbar, versicherte er, ehe er in seinen Wagen stieg.

Dann waren Alexander und Josefa allein.

»Wo ist Frau Gesine?«, fragte Alexander.

»Ich hab’ sie schlafen geschickt. Sie opfert sich auf für mich und Lexi, obwohl ich sie wegen der Ansteckungsgefahr nicht an das Kind heranlasse.«

»Sie ist eine tüchtige Frau«, meinte er matt. »Du solltest auch im Bett sein um diese Zeit. Es ist spät.«

»Lexi ist erst vor einer halben Stunde eingeschlafen. Dr. Wellner konnte nicht vor neun Uhr kommen. Er hatte sehr lange in der Klinik zu tun. Aber ich wollte mich nicht allein auf mein Urteil verlassen. Deshalb bat ich ihn zu kommen.«

»Hier an der Ecke wohnt ein Kinderarzt, falls dir das bisher entgangen sein sollte, Josefa.« Das klang vorwurfsvoll.

Erschrocken sah Josefa ihn an. »Ist es dir nicht recht, dass ich Fred zugezogen habe?«, stieß sie hervor.

Er hob die Schultern. »Nicht recht – er liebt dich! Ich habe euer Gespräch mitangehört. Die Tür stand offen. Deshalb wollte ich zunächst herausfinden, ob Frau Gesine auch mithören konnte. Das wäre mir nämlich peinlich gewesen.«

»Alexander, wenn du zugehört hast, dann musst du auch meine Antworten verstanden haben«, flüsterte Josefa beschwörend. »Ich denke nicht so wie Fred.«

»Nein, aber er hat leider nicht ganz unrecht, der Herr Doktor. Du hast mir zuliebe dein Leben verpfuscht. Nein, nicht mir zuliebe, sondern Alexa zuliebe.«

»Ich hab’ es so gewollt, Alexander. Ich beklage mich nicht, und ich werde Fred sagen, dass er nicht mehr kommen soll.« Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, weil ihre Knie zitterten.

Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, Josefa. Du kannst die Scheidung haben, wenn du möchtest. Ich hätte dir diesen Handel niemals vorschlagen dürfen. Du bist großherzig und hilfsbereit, also konnte ich damit rechnen, dass du auf meinen Vorschlag eingehen würdest. Ich habe mir wirklich eingebildet, dass ich mit dem Haus und allem Drum und Dran, wie der Doktor sich ausdrückte, meine Pflicht ablösen könnte.«

»Alexander, ich wusste genau, was ich tat, als ich ja sagte. Es …, es tut mir leid, wenn du jetzt alles in einem falschen Licht siehst.«

»Ich fürchte, ich sehe die Dinge zum ersten Mal im rechten Licht, Josefa«, widersprach er.

»Und Alexa?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Was sollte aus ihr werden, wenn wir das zerstören, was wir für sie aufgebaut haben?«

»Sie kann wieder nach Sophienlust gehen. Schließlich ist es ein ganz ein­maliges Kinderheim. Ich werde mir

Mühe geben, sie häufig zu besuchen. Wenn wir Frau von Schoenecker reinen Wein einschenken über das, was wir mit dieser Ehe planten, wird sie uns helfen.«

»Ich habe es ihr angedeutet«, gestand Josefa. »Denn es kam mir so vor, als hätte sie es ganz von selbst erkannt.«

»Und was sagte sie?«

»Sie …, sie wollte mich warnen. Sie meinte, ich hätte mich zu rasch entschlossen. Doch dann ließ sie den Dingen ihren Lauf. Wie wunderbar sie unsere Hochzeit gestaltet hat, weißt du selber.«

»Eine erstaunliche Frau. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie ihre Hand zu solch einem Schauspiel reichen würde. Immerhin bin ich überzeugt, dass sie Alexa wieder aufnehmen würde. Dass Lexi dort glücklich sein könnte, weiß ich bereits.«

»Aber sie würde nach wie vor zweifeln, ob du sie wirklich liebst.«

»Das kann ich nicht ändern. Aber ich hätte dich nicht überrumpeln und aus deiner vorgezeichneten Lebensbahn werfen dürfen. Dafür habe ich dir die Sorge und Erziehung für Alexa überlassen, ohne dir in der richtigen Weise zur Seite zu stehen, wie es meine Pflicht wäre.«

»Das ist nicht deine Schuld, Alexander.«

»Glaubst du mir das wirklich? Wir Leute von der Luftfahrt haben keinen allzu guten Ruf. Der Herr Doktor wird sicherlich ziemlich miserabel über mich denken und urteilen. Ich nehme an, ihr habt heute nicht zum ersten Mal über das Thema gesprochen.«

»Er mag mich gern, Alexander. Ich habe mir eingebildet, dass man befreundet bleiben könnte, doch das war ein Fehler. Es ist wahrscheinlich sogar unfair gegen ihn, denn er macht sich noch immer irgendwie Hoffnungen auf mich, fürchte ich. Ich will ihm sagen, dass er wegbleiben soll. Dann wird er mich vergessen und ein anderes Mädchen finden und glücklich werden.«

»Das wäre in Ordnung, wenn unsere Ehe nicht nur auf dem Papier stünde«, versetzte er hart. »Ich glaube, ich bin verrückt gewesen, als ich dir diesen Vertrag vorschlug. Bloß gut, dass wir bis jetzt nichts wegen der Adoption eines Jungen unternommen haben. So können wir aus der Sache vielleicht wieder heraus.«

»Alexander«, ihr schlug das Herz bis zum Hals hinauf, »wir wollen heute Nacht keine übereilten Entscheidungen treffen. Zuerst musst du schlafen.«

»Ja, schlafen«, bestätigte er. »Ich bin wahnsinnig müde. Immer wollte ich dich anrufen, aber es kam mir rücksichtslos und anspruchsvoll vor, dich zu stören. Es ergab sich leider so, dass es hier in Deutschland stets gerade Nacht war, wenn ich hätte telefonieren können. Wenn ich natürlich geahnt hätte, dass Lexi krank ist …«

Josefa überwand ihre Scheu und nahm seine Hand. »Sie wird gesund werden, Alexander. Das ist im Augenblick das einzig Wichtige.«

Er wich ihrem Blick aus.

»Ich muss dir gleich noch Desinfektionslösung geben, Alexander. Wasche dich gründlich damit und lass deine Kleidung im Bad liegen. Ich bringe das morgen früh in Ordnung.«

»Ja, danke, ich habe schon nicht mehr daran gedacht. Ich habe zwar als Kind Scharlach gehabt, aber ich könnte andere Leute infizieren.«

Josefa zog einen weißen Kittel über und beugte sich noch einmal über das schlafende Kind. Der Puls ging viel zu schnell, und das Fieber wollte nicht weichen. Aber das Herz schlug kräftig.

Als sie vor der Tür den Kittel auszog und sich die Hände in der dort aufgestellten Schüssel desinfizierte, kam Alexander nochmals aus dem Bad.

»Du musst vollkommen erschöpft sein von dieser Pflege, Josefa«, sagte er leise.

»Ich habe ja sonst nichts zu tun. Jetzt lege ich mich zu Bett und lasse meine Tür offen. Ich höre jedes Geräusch aus Lexis Zimmer.«

Er nickte. »Weil du keine Minute richtig schläfst, und das schon seit Tagen! Soll ich nicht heute Nacht wachen?«

»Nein, du müsstest mich ja doch wecken, wenn etwas Besonderes sein sollte. Geh schlafen, ich bitte dich.«

»Versprich mir, dass du bei mir anklopfst, falls Alexa dich braucht. Sie ist mein Kind. Du darfst mich nicht ausschließen.«

»Ja, Alexander, ich rufe dich.«

Sie ist mein Kind, hallte es schmerzlich in ihr nach. Aber Alexa war nicht ihr Töchterchen. Würde er die Ehe nun auflösen?

Josefa tat das Herz weh. Sie wollte keine Trennung von ihm, denn sie liebte ihn. Es war schrecklich, dass er Freds harte Worte mit angehört hatte.

Obwohl sie unendlich müde war, konnte sie zunächst nicht schlafen. Sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt, auf jedes Geräusch zu lauschen. Doch dann sank sie doch in einen tiefen Schlaf.

Gegen Morgen schreckte sie hoch. Alexander stand im Bademantel in der offenen Tür. »Ich glaube, Lexi ist wach geworden. Darf ich zu ihr gehen?«

»Mein Himmel«, stieß sie hervor. »Ich muss sehr fest geschlafen haben. Kannst du dir den weißen Kittel überziehen, der vor ihrer Tür hängt? Vielleicht passt er, wenn du den Bademantel ausziehst. Wenn du wieder herauskommst, musst du dir die Hände desinfizieren, nachdem du den Kittel wieder ausgezogen hast.«

»Ja, Josefa.«

Sie sprang aus dem Bett, sobald er sich entfernt hatte, und nahm dann einen anderen weißen Kittel aus dem Schrank. Sie war ja reichlich damit versehen.

Als sie in Alexas Zimmer trat, fand sie das Kind in Tränen aufgelöst vor.

»Da bist du ja, Mutti«, schluchzte

Lexi. »Ich dachte, jetzt ist nur noch

Vati da, weil er deinen weißen Kittel anhat.«

»Dummchen, du musst doch nicht weinen. Gib mal dein Händchen her.« Sie prüfte den Puls. »Du, ich glaube, das Fieber ist über Nacht gesunken. Freust du dich, dass Vati wieder da ist?«

»Doch, schon. Aber ich hatte auf einmal schreckliche Angst, dass du nicht mehr da wärst, Mutti.«

Josefa schüttelte den Kopf. »Aber warum denn, Kleines? Ich kann doch nicht immer an deinem Bett sitzen. Ich war ein bisschen müde und bin eingeschlafen. Vati hat dich früher gehört als ich. Er ist in der Nacht heimgekommen. Hättest du dir nicht denken können, dass ich in meinem Bett liege?«

»Na ja, ich hab’ eben Angst gekriegt«, gestand Alexa. »Und Vati sagte, dass er dich nicht holen wolle …«

»Ich habe versucht, dir deine Ruhe zu erhalten«, schaltete sich Alexander ein. »Aber da gab es hier Tränen. Es tut mir leid. Im Umgang mit kranken Kindern bin ich nicht geübt.«

»Nun, jetzt wollen wir uns alle drei freuen, dass es Lexi besser geht, und die Tränen vergessen.«

»Du musst bei mir bleiben, Mutti.«

»Unsere Mutti ist wirklich sehr müde, Lexi. Sie hat viele, viele Nächte an deinem Bett gesessen und nicht geschlafen«, legte sich Alexander ins Mittel. »Wenn du willst, setze ich mich da in den Stuhl und bleibe bei dir.«

»Ihr sollt beide bei mir bleiben«, bettelte Alexa. »Aber zuerst möchte ich etwas zu trinken.«

Josefa, die der Einfachheit halber Mineralwasser und Fruchtsaft im Zimmer bereitstehen hatte, machte dem Kind ein Glas zurecht. Durstig trank Alexa. »Bleibt ihr?«, wiederholte sie dann ihre Bitte.

»Bis du wieder eingeschlafen bist, Kind. Dann legen Vati und Mutti sich auch noch ein Stündchen hin. Du kannst rufen, wenn du wieder aufwachst.«

Lexi verzog den Mund. »Dann schlafe ich ganz einfach nicht mehr ein. Ich will, dass ihr bei mir bleibt. Vati sieht aus wie ein Onkel Doktor in Muttis Kittel. Das gefällt mir.«

Josefa lächelte und sang leise ein russisches Kinderlied, das sie Lexi schon manchmal vorgesungen hatte.

Wenig später fielen dem erschöpften kleinen Mädchen die Augen zu. Josefa zog liebevoll die Bettdecke zurecht und nickte Alexander zu. Gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer. Sie zogen die weißen Kittel aus und desinfizierten sich die Hände.

»Du hast hübsch gesungen, Josefa. Hoffentlich schläft Alexa nun noch ein paar Stunden.«

»Das nehme ich an. Sie braucht viel Schlaf, um gesund zu werden. Aber sie war so aufgeregt, dass ich fürchtete, sie würde tatsächlich wach bleiben. Deshalb habe ich gesungen. Singen beruhigt, das ist eine alte Wahrheit.«

»Danke, Josefa. Allmählich wird mir klar, was du getan hast.«

»Wenn man die Verantwortung für ein Kind übernimmt, gehört Krankenpflege nun mal dazu. Für mich ist es einfacher als für andere Frauen, denn ich bin auch Ärztin. Geh jetzt zu Bett, Alexander. Du musst schrecklich müde sein.«

»Auf mich kommt es nicht an, Josefa. Lass dir wenigstens danken.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Du brauchst mir nicht zu danken.«

»Alexa ist für dich ein fremdes Kind.«

»Nein, Alexander, das ist nicht wahr.«

Unter ihrem flammenden Blick wandte er sich ab. »Sehen wir, ob wir noch einmal einschlafen können. Einer von uns wird es sicher hören, wenn sie ruft«, sagte er mit erzwungener Ruhe.

»Ich höre es bestimmt. Ich hätte es auch vorhin beim zweiten oder dritten Mal gehört. Du kannst dich darauf verlassen. Außerdem ist Alexas Zustand jetzt nicht mehr allzu beängstigend. Es schadet ihr nichts, wenn sie mehrmals ruft und zwei Minuten wartet, bis einer an ihrem Bett erscheint.«

Da ging er in sein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Josefa legte sich wieder hin, aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Nach einer Weile erhob sie sich lautlos und nahm ein Bad, wobei sie so wenig Geräusche wie möglich verursachte. Dann kleidete sie sich an, um den Platz neben Alexas Bett wieder einzunehmen. Still schaute sie auf das schlafende Kind, das sie genauso liebte wie dessen Vater, und faltete die Hände. Es darf nicht geschehen, dachte sie. Ich will das Kind nicht verlassen und auch ihn nicht. Lieber Gott im Himmel, hilf mir, zeige mir einen Weg!

*

Seit diesem Tag ging es Alexa tatsächlich besser. Sie saß nun aufrecht in ihrem Bett und hielt den gesamten Haushalt mit ihren Wünschen in Atem. Alexander brachte fast den ganzen Tag an ihrem Bett zu. Er spielte mit ihr, las ihr vor und gab sich Mühe, all das nachzuholen, was er durch seine lange Abwesenheit versäumt hatte.

Fred Wellner kam noch ein einziges Mal. Er untersuchte Alexa und teilte dem Vater mit, dass die Gefahr nun vorüber sei, die kleine Patientin aber noch mindestens eine Woche lang im Bett bleiben müsse, damit das Herz nicht überanstrengt würde.

Alexander bedankte sich kühl und höflich, während er den Arzt zu dessen Wagen begleitete. Josefa ließ sich nicht sehen. Fred Wellner fragte auch nicht nach ihr, sondern bat nur um herzliche Grüße an sie.

»Er kann mich nicht leiden. Ich dagegen habe ihm wahrscheinlich unrecht getan«, meinte Alexander am Mittagstisch, als er Josefa gegenübersaß.

Sie wusste keine Antwort darauf.

»Du hast mir damals gesagt, es gäbe keinen Mann in deinem Leben – aber so etwas kann sich ändern. Ihr habt den gleichen Beruf. Eure Interessen liegen sich sicherlich näher als die unsrigen. Ich weiß kaum etwas von dir, und du nicht viel von mir.«

»Alexander, wir wollten es für Alexa tun – du und ich. Bitte, was soll denn werden? Sie braucht uns beide. Sie braucht eine Mutter und einen Vater!«

Er hob die Schultern. »Mir ist klar geworden, dass sie dich nötiger hat als mich. In der Nacht, als ich wiedergekommen war, hat sie mehr nach dir verlangt als nach mir. Daran, dass ich meist durch Abwesenheit glänze, scheint sie sich auf ihre Weise gewöhnt zu haben. Aber es wäre sicherlich zu viel verlangt, wenn ich dir die Fürsorge für Alexa weiterhin überlassen würde im Falle einer Scheidung. Du sollst wieder als Ärztin tätig sein, und Lexi wird nach Sophienlust gehen.«

»Ich wünschte, du könntest mir glauben, dass ich keinen Wert darauf lege, wieder in der Klinik zu arbeiten. Ich liebe Lexi. Wir haben A gesagt und können uns vor dem B nun nicht drücken. Wir haben kein Recht, unsere Entschlüsse plötzlich wieder umzuwerfen.«

»Du machst es mir zu leicht, Josefa. Du bist gewissenhaft und pflichtbewusst. Ich fürchte, du würdest sogar auf ein echtes Glück verzichten, weil du meine Frau geworden bist und Alexa nicht enttäuschen willst. Ich hätte mir das rechtzeitig überlegen müssen. Du bist anders als ich. Für dich hat das Versprechen vor dem Altar sogar in unserem Fall seine Bedeutung.«

Am liebsten wäre Josefa vom Tisch aufgestanden und hinausgelaufen. Sprechen konnte sie nicht. Alexander aber fuhr fort: »Du nimmst das Leben ernst und setzt dich ganz und gar für die Aufgabe ein, die du übernommen hast. Es scheint, dass ich jetzt die Pflicht habe, dir wieder zu deiner Freiheit zu verhelfen.«

»Muss das denn heute besprochen sein?«, stammelte Josefa, indem sie sich alle Mühe gab, wenigstens nicht in Tränen auszubrechen. »Ich will meine Freiheit nicht zurückbekommen und beklage mich auch nicht«, fuhr sie mit unsicherer Stimme hinzu.

»Hätte mir dein Doktorfreund nicht die Augen geöffnet, würde ich dir glauben, Josefa«, erwiderte Alexander in seltsam weichem Ton »Jetzt aber sehe ich die Dinge in einem anderen Licht. Du magst recht haben, wenn du vorschlägst, dass wir nichts übereilen sollen. Doch wir müssen nach einem vernünftigen Weg suchen, um den früheren Zustand wiederherzustellen. Es war eine verrückte Idee von mir. Ich hatte kein Recht, dich hier einzusperren.«

Nun ging es über ihre Kräfte. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und lief aus dem Zimmer.

Betroffen sah der Flugkapitän ihr nach. Um seinen Mund zuckte es. Er ließ seinen Teller gleichfalls stehen und wollte Josefa folgen. Doch an der Tür zögerte er und schüttelte den Kopf.

Fünf Minuten später fuhr er mit seinem Wagen davon. Josefa beobachtete ihn vom Fenster ihres Zimmers aus verstohlen. Frau Gesine räumte inzwischen den Tisch ab, wobei sie missbilligend die kaum berührten Schüsseln und die nicht geleerten Teller betrachtete. An den Nachtisch hatten die Herrschaften überhaupt nicht gedacht. Da hatte es wohl Ärger gegeben!

Frau Gesine ging zu Lexi hinauf, deren Zimmer nun nicht mehr tabu war. Das Kind löffelte mit bestem Appetit seinen Schokoladenpudding.

»Kommt Mutti nicht?«, fragte Lexi.

»Ich glaube, sie hat sich niedergelegt, Alexa. Sie sah ziemlich müde aus. Du musst jetzt auch deinen Mittagsschlaf halten.«

Alexa verzog den Mund. »Sonst kommen sie immer beide nach dem Essen zu mir«, schmollte sie.

»Du bist nicht mehr so krank«, erklärte Frau Gesine resolut. »Schau, ich ziehe den Vorhang vor, dann kannst du wunderbar schlafen.«

Frau Gesine verließ das Krankenzimmer. Als sie an Josefas Tür vorüberkam, war ihr, als höre sie die junge Frau weinen. Ärgerlich zog sie die Brauen zusammen, wobei sich ihr Zorn gegen Alexander Rethy richtete.

Dann stürzte sie sich auf die Küchenarbeit wie der Teufel auf eine arme Seele.

*

Dr. Fred Wellner war nicht wenig überrascht, als ihm der Flugkapitän gegenüberstand. Alexander war zur Klinik gefahren und hatte nach dem Oberarzt gefragt. Man hatte Dr. Wellner aus dem Speisesaal geholt, wo er eben sein Mittagsmahl eingenommen hatte.

»Ist etwas mit Alexa oder mit Josefa?«, fragte der Arzt besorgt und vergaß sogar die Begrüßung.

»Nein, nein, Alexa geht es ausgezeichnet. Sie fängt an, uns zu tyrannisieren. Das machen wohl alle Kinder, wenn sie krank waren.«

»Dann geht es also um Josefa?«, setzte Dr. Wellner sein kleines Verhör fort, indem er auf einen Stuhl wies und sich selbst hinter seinen Schreibtisch setzte.

Alexander blieb stehen. Er legte die Hände auf die Rückenlehne des Stuhles, auf dem für gewöhnlich die Patienten des Oberarztes sitzen mochten.

»Ich habe neulich zugehört, als Sie mit Josefa sprachen, Herr Doktor. Seitdem meine ich, dass etwas geschehen muss. Sie haben recht – ich wollte es mir zu einfach machen. Es war nicht fair Josefa gegenüber. Heute lässt es aber ihr Pflichtbewusstsein nicht zu, dass sie aufgibt.«

Um den Mund des Arztes zeigte sich eine herbe Linie. »Wenn es auch nicht für ihre Ohren bestimmt war – es war nichts, was ich nicht wiederholen würde, wenn Sie mir gegenüberstehen.«

»Nein, denn Sie haben etwas gegen mich, nicht wahr?«

Dr. Wellner hob die Schultern. »Nicht unbedingt gegen Sie, Herr Rethy. Das trifft nicht ganz den Kern. Ich liebe Josefa und wollte sie heiraten. Aber sie hatte sich in das Kind vernarrt.« Er lächelte ein wenig, wurde aber gleich wieder ernst. »Deshalb ist es für Sie auch leicht gewesen, Josefa zu dieser Eheschließung zu überreden. Sie hängt an dem Kind und ist zu jedem Opfer für Alexa bereit.«

»Das ist mir inzwischen selbst klar geworden, Doktor. Ich schäme mich, dass ich das Problem nur von meiner Sicht aus betrachtet habe. Ich habe mir eingeredet, dass es für jede Frau das Große Los bedeuten müsse, finanziell ausreichend gesichert zu sein, in einem schönen Haus zu wohnen und so weiter und so weiter. Jetzt sitzt die arme Josefa in der Patsche und kann nicht zurück, weil sie zu anständig ist und ihrer ganzen Veranlagung nach das zu Ende führen will, was sie begonnen hat.«

»Warum kommen Sie damit zu mir? Ich weiß es doch sowieso«, meinte der Arzt nicht sonderlich freundlich.

»Weil Sie mir helfen sollen, ihr zuzureden, dass sie sich scheiden lassen soll. Sie haben wenigstens Argumente.«

»Dass eine unerwiderte Liebe ein gutes Argument ist, bezweifle ich«, erwiderte Dr. Wellner ernst.

»Josefa hat kein Herz aus Stein. Sie ist zum Verzicht auf ihr Glück bereit, weil sie das Ausharren im goldenen Käfig für ihre Pflicht hält. An Ihrer Seite, Doktor, könnte sie ihren Beruf wieder ausüben und wirkliche Erfüllung finden.« Alexander unterdrückte einen Seufzer.

»Alles gut und schön, aber Sie haben die Rechnung ohne Josefa gemacht, Herr Rethy. Das Problem ist nicht so einfach zu lösen. Ich habe Josefa schon früher gefragt, ob sie meine Frau werden will. Sie hat nein gesagt.«

»Aber wenn Sie jetzt bei ihr waren, haben Sie da denn niemals das Gefühl gehabt, dass Josefa über Ihre Anwesenheit glücklich war?«, drängte Alexander.

»Ich will zugeben, dass ich das gehofft habe«, antwortete Wellner aufrichtig. »Aber Josefa hat mich nie ermutigt.«

»Was tue ich nur? Ich muss diese Geschichte wieder in Ordnung bringen, denn es ist alles meine Schuld. Josefa ist viel zu gut für mich.«

»So hart sollten Sie nicht mit sich ins Gericht gehen«, wandte der Arzt bestürzt ein.

»Sie haben selbst gesagt, dass ich ein Egoist sei und den bequemsten Weg gesucht habe. Ich habe das nicht vergessen.«

»Sie kennen meine Gründe. Mein Urteil ist sicher nicht unparteiisch. Es tut mir leid, Herr Rethy.« Des Doktors Tonfall war jetzt versöhnlich.

»Sie brauchen sich bei mir nicht zu entschuldigen. Ich kann mich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen. Wollen Sie mir helfen? Vielmehr Josefa helfen?«

»Die Entscheidung muss bei ihr liegen, Herr Rethy. Ich fürchte, es wird schwer, ja, unmöglich sein, sie von ihrem einmal gefassten Entschluss abzubringen. Sie sieht es nun als ihr Schicksal an. Man darf nicht vergessen, dass sie aus Russland kommt. Ihre Denkweise mag von der unseren ein wenig verschieden sein.«

»Warum ergreifen Sie Ihre Chance nicht?«, fuhr Alexander auf. »Sie behaupten, dass Sie Josefa lieben. Gehen Sie zu ihr, sagen Sie ihr meinetwegen, dass ich zu Ihnen gekommen bin. Sie können es aber auch verschweigen. Ich überlasse das ganz Ihnen.«

»Was soll aus Alexa werden?«, fragte der Arzt leise.

»Sophienlust – ich sagte es doch schon. Fragen Sie einmal Nick oder Henrik von Schoenecker. Beide Jungen würden Ihnen wie aus einem Munde antworten, dass Lexi gar nichts Besseres passieren könne, als wieder dort Aufnahme zu finden.«

Der Doktor schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich möchte nur erreichen, dass Josefa nicht unglücklich wird.«

*

Beim Abendessen durfte Alexa mit am Tisch sitzen. Josefa hatte diese Sondererlaubnis erteilt, um dem Alleinsein mit Alexander zu entgehen.

Alexa war selig und plauderte ununterbrochen. Das Ehepaar war dem Kind unendlich dankbar dafür. Bei Frau Gesine aber entstand auf diese Weise der Eindruck, dass der vermeintliche Streit begraben und vergessen sei.

Nach dem Essen brachte Josefa das Kind wieder zu Bett und las ihm noch zwei Geschichten vor. Dann löschte sie bei Alexa das Licht und wandte sich ihrem eigenen Schlafzimmer zu, indem sie ihrem Mann vom Treppenabsatz aus zurief, dass sie sehr müde sei und sich gleich hinlegen wolle.

»Natürlich«, antwortete er höflich und kam zur Treppe. »Schlaf gut, Josefa.«

Wie kühl und gleichgültig seine Worte klangen! Wahrscheinlich ist er ganz zufrieden, dass er den Abend allein und nach seinem Geschmack verbringen kann, überlegte Josefa. Sie störte ihn wohl, war ihm im Wege. Möglicherweise gab es auch eine andere Frau. Bonny, die Stewardess, zum Beispiel! Ob Lexi sich auch an Bonny gewöhnen würde? Sie mochte sie doch gut leiden und schwärmte sogar ein bisschen für sie, weil sie den Beruf ihrer verstorbenen Mutti hatte.

Josefa kam zu der Überzeugung, dass Bonny im Spiel sein müsse. Wahrscheinlich war Alexander nach dem Mittag zu ihr gefahren, um ihr zu sagen, dass er seiner Scheinehe so bald wie möglich ein Ende zu bereiten gedenke. Sie hätte früher darauf kommen müssen!

Josefa schloss die Augen. Es würde keine Schwierigkeiten machen, die Ehe wieder aufzulösen. Alexa konnte für eine Übergangszeit nach Sophienlust gehen und dann wieder in dieses Haus zurückkehren, in dem dann Bonny schalten und walten würde …

Aber was wird dann aus mir, fragte sich Josefa. Kann ich wieder als Ärztin arbeiten? Ich glaube, Alexander würde mir die Mittel zur Verfügung stellen, eine eigene Praxis zu eröffnen, aber ich würde vorher meinen Facharzt machen.

Josefa war todtraurig. Warum wurde ihr im Leben immer wieder das genommen, was sie glücklich machte? Sie war zufrieden gewesen, dass sie das geliebte Kind umsorgen und auf den Vater warten konnte. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihre Liebe im Schatten bleiben würde. Nun aber schickte Alexander sie fort. Sie würde ihn und Alexa verlieren, und ihr Leben würde arm und leer werden.

Aber durfte sie halten, was ihr gar nicht gehörte? Weder sie noch Alexander hatten ihren Schritt gründlich bedacht.

Josefa erschrak, als es an ihrer Tür klopfte. Sie saß angekleidet auf ihrem Bettrand.

»Was ist?«, fragte sie und gab sich Mühe, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.

»Entschuldige, Josefa. Liegst du schon? Ich hätte dich gern noch gesprochen. Eben kam ein Anruf für mich. Ich muss sofort weg und eine Vertretung übernehmen.«

»Ich …, ich habe Kopfweh, Alexander«, log sie verzweifelt.

»Es tut mir leid, Josefa. Wenn ich wiederkomme, werden wir alles in Ruhe miteinander besprechen.«

»Ja, Alexander. Alles Gute! Pass auf dich auf!«

»Mir passiert nichts, das weißt du doch.«

»Das gebe Gott«, sagte sie leise, ohne zu ahnen, dass er es draußen genau verstand.

Josefa lauschte nun auf jedes Geräusch. Jetzt packte er seinen Koffer, dann duschte er, zog wohl nun die gereinigte Uniform an. Er sah gut aus darin.

Ihr rannen Tränen über die Wangen.

Endlich wurde sein Wagen aus der Garage gefahren. Alexander Rethy war wieder im Dienst – wieder einmal vor Ablauf der ihm zustehenden Ruhezeit. Ob es wirklich bei allen Flugkapitänen so war?

Josefa ertrug die bedrückende Einsamkeit ihres Zimmers nicht mehr. Leise ging sie zu Alexa hinüber, die den blonden Kopf auf einen Arm gebettet hatte und fest schlief – ihrer endgültigen Genesung entgegen.

Josefa weinte haltlos und verzweifelt. Doch plötzlich erklang die Stimme des Kindes neben ihr: »Warum weinst du, Mutti?«

Sie konnte nicht sofort antworten und gab sich Mühe, ihr Schluchzen zu bezwingen.

»Soll ich Vati holen?«, fragte Lexi bestürzt und hellwach.

»Vati ist …, ist fort …, zum Flughafen«, stieß Josefa hervor. »Er lässt dich grüßen. Sie haben ihn telefonisch zurückgerufen.«

Nun begann auch Alexa zu weinen. »Er darf nicht immer wieder fortgehen, Mutti. Wir haben ihn doch lieb! Aber er hat uns nicht lieb, wenn er nicht bleibt.«

Lexis Tränen brachten Josefa zur Besinnung. Sie riss sich gewaltsam zusammen. »Er kommt ja wieder, Lexi. Es ist dumm von uns beiden, wenn wir weinen.«

»Du weinst ja immer noch. Ich sehe es.«

»Es ist gleich wieder gut. Du musst jetzt schlafen. Ich hätte dich nicht aufwecken dürfen. Ich bin eine unvernünftige Mutti.« Das aufmunternde Lächeln, das Josefa zu diesen Worten versuchte, misslang ihr. Doch Lexi schloss gehorsam die Augen und versprach wieder zu schlafen.

Leise ging Josefa aus dem Zimmer. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie das kleine Mädchen geängstigt hatte, und wollte in einer halben Stunde nachsehen, ob Lexi wirklich eingeschlafen sei.

Josefa ging zum Medikamentenschrank und entnahm ihm ein Beruhigungsmittel. Sie musste etwas unternehmen, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

Dann läutete das Telefon, das Alexander noch umgeschaltet hatte, ehe er das Haus verlassen hatte. Alexander, dachte sie und fühlte heiße Freude, dass sie seine Stimme noch einmal hören würde. Doch es war Fred Wellner.

»Fred, ich glaube, es ist besser, wenn du nicht mehr kommst«, erklärte sie hastig, denn es ging schon auf neun Uhr zu.

»Ich möchte etwas Wichtiges mit dir besprechen. Dein Mann ist heute Mittag bei mir gewesen, Josefa.«

»Bei dir? Ist er krank?« Ihr schlug das Herz. Zu Bonny war er also nicht gefahren.

»Nein, das ist kaum anzunehmen. Er sieht recht gesund aus. Wann fliegt er ab? Er hat mich gebeten, mit dir zu sprechen.«

»Er ist schon weg, Fred. Wenn du willst, kannst du kommen.«

»Gut, Josefa. In zwanzig Minuten bin ich bei dir.«

Als Josefa seinen Wagen hörte, schaute sie noch einmal ins Kinderzimmer. Zu ihrer Überraschung fand sie Alexas Bett leer.

»Lexi?«

Keine Antwort.

Josefa vergaß Fred Wellner und schaltete das große Licht ein. Doch Alexa war nicht da. Sie war auch nicht im Bad. Dann stellte Josefa mit heißem Erschrecken fest, dass Alexa den Schlafanzug ausgezogen und auf den Fußboden geworfen hatte. Die Sachen aber, die sie beim Abendessen getragen hatte, fehlten.

»Alexa! Alexa!«

Frau Gesine hörte das Rufen und kam herbei.

»Haben Sie Lexi gesehen? Ist der Mantel da?«, fügte Josefa ahnungsvoll hinzu.

Frau Gesine schaute nach. »Nein, Frau Doktor. Sie muss den roten Schulmantel angezogen haben. So ein unvernünftiges kleines Ding«, schalt sie, während ihre Stimme vor Angst zitterte.

Es läutete an der Haustür. Josefa besann sich. »Das ist Dr. Wellner, Frau Gesine. Lassen Sie ihn bitte herein. Nein, ich gehe selbst öffnen. Vielleicht hat er Alexa gesehen.«

Josefa stürmte die Treppe hinunter und riss die Tür auf.

»Was hast du?«, fragte Dr. Wellner bestürzt.

»Alexa ist fort«, stammelte sie. »Es ist meine Schuld. Wenn ich nur wüsste, wo ich sie suchen soll! Hast du sie unterwegs gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe allerdings auch nicht darauf geachtet, ob jemand auf der Straße ging. Ich habe an dich gedacht.« Er nahm ihre Hand.

»Sie war außer sich, weil ich geweint habe«, flüsterte Josefa tonlos. »Es war unbeherrscht von mir. Wahrscheinlich spürt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist in diesem Haus. Jetzt ist sie davongelaufen, weil sie Angst hatte.«

Der Arzt hielt ihre Hand noch immer fest. »Überlege, Josefa, sie kann eigentlich nur ihren Vater suchen wollen. Wenn sie Angst hatte, wird sie bei ihm Schutz suchen.«

»Möglich, Fred. Sie sagte, dass er kommen müsse, als ich weinend an ihrem Bett saß. Ich schäme mich so sehr. Wenn ihr nun etwas zustößt! Sie ist doch noch nicht gesund, und die Nacht ist kalt.«

»Fahren wir zum Flughafen! Kinder haben meist einen besonderen Schutzengel.«

»Ja, Fred.« Josefa war keines eigenen Entschlusses mehr fähig.

»Soll ich auf alle Fälle die Polizei verständigen, Frau Doktor?«, warf die praktische Haushälterin ein. »Ein Mädchen von knapp sechs Jahren, hellblondes Haar und ein knallroter Mantel – man müsste sie doch finden können, wenn sie unterwegs ist.«

»Ja, Frau Gesine, rufen Sie die Polizei an«, antwortete der Oberarzt an Josefas Stelle.

Fred Wellner half Josefa in den Mantel, den sie sonst vergessen hätte. Dann saß sie neben ihm im Wagen, als wäre sie gelähmt.

»Wenn ihr etwas zustößt, will ich nicht mehr leben«, stieß sie hervor, als der Flughafen schon in Sicht kam. »Ich könnte Alexander nicht mehr unter die Augen treten.«

»Weißt du, wann seine Maschine abfliegt?«, erkundigte sich der Arzt.

»Nein, keine Ahnung. Er muss immer eine ganze Weile vorher da sein.«

»Willst du nicht wissen, warum er bei mir war?«, fragte er nun behutsam.

Sie wandte ihm das starre blasse Gesicht zu.

»Das hatte ich ganz vergessen. Was wollte er denn?«

»Er möchte, dass du glücklich wirst, Josefa. Ich soll mit dir sprechen, damit du dich nicht mehr verpflichtet fühlst, die Ehe mit ihm aufrechtzuerhalten.«

»Dass ich glücklich werde?«, wiederholte sie flüsternd. »Mein Gott, wie kann ich glücklich sein, wenn ich ihn und Alexa verlieren soll?« Sie barg das Gesicht in den Händen, ohne zu weinen.

»Du liebst ihn, Josefa.« Wie aus weiter Entfernung hörte sie die Stimme des Freundes.

»Ja, Fred, ich habe ihn von Anfang an geliebt. Sonst wäre ich auf seinen Vorschlag wohl nicht eingegangen.«

Eine Weile schwieg er. Als er den Wagen zum Parkplatz lenkte, seufzte er tief auf. »Arme Josefa«, meinte er. »Dann kann ich dir freilich auch nicht helfen.«

»Das ist jetzt alles nicht so wichtig. Wir müssen Alexa finden. Auf mich kommt es nicht an«, stieß sie erregt hervor.

»Sie kann unmöglich schon hier sein«, überlegte der Oberarzt. »Wir sind auf dem kürzesten und schnellsten Weg hergefahren. Lexi hätte den Bus nehmen müssen, falls sie das überhaupt weiß. Hat sie Geld?«

»Keine Ahnung, Fred. Mit dem Bus ist sie auch noch nie zum Flughafen gefahren, nur mit dem Auto. Wer weiß, wo sie jetzt herumirrt in der Dunkelheit?«

»Frau Gesine hat sich inzwischen sicher mit der Polizei in Verbindung gesetzt. Möglicherweise ist Lexi schon gefunden worden«, tröstete sie der Arzt. »Komm, wir wollen sehen, ob wir deinen Mann noch antreffen. Das wäre schon etwas.«

Er musste Josefa stützen. Sie war am Ende ihrer Kraft.

Bei der Luftlinie erfuhren sie, dass Alexanders Maschine erst gegen Mitternacht starten würde. Man versprach, den Flugkapitän sofort rufen zu lassen.

Wenig später kam er mit langen Schritten heran. Er hatte nicht einmal sein Jackett übergezogen, das in einem Büro über dem Stuhl hängen mochte.

»Was gibt es, Josefa?«, fragte er.

Fred Wellner musste es ihm sagen, denn Josefa konnte nicht zusammenhängend sprechen. Doch er nahm die Nachricht ziemlich ruhig auf oder tat wenigstens so, weil er sah, dass Josefa in regelrechter Panik war.

»Hier ist sie jedenfalls bis jetzt nicht aufgetaucht«, sagte er sachlich, indem er sich bemühte, seine eigene Unruhe zu verbergen.

»Es ist meine Schuld, Alexander. Ich …, ich war so aufgeregt. Aber ich hätte es dem Kind nicht zeigen dürfen.«

»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Josefa.« Er sah auf die Uhr. »Der Bus kommt in wenigen Minuten an. Ich werde zur Haltestelle gehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie darin sitzt. Woher soll sie die Buslinie kennen? Vielleicht wollte sie auch gar nicht zu mir zum Flughafen, sondern ist einfach davongelaufen, ohne jedes Ziel.«

»Ich glaube sicher, dass sie zu dir wollte«, entgegnete Josefa leise. »Sie sagte, dass sie dich holen wolle, als ich weinte«, fiel ihr ein.

Alexander warf ihr einen befremdeten Blick zu. Dann eilte er aus der Halle, um auf den Omnibus zu warten.

Fred Wellner ergriff die Hand der blassen Frau. »Es geht gut aus, Josefa. Wir finden sie bestimmt«

Alexander kam zurück. Das Kind war nicht im Bus gewesen.

Ratlos sahen sich die drei Menschen an. »Ich werde darum bitten, eine Vertretung für mich zu suchen«, erklärte der Pilot entschlossen. »Vielleicht springt Smith für mich ein. Er ist gerade in Frankfurt. Ich kann nicht weg, wenn wir Alexa bis zum Start nicht gefunden haben.«

Josefa umklammerte seine Hand, ohne es zu wissen. »Du willst hierbleiben?«, stammelte sie.

Er zog ihre kalte Hand an seine Lippen. »Natürlich, Josefa, wenn es sich irgendwie einrichten lässt. Vielleicht ist Alexa in Gefahr und braucht mich.«

Er führte Josefa und den Oberarzt in einen Aufenthaltsraum. Dann ging er fort, kehrte aber schon nach wenigen Minuten mit der Nachricht zurück, dass er einen Ersatzmann für den Flug gefunden habe.

»Ich habe auch beim Polizeifunk angefragt«, fuhr er fort. »Bisher haben sie Lexi nicht gefunden. Sie suchen die Gegend um unser Haus systematisch ab. Es erscheint mir, offen gestanden, unwahrscheinlich, dass sie den Weg hierher finden würde – selbst wenn sie zum Flughafen wollte.«

Josefa antwortete nicht. Sie lehnte erschöpft in einem Sessel und konnte kaum die Kaffeetasse halten, die ihr gebracht worden war.

Das Warten war qualvoll und beängstigend. Auch die beiden Männer tranken Kaffee. Gesprochen wurde nicht mehr.

Da – ein Knacken im Lautsprecher über der Tür. Flugkapitän Alexander Rethy wurde zur Information gebeten.

»Vielleicht nur etwas Dienstliches«, versuchte Alexander die hochgespannten Erwartungen, die sie jetzt alle drei hatten, zu dämpfen. »Ich gebe sofort Bescheid.«

Wieder vergingen einige Minuten, schleppend langsam und quälend.

Dann öffnete sich die Tür. Ein kleines Mädchen im roten Mantel stand da, ängstlich und ein bisschen verlegen. Plötzlich aber flüchtete sich das Kind in die weit ausgebreiteten Arme Josefas.

»Vati muss das Taxi noch bezahlen«, sagte Alexa. »Deshalb haben sie ihn gerufen. Ich hatte doch kein Geld.«

Josefa drückte Lexi fest an sich. »Was machst du für schreckliche Sachen? Wir haben uns geängstigt. Vati auch.«

»Ich wollte doch zu ihm, ganz schnell, bevor sein Flugzeug abfliegt. Ich wollte ihm sagen, dass er dich anrufen muss, damit du nicht mehr weinst.«

Josefa küsste das Haar des Kindes und konnte nicht verhindern, dass sie schon wieder weinte.

Leise ging Fred Wellner hinaus. Er traf mit Alexander Rethy in der Halle zusammen. Der Flugkapitän strahlte über das ganze Gesicht. »Tüchtiges Kind, meine Tochter. Der Taxifahrer wollte sie zuerst nicht fahren, weil er an einen dummen Streich glaubte. Aber sie hat ihn dann doch herumgekriegt und ihm meinen Namen genannt. Sie hätte so traurige Augen gehabt, sagte der Mann. Ich habe ihm ein anständiges Trinkgeld gegeben.«

Fred Wellner räusperte sich. »Wissen Sie, warum Alexa so eilig zu Ihnen wollte?«

Der Flugkapitän wurde ernst. »Ja, weil Josefa geweint hat. Ich sollte wenigstens noch einmal anrufen«, berichtete er etwas unsicher.

»Nun können Sie die Sache direkt miteinander klären, Herr Rethy. Wir haben heute Mittag bei unserer klugen Unterredung nicht bedacht, dass Josefa ein Herz hat.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Fred Wellner nickte ihm bedeutungsvoll zu. »Es ist schon so, auch wenn ich Sie darum beneide, Herr Rethy.«

»Sie wollen andeuten, dass Josefa den nichtsnutzigen, egoistischen Vater von Alexa lieben könnte?«

»Das ist eine Tatsache, Herr Rethy. Josefa hat es mir vorhin gestanden. Ich habe den Eindruck, dass ich hier nicht mehr benötigt werde. Gehen Sie rasch zu ihr! Und richten Sie es möglichst so ein, dass Ihr Stellvertreter für den heutigen Nachtflug bei der Stange bleibt oder am Steuerknüppel, wie das bei Ihnen wohl heißt. Alles Gute!«

Alexander Rethy sah dem Arzt nicht einmal nach. Er empfand plötzlich warme, aufrichtige Dankbarkeit und Freundschaft für ihn und stürmte in den Aufenthaltsraum, in dem es nach Kaffee duftete. Dort saß Alexa auf Josefas Schoß und hatte die Ärmchen um deren Hals geschlungen.

»Josefa!«

Sie hob den Blick zu ihm auf, diese unwahrscheinlich blauen Augen unter dem dunklen Haar.

»Josefa, ich liebe dich, aber ich hätte nie gewagt, es dir zu sagen.«

Da legte sich ihr warmer Finger über seine Lippen. »Psst, Alexander. Was soll Lexi von uns denken? Natürlich haben wir uns lieb.«

Lexi schaute von dem einen zum anderen. »Siehst du, ihr habt euch nicht richtig auf Wiedersehen gesagt. Deshalb hat Mutti geweint«, stellte sie etwas altklug fest. »Ist es jetzt wieder gut?«

»Ja, es ist wieder gut, Lexi.« Alexander nahm Josefa in die Arme. Als er sie eben zum ersten Mal küsste, stürmte ein Polizeibeamter herein.

»Stimmt es, dass das Kind gefunden worden ist?«, fragte er aufgeregt. »Ein Taxifahrer hat uns gemeldet, dass er es dem Vater übergeben hätte, aber die Sache kam uns nicht ganz glaubhaft vor, weil wir von Ihnen noch nichts gehört hatten. Sie sind doch Herr und Frau Rethy?«

Josefa errötete. Sie wollte sich aus Alexanders Umarmung befreien, doch er hielt sie fest.

»Entschuldigen Sie, Herr Wachtmeister«, sagte Alexander, »wir waren so glücklich, dass wir versäumt haben, die Meldung sofort weiterzugeben. Schließlich passiert so etwas nicht jeden Tag.«

Der Beamte legte die Hand an die Mütze. »In Ordnung, ich bringe das schon ins Reine. Herzlichen Glückwunsch. Wir sind jedes Mal froh, wenn eine Fahndung ein gutes Ende findet.«

Der Beamte ging hinaus. Trotzdem kam Alexander nicht dazu, Josefa noch einmal zu küssen, denn Lexi drängte sich zwischen ihn und Josefa. »Fahren wir jetzt nach Hause?«, fragte sie ungeduldig. »Es ist langweilig hier. Und Vati hat doch frei.«

»Das hat diese kleine Person auch schon herausgefunden. Wenn sie nun noch erfährt, dass ich es ihr verdanke, wird sie größenwahnsinnig«, meinte Alexander lachend. »Dabei hätte sie eigentlich Prügel verdient.«

Josefa schlang die Arme um das Kind. »Das würde ich nie zulassen. Sie hat es so gut gemeint.«

Lexi schmiegte sich an sie. »Ich lauf’ nicht wieder fort, Mutti«, versprach sie. »Aber du darfst nie mehr weinen. Vati hat uns doch beide lieb.«

*

Ein paar Wochen später machten sie ihren ersten Besuch in Sophienlust. Alexa sollte für die Osterferien dort angemeldet werden, weil ihre Eltern dann endlich ihre Hochzeitsreise nachholen wollten.

Während Lexi begeistert mit ihren Freunden und Freundinnen spielte, tranken Josefa und Alexander Rethy im Biedermeierzimmer mit Denise Tee, wie es Sitte war.

»Aus unserem Vertrag ist nichts geworden, Frau von Schoenecker«, berichtete Josefa freimütig. »Die Liebe ist uns dazwischengekommen. Jetzt sind wir sehr glücklich und hoffen, dass Lexi im nächsten Jahr ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommt.«

Denise rührte ihren Tee um. »Wissen Sie, dass ich es gehofft und geahnt habe, Frau Josefa?«, meinte sie lächelnd. »Es stand in Ihren Augen zu lesen, als Sie sagten, dass es nur eine Vernunftehe sei. Vielleicht hätte ich sonst auch die Hochzeit für Sie nicht ausgerichtet. Denn in einer Ehe ohne Liebe wäre Alexa auf die Dauer nicht glücklich geworden.«

»Es war ein mühseliger Weg, gnädige Frau«, mischte sich der Flugkapitän ein. »Wir haben es uns viel zu schwer gemacht. Aber jetzt sind wir wahrscheinlich das glücklichste Ehepaar zwischen dem Nordpol und dem Südpol. Übrigens ist Alexa auch endlich davon überzeugt, dass ich sie lieb habe, obwohl ich nach wie vor viel unterwegs sein muss durch meinen Beruf.«

»Mit der Liebe löst sich jedes Problem, nicht wahr?«, fragte Denise heiter.

»Es scheint so, gnädige Frau«, gab der Flugkapitän nachdenklich zurück. »Ich persönlich hätte es kaum für möglich gehalten. Denn ich bin nun mal ein großer Realist.«

»Sind Sie davon so fest überzeugt?«, wandte Denise schelmisch ein.

Sophienlust Box 16 – Familienroman

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