Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Box 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

Оглавление

»Ihre Handschrift ist so unterirdisch, da brauche ich ja eine Grubenlampe zum Lesen«, schimpfte Dr. Lammers. Gemeinsam mit seiner Kollegin und Vorgesetzten Dr. Felicitas Norden eilte er den Flur entlang Richtung Notaufnahme. Fees Notizen raschelten in seiner Hand.

»Dann lassen Sie es eben bleiben.« Sie riss ihm das Blatt aus der Hand. »Ich übernehme den Patienten.«

Lammers blieb stehen und sah ihrem flatternden Kittel nach.

»Meine Güte! Dass Frauen immer so empfindlich sein müssen.«

Ein Glück, dass Felicitas ihn nicht mehr hörte. Dazu hätte sie einiges zu sagen gehabt. Die Wortfetzen wehten hinter ihr her, als sie in der Notaufnahme ankam. Einen Wimpernschlag später schnappte sie nach Luft.

»Dr. Steinhilber.« Schlagartig hatte sie wieder den Geruch des Hörsaals in der Nase. Die Mischung aus altem Holz, PVC und muffiger Heizungsluft war im Winter fast heimelig gewesen. An heißen Sommertagen hatten sich die Räume allerdings viel zu oft in reine Folterkammern verwandelt. Ein Glück, dass es inzwischen Klimaanlagen gab, die auch in der Behnisch-Klinik lautlos ihren Dienst taten. »Das ist ja eine Überraschung. Sie haben sich kaum verändert.« Einem jungen Erwachsenen hätte sie mit diesen Worten die Schamröte ins Gesicht und eine ordentliche Wut in den Bauch getrieben. Anders sah es bei den älteren Herrschaften aus.

Trotzdem reagierte der Mann nicht sofort. Er raunte dem Jungen auf der Liege ein paar Worte zu. Erst dann richtete er sich auf und musterte die Frau, die ihn angesprochen hatte. Endlich erreichte sein Lächeln die Augen und kräuselte die feine Haut.

»Felicitas Cornelius. Ich glaube es nicht.«

»So lange ist das her? Ich heiße seit einer gefühlten Ewigkeit Norden.«

Der Rettungsarzt Erwin Huber trat zu ihnen.

»Das ist Julius Steinhilber.« Er deutete auf den Jungen. »Er ist vierzehn Jahre alt und klagt seit einem Sturz vom Roller …«

»Scooter heißt das«, korrigierte Julius den Kollegen.

Erwin schnitt eine Grimasse.

»Tut mir leid. Also, noch einmal von vorn. Der junge Mann ist mit seinem Scooter auf der Halfpipe gestürzt und klagt seitdem über starke Schmerzen im linken Arm.«

»Da dachte ich mir, ich rufe lieber den Notarzt«, erklärte Emil Steinhilber. »Es könnte ja sein, dass er sich weitere Verletzungen zugezogen hat.«

Fee bedankte sich bei dem Kollegen Huber, schenkte Dr. Steinhilber ein Lächeln und beugte sich über Julius.

»Wie du gerade beeindruckend unter Beweis gestellt hast, kannst du uns sehr gut hören.«

»Ja, klar.«

»Weißt du auch, wo du bist?«

»Behnisch-Klinik. Das habe ich im Funk gehört. Total cool, in so einem Krankenwagen mitzufahren. Ich habe meinen Freunden schon Fotos geschickt.« Er deutete auf das Handy, das auf seinem Bauch lag.

»Hoffentlich nehmen sich deine Freunde kein Beispiel an dir und stürmen die Notaufnahme.« Fee hob die Decke und warf einen Blick auf den verletzten Arm.

»Schockraum zwei«, sagte sie zu dem Pfleger, der zu ihnen getreten war. »Ich komme sofort nach.« Sie sah dem Krankentransport kurz nach, bevor sie sich zu ihrem ehemaligen Dozenten umdrehte.

»Wollen Sie Ihren …« Mitten im Satz hielt sie inne. Nur jetzt nichts falsch machen, »… Sohn …?«

Emil Steinhilbers Lachen unterbrach sie. Also doch ein Fehler!

»Für wen halten Sie mich, verehrte Fee? Das hier ist mein Enkelsohn. Seit dem Unfalltod seiner Eltern lebt er bei mir.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Schon gut.« Emil winkte ab. »Das ist schon zwölf Jahre her, und das alte Sprichwort hat wieder einmal recht behalten: Die Zeit heilt alle Wunden.« Seine plötzliche Heiserkeit strafte ihn Lügen. Schnell wechselte er das Thema. »Biochemie ausgezeichnet, Molekularbiologie ungenügend. Das habe ich nie verstanden.«

»Sie erinnern sich noch an meine Leistungen?« Fee wollte eben fortfahren, als der Kollege Lammers wie zufällig vorbeischlenderte.

»Darf ich einen Kaffee vorbeibringen? Da plaudert es sich doch gleich viel besser.«

Felicitas ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwann würde sie ihm den Hals umdrehen! Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und winkte Dr. Steinhilber mit sich.

»Gehen wir zu Julius.«

*

»Haben Sie Oskar erreicht? Und wer kümmert sich denn jetzt um den Klinikkiosk?« Die ehemalige Haushälterin der Familie Norden lag im Klinikbett. Auf dem Weg in den Operationsbereich flogen die Bilder an den Wänden als bunte Flecken an ihr vorbei. »Sollen wir das mit der Operation nicht doch lieber lassen? So schlecht sehe ich doch gar nicht.«

Dr. Daniel Norden begleitete den Transport. Er gab der Schwester ein Zeichen. Sie stoppte das Bett.

»Ach ja?« Seine Stimme war eine einzige Herausforderung. »Dann können Sie mir ja sicher sagen, was Sie auf diesem Foto sehen.«

Lenni sah hinüber zu dem psychedelischen Muster in verschiedensten Grüntönen. Es erinnerte sie an das Chamäleon, das im ­Behandlungszimmer des Professors für Augenheilkunde hing. Vielleicht …

»Hätten Sie Lust, dort Urlaub zu machen?«, fragte Daniel weiter.

Lenni schluckte. Also doch kein Chamäleon.

»Mir ist eine Fliege ins Auge geflogen«, jammerte sie und rieb sich demonstrativ die Augen, bis sie tränten.

Daniel Norden lachte und gab der Schwester ein weiteres Zeichen.

»Schon gut. Ich werde den Kammerjäger kommen lassen. Aber um Ihre Fragen zu beantworten: Von Oskar habe ich leider noch nichts gehört. Soweit ich weiß, ist er heute Nacht auch nicht nach Hause gekommen. Dafür hat Anneka versprochen, den Kiosk zu übernehmen, bis Sie zurück sind. Sie hat noch ein paar Tage Zeit, bis ihr Studium beginnt, und ist froh, sich ein Taschengeld zu verdienen.«

»Wenigstens etwas«, murmelte Lenni.

So kleinlaut hatte Dr. Norden seine ehemalige Haushälterin in all den Jahren nicht erlebt. Doch für Reue war im Augenblick kein Platz. Leise surrend schoben sich die Türen zum Operationsbereich auf. Wasserrauschen empfing sie. Professor Lutz stand am Waschbecken. Er warf einen Blick über die Schulter.

»Da sind Sie ja schon!« Ein Handtuch in den Händen trat er ans Bett. »Wie fühlen Sie sich, liebste Lenni?«

Mit einem Handkuss und einem Einfühlungsvermögen, das seinesgleichen suchte, hatte er ihr Herz tags zuvor noch zum Flattern gebracht. Dummerweise war Lennis Lebensgefährte Oskar von ihren Schwärmereien alles andere als amüsiert gewesen und hatte das Weite gesucht.

»Ich bin nicht Ihre liebste Lenni«, fauchte sie den Professor an.

Dank seiner langjährigen Erfahrungen mit ängstlichen Patienten war Lutz Krugs Lächeln unerschütterlich.

»Keine Sorge. Ich werde alles dafür tun, damit Sie nicht im Altenheim landen.«

Lenni schielte hinüber zu ihrem ehemaligen Chef.

»Was reden Sie denn da? Ich und ein Altenheim! Können Sie jetzt endlich anfangen? Mit Ihrem Gerede machen Sie mich noch ganz nervös.«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl.«

Die beiden Ärzte tauschten einen amüsierten Blick. Professor Krug gab seine Anweisungen, und die Patientin wurde in den OP geschoben.

»Tut mir leid, dass Lenni so schlechte Laune hat«, entschuldigte sich Daniel für seine zickige Haushälterin. In all den gemeinsamen Jahren war sie der Familie wie eine Ersatzomi ans Herz gewachsen. Kein Wunder also, dass die Nordens sich verantwortlich fühlten, allen voran Daniel und seine Frau.

»Schon gut«, winkte der Professor ab. Er streckte die Arme aus, um sich von einer Schwester in den Operationskittel helfen zu lassen. »Als junger Arzt war ich regelmäßig beleidigt, wenn mich Patienten so behandelt haben. Heute weiß ich zum Glück, dass nicht ich, sondern die Angst für die schlechte Laune verantwortlich ist. Das macht mein Leben entschieden leichter.«

Wohlweislich behielt Daniel für sich, dass Oskar nicht unbeteiligt war an Lennis Gemütsverfassung. Er wünschte dem Kollegen viel Glück und versprach, rechtzeitig nach dem Eingriff wieder zur Stelle zu sein.

*

»Ich bin auf den Ellbogen gefallen«, erzählte Julius und verzog das Gesicht, als Fee den Arm vorsichtig betastete.

Dr. Steinhilber stand neben seinem Enkel und beobachtete die Bemühungen seiner ehemaligen Studentin.

»Ist er gebrochen?«

Julius riss die Augen auf.

»Nächste Woche ist der Scooter-Contest. Da muss ich unbedingt mitmachen, sonst verliere ich meine Sponsoren.«

»Sponsoren?« Fee zog eine Augenbraue hoch.

»Julius hat wochenlang herumtelefoniert und Videos verschickt, um Sportartikelhersteller von seinem Talent zu überzeugen«, lieferte Emil Steinhilber die Antwort. »Sie haben ihn mit Kleidung und Schuhen unterstützt und wollen nun natürlich Erfolge sehen.«

»Meine Güte, was es heutzutage alles gibt.« Felicitas konnte nur den Kopf schütteln. »Allerdings fürchte ich, dass sich die Sponsoren noch ein wenig gedulden müssen. Für Julius fällt der Wettbewerb nächste Woche leider aus.«

Der junge Sportler zischte wie eine Schlange. Allerdings weniger wegen Fees Prognose, sondern vielmehr, weil sie seinen Arm vorsichtig hin und her drehte.

»Hämatom mit starker Schwellung des Gelenks und Bewegungsunfähigkeit«, stellte sie schließlich fest. »Ich fürchte, wir haben es mit einer Olekranonfraktur zu tun.«

Emil legte den Kopf schief und musterte Fee mit sichtlichem Wohlwollen.

»Sieh mal einer an. Meine Studentin hat sich ganz schön gemausert.« Seine Stimme klang wie Sandpapier.

»Der Ellenbruch an der Oberkante des Unterarms hat zum Glück auch wenig mit Mikrobiologie zu tun.« Lächelnd sah sie zu ihrem ehemaligen Dozenten hinüber. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass er sich so wenig verändert hatte. Möglich, dass er mit den Falten um Augen und Mund und dem silbernen Haar noch besser aussah als früher. Schon damals hatten ihn die Studentinnen umschwärmt wie Wespen eine Sahnetorte. Da hatte sie keine Ausnahme gebildet. Schnell verscheuchte Felicitas diesen Gedanken. »Im Übrigen müssen Sie sich keine Sorgen machen. Das wird ein kleiner Eingriff. Mit bleibenden Schäden ist nicht zu rechnen.«

»Das klingt doch gar nicht schlecht.« Dr. Steinhilber nickte seinem Enkel zu.

»Gut. Dann nehme ich jetzt noch Blut für ein großes Blutbild ab. Im Anschluss lasse ich Julius zum Röntgen bringen.« Fee setzte sich auf einen Hocker und rollte zum Schrank hinüber.

Dr. Steinhilber ließ sie nicht aus den Augen. Obwohl sie schon lange nicht mehr seine Studentin war, machte sein Blick sie nervös. Sie atmete tief durch, staute die Vene und wollte zustechen, als er sie unterbrach.

»Wenn man die Nadel flach ansetzt, dann tut es am wenigstens weh.«

»Genau das hatte ich gerade vor.« Ihre Stimme war spitz wie die Nadel in ihrer Hand.

»Entschuldigen Sie, meine Liebe. Was Julius angeht, bin ich immer übervorsichtig.«

Sofort hatte Felicitas ein schlechtes Gewissen. Emil Steinhilber hatte Sohn und Schwiegertochter bei einem Unfall verloren. Seine Frau hatte den Tod nicht verwunden und war den beiden nur zwei Jahre später gefolgt. Julius war das Einzige, das ihm geblieben war. Wie sollte er nicht übervorsichtig sein?

Das Lächeln, das sie ihm schenkte, kam von Herzen.

»Das ist doch nur natürlich«, sagte sie mit warmer Stimme, ehe sie sich endlich anschickte, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

*

»In Ordnung. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Dr. Norden in den Hörer. Mit einer geschickten Drehung wich er einem Krankentransport und einer Gruppe Besucher aus, die ihm auf dem Flur entgegenkamen. »Wir hören uns.« Er beendete das Telefonat und ließ das Mobiltelefon in der Kitteltasche verschwinden. Der Kittel umwehte seine Beine, als er in sein Büro abbog. Noch in der Tür blieb er wie angewurzelt stehen. Nach ihrem Urlaub sollte seine Assistentin Andrea Sander heute den ersten Tag wieder hier sein. Doch wer war die Fremde, die an ihrem Schreibtisch saß?

»Was machen Sie hier?«

Sie zuckte zusammen und wagte kaum, den Kopf zu heben. Selbst das Makeup konnte die Tränenspuren kaum verbergen.

»Ist es so schlimm?«

Daniel zögerte. Diese Stimme kannte er doch, wenngleich sie sonst selbstbewusst und fest war!

»Um Gottes willen, Andrea! Was ist passiert? Sind sie in ein Wespennest gefallen? Das müssen wir sofort behan…«

»Ich wusste, dass es ein Fehler ist zu kommen«, heulte sie auf. Neue Tränen machten alles noch schlimmer. »Aber ich kann ja schlecht den Rest meines Lebens Urlaub machen.« Eines nach dem anderen nahm sie die Papiertücher, die ihr Chef ihr reichte.

Dr. Norden war überzeugt davon, dass Frauentränen nicht nur – wie von israelischen Forschern entschlüsselt – den Testosteronspiegel und somit das Aggressionspotenzial der Männer senkte. Sie mussten auch eine Art lähmende Wirkung haben. Wie sonst ließ sich erklären, dass er sich selten so hilflos fühlte wie beim Anblick einer weinenden Frau? Aber auch das war von der Natur bestimmt so gewollt. Endlich leerte sich das Reservoir, rollte nur noch ab und zu ein Tropfen über Andreas Wange.

Daniel atmete auf.

»Wollen Sie mir endlich erzählen, was passiert ist?«, fragte er sanft.

Andrea schluchzte ein letztes Mal auf.

»Ich … ich war in meinem Urlaub bei einer Schönheitschirurgin.«

Natürlich war Dr. Norden aufgefallen, dass er Frau Sander schon lange nicht mehr in ihren grünen Pumps mit den streicholzdünnen Absätzen gesehen hatte.

»Keine Sorge«, kommentierte sie seinen Blick auf ihre Schuhe. »Gerade habe ich ein kleines Vermögen für einen in der Schweiz gefertigten Schuh ausgegeben.« Sie schnitt eine Grimasse. »Und das nur, weil mich das Firmenschild an die Bergmassive erinnert, sie seit Jahrmillionen trotz extremer Faltenbildung unerschütterlich der Zeit trotzen.«

Daniel Norden musste lachen.

»Meine liebe Andrea, was wollen Sie denn? Für Ihr Alter sehen Sie doch toll aus.« Oder hätte er lieber ›sahen‹ sagen sollen? Ein Glück, dass Andrea seine Gedanken nicht lesen konnte.

Sie verzog das Gesicht.

»Komisch. Das sagt Dr. Kohler von der Orthopädie auch immer, wenn er mein knirschendes Knie begutachtet. Altersangemessen prima.« Wieder schimmerten ihre Augen verdächtig.

Daniel kam um den Schreibtisch herum und setzte sich auf die Tischkante.

»Also schön. Aber was ist denn nun bei der Schönheitschirurgin passiert?«

Andrea Sander putzte sich die Nase und dachte kurz nach, wo sie mit ihrer Leidensgeschichte beginnen sollte.

»Aus einem bestimmten Grund wollte ich einfach besser aussehen. Jünger, frischer. Deshalb habe ich mich für eine Unterspritzung mit Hyaluronsäure entschieden. Eine ultrafeine Nadel, kaum Schmerzen, und die ganze Behandlung dauert nur so lange wie ein Besuch bei der Kosmetikerin.«

»Klingt in der Tat verlockend«, gestand Daniel und konnte sich gerade noch zurückhalten, mit den Fingern über die Falten um seinen Mund zu fahren.

»Dummerweise ging bei mir irgendetwas schief. Direkt im Anschluss an die Behandlung schwoll mein Gesicht an wie ein Luftballon. Die Ärtzin selbst wäscht ihre Hände natürlich in Unschuld und will nichts von einem Behandlungsfehler wissen.« Andreas Stimme war immer leiser geworden und verstummte schließlich ganz. Das Tränendepot hatte sich wieder gefüllt.

Schon sah sich Daniel von einer weiteren Sturzflut bedroht.

»Immer mit der Ruhe, Frau Sander.« Die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter war tröstlich. »Ich werde mich der Sache annehmen. Mit etwas Glück bekommen wir das schon wieder hin.« Er beugte sich über sie und nahm das Gesicht in Augenschein. »So, wie das aussieht, leiden Sie an einer Fillerkomplikation mit einer lokalen Entzündung. Die werden wir zuerst behandeln. Anschließend versuchen wir es mit einer Hyaluronidase. Dabei handelt es sich um Enzyme, die die eingebrachte Hyaluronsäure auf natürliche Art und Weise abbaut. Hilft das alles nichts, bringt ein kleiner Eingriff den gewünschten Erfolg. Und jetzt hören Sie bitte auf zu weinen. Sonst kann ich ja gar nicht erkennen, ob mein Trost fruchtet.«

Andrea rang sich ein Lächeln ab.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl«, nuschelte sie in ihr Taschentuch.

Dr. Norden rutschte von der Schreibtischkante. Höchste Zeit, sich nach Lenni zu erkundigen.

»Ich mag es, wenn Frauen so handsam sind.« Er zwinkerte ihr zu und freute sich über das Lachen, das ihn hinaus begleitete. Klein zwar und verhalten, aber immerhin.

*

Die Reifen des Rollstuhls quietschten leise auf dem PVC-Boden, der so ganz anders aussah als der Boden im Hörsaal damals. Heutzutage gab es Vinylböden in Holzoptik, die der Behnisch-Klinik eine fast wohnliche Atmosphäre verliehen, wie Fee insgeheim wieder einmal feststellte. Ihr Patient Julius dagegen hatte ganz andere Sachen im Sinn. Er sah von seinem Handy hoch.

»Mit einem Rollstuhl auf die Halfpipe. Das wäre mal was.«

»Du machst mir Spaß«, stöhnte Emil. »Ein Glück, dass du jetzt erst einmal hier festsitzt.« Und zu Felicitas gewandt fragte er: »Und die Operation ist also am Ellbogen?«

»Es handelt sich nur um einen kleinen Eingriff, der allerdings unumgänglich ist.« Felicitas bugsierte das Bett auf die Seite, um eine Schwester mit einem Wäschewagen vorbeizulassen. Ihr Patient hatte sich wieder in sein Handy vertieft. »Der Knochen heilt leider nicht von selbst so, wie wir das gern hätten. Chronische Schmerzen und eine eingeschränkte Beweglichkeit wären die Folge. Aber keine Sorge.« Vor der Tür eines Krankenzimmers machte sie halt. »Wir kriegen das schon wieder hin.«

Stimmen näherten sich.

Dr. Lammers ging mit einer Schwester über den Flur. Die beiden unterhielten sich leise und schienen keinerlei Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen. Fee war das nur recht.

»Nimmst du irgendwelche Medikamente?«, erkundigte sie sich bei Julius, der selbstvergessen im Rollstuhl saß und auf seinem Mobiltelefon herumtippte.

»Als Biologe schwöre ich auf Naturheilverfahren«, antwortete Emil anstelle seines Enkels. »Sind da irgendwelche Wechselwirkungen mit der Narkose zu befürchten?«

»Nicht mal, wenn Sie ein ganzes Kräuterfeld vertilgen«, bemerkte Volker Lammers im Vorbeigehen. Sein Lachen dröhnte über den Flur.

Bevor Felicitas eine passende Antwort einfiel, war er auch schon um die Ecke verschwunden.

Dr. Steinhilber schickte ihm einen Blick aus schmalen Augen nach.

»Ein Anwärter für den Friedensnobelpreis ist dieser Typ aber nicht.« Er hielt Felicitas die Tür zum Krankenzimmer auf. »Ist er Ihr Vorgesetzter?«

Sie lächelte.

»Im Gegenteil. Ich bin die Chefin der Pädiatrie und er mein Stellvertreter.«

»Sieht ganz so aus, als könnte sich das demnächst ändern.« Leise klappernd fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.

Fee zählte still bis drei, wie sie es inzwischen automatisch tat, um sich in einer schwierigen Situation zu beruhigen. Nomalerweise ging es dabei um kleine Patienten. Aber auch in anderen Situationen hatte sich diese Praktik bewährt. Doch in diesem Fall war es nicht so einfach wie sonst. Sie zählte bis fünf, bis sechs, dann atmete sie tief durch, parkte den Rollstuhl vor dem Bett und drehte sich zu ihrem ehemaligen Dozenten um.

»Sie irren, Herr Dr. Steinhilber.«

Emil lachte.

»Immer noch kämpferisch wie eh und je.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich erinnere mich noch gut an Sie. Und an Ihre Liebesbriefe.«

Felicitas wurde es heiß und kalt. Schnell sah sie hinüber zu Julius. Doch der war zum Glück immer noch in seiner eigenen Welt versunken. »Daran erinnern Sie sich noch?« Sie ärgerte sich darüber, dass ihre Stimme zitterte.

Dr. Steinhilber zwinkerte ihr zu.

»Keine Sorge. Ich verrate Sie nicht.«

»Vielen Dank.« Felicitas rang sich ein Lächeln ab. Nicht auszudenken, was passierte, wenn Lammers erfuhr … Nein, daran wollte sie noch nicht einmal denken! Sie klatschte in die Hände. »Dann wollen wir Julius mal in sein Bett verfrachten. Komm, ich helfe dir aus dem Stuhl.«

Sie wartete, bis der junge Mann das Mobiltelefon aus der Hand gelegt hatte.

»Kann ich ich nach der Operation wieder Scooter fahren?« fragte er, als Felicitas die Bettdecke über ihn breitete und glatt strich.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Emil und schüttelte das Kopfkissen aus. Er schickte Fee einen fragenden Blick. »Die Ärzte hier wissen doch, was zu tun ist, oder?«

»Natürlich wissen wir das.« Sie stand am Bett und dachte kurz nach. »Dr. Steinhilber, Sie waren ein hervorragender Dozent. Einer der besten, die ich hatte. Und jetzt habe ich endlich Gelegenheit, Ihnen zu beweisen, dass auch ich mein Fach beherrsche.« Sie nickte ihm zu, wuschelte Julius durch das Haar und verabschiedete sich in der Hoffnung, Emils offensichtliche Zweifel zum Schweigen gebracht zu haben.

*

»Die sind immer noch da drin?« Wie ein werdender Vater wanderte Dr. Norden vor dem Operationssaal auf und ab. »Das gibt’s doch nicht! Es geht um eine Augenoperation. Warum dauert das denn so lange?«

»Das solltest du den Professor fragen.« Lächelnd deutete Schwester Elena auf Lutz Krug, der eben aus dem Operationssaal trat.

Die Miene des Kollegen war alles andere als ermutigend. Daniel hielt die Luft an.

»Was ist? Wie geht es Lenni? Wie ist die OP verlaufen?«

Der Professor ließ sich Zeit mit einer Antwort. Er zog den Mundschutz vom Gesicht und zupfte die Haube vom Kopf.

»Tja, was soll ich sagen …« Lutz sah hinüber zum Anästhesisten Klaiber, der ihm gefolgt war. Auch sein Gesicht sprach Bände.

»Meine Güte!«, rief Dr. Norden händeringend. »Jetzt schaut doch nicht so. Sagt doch etwas!«

Ein Lächeln zuckte um Lutz Krugs Mundwinkel.

»Die Patientin lebt noch. Wenn es das ist, was Sie hören wollen.« Er klopfte Daniel auf die Schulter. »Keine Sorge, der Verlauf war optimal. Ich hoffe für Sie, dass wir Lennis schlechte Laune gleich mitentfernt haben.«

»Das hoffe ich auch«, seufzte Dr. Norden und nahm seine ehemalige Haushälterin im Bett in Empfang. Er brachte sie höchstpersönlich in den Wachraum, stellte ihr Bett an seinen Platz, kontrollierte den Sitz des Pulsoxymeters am Finger und den Fluss des Tropfs.

»Was machen Sie denn schon wieder hier? Haben Sie keine Arbeit?«, krächzte Lenni. Sie wollte ins gedämpfte Licht blinzeln, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel. Vergeblich. Da war etwas in ihrem Gesicht, was dort auf keinen Fall hingehörte. Beim Versuch, die Augen zu betasten, riss sie den Pulsoxymeter vom Finger. Ein durchdringender Alarm ertönte. Rasch beseitigte Daniel das Problem. »Warum kann ich nichts sehen?«, fragte sie eine Oktave höher.

»Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Professor Krug hat sich lediglich entschlossen, beide Augen gleichzeitig zu operieren, um Sie nicht unnötig großen Belastungen auszusetzen.«

Es klopfte. Im nächsten Augenblick wurde die Klinke heruntergedrückt. Ein Rascheln ließ Lenni aufhorchen. Schnuppernd hob sie die Nase.

»Oskar? Mit Blumen?« Die Falten auf ihrem Gesicht glätteten sich.

Die Zwillinge Jan und Dési, die ältere Schwester Anneka und ihre Mutter schickten sich vielsagende Blicke.

»Tut uns leid. Wir sind es nur«, bemerkte Fee verschnupft.

Janni zeigte sich weniger empfindlich.

»Komm schon, Lenni, das wird schon wieder!« Er beugte sich zu seiner Ersatzomi und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Das werden wir ja sehen. Wann kann ich nach Hause?«

Daniel Norden machte ein paar Notizen in der Krankenakte.

»Sie sind ja schon wieder voller Energie. Das ist ein gutes Zeichen.« Der Kugelschreiber kratzte über das Papier. »Aber ein paar Tage wird es schon noch dauern.«

Lenni verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander. Wie ein See, über den der Wind­ strich, bewegten sich die Falten in ihrem Gesicht.

»Hat sich Oskar schon gemeldet?«

Alle sahen hinüber zu Anneka, die die Aufgabe übernommen hatte, sich um den Klinikkiosk ›Allerlei‹ zu kümmern. Neben Artikeln des täglichen Bedarfs gab es dort Leckereien aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹. Saftige Vanilleschnecken, Quarkbällchen, aber auch so exotische Köstlichkeiten wie Zitronentarte mit Minze konnten unter Palmen bei einer Tasse Kaffee genossen werden. Anneka hatte alle Hände voll zu tun gehabt, um die Wünsche der zahlreichen Gäste zu erfüllen.

»Im Kiosk war er auf jeden Fall nicht«, beantwortete sie Lennis Frage. »Zumindest habe ich ihn in dem Trubel nicht bemerkt.«

»Zu Hause haben wir ihn auch nicht gesehen«, sagte Janni.

»Du siehst doch sowieso nichts, weil du den ganzen Tag hinter dem Computer steckst.« Dési knuffte ihren Zwillingsbruder in die Seite.

Früher hatte so eine Bemerkung genügt, um den schönsten Streit zu entfachen. Doch die Zeiten hatten sich geändert, wie Fee insgeheim feststellte.

Jan schob seine schwarz umrandete Brille zurecht und lächelte sein Eiswürfellächeln. Ein untrügliches Zeichen für einen bevorstehenden Vortrag.

»Erstens habe ich nur einen halben Tag zur Verfügung, um mich mit den wirklich sinnvollen Dingen des Lebens zu beschäftigen.« Er warf das Haar auf die Seite. »Und zweitens ist das Haus kameraüberwacht. Ergo habe ich durchaus einen Überblick darüber, was sich bei uns abspielt.«

Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm war beinahe mit Händen greifbar. Dann brach das Unwetter los.

»Bist du jetzt total übergeschnappt?«, fauchte Dési.

»Was soll das heißen? Kameras?« Daniel schnappte nach Luft. Sofort dachte er an die Überwachungssysteme in Kaufhäusern oder Tiefgaragen, wo Detektive vor Dutzenden von Bildschirmen saßen und jede Bewegung innerhalb des Gebäudes verfolgten.

Anneka hatte ähnliche Gedanken wie ihr Vater.

»Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, ereiferte sie sich. Ihr Freund Sascha war am vergangenen Abend zu Besuch gewesen. Nicht auszudenken, wenn Janni sie beobachtet hatte … »Ich … ich … ich könnte dich anzeigen.«

Doch ihr Bruder winkte nur ab.

»So gut solltet ihr mich inzwischen kennen, um zu wissen, dass ich mich an Recht und Ordnung halte. Daher habe ich auf die Installation von Kameras im Haus verzichtet, da ich hierfür eine Einwilligung der Bewohner benötige. Die Anbringung einer Kamera im Eingangsbereich eines Hauses ist jedoch erlaubt und bedarf keiner besonderen Einwilligung der gefilmten Personen.«

Das Schnauben aus dem Bett erinnerte die Familie an den Grund ihres Besuchs. »Kamera hin oder her.« Lenni fuchtelte mit der Hand durch die Luft. »Ich weiß trotzdem nicht, wo Oskar steckt. Was soll ich denn jetzt machen?«

Diese Frage war schwer zu beantworten. Daniel und Fee sahen sich an. Die Gelegenheit war günstig, der ehemaligen Haushälterin ins Gewissen zu reden. So wehrlos wie jetzt war Lenni selten.

Fee legte die Hand auf ihren Arm.

»Im Augenblick bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten. Nicht nur Sie haben eine schwere Zeit hinter sich«, gab sie zu bedenken. »Auch Oskar hat ziemlich viele Federn gelassen. Die Arbeit im Kiosk, Ihre schlechte Laune. Und dann noch Ihre Schwärmerei für den Professor …«

»Meine Güte. Seit wann ist er denn so empfindlich …«

»Lenni«, mahnte Dr. Norden.

Sie kannte ihn lange genug, um diesen Tonfall einordnen zu können.

»Ist ja schon gut.« Beleidigt drehte sie den Kopf weg. »Ich hätte mir ja denken können, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.«

Daniels Mundwinkel zogen sich nach oben.

»Wenn Sie Oskar zurückgewinnen wollen, müssen Sie sich schon etwas Mühe geben. Und vor allen Dingen nicht mehr so viel herummeckern. Schließlich ist es keine Selbstverständlichkeit, in diesem Lebensabschnitt noch einmal einen Partner zu finden.«

»Schon gar nicht für eine Frau«, stimmte Janni seinem Vater zu. »Erwiesenermaßen haben Frauen es im Alter schwerer, einen neuen Partner zu finden«, erklärte er und erntete überraschte Blicke. Kein Thema, zu dem er nicht irgendwelche Weisheiten beisteuern konnte. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen begann er, vor dem Bett auf und ab zu gehen. Lenni konnte ihn nicht sehen, hörte aber sehr wohl seine Schritte. »Das liegt zum einen an ihren hohen Ansprüchen. Ein weiterer Grund ist die unterschiedlich hohe Lebenserwartung. Heutzutage werden Frauen im Schnitt fünf Jahre älter als Männer. Das bedeutet, dass mit zunehmendem Alter die Auswahl für das weibliche Geschlecht kleiner wird. Oder um es mit Bildern aus dem Tierreich darzustellen: Immer mehr Weibchen kämpfen um immer weniger Männchen.« Er blieb vor dem Bett stehen und seufzte tief. Lenni reckte den Kopf in seine Richtung.

»Willst du damit sagen, dass Oskar an jeder Ecke eine Neue findet?«

»Wenn er will, dann lautet die Antwort eindeutig ja.«

Bis auf Janni hielt die ganze Familie Norden die Luft an. Niemand hätte es gewagt, Lenni die Wahrheit so unverblümt mitten ins Gesicht zu sagen. Doch das erwartete Donnerwetter blieb aus.

»Soll er sich doch eine andere suchen. Wird er schon sehen, was er davon hat«, murrte Lenni.

Sie hatte schon überzeugender geklungen.

*

Nach der Begegnung mit ihrem Chef fühlte sich Andrea Sander besser. Das Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, machte sie sich daran, die Unterlagen aufzuarbeiten, die in ihrer Abewesenheit liegen geblieben waren.

Obwohl eine Kollegin eingesprungen war, stapelten sich die Akten auf ihrem Schreibtisch. Sie erledigte die Korrespondenz, notierte Termine in ihren Kalender, erstellte eine Statistik, um die der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs gebeten hatte, und leitete alles für die geplante Fortbildung der Assistenzärzte ein.

Zwischendurch führte sie Telefonate mit einem Unternehmen für Medizintechnik. Derart gefangen in ihren Aufgaben, vergaß sie sogar ihr entstelltes Gesicht. Es fiel ihr erst wieder ein, als Clemens Kremling im Büro auftauchte. Wie jedes Mal, wenn sie dem neuen Leiter der Sozialstation begegnete, verwandelten sich ihre Knie in Pudding. Bisher nicht immer mit gutem Ausgang. Ein Mal war sie in seine Arme gesunken und hatte deutliche Make-up-Spuren auf dem weißen Hemd hinterlassen. Ein anderes Mal musste er den Apfelstrudel mit Vanillesauce von der Hose pflücken, den sie sich aus dem Klinikkiosk geholt hatte. Es sprach für Clemens, das er jeden dieser Unfälle mit einem Lachen quittiert hatte und sich obendrein auch noch über jede weitere Begegnung freute. Wenn das nicht ein Grund war, sich in diesen Mann zu verlieben!

»Frau Sander, das ist ja eine schöne Überraschung. Sie sind endlich wieder da!« Die Freude strahlte aus seinen Augen wie die Sonne persönlich. Als Clemens näherkam, glätteten sich die Lachfalten aber wieder. »Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?«

Andrea hielt die Luft an. Unmöglich, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Ich …. mich … mir …«, stammelte sie, als ihr glücklicherweise die Frage ihres Chefs wieder in den Sinn kam. »Ich hatte einen Zusammenstoß mit einem Wespennest.«

»Sie Ärmste.« Clemens Kremlings Mitgefühl war echt. »Das muss ja schrecklich weh tun.«

»Zum Glück arbeiten wir ja in einer Klinik. Da gibt es Ärzte und Schmerzmittel im Überfluss.« Was redete sie denn da? Und dann erst ihr Lachen! Am liebsten hätte sich Andrea unter dem Tisch versteckt.

Zum Glück schien Clemens nichts zu bemerken.

»Zumindest haben Sie Ihren Humor nicht verloren.« Er lachte und hielte eine Mappe hoch. »Das hier ist die Akte Gerda Kraft. Dr. Norden hat mich darum gebeten, mir Gedanken zu machen. Die Vorschläge bezüglich der Reha-Maßnahmen liegen bei. Er soll sich bitte mit mir in Verbindung setzen. Dann können wir alles weiter besprechen.«

»Natürlich.« Andrea Sander nickte abwesend und legte die Akte zur Seite.

Clemens hätte eigentlich gehen können. Warum nur stand er immer noch vor ihrem Schreibtisch und bewegte sich keinen Millimeter?

»Zu dumm, dass Ihnen so etwas ausgerechnet im Urlaub passiert«, stellte er nach einer Weile fest.

»Na ja, das kann man sich nicht aussuchen.« Andrea Sander betete, dass ihre Stimme sie nicht verriet.

»Sie hätten sich krankschreiben lassen können.«

»Um allein zu Hause herumzusitzen und über mein schlimmes Schicksal nachzudenken?« Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Sonnenbrille von der Nase rutschte. Schnell schob sie sie zurück an ihren Platz. »Nein, das ist nichts für mich. Da gehe ich lieber arbeiten. Das lenkt ab.«

»Weise Worte aus dem Mund einer schönen Frau.« Clemens griff nach ihrer Hand und zog sie an die Lippen.

Wie oft hatte Andrea von so etwas geträumt! Doch es war wie verhext. Jetzt, da ihr Traum Wirklichkeit wurde, konnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als dass er ihr zu nahe kam.

»Sie machen sich lustig über mich.« Schnell zog sie die Hand zurück.

»So denken Sie über mich?« Clemens machte keinen Hehl aus seiner Fassungslosigkeit.

»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur … es ist … ich fühle mich so schrecklich hässlich«, jammerte Andrea und hatte das Gefühl, mit jedem Wort alles nur noch schlimmer zu machen. Am besten, sie hielt für den Rest des Tages den Mund. Um den Tränen keine Macht zu geben, starrte sie auf den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag. So bemerkte sie nicht, dass Clemens Kremling amüsiert lächelte.

»Einen schönen Menschen entstellt nichts. So sagt man doch, oder? Und ich komme so oft wieder und sage Ihnen das, bis Sie es selbst glauben.«

Als Andrea wieder hochblickte, war der Platz vor dem Schreibtisch leer. Im ersten Moment fühlte sie sich, als hätte sie einen viel zu warmen Mantel ausgezogen. Doch die Erleichterung währte nur kurz.

»Das war DIE Chance, auf die du so lange gewartet hast«, schalt sie sich selbst. »Und was tust du, dumme Pute? Du vermasselst alles und lügst ihn obendrein noch an.« Konnte es noch schlimmer kommen?

*

Das EKG piepte gleichmäßig. Einem Blasebalg gleich pumpte das Beatmungsgerät durch einen Tubus Luft in die Lunge des kleinen Patienten auf dem Operationstisch. Die Anästhesistin beantwortete die stumme Frage der Kinderärztin mit einem Nicken. Fee beugte sich wieder über das Operationsfeld. Ihr Blick streifte Lammers’ Hände. Künstlerhände, ging es ihr durch den Sinn. Ein Künstler war er tatsächlich. Leider nur auf seinem Spezialgebiet, der Kinderchirurgie. Ansonsten ließ er jede Eigenschaft vermissen, die man einem Künstler zuschrieb. Sensibilität, Fantasie, Neugier, Leidenschaft … All das waren böhmische Dörfer für den ungeliebten Kollegen, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihr ihren Platz als Chefin der Pädiatrie streitig zu machen.

Zu Fees Leidwesen hatte sich an diesem Nachmittag kein anderer Arzt für die Operationsassistenz gefunden. Einen kurzen Moment hatte sie an Sabotage gedacht, diesen Gedanken aber schnell wieder aus ihrem Kopf verbannt. An der Behnisch-Klinik arbeitete ein Team aus Ärzten und Schwestern Hand in Hand, um die besten Ergebnisse für die Patienten zu erzielen. Keine Feinde, wie Volker Lammers sie immer wieder vermuten ließ. Wenn sie nur lange genug dagegen hielt, würde er irgendwann klein beigeben. Davon war Felicitas Norden zutiefst überzeugt. Selbst, wenn diese Überzeugung manchmal wankte. Wie in diesem Moment.

»Warum behandeln Sie den Bruch eigentlich nicht konservativ?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.

Felicitas umklammerte die Pinzette, die zuerst angenehm kühl in ihren Fingern gelegen hatte. Inzwischen hatte das Metall fast Körpertemperatur angenommen. Wenn Lammers sie weiter ärgerte, würde es demnächst glühen.

»Sie sehen doch selbst, dass die Bruchstücke des Olekranoms verschoben sind. Allein diese Tatsache schließt eine Heilung ohne Operation aus. Oder verfügen Sie über Geheimwissen, das mir bislang verborgen geblieben ist?«

»Das mit Sicherheit.« Lammers’ Gesichtsmaske blähte sich, als er lachte. »Aber ich finde, Sie machen das sehr gut. Diese Zuggurte aus Kirschnerdraht. Die haben Sie sehr schön an den gebrochenen Enden fixiert. Trotzdem sollten Sie nach der OP ein MRT anfertigen lassen.«

»Vielen Dank für den Hinweis«, presste Felicitas durch die Lippen. Warum nur erlaubte sie es ihm immer wieder zu bewirken, sich in seiner Gegenwart wie ein Schulmädchen zu fühlen? Sogar ihr ehemaliger Dozent Steinhilber hatte sie durchschaut. »Aber der Patient ist bereits angemeldet. Die Bewegungseinschränkung von Julius’ Arm hat nämlich mit der Fraktur nichts zu tun.«

»Ah, deshalb also das große Blutbild.« Lammers’ Augen über der Maske wurden kugelrund. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich über seine Chefin lustig machte. »Sie vermuten eine neurologische Einschränkung?«

»Bin ich Ärztin oder Wahrsagerin?« Fee bat die Schwester, ihr den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Das Operationsbesteck klirrte, als sie es in die Nierenschale warf. »Machen Sie bitte fertig, Lammers!« Sie nickte in Richtung der Wunde, die, umgeben von grünen Tüchern, unter der Operationslampe leuchtete. »Ich muss noch meine Glaskugel polieren.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rauschte sie aus dem Operationssaal.

Hier und da war ein unterdrücktes Kichern, ein Schnauben hinter den Masken zu hören. Dr. Lammers schickte einen furchterregenden Blick in die Runde. Schlagartig wurde es still im OP. Nur das Schnaufen und Piepen der Überwachungsgeräte war zu hören, als sich Volker Nadel und Faden reichen ließ.

*

Schwerfällig ließ sich Oskar ­Roeckl auf die Bank am Ufer des Kleinhesseloher Sees fallen. Es war ein schöner, aber kühler Tag im Herbst. In einer Art Torschlusspanik zog es die Menschen noch einmal nach draußen, bevor der November mit seinen Herbststürmen, Schauern und Gewittern über die Lande zog. Vom nahen Biergarten wehten Stimmen und Gelächter herüber. Kinder kreischten am Spielplatz. Ein Schwan dümpelte auf dem Wasser, ein Jogger in engen Hosen zog seine Runden auf dem Kiesweg.

Als sich kurz darauf eine ältere Dame zu Oskar auf die Bank setzte, dachte er wieder an Lenni, die jetzt wahrscheinlich frisch operiert war. Der Professor an ihrem Bett hielt vermutlich ihre Hand und die beiden raunten sich Zärtlichkeiten zu. Oskar klammerte sich am splittrigen Holz der Bank fest. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er Lenni vor ein paar Jahren begegnet war. Nie würde er den Zusammenstoß im Klinikkiosk und Lennis Anblick vergessen, auf dem Boden sitzend, ein Meer Sahne auf dem Schoß. Ihre kleinen, blauen Augen hatten wütend gefunkelt. Damals und viele Monate lang empfand er ihre Schroffheit als charmante Eigenheit. Zumal sich hinter der rauen Schale ein butterweiches Herz versteckte.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Oskars Seufzen war tief wie ein Bergwerk.

»Einsamkeit ist eine heimtückische Krankheit.«

Oskar Roeckl hatte die Frau neben sich völlig vergessen. Er zuckte zusammen und starrte sie an. Auch sie schien ihn gar nicht zu sehen. Saß nur da und blickte ins graublaue Wasser. Ein Tretboot schickte glucksende Wellen ans Ufer.

»Man sieht sie nicht. Es gibt keine Medikamente dagegen«, fuhr sie fort. »Und sie frisst uns innerlich auf.«

Oskar nickte langsam.

»Sie sprechen mir aus der Seele.«

Wie aus einem Traum erwacht, wandte die Frau den Kopf. So ein Gesicht machte Lenni immer, wenn sie Schmerzen hatte. Um ein Haar hätte Oskar sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt. Doch sie kam ihm zuvor.

»Darf ich Sie auf eine Tasse Kaffee einladen?« Sie deutete hinüber zum Biergarten.

Oskars Augen folgte ihrem Fingerzeig.

»Ehrlich gesagt wäre mir ein Bier lieber. Wussten Sie, dass Bier vor Fettablagerungen im Herzen schützen kann? Damals, als ich noch als Unternehmer in der Modebranche gearbeitet habe …«

»Ach, Sie waren in der Modebranche tätig?«, unterbrach ihn die Fremde und hielt ihm die Hand hin. »Hannah Bloch, vielleicht haben Sie irgendwann von mir gehört.«

»Hannah Bloch, Hannah Bloch.« Oskar suchte in seinem Gedächtnis nach einer Spur. Eine vage Ahnung stieg in ihm auf. Wie ein lange vergessener Duft. Er spürte förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Schubladen öffneten und schlossen sich wieder. Bis die richtige an der Reihe war. »Natürlich, Hannah Bloch, die Chef-­Designerin von Esmeralda. Der ­bedeutendsten Modemarke im Deutschland der 80er Jahre.«

Hannah scharrte mit den Füßen im Kies. Beim Anblick ihrer Schuhe musste Oskar lächeln. Sie trug die Sorte Schuhe, die Lenni stets als Hühneraugenfarm bezeichnet hatte. Zum Glück bemerkte Hannah Bloch sein Lachen nicht. Ihre Augen ruhten wieder auf dem Wasser.

»Dass Sie sich daran noch erinnern.«

Oskar räusperte sich und verbannte Lenni so gut es ging aus seinem Kopf.

»Esmeralda war eine unserer besten Marken. Die Kollektionen gingen damals weg wie warme Brötchen.«

Hannah zog eine Augenbraue hoch.

»Interessante Wortwahl.«

Schlagartig fühlte sich Oskar in seine Schulzeit versetzt.

»Tut mir leid. Ein besserer Vergleich ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen.«

»Schon gut.« Hannah erhob sich und strich ihren Faltenrock glatt. »Was ist denn jetzt mit meinem Kaffee?«

»Natürlich. Wie unaufmerksam von mir.«

Oskar sprang auf und bot ihr den Arm. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich Richtung Seecafé aufmachten.

*

»Welcher Idiot hat sich ausgerechnet vor meinen Wagen gestellt? Ich habe Feierabend!« Volker Lammers’ Stimme hallte durch die Lobby der Behnisch-Klinik.

Patienten, Besucher und Kollegen drehten sich ebenso nach ihm um wie die Dame im Kostüm, die vor dem Tresen stand.

»Mea culpa!«, räumte sie ohne Umschweife ein, klemmte sich eine blonde Locke hinters Ohr und lächelte wie ein Engel. »Ich habe keinen anderen Platz gefunden.«

Auch wenn Fee Norden heftig widersprochen hätte: Volker Lammers war ein Mann. In dieser Eigenschaft war er alles andere als immun gegen die Reize einer schönen Frau.

»Oh là là!«, entfuhr es ihm. »Ein Schwan in einem Stall voller hässlicher Enten.« Er ignorierte den Blick, den ihm die Schwester hinter dem Tresen zuwarf. Seine Aufmerksamkeit gehörte Dr. Paulsen. »Wenn Sie mich rauslassen, überlasse ich Ihnen meinen Parkplatz. Vorausgesetzt, Sie sind morgen früh noch da, damit wir unser kleines Gespräch fortsetzen können.«

»Tut mir leid.« Mia Paulsens Lachen perlte durch die Halle, als sie den Mann bemerkte, der im flatternden Kittel auf sie zueilte. »So lange wird mein Gespräch mit Dr. Norden nicht dauern.«

Lammers ballte die Hände zu Fäusten. Norden! Norden! Immer wieder und überall diese Nordens! Am liebsten hätte Volker auf dem Boden ausgespuckt.

»Frau Dr. Paulsen, tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Daniel begrüßte die Schönheitschirurgin. Er nickte Lammers zu, legte die Hand auf Mias Schulter und wollte sie zu einer ruhigen Sitzgruppe am Fenster führen. Doch Dr. Paulsen hatte noch eine Bitte.

»Mein Wagen hindert den Kollegen am Wegfahren.« Der Schlüssel klimperte in ihrer Hand.

Daniel überlegte nur kurz. Als er Annekas Freund Sascha durch die Lobby schlendern sah, winkte er ihn zu sich. Der lehnte die Bitte natürlich nicht ab. Schon gar nicht, als er den knallroten Schlüsselanhänger sah, auf dem sich ein goldenes Pferd aufbäumte.

»Mache ich doch gern.« Mit Siegerlächeln lief Sascha an Dr. Lammers vorbei.

Der folgte ihm zähneknirschend. Zu gern hätte er gewusst, was die blonde Schönheit vom Chef wollte. Aber erfuhr er nicht immer, was er erfahren wollte? Er schickte noch einen kurzen Blick zurück, sah den beiden zu, wie sie sich setzten, ehe auch er durch die Türen trat. Dr. Nordens Stimme wehte hinter ihm her.

»Vielen Dank, dass Sie meiner Bitte gleich gefolgt sind.«

Mia schlug die Beine übereinander. Der Rock ihres Kostüms rutschte über ihr Knie. Jeder Orthopäde hätte seine Freude an dem Anblick dieser wohlgeformten Kniescheibe gehabt, die von der Patellasehne an ihrem Platz gehalten wurde. Leider war keiner der Kollegen anwesend. Nur eine Schwester, die zwei Gläser Wasser auf den niedrigen Tisch zwischen ihnen stellte. Sie drehte sich um und wäre um ein Haar mit Sascha zusammengestoßen.

»Tolle Karre! Echt wahr.« Er gab Dr. Paulsen die Schlüssel zurück. Seine Wangen leuchteten mit seinen Augen um die Wette. »So eine kaufe ich mir, wenn ich genug Geld gespart habe.«

»Das wird ein paar Diskussionen mit Anneka geben.« Daniel zwinkerte ihm zu. »Wenn ich mich nicht irre, träumt sie von einem Campingbus.«

»Keine Sorge. Ich überzeuge Sie schon noch von den Vorzügen schnittiger Autos«, versprach Sascha, ehe er sich verabschiedete und an die Arbeit zurückkehrte.

Mia sah ihm lächelnd nach.

»Netter junger Mann. Kennen Sie sich privat?«

»Er ist der Freund meiner ältesten Tochter.«

»Sie haben Kinder?« Täuschte sich Daniel oder huschte ein Schatten über Mias hübsches Gesicht? »Noch dazu so große? Das hätte ich nie vermutet.«

»Anneka hat sogar noch zwei ältere Brüder. Und zwei jüngere Geschwister. Aber ich will Sie nicht mit Geschichten über meine Familie langweilen. Es geht um meine Assistentin Frau Sander.«

»Sie erwähnten es bereits am Telefon.« Mia beugte sich vor und nahm einen Schluck Wasser. Ihr Lippenstift hinterließ keine Spuren auf dem Glas. »Ich fühle mich nach wie vor für meine Patientin verantwortlich und möchte sie gern bei mir in der Klinik weiterbehandeln.«

»Schon möglich. Leider hat Frau Sander das Vertrauen in Sie und Ihre Fähigkeiten verloren.«

Das Glas klirrte leise, als Dr. Paulsen es auf den Tisch zurückstellte.

»Ich kann das nur zur Kenntnis nehmen.« Ihr Gesicht erinnerte Daniel an die Gipsmasken, die er früher einmal in der Jugendgruppe gebastelt hatte. Er dachte an die glitschigen Gipsverbände auf der Haut und das seltsame Gefühl, wenn sie nach und nach erstarrten. Später hatte er sie mit Farbe bemalt, mit künstlichem Haar beklebt und Mädchen erschreckt. So einen Unsinn hatte Mia Paulsen bestimmt nie angestellt. Sie wirkte wie ein Mensch, der als Kind schon erwachsen gewesen war. »Die ganze Angelegenheit ist mir sehr unangenehm. Als Leidensgenosse wissen Sie ja, wie schnell der Ruf einer Klinik ruiniert ist.«

Schnell schob Daniel Norden die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf das Gespräch.

»Was ist denn überhaupt passiert?«

Mia seufzte.

»Ich kann mir das selbst nicht erklären. Kurz nach der Unterspritzung reagierte Frau Sanders Haut in einer Weise, wie ich sie nie zuvor beobachtet habe.«

»Eine allergische Reaktion?«

»Schwer vorstellbar. Das Mittel ist allgemein sehr gut verträglich. Aber ausschließen kann ich es natürlich nicht. Leider gab mir die Patientin nicht die Möglichkeit, weitere Untersuchungen durchzuführen. Frau Sander hat die Klinik Hals über Kopf verlassen. Und ich bin alles andere als zufrieden mit dem Ergebnis. Ich habe mehrfach versucht, mich mit ihr in Verbindung zu setzen. Leider ohne Erfolg. Umso dankbarer bin ich für Ihren Anruf, Herr Kollege.« Als Dr. Paulsen wieder nach ihrem Glas griff, streifte sie wie zufällig Daniels Hand.

Er gab vor, es nicht bemerkt zu haben.

»Gut, dass Andrea in dieser Klinik arbeitet. Sie können sich auf mich verlassen, dass ich ihr die beste Behandlung angedeihen lasse.«

Mia verzog den Mund.

»Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen glaube ich Ihnen aufs Wort.«

Daniel hatte das Gefühl, als wollte sie auf den Grund seiner Seele blicken. Das gefiel ihm nicht.

»Vielen Dank für die Blumen.«

Mia spürte seinen Widerstand.

»Das sollte kein Kompliment sein, sondern entspricht nur der Wahrheit.« Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Glas in ihren Händen. Kohlensäurebläschen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. Sie zählte bis zehn. Daniel warf einen Blick auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit, in sein Büro zurückzukehren. Das Gespräch hatte nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Schon wollte er sich verabschieden, als sie sagte: »Was halten Sie davon, wenn wir die Akte Sander gemeinsam durchgehen? Da wir beide vielbeschäftigte Menschen sind, würde ich ein Abendessen vorschlagen.«

Hatte sie seine Fluchtpläne durchschaut? Daniels Augen wurden schmal.

»Sie denken an ein Arbeitsessen?«

»Rein geschäftlich«, versicherte die Kollegin und schob ihm ein Kärtchen über den Tisch. »Sagen wir in zwei Stunden?« Daniel Norden griff nach der Karte des Restaurants. ›Seehaus‹ stand in geschwungenen Lettern über dem Foto. Mia erhob sich. »Bis später!« Sie hob die Hand zum Gruß und durchquerte die Lobby. Wie Schüsse aus einer Pistole hallten ihre Schritte von den Wänden wider. Daniel sah ihr kurz nach, als seine Kitteltasche vibrierte. Er zog das Mobiltelefon heraus.

»Feelein! Was kann ich für dich tun?« Ganz im Gegensatz zu Volker Lammers hatte er die Dr. Mia Paulsen sofort vergessen und verließ die Halle mit dem Telefon am Ohr.

Volker dagegen wartete in seinem silbergrauen Allerweltswagen am Straßenrand. Feierabend. Er hatte alle Zeit der Welt, um seine Umwelt zu beobachten.

*

Der Zustand ihrer ehemaligen Haushälterin bereitete Fee Norden Kopfzerbrechen. Die Erfahrung zeigte fast jeden Tag aufs Neue, dass Wunden bei gestressten Patienten oft deutlich schlechter heilten als bei entspannten. Das konnten selbst Wissenschaftler bestätigen, die herausgefunden hatten, dass Rötungen, Schwellungen und Schmerzen im Bereich einer Wunde bei fast der Hälfte aller unglücklichen Menschen vorkamen. Zudem gab es Hinweise, dass Menschen in einer Beziehung mit aggressivem Umgangston wesentlich später gesund wurden als Menschen in harmonischen Beziehungen.

»Und dass Lenni alles andere als harmoniebedürftig ist, ist ein offenes Geheimnis«, murmelte Felicitas vor sich hin. Inzwischen war sie vor Julius’ Krankenzimmer angekommen. Zeit, sich auf ihren Patienten zu konzentrieren.

Emil Steinhilber begrüßte sie wie einen alten Freund. Julius dagegen sah kaum hoch. Als wäre nichts geschehen, lag er im blau-weiß gestreiften Bett. Der Zugang an seiner linken Hand war mit einem Pflaster auf dem Handrücken festgeklebt. Ein durchsichtiger Schlauch führte hinauf zum Infusionsbeutel. Mit der rechten Hand tippte er unverdrossen auf seinem Handy herum.

»Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für uns.« Emil Steinhilber sah seine ehemalige Studentin an.

Fee rang sich ein Lächeln ab.

»Der Eingriff verlief wie erwartet, der Bruch ist versorgt.«

»Hast du gehört?« Emil klopfte auf den meerblauen Gips seines Enkels. »Du kannst deinen Arm bald wieder bewegen.«

»Hoffentlich. Ich muss ja scootern.« Der Junge machte sich noch nicht einmal die Mühe, vom Bildschirm aufzusehen.

Fees Herz wurde schwer.

»Dass Julius die Finger nicht bewegen konnte, hat leider nichts mit dem Bruch zu tun.«

»Das verstehe ich jetzt nicht ganz.« Emil stemmte die Hände in die Hüften.

Er musterte sie von oben herab. »Sie sagten doch, die Operation sei gut verlaufen.«

»Das ist richtig. Leider hat die Befundung des MRTs ergeben, dass Jonas an einer vermutlich angeborenen Einengung eines Wirbelkanals leidet. Eine der Nervenwurzeln wird zusammengedrückt.« Obwohl sie die Diagnose kannte, nahm sie das Tablet und berührte mehrmals den Bildschirm. »Die Bewegungsprobleme der Hand rühren nicht von dem Bruch, sondern von diesem verengten Nervenwurzelkanal.«

»Moment mal.« Alle Freundlichkeit war aus Emil Steinhilbers Gesicht verschwunden. »Aber er hatte doch vorher keine Probleme. Nicht wahr, Julius?«

Julius’ Blick klebte an seinem Handy. Er nickte so mechanisch wie die kleinen Figuren, die über den Bildschirm hopsten.

»Ich gehe davon aus, dass er das taube Gefühl einfach ignoriert hat. Der Sturz hat die Problematik allerdings verschlimmert.«

»Und was kann man dagegen tun?« Emils Pupillen färbten die Iris schwarz.

Fee klickte sich durch die Bilder, ehe sie das Tablet ausschaltete und auf das Bett legte.

»Da leider keine Chance auf eine spontane Besserung besteht, müssen wir noch einmal operieren.«

»Am Rückenmark?« Emil schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Dieses Risiko ist viel zu hoch.«

Dieser Widerspruch wunderte Felicitas nicht. Schon im Vorfeld hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie sie an seiner Stelle reagiert hätte. Mit dieser Vorgeschichte. Nicht für viel Geld wollte sie mit ihrem ehemaligen Dozenten tauschen.

»Ich verstehe Ihre Sorge. Auf der anderen Seite können wir nicht zulassen, dass Julius’ Stenose schlimmer wird. Er ist noch so jung. Viel zu jung für eine dauerhafte Einschränkung.«

Emil Steinhilber fuhr sich über die Augen. Plötzlich wirkte er wie der alte Mann, der er tatsächlich war.

»Gibt es denn keine Alternativen?« Seine Stimme hatte ihre jugendliche Leichtigkeit verloren.

»Das Problem an der Sache ist, dass Wirbelsäulenstenosen normalerweise eine Alterserscheinung sind«, erklärte Felicitas. »Bei Senioren wird meist auf einen operativen Eingriff verzichtet. Die symptomatische Behandlung steht im Vordergrund. Dabei sind Schmerz- und Cortisonspritzen das Mittel der Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber in Julius’ Fall hat das wenig Sinn. Er leidet bereits unter motorischen Ausfällen. Und das in seinem Alter! Da haben Kinder doch wahrlich andere Probleme.« Unwillkürlich gaukelte ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst – ein kleines Mädchen, das weißblonde Haar zu Affenschaukeln geflochten –, wie sie wie ein Äffchen an den Beinen des Vaters hing und um ein Eis bettelte. Lebenswichtig war das damals gewesen. Sie seufzte. Manchmal wünschte sie sich die Probleme und Sorgen ihrer Kindheit zurück.

Emil hatte ihr Schweigen genutzt, um sich mit seinem Enkel zu unterhalten. Als er sich wieder aufrichtete, drückte er die Hände in den Rücken. Seine Miene war entschlossen.

»Wir versuchen es erst einmal mit den Spritzen.«

Felicitas Norden machte gar nicht erst den Versuch, ihr Bedauern zu verbergen.

»Ihre Entscheidung«, seufzte sie und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um. »Wenn Sie wollen, dass ich Julius dauerhaft helfe … Sie wissen, wo Sie mich finden können.« Sie nickte Emil Steinhilber zu und verließ das Zimmer.

*

»Bereit für die nächste Behandlung?«, fragte Dr. Norden, der schwungvoll in sein Büro eingebogen war.

Andrea Sander zuckte zusammen. »Meine Güte, Sie dürfen eine alte Frau nicht so erschrecken.« Sie presste die Hände auf ihr Herz.

»Alte Frau?« Daniel sah sich um. »Wo?« Er drehte sich um die eigene Achse. »Ich kann keine sehen.«

»Sie Schmeichler.«

»Und Sie sind eine Tagträumerin.« Dr. Norden trat an den Schreibtisch und versuchte, den Ausdruck in Andreas Augen hinter den dunkel getönten Brillengläsern zu erkennen. Vergeblich. »Oder können Sie gar nicht anders als träumen, weil Sie nichts sehen?« Er machte die Probe auf’s Exempel und winkte sie mit sich in sein Büro.

Ohne Zögern stand Andrea Sander auf, griff nach einer Akte und folgte ihm. Daran konnte es also nicht liegen.

»Das hier hat Herr Kremling für Sie abgegeben«, sagte sie leise. So verhalten war sie doch sonst nicht.

»Kremling?« Daniel sah sie verwundert an. Nach einem Blick in die Unterlagen ging ihm ein Licht auf. »Ach, Sie meinen den neuen Leiter der Sozialstation.« Er sah kurz hoch, wieder hinunter und dann wieder zu Andrea. Nie zuvor war sie in seiner Gegenwart rot geworden. Doch jetzt leuchtete ihr Gesicht wie eine Mohnblume. Und das lag mit Sicherheit nicht an den Anti-Falten-Spritzen.

»Er … er meinte, Sie sollen ihn wegen der Reha für Gerda Kraft anrufen«, fuhr sie fort, ehe ihr Chef eine Frage stellen konnte. »Ein Plan liegt in den Unterlagen.«

»Das wird Lenni gar nicht gefallen, wenn sie jetzt auch noch von hier fort soll«, murmelte Daniel, während sich Andrea auf einen der Stühle setzte. Er legte die Akte weg, schlüpfte in ein Paar Handschuhe und griff nach einer Tube. »Bitte die Brille abnehmen … den Kopf ein wenig zurück … so ist es gut.« Vorsichtig betupfte er die entzündeten Hautpartien mit Salbe. »Sagen Sie, könnte es sein, dass es Ihnen dieser Herr Kremling angetan hat?«, erkundigte er sich beiläufig.

Im ersten Moment wollte Andrea leugnen. Im zweiten war ihr klar, dass sie ihrem Chef nichts vormachen konnte. Und wollte.

»Ich bitte Sie! Männer in meinem Alter interessieren sich doch nicht für alte Schrullen wie mich.« Andrea erschrak selbst über die Bitterkeit in ihrer Stimme. Genauso erschrocken war sie, als sie vom Fenster aus beobachtet hatte, wie Clemens von einer Frau abgeholt worden war.

Das junge Ding war auf ihn zugeflogen und hatte sich an ihm festgesaugt wie eine Stechmücke. Ekelhaft!

Als Daniel eine besonders empfindliche Stelle berührte, zerplatzte das Bild wie eine Seifenblase. Andrea zuckte zusammen.

»Tut mir leid.« Er trat einen Schritt zurück und begutachtete seine Arbeit. »Wenn ich geahnt hätte, dass Sie solche Probleme mit dem Alter haben, hätte ich Sie zu einem Psychologen geschickt. Sie können aufstehen.«

Doch Andrea rührte sich nicht vom Fleck.

»Man muss den Tatsachen ins Auge schauen. Ab einem gewissen Alter haben Frauen bei Männern nichts mehr zu melden.«

»Bitte kein Schubladendenken!«, verwahrte sich Dr. Norden gegen diese Behauptung. Ihm war jede Art von Verallgemeinerung zuwider.

Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, fand er sich durchaus selbst als Täter wieder. Ertappte sich bei durchschaubaren Verallgemeinerungen. Politiker logen, Unternehmer nützten aus, Vertreter täuschten, Banker betrogen, Musiker nahmen Drogen. Und Männer liebten nur junge Frauen. Dabei befanden sich genügend Politiker, Unternehmer, Vertreter, Banker, Musiker und Männer unter seinen Patienten, die das Gegenteil bewiesen. Selbst ein Mann, fühlte sich Daniel Norden genötigt, eine Lanze für sich und seine Geschlechtsgenossen zu brechen.

»Es gibt durchaus Männer, für die noch andere Qualitäten zählen als reine Äußerlichkeiten.«

»Das sagen Sie jetzt nur, um mich zu trösten.« Schließlich stand Andrea Sander nun doch auf und zog die dunkelblaue Bluse glatt. »Ein Auto kann man auch nicht beliebig oft reparieren. Irgendwann ist es nun einmal ein Haufen alter Schrott.«

Daniel lachte.

»Falls es Sie beruhigt: Mit einem Auto haben Sie so viel gemein wie ein Model mit einem Gartenzwerg.« Ein besserer Vergleich fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.

Trotzdem wurden seine Bemühungen belohnt. Andrea Sander lachte, wenn auch verhalten, ehe sie ins Vorzimmer zurückkehrte. Doch die gute Laune war nicht von langer Dauer. Es war ihrem Chef zwar gelungen, sie zumindest halbwegs von ihren Qualitäten zu überzeugen. Die junge Frau, die Clemens Kremling so unverblümt auf den Mund geküsst hatte, konnte er allerdings nicht wegzaubern.

*

»Sie tanzen gern! Oh, das ist ja fabelhaft.« Hannah Bloch klatschte in die Hände. Der rosafarbene Lack ihrer Nägel glänzte im Licht der untergehenden Sonne. »Dann haben Sie sicherlich Lust, mich einmal in den Bayerischen Hof zu begleiten.«

Oskar verschluckte sich an seinem Bier. Er hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Mit Mühe gelang es ihm, das Glas zurück auf den Tisch zu stellen. Bayerischer Hof! Auf so eine Idee wäre Lenni nie gekommen. Zwei, drei Mal war es ihm gelungen, sie zum Tanztee im Bürgerhaus zu überreden. Statt kostbarer Teppiche und edlem Parkett lag dort pflegeleichter Laminatboden. Deckenfluter statt Kronleuchtern, Plastikbezüge anstelle von Brokatstoffen. Auf den Tischen hatten Vasen mit Plastikblumen gestanden. Im Bayerischen Hof waren es mit Sicherheit silberne Leuchter. Und doch hatten sie ihren Spaß gehabt. Er mehr, Lenni weniger, was aber nicht am Ambiente lag, sondern vielmehr an ihrer Abneigung gegenüber Schlagern.

»Das ist doch was für alte Leute«, hatte sie in ihrer unvergleichlichen Art geschimpft.

»Was ist? Warum lachen Sie?«, fragte Hannah verschnupft und betastete das violett schimmernde Haar. »Stimmt was nicht mit meiner Frisur? Ist mein Make-up verwischt? Ein Fleck auf dem Kleid.« Mit spitzen Fingern suchte sie in ihrem Täschchen nach einem Spiegel.

»Nein, nein, alles in bester Ordnung«, versicherte Oskar schnell. »Sie sehen bezaubernd aus.«

Seine Versicherung beruhigte sie nicht. Erst, nachdem sie sich selbst davon überzeugt hatte, lehnte sie sich wieder zurück.

»Schön. Dann begleiten Sie mich also. Die nächste Veranstaltung ist kommenden Samstag.«

»Das ist ja schon übermorgen.« Oskar wurde es heiß und kalt. Es war lange her, dass er sich auf dem Parkett der Schönen und Reichen bewegt hatte. Wenn er ehrlich war, hatte es ihm auch nicht gefehlt. Ganz und gar nicht. Und das lag nicht nur daran, dass er keinen Smoking besaß. Doch wie nun den Kopf aus der Schlinge ziehen? »Wir kennen uns doch kaum.«

Hannahs Lachen klirrte wie ein Eiswürfel im Glas.

»Wissen Sie, ich vergleiche das Leben immer mit einem Urlaub. Am Anfang erkundet man die neue Umgebung. Man entdeckt unbekannte Gerüche, neue Landschaften, lernt aufregende Menschen kennen.« Sie ließ ihren Blick über den See schweifen. »Die Zeit scheint sich bis in die Unendlichkeit zu dehnen. Doch nach ein paar Tagen wird das Neue schon zur Gewohnheit. Man schaut nach dem Aufstehen immer auf die gleiche Palme vor demselben Horizont, sitzt mit denselben Leuten am Tisch. Sogar das Buffet wiederholt sich irgendwann.« Ihr Blick kehrte zurück. »Und plötzlich ist der Urlaub viel zu früh vorbei.« Mit spitzen Fingern griff sie nach der Tasse. Beim Nippen spreizte sie den kleinen Finger ab. Dabei ließ sie Oskar nicht aus den Augen. »In unserem Alter hat man keine Zeit mehr zu verschwenden. Ich will noch etwas erleben, bevor mein Urlaub vorbei ist. Sie etwa nicht?«

Oskar griff nach seiner Tasse, bemerkte, dass sie leer war, und stellte sie zurück auf den Tisch.

»Ja, ja, doch, schon«, antwortete er fahrig, als eine wohlbekannte Stimme an sein Ohr wehte.

»Passt es Ihnen hier?«

Oskar drehte sich um. Und traute seinen Augen kaum. Ein paar Tische weiter bot ausgerechnet Dr. Daniel Norden seiner schönen Begleiterin einen Platz an. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Im ersten Moment wollte Daniel Lennis Lebensgefährten freudig begrüßen. Erst im zweiten entdeckte er Oskars Begleiterin. Ausgerechnet in diesem Moment legte Hannah die Hand auf Oskars Arm.

Oskar zuckte zusammen. Daniel sah weg. Die Gelegenheit, einander vorzustellen, war vorbei.

»Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee.« Hannah Bloch bedeutete ihrem Begleiter, dass sie aufstehen wollte.

Oskar blieb nichts anderes übrig, als ihrem stummen Wunsch nachzukommen. Der Stuhl kratzte über den Asphalt. Strahlend hängte sie sich bei ihm ein, lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Ich hätte nie gedacht, in meinem Alter noch einmal einen derart attraktiven Mann kennenzulernen. Ich freue mich sehr auf Samstag«, flötete sie laut und deutlich, dass der ganze Biergarten es hören konnte. Zumindest bildete sich Oskar das ein.

Hilfesuchend sah er hinüber zu Daniel Norden. Doch der war ins Gespräch vertieft mit der schönen Frau.

Die beiden schienen sich zu kennen. Sehr gut sogar. Oder hätte sie sonst die Hand so vertraulich auf seinen Arm gelegt? War es möglich, dass ausgerechnet Dr. Daniel Norden … Nein! Oskar verbot sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Daniel schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. Er sah demonstrativ zur Seite, als der Lebensgefährte seiner ehemaligen Haushälterin an ihnen vorbeiging.

*

Erst als das Paar vorbeigegangen war, hob Dr. Norden den Kopf und sah den beiden nach, bis sie um die Ecke des ehrwürdigen Hauses mit dem glänzend schwarzen Dach und den weißen Bogenfenstern verschwunden waren. Mia Paulsen entging sein Blick nicht.

»Eine Flasche Champagner, bitte!«, bestellte sie beim Kellner.

Ihr Plan ging auf. Sofort gehörte ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Tischherrn.

»Champagner? Gibt es etwas zu feiern?«

»Eventuell den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»Gute Zusammenarbeit würde völlig ausreichen.« Er klappte die Speisekarte auf. »Haben Sie die Unterlagen von Frau Sander dabei?«, fragte er beiläufig.

Viele andere Frauen hätten sich beleidigt zurückgezogen. Nicht so Mia. Daniel musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie ihn taxierte wie ein Jäger seine Beute. In einem früheren Leben musste sie eine Amazone gewesen sein. Jenes Volk in der griechischen Mythologie, dessen Frauen männergleich in den Kampf gezogen waren.

»So ein Pech! Die habe ich jetzt doch tatsächlich im Wagen liegen gelassen.« Über den Rand der Karte hinweg sah Daniel die Kollegin an.

Sie verstand ihn auch ohne Worte.

»Was denn? Wollen Sie mir etwa Absicht unterstellen?«

Daniel klappte die Karte wieder zu und legte sie auf den Tisch. Der Ober kam und servierte den Champagner.

»Ich unterstelle Ihnen gar nichts.« Die Gläser klangen hell aneinander. »Aber was halten Sie davon, wenn ich die Bestellung aufgebe und Sie zum Wagen gehen und die Unterlagen holen, die Sie dort – ganz ohne jeden Hintergedanken – vergessen haben?«

Mia nippte an ihrem Champagner.

»Was halten Sie davon, wenn wir zuerst die Vorspeise essen? Wenn ich Ihnen etwas empfehlen darf.« Sie nickte hinüber zu der fast mannshohen Tafel, die an der Hauswand lehnte. »Die Hummer-Rollen sind ganz fantastisch. Mit Koriander, Minze und Limette. Ein besonderes Geschmackserlebnis.«

Daniel Norden ballte die Hand zur Faust. Diese Frau verstand offenbar nur Klartext.

»Ehrlich gesagt ist mir der Appetit vergangen.«

Mia zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. Ihre Stimme war eine Nuance zu tief für ihr Aussehen, was ihr interessierte Blicke der Tischnachbarn einbrachte.

»Sie werden sich von einer faulen Ausrede doch nicht den Abend verderben lassen.«

Daniel Norden blieb ernst.

»Nur von faulen Tricks.« Was war nur mit dieser Frau los? Jede Kritik perlte an ihr ab wie ein Tropfen Wasser an einem Lotusblatt. Er konnte sich gut vorstellen, dass ihre Hautoberfläche dieselbe nanoskopische Architektur aufwies, wie die Blattoberfläche dieser Pflanzen. Weder Schmutz noch Ärger oder Sorgen hatten Spuren in Mia Paulsens Gesicht hinterlassen. Doch trotz der makellosen Züge einer Mittzwanzigerin wirkte sie auf unheimliche Art gereift. An diesem Eindruck konnte auch ihr Lächeln nichts ändern.

»Warum so spröde, Herr Kollege? Ich bin doch nicht Ihre Feindin. Ganz im Gegenteil.« Die letzten drei Wörter waren zu viel. Sie bemerkte ihren Fehler sofort. »Sie sind ein ganz schön harter Brocken.« Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich hole die Akte. Unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Laufen Sie nicht davon!«

*

Eine Amsel saß auf dem Dach eines Nebengebäudes der Klinik und sang ein trauriges Abendlied. Der Lärm auf den Straßen ebbte ab. Nebelschwaden zogen durch den Garten der Klinik. Der würzige Duft von frisch gemähtem Gras und feuchter Erde vermischte sich mit den Ausdünstungen der Großstadt und verdrängte sie mehr und mehr. Die Dämmerung tauchte die Welt in sanfte Blautöne.

Auch in der Behnisch-Klinik kehrte langsam Ruhe ein. Die Patienten hatten die letzten Medikamentengaben des Tages erhalten, Besucher waren nach Hause gegangen. Das Licht wurde gedimmt. Trotzdem war für einige Mitarbeiter der Arbeitstag noch nicht zu Ende. Dr. Felicitas Norden gehörte zu ihnen. Sie saß mit ihrer Freundin Elena und dem Kollegen Matthias Weigand zusammen am Tisch des Aufenthaltsraums. Jeder hatte eine kleine Schachtel mit chinesischen Schriftzeichen vor sich. Doch an Essen war im Augenblick nicht zu denken.

»Du hast Steinhilber wirklich Liebesbriefe geschrieben?«, fragte Elena kichernd und griff nach dem Glas Wasser.

»Du und Liebesbriefe? Das ist nicht dein Ernst.« Auch Matthias Weigand wollte es nicht glauben.

»Wieso denn?« Fee war fast beleidigt. »Was ist daran so abwegig? Ich bin auch ein Mensch mit Gefühlen.«

Matthias schnitt eine Grimasse und tätschelte ihr die Schulter.

»Nicht böse sein, Feelein. So war das gar nicht gemeint.«

»Außerdem war ich damals süße zwanzig. Da macht man schon mal Dummheiten.«

»Wenn das so ist, warst du ganz klar ein Spätzünder.«

Fee steckte eine Gabel voll Nudeln in den Mund. Sie kaute eine Weile. Dann sagte sie:

»Das stimmt nicht. Solange ich denken kann, habe ich mich für Daniel interessiert. Wir kennen uns ja schon ewig.«

»Eine Sandkastenliebe!« Elena verdrehte die Augen gen Himmel. »Und warum dann die Liebesbriefe an einen anderen? Noch dazu an einen Dozenten?«

»Das war bestimmt ein Ausbruchversuch!«, diagnostizierte Matthias.

»Auf der Flucht vor Dr. Norden«, zitierte Elena mit Grabesstimme.

Die beiden Kollegen brachen in wieherndes Gelächter aus.

Fee konnte nicht anders. Sie musste mitlachen.

»Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, welcher Teufel mich damals geritten hat. Deshalb habe ich auch Daniel nie etwas davon erzählt.« Sie schickte einen Lehrerinnenblick in die Runde. »Kein Wort zu ihm. Habt ihr das verstanden?«

Nach und nach versickerte das Lächeln auf Elenas Gesicht. Matthias erging es ähnlich.

»Sag mal, kann es sein, dass dich dieser Dr. Steinhilber erpresst?«, stellte er die Frage, die auch der Kollegin durch den Kopf ging.

Fees Augen wurden kugelrund. Ruckartig setzte sie sich auf.

»Nein, natürlich nicht! Das würde er niemals tun.«

»Nicht direkt natürlich«, erklärte Matthias. »Aber ich denke schon, dass er unterschwellig durchaus Druck auf dich ausübt. Würde er sonst von dir verlangen, wider besseren Wissens auf eine Operation seines Enkels zu verzichten und stattdessen eine zweifelhafte Spritzenkur durchzuführen? Bei einem anderen Arzt wäre er vielleicht weniger starrsinnig.«

Felicitas antwortete nicht sofort. Sie dachte an das Gefühl, das sie beschlich, wann immer sie mit ihrem ehemaligen Dozenten sprach. Die Erkenntnis tat weh.

»Ihr denkt also, ich bin nicht energisch genug?«, fragte sie.

»Du verschaffst dir nicht den Respekt, der dir zusteht«, korrigierte Dr. Weigand.

Fee blickte in ihre halbvolle Schachtel.

Goldgelbe Nudeln mit knackig buntem Gemüse lachten sie an. Trotzdem war ihr der Appetit vergangen.

»Ich muss los.« Sie schob ihr Essen zu Matthias hinüber und stand auf.

Gleich darauf fiel die Tür ins Schloss. Schwester Elena und der Notarzt blieben allein zurück. Eine Weile aßen sie schweigend.

»Findest du nicht, dass ihr ein bisschen mehr Autorität gut stehen würde?«

Elena schnitt eine Grimasse.

»Lass sie bitte so, wie sie ist. Einen zweiten Lammers braucht kein Mensch.«

»Warum müsst ihr Frauen eigentlich immer das letzte Wort haben?«, seufzte Matthias.

»Ganz einfach: Weil wir klüger sind!«

*

Mit Einbruch der Dunkelheit war es kühl geworden am kleinhesseloher See. Dr. Norden und seine Begleiterin hatten den Tisch auf der Terrasse mit einem im Lokal vertauscht.

Leiser Barjazz mischte sich mit den Stimmen der Besucher. Hier und da klapperte Besteck, klangen Gläser aneinander.

»Noch irgendeine Frage?« Mia Paulsen schob den Teller von sich und griff nach der Stoffserviette, um sich die Lippen zu betupfen.

Für gewöhnlich wer es nicht Daniels Art, während des Essens zu lesen. In diesem speziellen Fall tat er aber alles, um seiner Kollegin sein Desinteresse an jedem privaten Kontakt kundzutun. Mit der linken Hand schob er die letzte Gabel Fisch in den Mund. Mit der rechten blätterte er die letzte Seite der Akte um.

»Kommt es eigentlich öfter vor, dass Ihre Patientinnen unzufrieden mit den Ergebnissen Ihrer Arbeit sind?« Wenn er gedacht hatte, Mia mit dieser Frage aus der Reserve zu locken, hatte er sich geirrt. Wieder einmal.

»Enttäuschungen haben meist mehr mit den überzogenen Erwartungen der Patienten zu tun denn mit meinem Können.« Mia warf den Kopf in den Nacken und trank einen Schluck Champagner. »Manche Löcher in der Seele lassen sich eben auch nicht mit Silikon stopfen. Oder um bei Frau Sander zu bleiben: Manche Falten im Gemüt lassen sich nicht mit Hyaluronsäure auffüllen.«

»Freut mich, dass Sie Ihre eigene Zunft so differenziert sehen.«

Das Champagnerglas in der Hand lehnte sich Mia lächelnd zurück. Eine bekannte Melodie schwebte durch den Raum. Ihr Bein wippte im Takt dazu.

»Es existieren einfach zu viele Klischees in meinem Metier. Ich will aber nicht leugnen, dass an einigen etwas Wahres dran ist.«

»Tatsächlich?«

Mia lachte auf.

»Ich fahre einen schnellen Wagen, besitze eine Penthousewohnung über den Dächern von München und ein Haus in den Bergen. In meiner Freizeit spiele ich Golf und gebe mein Geld gern für teure Kleider und gutes Essen aus. Außerdem habe ich drei Ehen hinter mir.« Sie beugte sich so weit über den Tisch, dass Daniel winzige Falten entdeckte, in die der Lippenstift gekrochen war. »Auf Letzteres bin ich nicht stolz. Aber wer weiß«, ihre Stimme rutschte eine halbe Oktave tiefer. Sie sah ihm tief in die Augen. »Vielleicht gelingt mir das ja auch noch. Mit dem richtigen Mann …«

Das Ende des Satzes mischte sich mit dem Schluchzen eines Saxophons.

Daniel erwiderte ihren Blick.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei der Suche.«

Mia Paulsen war nicht dumm. Sie verstand auch diese Abfuhr. Trotzdem wurde das Lächeln auf ihrem Gesicht tiefer.

»Sie gefallen mir. Wirklich. Sehr sogar.«

»Ich bin seit vielen Jahren glücklich verheiratet, meine liebe Frau Paulsen.« Mehr Klartext ging nicht.

Doch auch diesmal wirkte der Lotus-Effekt.

»Das denkt jeder, bis er etwas Besseres findet«, gurrte sie, beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

Selbst wenn Daniel Norden nicht vor Empörung nach Luft geschnappt hätte, hätte er das Klicken des Auslösers nicht hören können. Zufrieden steckte Volker Lammers das Handy ein. In diesem Augenblick hatte er genug gesehen. Zwischendurch hatte er Zweifel gehabt. Aber nun hatte sich die lange Wartezeit doch gelohnt.

Auf seinem unbequemen Aussichtsposten draußen im Gebüsch war ihm das rechte Bein eingeschlafen. Er schüttelte es, bis er das Gefühl hatte, das eine ganze Armee Ameisen an seiner Wade hinaufkletterte. Doch diese Unannehmlichkeit nahm er gern in Kauf für die Beute, die er gemacht hatte. Ein amüsanter Abend stand bevor.

*

Nachdem Fee Norden die Kollegen verlassen hatte, beschloss sie, Lenni einen Besuch abzustatten. Sie brauchte dringend Ablenkung, um sich später noch einmal in Ruhe mit den gewonnenen Erkenntnissen auseinandersetzen zu können. Der Plan ging auf.

»Wo ist denn Ihre Augenbinde geblieben?«, fragte sie schon an der Tür. Schlagartig war jeder Gedanke an Dr. Steinhilber wie weggeblasen.

»Warum regen sie sich so auf?«, murrte Lenni mit geschlossenen Augen. Die Wortwahl war dieselbe wie immer. Nur ihr Ton hatte sich verändert. »Ich brauche so ein lästiges Ding nicht.«

Felicitas schloss die Tür hinter sich und atmete ein paar Mal ein und aus. Lenni hatte recht. Es gab keinen Grund, sich aufzuregen. Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Ich wusste ja gar nicht, dass Sie so eitel sind.«

»Ich bin nicht eitel.« Lenni wischte sich über die Wange. »Was tun Sie eigentlich um diese Uhrzeit noch hier? Wollen Sie mich kontrollieren, oder was?«

»Sicher ist sicher.« Sie wussten beiden, wie sie das meinte. Lennis Lächeln verriet sie.

Fee setzte sich auf die Bettkante. Ihr Blick fiel auf den Teebecher mit dem verblassten Bild und der abgestoßenen Kante auf dem Nachttisch, den Lenni von zu Hause mitgebracht hatte.

Ein Stück Heimat, das war ihr wichtig gewesen.

Schlagartig wurde es Fee warm ums Herz. Sie fühlte sich um Jahre zurückversetzt in eine Zeit, in der die Kinder noch klein gewesen waren. Eigentlich hatten sie alle zusammen Urlaub an der Nordsee machen wollen. Doch dann hatten die Norden-Kinder, damals noch weit entfernt vom Teenager-Alter, die Windpocken bekommen. Daniel und Fee dachten daran, den Urlaub abzusagen. Doch Lenni wollte nichts davon wissen.

»Raus mit Ihnen! Sonst kündige ich.«

Diesem Befehl verdankte das Ehepaar Norden einen der schönsten Urlaube seines Lebens. Gleich nach der Ankunft im Ferienhaus hatten sie sich auf den Weg gemacht, um die Gegend zu erkunden. Vorbei an Paaren in Strandkörben, an Fischbrötchenessern und Eistütenschleckern, an Drachensteigern und Kühltaschenbesitzern, die ganze Horden von Kindern versorgten. Ohne Zweifel liebten Fee und Daniel ihren Nachwuchs über alles. Doch die unverhoffte Auszeit brachte sie in den besonderen Genuss ungestörter Zweisamkeit. Freie Zeit lag vor ihnen wie das weite Meer, das sich bis zum Horizont und darüber hinaus vor ihnen ausbreitete. Sie gab ihnen Gelegenheit, in den Andenkenläden an der Uferpromenade zu stöbern. Postkarten, Muschelkästchen, Schlüsselanhänger und die kleinen bunten Plastikfotoapparate, durch deren Sucher man verschiedene Fotos des Urlaubsortes betrachten konnte, gab es dort zu kaufen. Draußen vor der Tür stand ein Ständer mit Teetassen mit geschwungenen Henkeln und allen möglichen Urlaubsszenarien als Dekor.

»Wollen wir für Lenni einen mitnehmen?«, fragte Daniel.

»Glaubst du, die gefallen ihr?« Kritisch nahm Fee die Auswahl unter die Lupe.

»Besser als ein nutzloses Muschelkästchen allemal.« Damit war die Entscheidung gefallen.

Jetzt, viele Jahre später, bewies sich, wie sehr Lenni das praktische Geschenk von damals schätzte. Der Becher hatte mehrere Umzüge und zahllose Runden im Geschirrspüler überstanden. Trotzdem war das Dekor noch gut zu erkennen, auch wenn sonst vieles anders geworden war. Fees Blick kehrte zurück zu ihrer ehemaligen Haushälterin. Mit aller Macht versuchte Lenni, ihre Trauer zu verstecken. Doch Fee konnte sie nicht so leicht etwas vormachen.

»Oskar hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?«

»Der kann von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst.« Ihre Miene strafte Lenni Lügen. »Soll er sich doch eine Jüngere suchen. Eine mit­ weniger Falten und strafferer Haut.«

Felicitas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Allzu oft schoben Frauen den Männern die Schuld in die Schuhe. Dabei gehörten immer zwei dazu.

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Oskar ein Mann ist, der viel Wert auf Äußerlichkeiten legt.«

»Wollen Sie damit sagen, ich bin hässlich?«

Fee rollte mit den Augen. Sie hätte es wissen müssen.

»Aber nein, so habe ich das doch nicht gemeint. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich ist Oskar nur deshalb bei Ihnen geblieben, weil er sie so attraktiv findet«, platzte sie heraus. »An Ihrem Liebreiz kann es nämlich nicht liegen.«

Wie erstarrt lag Lenni im Bett. Es war nicht das erste Mal, dass ihre ehemalige Chefin Klartext mit ihr redete. Aber nie zuvor war sie in so einer Situation gewesen. Hilflos, wehrlos, ausgeliefert. Im Normalfall wäre sie jetzt beleidigt aus dem Zimmer gestampft.

Da das nicht möglich war, begnügte sie sich damit, die Lippen aufeinanderzupressen und den Kopf wegzudrehen.

»Wenn Sie wollen, dass er zu Ihnen zurückkommt, müssen Sie sich schon etwas einfallen lassen«, fuhr Fee fort.

»In solchen Sachen kenne ich mich nicht aus«, murrte Lenni. »Wie überzeugt man einen Mann denn davon, dass er nichts Besseres findet?«

Um ein Haar hätte Felicitas laut herausgelacht. Lennis Selbstbewusstsein musste man haben. Doch an diesem Tag hatte es beileibe genug Kritik gehagelt. Außerdem hatte sie eine Idee, womit Lenni ihrem Oskar ihre Liebe beweisen konnte. Sie beugte sich vor und flüsterte ihrer Patientin etwas ins Ohr.

Angewidert verzog Lenni das Gesicht.

»Sind Sie sicher? Muss das sein?«

»Mit diesem Opfer überzeugen Sie ihn bestimmt.«

»Na gut. Ich denke darüber nach. Und jetzt raus mit Ihnen! Ich bin müde und will schlafen.«

Fee war nicht beleidigt. Ein Blick auf die Uhr hatte sie wieder an Emil Steinhilber und seinen Enkel Julius erinnert.

Mit diesem Problem musste sie sich auch noch auseinandersetzen, und seufzend machte sie sich auf den Weg.

*

Inzwischen war es vollkommen dunkel. Auf dem Klinikgelände verteilte Laternen erhellten das Gebäude. Noch bevor Daniel Norden sie sehen konnte, wusste er, dass wie immer Raucher vor den Türen standen. Einer der Patienten trug einen Jogginganzug, der bestimmt nicht in der Absicht gekauft worden war, jemals Sport darin zu betreiben. Eine Frau saß im Rollstuhl, den Infusionsständer neben sich. Der dritte im Bunde musste ein später Besucher sein, wie Daniel aus seiner Kleidung schloss. Der Klinikchef überlegte kurz und wählte dann den Eingang der Notaufnahme. Er ließ zwei Rettungssanitätern den Vortritt, die einen Mann mit wirrem Haar aus dem Wagen geladen hatten, und folgte ihnen ein Stück, ehe er nach rechts abbog.

»Matthias, genau dich suche ich!«

Dr. Weigand saß am Schreibtisch und blätterte in einer Fachzeitschrift.

»Je später der Abend, umso schöner die Gäste.« Er zwinkerte Daniel zu.

»Ich wusste gar nicht, dass du nur wegen meines Aussehens mit mir befreundet bist.«

Matthias Weigand legte den Kopf schief. Eine steile Falte teilte seine Augenbrauen.

»Jetzt, wo du es sagst … aua!« Er rieb sich den schmerzenden Oberarm, dort, wo Daniels Fausthieb ihn getroffen hatte.

»Als Strafe für deine Oberflächlichkeit musst du dir das hier ansehen.« Dr. Norden legte die Unterlagen auf den Tisch, die ihm Mia Paulsen als Entschuldigung für den unfreiwilligen Kuss überlassen hatte. »Ich muss wissen, das du davon hältst.«

Um diese Uhrzeit war jeder Zeitvertreib recht. Matthias zog die Mappe zu sich und schlug sie auf. Während er sich in die Materie vertiefte, trat Daniel ans Fenster. Beim Umbau der Klinik war ein kleiner Innenhof entstanden, den die frühere Chefin Dr. Jenny Behnisch mit der Skulptur eines hiesigen Künstlers geschmückt hatte. Bis auf den heutigen Tag war sich Daniel nicht sicher, was der Bildhauer sich bei seiner Schöpfung gedacht hatte, und rätselte immer wieder gern über deren Sinn nach. Doch diesmal wurde sein Blick abgelenkt von zwei Gestalten, die im Trakt gegenüber am Fenster standen und die Köpfe zusammensteckten. Das wäre nicht weiter interessant gewesen, hätte es sich bei den beiden nicht ausgerechnet um den Kollegen Lammers und Schwester Josefa gehandelt, auch bekannt als ein Teil der Lästerschwestern. Das konnte nur Ärger bedeuten. Daniel Norden drehte sich zu dem Notarzt um. Er war zu einem ersten Schluss gelangt.

»Bei der Unterspritzung mit Fillern handelt es sich um einen Eingriff, bei dem kleinste Verletzungen gesetzt werden. Zudem wird fremdes Material ins Gewebe eingebracht. Darauf reagiert das körpereigene Immunsystem mit der klassischen Abwehr. Ist die Immunabwehr, aus welchen Gründen auch immer, gestört, sind solche Reaktionen wie bei Frau Sander zu befürchten.« Er sah zu seinem Freund und Kollegen hoch. »Mit einer gründlichen Voruntersuchung hätte diese Reaktion verhindert werden können.«

»Laut der Kollegin Paulsen hat Frau Sander mit keinem Wort erwähnt, dass sie irgendwelche Beschwerden hat.«

»Wurde sie denn überhaupt befragt? Oder ging es den lieben Kollegen von der plastischen Chirurgie mal wieder nur um das schnelle Geld?«

Daniel dachte an Mias Aufzählung. Schnelle Autos, schicke Wohnungen, teure Kleider. Er schnitt eine Grimasse.

»Andreas Behandlungskosten decken wahrscheinlich noch nicht einmal die Kosten eines Abendessens, das Frau Paulsen für gewöhnlich zu sich nimmt.«

»Kleinvieh macht auch Mist. Vielleicht hat es für eine Brotzeit gereicht.«

Lachend schüttelte Daniel den Kopf.

»Eine Frau wie Mia Paulsen weiß vermutlich gar nicht, was dieses Wort bedeutet.«

»Oh. So exquisit?«

»Mehr als das.« Langsam wurde Dr. Norden wieder ernst. »Aber bevor ich dir mehr verrate, möchte ich gern wissen, was du von einem operativen Eingriff hältst.«

Dr. Weigand wiegte den Kopf.

»Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen. Da die Ursache für den Abszess nicht hundertprozentig feststeht, bleibt ein Risiko.« Er klappte die Mappe zu und gab sie seinem Freund zurück.

»Wie bei jeder Operation.«

»Stimmt. Allerdings handelt es sich hier nicht um einen lebensnotwendigen Eingriff. Deshalb würde ich davon abraten.« Matthias rutschte von der Tischkante und suchte in seinen Kitteltaschen nach Kleingeld. Zeit, den Blutzuckerspiegel wieder auf ein ordentliches Niveau zu bringen. »Hast du ein paar Münzen für den Snackautomaten? Ich brauche unbedingt einen Schokoriegel.«

»Du lenkst vom Thema ab.« Daniel zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und zählte ihm ein paar Münzen in die Hand. »Wenn das Risiko halbwegs vertretbar ist, sollten wir Andrea helfen.«

Seite an Seite verließen die beiden Ärzte den Raum und wanderten den menschenleeren Flur hinab.

»Wenn ich dein Chef wäre, würde ich den Eingriff nicht befürworten.«

Ein Fluch wurde von den Wänden zurückgeworfen. Als die beiden um die Ecke bogen, sahen sie den Grund dafür.

»Das blöde Ding klemmt schon wieder!« Ein Kollege von der Nachtschicht machte sich an dem Automaten zu schaffen.

»Viel Erfolg bei der Jagd nach deinem Snack!« Daniel klopfte Matthias auf die Schulter und ging davon. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal um. »Ach ja: Gut übrigens, dass du nicht mein Chef bist!« Er zwinkerte seinem Freund zu, ehe er sich auf die Suche nach seiner Frau machte. Höchste Zeit, den Arbeitstag zu beenden und nach Hause zu fahren.

*

Fee Norden stand am Tresen und studierte die Unterlagen von Julius Steinhilber. Tagsüber herrschte hier ein Betrieb wie in einem Taubenschlag. Kolleginnen und Kollegen saßen an den PCs, suchten im Internet nach Lösungen für Probleme, tippten Berichte oder vereinbarten Termine.

Es kam nicht selten vor, dass sich die Akten einen halben Meter hoch türmten. Doch um diese Uhrzeit war alles ruhig. Der Tresen und die Computer dahinter waren verwaist. Nur ab und zu flatterte eine Schwester lautlos wie eine Fledermaus vorbei. Felicitas war so versunken in ihre Gedanken, dass sie die Schritte nicht hörte, die neben ihr halt machten.

»Das haben Sie ja prima hingekriegt!«

Sie fuhr herum und starrte in das Gesicht von Volker Lammers.

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«

»Das fragt die Richtigte.« Seine Miene war undurchdringlich. Wie zufällig legte er das Handy auf den Tresen. Ein Foto leuchtete auf dem Display. Ein Mann, der eine Frau küsste. »Kein Wunder, dass Ihr Mann fremdgeht.«

Fee wusste nicht, woher es kam. Aber da war plötzlich dieses Bild in ihrem Kopf von Menschen, die sich freiwillig einen Eimer Eiswasser über den Kopf kippten. Sie hatte nie verstanden, warum man bei solchen Aktionen wie der »ice-bucket-challenge« mitmachte. Aber zumindest wusste sie jetzt, wie sich diese Leute gefühlt haben mochten, als ihnen das Eiswasser über Kopf und Körper rann.

»Unser Privatleben ist unsere Sache«, erklärte sie mit vor Kälte betäubten Stimme.

»Aber dass Sie sich deswegen von Patienten respektive deren Verwandten auf dem Kopf herumtanzen lassen, ist ja wohl Sache der Klinik.«

Lammers klopfte mit den Knöcheln auf die Akte Steinhilber.

Fee brauchte ein paar Atemzüge, um sich zu sammeln.

»Herr Dr. Steinhilber hat sich die PRT-Spritze als einzig mögliche Therapie seines Enkels in den Kopf gesetzt. Ich weiß selbst, dass es nicht die optimale Therapie ist. Aber immerhin ist es ein Anfang.«

»Bravo.« Volker Lammers’ Beifall hallte von den Wänden wider. »Soll ich Ihnen mal etwas verraten? Er hat Ihre Schwäche gespürt und wusste, dass Sie sich darauf einlassen würden.«

»Sie sind doch krank«, fauchte sie wie eine in die Enge getriebene Löwin.

Lammers runzelte die Stirn.

»Interessant. Würden Sie das in Gegenwart unseres Verwaltungsdirektors noch einmal wiederholen?«

Felicitas atmete ein paar Mal tief ein und aus.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich zähneknirschend.

»Aber manchmal gehen Sie einfach zu weit.«

»Was erwarten Sie von mir?« Volker Lammers zuckte mit den Schultern. »Dass ich tatenlos zusehe, wie Sie einen jungen Patienten ins Unglück stürzen? Nur weil Sie nicht in der Lage sind, seinen Erziehungsberechtigten von der richtigen Therapie zu überzeugen? DAS ist Ihre Aufgabe als Chefärztin, wenn ich Sie daran erinnern darf. Sie sind keine Wunschfee. So gern Sie das auch wären.« Sein Blick glitt über Fee hinweg, seine Pupillen weiteten sich.

Intuitiv drehte sich Felicitas um und sah gerade noch, wie Schwester Josefa um die Ecke verschwand. Als sie sich wieder ihrem Kollegen zuwandte, zwang sie sich ein Lächeln auf die Lippen.

»Und Sie sind nicht der Klinikchef. Auch wenn Sie noch so oft davon träumen.« Nicht das kleinste Zucken in ihrem Gesicht verriet den Sturm, der in ihr tobte. »Im Übrigen habe ich meine eigenen Methoden, um meine Patienten von der bestmöglichen Therapie zu überzeugen. Ich setze auf Einsicht, nicht auf Drohung. Aber das werden Sie wohl nicht mehr verstehen.«

Sie nickte ihm zu, griff nach der Akte und machte sich auf die Suche nach ihrem Mann. Offenbar gab es ein paar Dinge, über die sie sich unterhalten mussten, bevor die ganze Klinik es tat.

*

Auf dem Nachhauseweg war Fee ungewöhnlich schweigsam. Sie saß hinter dem Steuer und lenkte den taupefarbenen Kleinwagen durch die Straßen. Um diese Uhrzeit herrschte nur noch wenig Verkehr. Trotzdem beantwortete sie die Fragen ihres Mannes einsilbig. Daniel schob es auf ihre Müdigkeit nach einem anstrengenden Arbeitstag und schwieg, bis sie zu Hause waren.

»Darf ich dir ein Glas Wein anbieten?«

Klappernd landeten Fees Schlüssel in der Schale auf der Kommode. Ihr Blick irritierte ihn.

»Gute Idee.« Der Tonfall machte es nicht viel besser.

»Geh schon mal vor ins Wohnzimmer. Ich komme gleich nach.« Er sah ihr kurz nach, ehe er in der Küche verschwand. Kurz darauf klirrten Gläser, ein Korken ploppte aus einer Flasche. Die Kühlschranktür öffnete und schloss sich wieder. Eine Tüte raschelte. Danach wurde es eine Weile still. Fee zuckte zusammen, als ihr Mann das Tablett auf den Tisch stellte. Sie musste eingenickt sein.

»So müde?« Sorge lag in seiner Stimme.

»Es geht schon wieder.« Der Gedanke an das bevorstehende Gespräch machte sie nervös. Noch wusste sie nicht, wie sie das heikle Thema ansprechen sollte.

Früher war sie geübter gewesen. Da hatte es solche Anlässe öfter gegeben. Noch heute musste Fee lachen, wenn sie an die Szenen dachte, die sie ihrem Mann als junge Frau gemacht hatte. Kein Wunder. Jeder Regisseur hätte ihm schon wegen seines Aussehens ohne mit der Wimper zu zucken die Hauptrolle in einer Arztserie angeboten. Seine Beliebtheit bei den weiblichen Patienten hatte der jungen Felicitas regelmäßig schlaflose Nächte beschert. Diese Zeiten gehörten glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Ihre Ehe stand auf einem sicheren Fundament aus glücklichen Erinnerungen, gemeinsam bewältigten Krisen und bedingungsloser Liebe. Gemeinsam waren sie stark. Zumindest war es das, was Fee in den vergangenen Jahren immer gedacht hatte. Im Augenblick war sie sich allerdings nicht mehr so sicher. Hatte sie wie Lenni sämtliche Alarmsignale übersehen?

»Erinnerst du dich an den Bericht über den archäologischen Senstationsfund neulich im Fernsehen?«, fragte Daniel in ihre Gedanken hinein.

»Du meinst die Maske von Sakkara?« Es war erst das dritte Mal, dass eine solche Maske aus teilweise vergoldetem Silber in einem Privatgrab Ägyptens entdeckt worden war. Dementsprechend euphorisch wurde der Fund gefeiert. Zu Recht, wie Fee fand. Sie erinnerte sich gut an den Jahrtausende alten Blick aus den schwarzen Edelsteinaugen. Das war aber nicht das, was Daniel meinte.

»Du hast mich vorhin genauso angesehen wie der Forscher in dem Bericht das Fundstück. Als wollte er ihm sein Geheimnis entlocken.«

Felicitas sank zurück in die tiefen Kissen der Lümmelcouch.

»Vielleicht verbirgst du ja auch etwas vor mir.«

Daniel Norden runzelte die Stirn, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte.

»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

Fee spürte, dass er ehrlich war. Aber woher stammte dann das Bild, das Volker Lammers ihr gezeigt hatte? Eine Fotomontage? So viel technisches Verständnis traute sie ihm nicht zu. Wenn sie keine schlaflose Nacht verbringen wollte, gab es nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden.

»Dann hast du heute keine Frau geküsst? Außer mir natürlich.«

Endlich fiel der Groschen bei Daniel. »Ach, du meinst den Überfall von Dr. Paulsen.« Mit einem Schlag veränderte sich alles, seine Körperhaltung, seine Stimme, seine Miene. Alles an ihm war pure Empörung. »So eine Unverschämtheit ist mir noch nie untergekommen.« Er berichtete Fee von Andrea Sanders Missgeschick und vom Treffen mit der Schönheitschirurgin. Fee hörte schweigend zu. Nicht nur ein Stein, ein ganzes Geröllfeld löste sich von ihrem Herzen und stürzte in die Tiefe. Sie wunderte sich, dass draußen alles ruhig blieb.

»Manche Frauen halten sich einfach für unwiderstehlich.« Sie schmiegte sich an ihren Mann.

»Und diejenigen, die es wirklich sind, lassen an sich herumspritzen und -schnippeln.«

»Glaubst du, du bekommst Andrea Sander wieder hin?«

»Ehrlich? Ich habe keine Ahnung.« Daniel ließ den Wein im Glas kreisen.

Eine Weile war es still im Zimmer. Schwer vorstellbar, dass sich die Menschen vor ein paar Wochen um diese Uhrzeit noch draußen getummelt hatten. Sie hatten gegrillt oder Feuer im Garten gemacht, sich unterhalten, gelacht und manchmal gesungen, um den Sommer und das Leben zu feiern. Nun zogen sich Natur und Mensch zurück, um sich auf die kühle Jahreszeit vorzubereiten. Doch nach dem Fest des Sommers war die herbstliche Stille durchaus erholsam und machte es einfacher, klare Gedanken zu fassen. »Woher weißt du das mit der Kollegin Paulsen überhaupt?«

»Ihr hattet einen Beobachter.«

In diesem Augenblick fiel Daniel die Begegnung vom frühen Abend ein.

»Oskar?«

Fee musterte ihren Mann überrascht.

»Was hat der denn damit zu tun?«

»Wie es der Zufall wollte, war er heute auch im Seehaus.«

»Allein?« Ihre Augen wurden schmal.

»Mit einer sehr aparten Frau. Allerdings machte er keinen sehr glücklichen Eindruck«, schob Daniel schnell hinterher.

»Wenn er so ausgesehen hat wie du auf Lammers’ Foto, dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, kicherte Fee. »Aber um deine Frage von vorhin zu beantworten: Oskar hat dich nicht verraten. Es war Lammers. Er hat ein Beweisfoto geschossen und offenbar schon die Lästerschwestern ins Boot geholt.«

»Jetzt verstehe ich.« Daniel erzählte seiner Frau, wie Josefa und Volker die Köpfe zusammengesteckt hatten. »Na, da habe ich ja einen Spießrutenlauf vor mir morgen.«

Felicitas trieben noch ganz andere Sorgen um. Der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs wäre alles andere als amüsiert über eine augenscheinliche Affäre des Klinikchefs. Doch für diesen Tag war es genug.

Sie drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange, leerte ihr Glas und gähnte.

»Der Schreck hat mich ganz schön müde gemacht.« Seite an Seite stiegen sie die Treppe hinauf.

»Nicht, dass du denkst, du kannst dich jetzt zurücklehnen und unsere Beziehung einfach so laufen lassen.« Daniel zwinkerte ihr zu. »Ein bisschen Mühe will schon sein.«

»Wie gut, dass du mich daran erinnerst.« Felicitas blieb stehen und sah ihren Mann an. Selbst im Dämmerlicht sah er das Funkeln in ihren Augen. Das war noch nie ein gutes Zeichen gewesen. »Dann kannst du gleich den Anfang machen und mich hochtragen.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und ließ sich fallen. Daniel stöhnte demonstrativ. Vergeblich. »Ein bisschen Mühe will schon sein«, wiederholte sie seine Worte. »Aber falls es dich tröstet: Du wirst es nicht bereuen.«

*

Der nächste Arbeitstag begann, wie der letzte geendet hatte. Mit Ärger.

»Sie wollen mich nicht operieren?« Andrea Sanders Stimme klingelte in den Ohren ihres Chefs.

Obwohl Dr. Norden mit dieser Reaktion gerechnet hatte, war er bis zuletzt guter Dinge gewesen. Voller Vertrauen hatte er auf die Wirkung selbsterfüllender Prophezeiung gesetzt. Er hatte fest daran geglaubt, dass seine positive Ausstrahlung Andreas’ Reaktion beeinflussen konnte. Leider half aller Optimismus nichts. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Sie bebte am ganzen Körper, ihre Augen hinter der Sonnenbrille schwammen in Tränen. »Das können Sie mir doch nicht antun.«

»Von ›antun‹ kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil. Ich will Ihnen etwas ersparen«, versicherte er. »Der Auslöser Ihrer Beschwerden lässt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen. Möglich, dass wir die Sache mit einer Operation noch schlimmer machen.«

»Welche Alternativen gibt es?«

»Eine Behandlung mit entzündungshemmenden Mitteln. Eine gesunde Lebensweise. Und viel, viel Geduld.« Daniel konnte sich vorstellen, wie dieser Vorschlag in Andreas Ohren klang.

Er sah ihr dabei zu, wie sie hinter dem Schreibtisch auf und ab ging. Plötzlich blieb sie stehen und sah ihn durch die dunklen Brillengläser an.

»Sie nehmen mich auf den Arm, nicht wahr?« Ihre Stimme zitterte.

»Leider nein.«

»Entschuldigen Sie mal! Heutzutage werden Herzen verpflanzt, Gesichter rekonstruiert und Menschen zurück ins Leben geholt. Und Sie wollen mir weismachen, dass Sie dieses Malheur nicht ausmerzen können?« Andrea nestelte ein Taschentuch aus der Packung auf dem Tisch und putzte sich die Nase. »Nein, Chef, das glaube ich Ihnen nicht. Ich will, dass Sie mich operieren. Am besten gleich heute.«

Daniel dachte an den Fall, von dem Fee ihm am vergangenen Abend erzählt hatte. Ein Mensch lehnte eine Therapie ab, die ein anderer unbedingt wollte. Was für eine verrückte Welt! Er seufzte tief und sah Andrea Sander an.

»Aber …«

»Kein aber!«

Gegen ihren Wunsch war er machtlos.

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

Er nickte langsam.

»Also schön. Dann werde ich sehen, dass wir heute Nachmittag einen Operationssaal bekommen.«

»Gut.«

Der Stuhl seufzte, als Andrea sich auf das Polster fallen ließ. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Trotzdem wirkte sie alles andere als glücklich.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, erkundigte sich Dr. Norden, eine steile Falte auf der Stirn.

»Sorgen Sie dafür, dass die Operation gelingt und ich wieder so aussehe wie vorher«, murmelte sie vor sich hin. »Sonst kann ich diesen Job hier vergessen.« Dr. Norden wollte eben wiedersprechen, als sie fortfuhr. »Ganz zu schweigen von einem neuen Partner.« Sie presste die Lippen aufeinander und starrte geradeaus zum Zeichen dafür, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet war.

*

Die Schiebetüren öffneten sich, und eine Schwester schob den Rollstuhl mit Julius Steinhilber hinaus auf den Flur. Felicitas Norden folgte den beiden. Während der Krankentransport weiterzog, blieb sie kurz stehen. Sie nahm die blaue Haube vom Kopf und schüttelte das Haar. Welche Befreiung nach der beklemmenden Atmosphäre im Röntgenraum! Doch sie kam nicht dazu, dieses Gefühl länger als einen Atemzug lang zu genießen. Aus dem Schatten einer Pflanze trat Emil Steinhilber hervor und verstellte ihr den Weg.

»Und? Wie ist es gelaufen? Haben Sie alles richtig gemacht mit den Spritzen?«

»Dr. Steinhilber!« Fee zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und machte sich wieder auf den Weg. Ihre Turnschuhe schmatzten leise auf dem PVC-Boden. Ganz anders die Ledersohlen ihre ehemaligen Dozenten. Ihr Klappern war hart, ein unangenehmes Geräusch. »Wenn Sie solche Zweifel an meinen Fähigkeiten haben, hätten Sie mich vorher fragen sollen, ob ich mein Metier beherrsche.«

Emil sah schnell zur Seite. Er räusperte sich.

»Und wie geht es jetzt weiter?«

Schon von Weitem sah Felicitas die Schwestern, die in einem kleinen Grüppchen zusammenstanden und tuschelten. Beim Anblick der Chefin der Pädiatrie verstummten sie. Fast so, als hätte jemand den Ton abgedreht. Fee sah ihre Ahnung bestätigt. Sie grüßte nickend und ging an ihnen vorbei.

»In den nächsten Wochen injiziere ich noch zwei Mal ein verdünntes Schmerzmittel unter Röntgenkontrolle direkt an den schmerzverursachenden Stellen.«

»Und was ist bis dahin?«

»Mehr kann ich für Julius im Augenblick nicht tun.« Sie machte vor dem Krankenzimmer des Jungen Halt. »Ihre Entscheidung«, fügte sie hinzu und drückte die Klinke herunter.

Beim Anblick der Schwester, die mit dem schlaffen Jungenkörper kämpfte, fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Mit zwei großen Schritten war sie bei den beiden. Beherzt griff sie zu und half, Julius ins Bett zu legen.

Emil Steinhilber war außer sich.

»O mein Gott, o mein Gott, o mein Gott!«

Fee gab der Schwester ein Zeichen, sich um den Senior zu kümmern. Sie selbst beugte sich über den Jungen und strich ihm ein paar Strähnen aus der verschwitzten Stirn.

»Was machst du denn für Sachen?« In diesem Augenblick war sie ganz Mutter.

»Ich wollte nur aufstehen. Und dann war plötzlich mein Bein weg. So ein krasses Gefühl hatte ich noch nie.«

»Hat er etwa Lähmugserscheinungen?« Emil saß auf einem Stuhl in der Ecke. Das Glas in seiner Hand zitterte.

»Das ist eine der möglichen Nebenwirkungen bei der Einspritzung des Lokalanästhetikums. Eigentlich sollte dieses ›krasse‹ Gefühl gleich vorbei sein.« Wieder einmal war Fee ihren Kinder dankbar für das, was sie von ihnen lernte. Egal, ob es darum ging, die eigenen Grenzen zu erfahren, ungewöhnliche Wege zu gehen, neue Technologien kennenzulernen, offen für Fremdes zu sein oder einfach nur darum, Unsinn zu machen: Die Schule, in die ihr Nachwuchs sie schickte, war mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Das bewies auch Julius’ Lächeln. Sein Vertrauen hatte sie im Handumdrehen gewonnen. Ganz im Gegensatz zu seinem Großvater.

»Diese ganze Behandlung hat überhaupt nichts gebracht. Ich hätte mich doch lieber an Dr. Lammers wenden sollen«, schimpfte Emil aus seiner Ecke.

Felicitas stand der Mund offen. Langsam zählte sie im Geiste bis drei.

»Der Fehler liegt nicht bei mir«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich kann mir nur vorwerfen, nicht von Anfang an auf der Operation bestanden zu haben.« Sie griff nach dem Coldpack, das in einer Nierenschale am Fußende des Bettes lag. »Hier, das ist zur Kühlung«, sagte sie zu Julius. »Das kannst du auf die Einstichstelle legen, falls sie dich ärgert.« Sie hielt ihm die Hand hin und er klatschte ein.

Emil schnaubte ärgerlich dazu.

»Immer noch derselbe Kindskopf wie damals.«

»Vielen Dank für das Kompliment.« Felicitas setzte sich zu ihm an den Tisch und sah ihm ungeniert in die Augen.

»Julius’ Befund könnte nicht eindeutiger sein. Eine Operation ist die einzige Therapie, die Ihrem Enkel helfen kann.«

Dr. Steinhilber presste die Lippen aufeinander und sah weg.

»Es ist nicht fair, Julius die Chance auf vollständige Heilung zu nehmen«, fuhr Fee fort.

»Aussicht auf vollständige Heilung. Routine-OP!« Emil schnaubte wie ein Ochse. »Das hört man ja ständig. Und wenn es dann schief geht, gehen die Fälle an die Anwälte.«

»Sie müssen keine Angst haben.« Einen winzigen Augenblick schwebte Fees Hand in der Luft. Dann legte sie sich leicht wie eine Feder auf Emils Hand.

»Ich werde Julius wieder auf seinen Scooter bringen. Aber das geht nur, wenn Sie einer OP zustimmen.«

»Mann, Opa. Wenn sogar Frau Dr. Norden das sagt, dann wird es schon gut gehen«, rief Julius aus dem Hintergrund. »Ich will wieder Scooter fahren und Wettbewerbe gewinnen.«

Emil senkte die Augen und starrte auf den Boden. Als Fee schon dachte, keine Antwort mehr zu bekommen, schüttelte er langsam den Kopf.

»Nein. Keine Operation.« Der Rest seines Satzes ging in Julius’ Wutanfall unter.

*

»Jetzt klicke ich hier auf die Krankenhausapotheke, und dann … äh, Medikamentenaustattung?« Dr. Norden saß am Schreibtisch. Er hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und drückte auf der Computertastatur herum, ganz so, wie es ihm der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs am anderen Ende der Leitung diktierte. Die Tür öffnete sich, und Oskar steckte den Kopf ins Zimmer. Daniel blickte auf und winkte ihn zu sich.

»Vorsicht!«, raunte Oskar ihm zu. »Als du das letzte Mal mit Janni und mir Computer gespielt hast, ist in ganz München der Strom ausgefallen.«

»Das war nicht ich. Das war ein Blitzeinschlag … Was? Nein, ich meine nicht Sie, Herr Fuchs. Ich melde mich wieder.« Daniel legte auf.

»Das haben die Leute von den Stadtwerken nur gesagt, um die Bevölkerung zu beruhigen. Was machst du überhaupt da?« Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, linste Oskar über den Rand des Bildschirms.

»Eine Aufstellung des Medikamentenverbrauchs für unseren Sparfuchs.« Daniel schob die Tastatur von sich und lehnte sich zurück. »Aber du bist doch sicher nicht gekommen, um mir einen Vortrag über die richtige Bedienung unseres Klinikcomputerprogramms zu halten.«

»Gott bewahre!« Oskar hob beide Hände hoch. »Da musst du schon Janni fragen.«

»Erst, wenn du mir erzählst, wo du die vergangenen beiden Nächte gesteckt hast«, platzte Dr. Norden heraus und wartete auf ein gestammeltes Geständnis, ein verlegenes Hüsteln, irgendein Anzeichen von Reue. Doch alles, was er entdeckte, war das Blitzen in Oskars Augen.

»Du denkst sicher, dass ich bei Hannah war. Genauso, wie du die Nacht mit dieser Schönheitschirurgin verbracht hast. Wie heißt sie doch gleich? Pauling?«

»Paulsen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst …«

»Du etwa?«

Die beiden Männer saßen sich gegenüber und sahen sich an, ehe sie gleichzeitig loslachten.

»Nein, natürlich nicht.« Oskar zog ein Stofftaschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn. Er betrachtete es einen Moment lang versonnen, ehe er es zurück in die Tasche steckte. »Danny und Tatjana waren so freundlich und haben mir Unterschlupf gewährt.«

»Sieh mal einer an. Ich wusste gar nicht, dass ihr Verbündete seid.«

»Sie kennen Lenni.« Mehr musste Oskar nicht sagen. »Aber was ist mit dir? Und was sind das für Geschichten, die in der Klinik die Runde machen?«

»Muss ich dir das wirklich erklären?«

Daniels Reaktion war Antwort genug.

»Dann hatte ich also recht, dass ich dem feinen Herrn Lammers die Meinung gegeigt habe.« Oskar nickte zufrieden. »Stell dir vor, er geht doch tatsächlich mit diesem Foto in der Klinik hausieren. Dabei bist du darauf noch nicht einmal besonders gut getroffen.«

Daniel Norden lachte.

»Das war wohl auch nicht seine Absicht.« Er sah verstohlen auf die Uhr. Wie immer waren seine Termine dicht gedrängt. »Jetzt würde ich aber doch gern wissen, wie es mit dir und Lenni weitergeht.« Die Falten um seine Augen glätteten sich. »Willst du uns wirklich alle verlassen? Um mit dieser Hannah …«

»Wo denkst du hin!«, entfuhr es Oskar. »Diese Frau hat Ansprüche, sage ich dir. Da ist Lenni ja ein Waisenkind dagegen. Wenn sie nur ein bisschen netter zu mir wäre …«

»Ich bin sicher, die Bedenkzeit hat ihr gut getan.« Daniel erhob sich und ging um den Schreibtisch herum. Zeit für seine Besprechung mit der Hygiene-Kommission, deren Vorsitzender er war.

Oskar folgte ihm.

»Das wollte ich von dir hören«, brummte er. »Dann werde ich mich später mal in die Höhle des Löwen wagen. Aber vorher greife ich Anneka ein bisschen unter die Arme. Das Mädchen hat alle Hände voll zu tun im Kiosk.« An der Tür angekommen, umarmten sich die beiden Männer kurz, ehe jeder zufrieden seiner Wege ging.

Nur Andrea Sander blieb allein im Vorzimmer zurück. Entstellt, unglücklich und voller Angst vor dem, was sie noch erwartete.

*

Arbeit hatte Andrea Sander schon immer geholfen, sich von Sorgen und Problemen abzulenken. Auch diesmal stürzte sie sich auf Unterschriftenmappen und Akten, schrieb Briefe, vereinbarte Termine und stellte die Teilnehmerliste für einen geplanten Vortrag ihres Chefs zusammen. Dazwischen erledigte sie die Post, die der Bote vorbeigebracht hatte. Wenn das Telefon klingelte, musste sie es unter dem Wust aus Akten, Briefumschlägen und Zeitschriften suchen. Ein Stapel Papier rauschte zu Boden.

»Muss das sein?«, schimpfte sie und ging hinter dem Schreibtisch auf Tauchstation.

»Hallo, ist jemand da?«

Andreas Herz setzte einen Schlag aus. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Mit hochrotem Kopf und verwuschelter Haarpracht tauchte sie wieder aus der Versenkung auf. Eine Strähne kitzelte sie im Mundwinkel. Sie wischte sie weg. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie die Brille nicht aufhatte. Hektisch tastete sie danach. Ein unsinniges Unterfangen in dem Chaos, das auf ihrem Schreibtisch herrschte. »Herr Kremling. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich wollte mein Versprechen wahr machen und Ihnen auch heute wieder sagen, dass Sie die schönste Frau weit und breit sind.« Er beugte sich über ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Die Wespen haben vielleicht Ihr Gesicht verunstaltet. Ihrer Ausstrahlung konnten Sie aber nichts anhaben.«

Am liebsten hätte sich Andrea Sander in Luft aufgelöst. Hätte sie Clemens nicht mit eigenen Augen in den Armen dieses Kükens gesehen, dann hätte sie ihm vielleicht geglaubt. Aber so …? Sie zog die Hand weg, setzte die Brille auf, die plötzlich unschuldig im Ablagekasten lag, und holte tief Luft.

»Was sagt eigentlich Ihre junge Freundin dazu, dass Sie mir solche Komplimente machen?«

Clemens stutzte.

»Ich bin vielleicht nicht mehr der Jüngste. Aber verkalkt bin ich noch nicht. Also heraus mit der Sprache. Welche junge Freundin meinen Sie?«

Schon bereute Andrea Sander, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Aber wie hieß es so schön: Wer A sagt, muss auch B sagen.

»Die hübsche Latina, die Sie gestern auf der Straße fast aufgefressen hat.«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Clemens Kremling den Kopf in den Nacken warf und lachte, dass die Wände wackelten. Er hörte erst auf, als er Andreas Entsetzen bemerkte.

»Bitte verzeihen Sie mir. Ich lache nicht über Sie. Aber wenn ich das Elvira erzähle …« Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Sie ist meine Nichte.«

»Aber … aber …«

»Die Hautfarbe, ich weiß. Meine Schwester Clara hatte schon immer ein Faible für Südamerika. Sie schwört, in einem früheren Leben dort zu Hause gewesen zu sein.« Er hob die Hände. »Für mich ist das Hokuspokus. Für Clara eine Wahrheit. Deshalb ist sie schon mit 18 Jahren nach Brasilien gegangen und hat dort geheiratet. Elvira ist ihre einzige Tochter und regelmäßig bei ihrem alten Onkel zu Gast. Wissen Sie, ich habe selbst keine Kinder. Die Kleine ist mein Augenstern.«

Andrea sank auf den Schreibtischstuhl. Das alles war zuviel für sie.

»Und ich dachte …« Mitten im Satz brach sie ab.

»Es ehrt mich, dass Sie mich offenbar für so attraktiv halten. Aber ehrlich gesagt bin ich anders als viele meiner Geschlechtsgenossen.« Clemens schüttelte den Kopf. »In meinen Augen sind diese jungen Dinger noch keine Frauen. Sie haben kaum Lebenserfahrung und außer einem schönen Körper und makelloser Haut nicht viel zu bieten. Worüber sollte ich mich mit ihnen unterhalten? Umgekehrt gilt das natürlich auch. Was kann ich einem jungen Mädchen bieten? Ich habe keine Lust mehr, nächtelang durch irgendwelche Clubs zu ziehen. Laute Musik ist mir ein Gräuel. Ich hasse Einkaufen und gehe stattdessen viel lieber wandern. Apropos Natur.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Ich liebe natürliche Menschen. Heutzutage weiß man doch nicht mehr, was an diesen jungen Frauen noch echt ist. Ganz im Gegensatz zu Ihnen.« Im Normalfall hätte sein Lächeln einen Sturm der Gefühle in Andrea entfesselt. Doch sein letzter Satz hatte alles zerstört. Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf. Ein Glück, dass in diesem Augenblick das Telefon klingelte. Es bewahrte sie vor einer Antwort, die sie auf keinen Fall geben wollte.

*

Seite an Seite mit Mia Paulsen wanderte Dr. Norden durch den Klinikgarten. Ein weiteres Treffen war nötig gewesen, um Andrea Sanders Operation zu besprechen. Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Die ehemals kleinen Bäume und Sträucher waren längst erwachsen geworden und reckten ihre Zweige in den weiß-blauen Himmel. Im Sommer boten sie zuverlässigen Schutz vor neugierigen Blicken. Doch das fallende Laub hatte große Lücken ins Blätterdach gerissen. Hier und da entdeckte Daniel Norden neugierige Gesichter an den Fenstern. Köpfe, die tuschelnd zusammengesteckt wurden. Sie störten ihn nicht. Er hatte wahrlich Besseres zu tun, als sich gegen die heftig brodelnde Gerüchteküche zu wehren.

»Wahrscheinlich ist Frau Sanders Immunsystem verantwortlich für das verheerende Ergebnis der Faltenunterspritzung«, erklärte er und bückte sich nach einem bunt gefärbtem Blatt. Mia Paulsen lächelte milde, als wäre er nicht ganz bei Trost.

»Sieh mal einer an. Ein Naturliebhaber«, spottete sie. Ehe Daniel antworten konnte, fuhr sie fort. »Das deckt sich mit unseren Untersuchungen. Aber es bleibt natürlich ein Unsicherheitsfaktor.«

»Und genau der macht einen operativen Eingriff zu einem Risiko.« Der Kies knirschte unter ihren Schritten.

»Wissen Sie, was ich vor riskanten Operationen immer mache?«

»Sagen Sie es mir.« Daniel gab vor, ihren Blick nicht bemerkt zu haben.

»Ich gehe mit guten Freunden zum Essen. Das entspannt und lenkt zumindest ein paar Stunden lang von den Problemen ab.«

Nicht schon wieder! Innerlich verdrehte Daniel die Augen.

»Ist das eine Einladung?«

Mia blieb stehen und drehte sich zu ihm um.

»Diesmal ist es kein Arbeitsessen. Wir sprechen nicht über den Beruf, studieren keine Akten. Und die Rechnung wird nicht geteilt. Na, wie klingt das?«

Einen Moment lang fürchtete Daniel, sie würde ihm einen Fussel vom Kittel schnipsen, wie Ehefrauen es gern taten. Glücklicherweise verzichtete sie darauf. Gelegenheit für ihn, die passenden Worte anzubringen, die er sich zurechtgelegt hatte.

»Mia, Sie sind doch eine intelligente Frau. Warum wollen Sie nicht verstehen, dass ich ein glücklich verheirateter Mann bin. Sie beißen sich an mir die Zähne aus.«

Mit jedem Wort wurde ihre Miene finsterer, bis sie schließlich so unheilverkündend war wie die Wolken, die sich unbemerkt am Horizont aufgetürmt hatten.

Sie stand vor ihm und ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Augen schossen wütende Blitze.

»So etwas hat noch kein Mann gewagt«, zischte sie. »Das wird Ihnen noch leid tun.« Ein letzter Blick, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte über den Kies davon. Unterwegs knickte sie um, wäre um ein Haar gestürzt und rappelte sich erst im letzten Moment wieder hoch. Doch da war Daniel Norden schon in einem der Seiteneingänge verschwunden.

*

»Haben Sie das gesehen?«, feixte Dr. Lammers, der noch immer am Fenster stand und in den Klinikgarten hinabsah. »Da hat sich unser Chef doch glatt eine Abfuhr eingehandelt.«

»Haben Sie was auf den Augen?«, fragte die Notärztin Christine Lekutat, die kurz zuvor zufällig des Weges gekommen war. »Es ist doch klar wie Kloßbrühe, dass der Chef ihr einen Korb gegeben hat.«

»Das sehe ich genauso!«, stimmte Dr. Klaiber zu, der die Kollegin begleitete. »Sonst wäre sie nicht weggelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn.« Er nahm Lammers ins Visier. »Überhaupt verstehe ich gar nicht, was Sie an dieser Geschichte so fasziniert. Sie sind ja schlimmer als die beiden Lästerschwestern zusammen. Sind Sie etwa eifersüchtig auf den Chef?«

Lammers ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er dem Kollegen das süffisante Lächeln auf dem Gesicht geschlagen.

»Ich versuche lediglich, die Ehre und den guten Ruf der Klinik zu retten«, erwiderte er zähneknirschend.

Christine Lekutat prustete los.

»Ehre? Seit wann verstehen Sie denn etwas von Ehre?« Immer noch kichernd packte sie Dr. Klaiber am Arm und zog ihn mit sich.

Volker Lammers starrte den beiden nach. Als sie um die Ecke verschwunden waren, holte er aus und versetzte der Palme in der Ecke einen Tritt. Doch der Topf war nicht aus Plastik. Wie ein Pfeil bohrte sich der Schmerz durch seinen Zeh hinauf in den eben erst verheilten Mittelfußknochen. Tränen schossen ihm in die Augen. »So ein verdammter Mist!«, keuchte er, als zu allem Überfluss auch noch sein Handy klingelte. Fee Norden! Konnte es an diesem Morgen noch schlimmer kommen?

»Lammers, wo stecken Sie?« Ihre Stimme klingelte in seinem Ohr.

»Seit wann bin ich Ihnen Rechenschaft schuldig?«, knurrte er, während er den Gang entlang humpelte.

»Sind Sie nicht. Aber wenn eine OP angesetzt ist, zu der Sie nicht erscheinen, werde ich ja wohl nachfragen dürfen.«

»Wie? OP?« Lammers verstand kein Wort.

Fee seufzte.

»Es wäre gut, wenn Sie ab und zu einen Blick auf Ihr Tablet werfen würden. Ich habe gleich heute Morgen eine Änderung eingetragen. Herr Steinhilber hat es sich anders überlegt. Er ist einverstanden, dass wir seinen Enkel operieren.« Sie machte keinen Hehl aus ihrer Freude. »Und jetzt beeilen Sie sich bitte. Wir fangen in fünf Minuten an.« Es klickte in der Leitung.

Volker Lammers ließ das Handy wieder in der Kitteltasche verschwinden. Es gab Tage, an denen man schon morgens wusste, dass man lieber im Bett geblieben wäre. Dieser war einer davon.

*

»Der Operationstermin ist für dreiz …« Mitten im Satz hielt Dr. Daniel Norden inne. Nie zuvor hatte er Andrea Sander weinen sehen. »Haben Sie Schmerzen?«

Blind vor Tränen suchte sie zwischen Akten, Umschlägen und Unterlagen nach den Taschentüchern.

»Diesmal hat es nichts mit dem Gesicht zu tun.« Sie betupfte die entzündete Haut.

»Sondern?«

Andrea kämpfte mit sich. Aber wem sollte sie vertrauen, wenn nicht ihrem Chef?

»Herr Kremling.«

»Der Leiter der Sozialstation?«

Vergeblich versuchte sie, der Tränenflut Herr zu werden. Es brauchte zwei weitere Taschentücher und tröstende Worte von Dr. Norden, ehe sie fortfahren konnte.

»Er gefällt mir schon, seit er hier angefangen hat.«

Danach fiel es Daniel nicht weiter schwer, eins und eins zusammenzuzählen.

»Und nachdem alle Männer auf junge Frauen stehen, haben Sie beschlossen, sich die hart erarbeiteten Falten unterspritzen zu lassen.«

Anderea nickte.

»Aber es geht noch weiter«, sagte sie mit Grabesstimme. »Wissen Sie, was er mir heute erzählt hat? Dass er ältere Frauen viel interessanter findet als junges Gemüse.«

Daniel stand vor dem Schreibtisch und wunderte sich. Verstehe einer die Frauen!

»Wo ist das Problem?«

Warum waren Männer nur manchmal so schwer von Begriff?

»Wenn er erfährt, dass ich nicht in ein Wespennest, sondern in eine Hyaluronnadel gefallen bin, lässt er mich fallen wie eine heiße Kartoffel.«

Daniel bemühte sich redlich, ernst zu bleiben.

»Ich finde es nicht verwerflich, so gut wie möglich aussehen zu wollen. Aber nicht nur für andere. Zuerst einmal für sich selbst.«

»Wahrscheinlich habe ich mich in meinem Leben viel zu sehr nach anderen gerichtet«, murmelte Andrea Sander, als sich draußen auf dem Flur Schritte näherten. Wie eine Salve Gewehrkugeln schossen sie herein.

»Sieh mal einer an. Die beiden Verbündeten schmieden ihr Eisen.«

Nie zuvor hatte Dr. Norden den Verwaltungsdirektor so gesehen. Auf Dieter Fuchs’ bleichen Wangen zeigten sich hektische rote Flecken. Eine Strähne des schütteren Haares war von der Glatze gerutscht und hing ihm ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung beförderte er sie wieder zurück an ihren Platz.

»Herr Fuchs!« Daniel hielt die Tür zu seinem Büro auf. »Bitte, kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.«

Mit einem vernichtenden Blick auf Andrea Sander marschierte der Verwaltungsdirektor ins Zimmer. Er wartete, bis Daniel die Tür geschlossen hatte. Dann legte er los.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie im Begriff sind, an unserem Haus eine riskante Schönheitsoperation durchzuführen.«

»Lassen Sie mich raten: Sie hatten Besuch von Frau Paulsen.«

»Eine Schande, dass Sie es nicht für nötig halten, mich persönlich über diesen höchst zweifelhaften Eingriff zu informieren. Noch dazu bei dem hohen Risiko, das droht. Haben Sie schon einmal über die Konsequenzen für unsere Klinik nachgedacht, wenn die Sache schief geht? Frau Dr. Paulsen wird nicht zögern, die Angelegenheit an die ganz große Glocke zu hängen.«

Die beiden Männer standen sich wie Duellanten gegenüber. Doch im Gegensatz zu Dieter Fuchs war Daniel völlig ruhig.

»Hat Frau Dr. Paulsen Ihnen auch verraten, dass sie nicht ganz unschuldig an der ›Sache‹ ist?«

Der Verwaltungsdirektor zog die Stirn kraus und blinzelte ein paar Mal. Diese Gelegenheit nutzte Dr. Norden, um fortzufahren.

»Frau Sander hat ein Recht auf eine angemessene Behandlung ihrer Beschwerden. Nachdem sie das Vertrauen in die Fähigkeiten von Dr. Paulsen verloren hat, werde ich mich darum kümmern, die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen. Frau Sander hat einer Operation bereits zugestimmt. Die Kosten übernimmt übrigens die Krankenkasse.«

Dieter Fuchs räusperte sich.

»Oh … ja … na ja … also … das ist ja großartig. Wenn das so ist, dann respektiere ich den Wunsch Ihrer Assistentin natürlich.« Er nickte Daniel Norden zu und ging zur Tür. »Führen Sie diesen Eingriff durch. Aber bitte hängen Sie die Sache nicht an die große Glocke. Man kann ja nie wissen.« Mit diesen Worten verschwand er aus dem Büro. Als die Tür mit einem Klicken hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Daniel Norden auf. Dr. Mia Paulsen hatte endgültig verloren. Auf der ganzen Linie.

*

Kaltes Wasser plätscherte über Fee Nordens Hände hinab ins Waschbecken. Besonders vor dieser Operation hatte sie die Abkühlung dringend nötig. Sie sah hinüber zu ihrem Kollegen Volker Lammers, der neben ihr stand. Die Seife schäumte zwischen seinen Fingern.

»Vielen Dank, dass Sie mir assistieren.« Inzwischen hatte sie Übung darin, ihm Friedensangebote zu machen.

Er hatte Übung darin, sie abzulehnen.

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein.« Fee lachte und stellte das Wasser ab.

Wenig später standen sie nebeneinander am Operationstisch. Julius schlummerte wie ein Baby. Das EKG piepte gleichmäßig, das Beatmungsgerät schnaufte im Takt dazu. Über allem lag der vertraute Geruch nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln.

»Dann legen wir mal los!« Sie nickte ihrem Kollegen zu und sah hinüber zu Ramona Räther, die die Anästhesie übernommen hatte. »Wie sieht es aus?«

»Blutdruck lehrbuchmäßig, Sauerstoffsättigung bei 95 Prozent.«

»Ausgezeichnet. An die Arbeit.« Fee nickte Lammers zu und streckte die Hand aus. Sie zitterte kaum merklich. »Skalpell.« Wie jedes Mal hoffte sie auf diesmal auf ein Wunder. Wie immer wurde sie auch diesmal nicht enttäuscht. Sobald sie das kühle Metall durch den Latexhandschuh fühlte, wurde sie ruhig. Sicher setzte sie den Schnitt.

Eine Weile arbeiteten Ärzte und Schwestern vor sich hin.

»Ich erweitere jetzt das Neuroforamen. Sie legen die Nervenwurzel wieder frei«, erklärte sie, nachdem sie sich bis zur kritischen Stelle vorgearbeitet hatte.

»Jetzt lassen Sie mal die Katze aus dem Sack«, verlangte Dr. Lammers und setzte die Fräse an. »Wie haben Sie den alten Steinhilber dazu gebracht, dem Eingriff doch zuzustimmen?«

Die Haut um Fees Augen kräuselte sich.

»Ganz einfach. Ich habe Julius’ Vertrauen gewonnen. Den Rest hat der junge Mann selbst erledigt.«

»Ich wusste ja, dass das nicht Ihr Verdienst war.«

Sogar durch die Maske hindurch meinte Fee, Lammers’ Grinsen zu sehen. Doch diesmal war es ihr egal. Julius konnte geholfen werden. Das war alles, was zählte.

*

Den Rest des Vormittags wurde Andrea Sander durch sämtliche Untersuchungen geschleust, die für die Vorbereitung auf die Operation wichtig waren.

»So, jetzt dauert es nicht mehr lange«, versprach Schwester Elena und legte die Sonnenbrille in die Nachttischschublade. »Die brauchen Sie ja jetzt nicht mehr. Ich komme in ein paar Minuten wieder und bringe Sie in den OP.«

Andrea rang sich ein Lächeln ab.

»Vielen Dank.«

»Nichts zu danken. Das ist mein Job.« Elena zwinkerte der Kollegin zu und verließ das Zimmer.

Andrea legte sich zurück in die Kissen und hing ihren Gedanken nach. Fragen über Fragen türmten sich wie ein Gebirge vor ihr auf. Jetzt verstand sie sich selbst nicht mehr. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Warum hatte sie sich nicht im Vorfeld besser über die Risiken informiert? Was, wenn Dr. Norden ihr nicht helfen konnte? Eine einsame Träne rann über ihre Wange. Genauso einsam würde sie in Zukunft sein.

»Hallo?«

Clemens’ Stimme riss Andrea aus ihren Gedanken. Ausgerechnet er! Konnte es noch schlimmer kommen?

»Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber Schwester Elena sagte mir, dass Sie gleich operiert werden. Da musste ich doch vorbeischauen und Ihnen viel Glück wünschen.« Seine Stimme war so weich wie sein Blick. Er beugte sich ein Stück weiter vor. »Wenn Sie mich fragen, sehen die Stiche gar nicht mehr sooo schlimm aus.

Die Brille! Wo hatte Elena die Brille nur verstaut. Andrea war so aufgeregt, dass sie sich nicht erinnern konnte.

Clemens war mindestens genauso erschrocken wie sie.

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Ganz im Gegenteil.«

»Schon gut.« Sie sank in die Kissen zurück. »Dann soll es jetzt wohl so sein.«

Clemens Krempling stand am Fußende. Halt suchend legte er die Hände auf den Chrombügel.

»Wie meinen Sie das?«

»Das … das waren keine Wespen, die mich so verunstaltet haben, sondern eine Schönheitschirurgin.«

»Was haben Sie denn bei einer Schönheitschirurgin verloren?«, fragte Clemens so spontan, dass sich Andrea nur noch mehr schämte. »Sie sind doch so eine attraktive Frau.«

Am liebsten hätte Andrea aufgeheult. »Komisch nur, dass Sie das vorher nicht bemerkt haben.«

Warum lächelte er den jetzt? Und warum nur erinnerte er sie plötzlich an einen Lausbuben, der die letzten Gummibärchen aus dem Küchenschrank geklaut hatte?

»Was macht Sie da so sicher?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.

»Na ja … ich … Sie …«

»Ich bin mindestens genauso schüchtern wie Sie«, unterbrach Clemens sie. »Haben Sie sich denn nie darüber gewundert, dass ich jede Akte persönlich bei Ihnen abgeliefert habe?«

Andreas Augen wurden kugelrund.

»Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht in Ohnmacht zu fallen«, platzte sie heraus und stimmte in sein Lachen mit ein.

Dieses erste gemeinsame Lachen war der Wendepunkt in ihrer Beziehung. Clemens kam um das Bett herum, setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand.

»Nachdem du so offen zu mir warst, kann ich dir auch mein Geheimnis verraten.«

Andrea spürte, wie ihre Hand schwitzte. Hoffentlich stört es ihn nicht!, ging es ihr durch den Sinn, bis sie merkte, dass es ihm genauso erging.

»Jetzt erzähl’ mir bloß nicht, dass du seit 25 Jahren glücklich verheiratet bist.«

»Nein.« Clemens schüttelte den Kopf. »Dann würde ich mir sicher nicht die Haare färben, um der Frau meines Herzens zu gefallen.« Er senkte den Blick. Doch die roten Flecken auf seinen Wangen verrieten ihn.

»Du bist gar nicht braunhaarig?«

»Mehr grau«, verriet er.

»Wunderbar. Ich liebe silber.«

In diesem Moment gab es keine Fragen mehr. Ihre Blicke versanken ineinander. Wie magisch angezogen wollte Clemens sich über sie beugen und sie küssen. Ausgerechnet in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Abrupt blieb Dr. Norden stehen.

»Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht …«

»Schon gut, Chef.« Andrea winkte Daniel ans Bett. »Gut, dass Sie kommen. Ich habe da eine Frage.«

»Nur zu! Ich bin gespannt, ob ich sie beantworten kann.«

»Sie sagten, es bestünde die Möglichkeit, diese Entzündung auch ohne Operation in den Griff zu bekommen.« Andreas Blick huschte hinüber zu Clemens. Sein in die Höhe gereckter Daumen machte ihr Mut.

»Das ist richtig.« Daniel nickte. »Neben entzündungshemmenden Präparaten und einer Therapie zur Stärkung des Immunsystems gibt es auch ein antibakterielles Makeup, das den Heilungsprozess beschleunigen kann«, teilte er ihr das Ergebnis seiner Recherchen mit. »Mit viel Geduld sind Sie in ein paar Wochen wieder ganz die Alte.«

»Und mit viel Liebe geht es vielleicht ein bisschen schneller«, ergänzte Clemens, ehe er seinen Plan in die Tat umsetzte und Andrea vor den Augen ihres Chefs küsste. Das Versteckspiel war ein für alle Mal vorbei.

*

»Er ist wirklich wieder aufgewacht!« Emil Steinhilber stand am Bett seines Enkels und verfolgte die Bemühungen der Ärztin mit tränenverschleiertem Blick.

»Klar bin ich wieder aufgewacht«, krächzte Julius. »Was hast du denn gedacht?« Er zwinkerte Fee Norden zu, die seine Hand mit einem Hämmerchen bearbeitete.

»Die moderne Medizin macht Fortschritte«, erklärte sie lächelnd und griff nach Julius’ Fingern. »Drückst du bitte ein Mal so fest du kannst?«

»Nicht, dass Sie sich hinterher beschweren.«

»Auf keinen Fall. Ich schwöre!« Fee reckte drei Finger der rechten Hand in die Luft.

Volker Lammers, der neben ihr stand, schüttelte stumm den Kopf. Was für ein Affentheater!

Julius aber lachte und drückte zu. Emil Steinhilber bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er sprang vom Stuhl auf.

»Was ist los? Ist die Operation misslungen?«

Felicitas war selbst erschrocken. Sie hatte nicht den kleinsten Druck gespürt. Die Schützenhilfe kam aus unerwarteter Richtung.

»Die Operation ist lehrbuchmäßig verlaufen.«

Überrascht drehte sie sich zu ihrem Stellvertreter um. Volker hatte sein Pokerface aufgesetzt.

»Oh!«

»Warum wundert Sie das?«, fragte er. »Immerhin war ich ja dabei. Da kann gar nichts schief gehen.«

»Und ich dachte schon …«

»Das Denken sollten Sie den Männern überlassen.«

Kopfschüttelnd drehte sich Felicitas wieder zu Julius um. Vielleicht würde ihr irgendwann ein Mittel einfallen, um Volker Lammers’ harte Schale zu knacken und den weichen Kern zu finden, den er zweifellos hatte. Sicher war sie aber nicht und konzentrierte sich lieber wieder auf ihren Patienten.

»Du darfst nicht verkrampfen, Julius. Denk einfach an einen besonders schwierigen Sprung mit deinem Scooter. Wenn du den Lenker richtig fest in die Hände nehmen musst … ja, genauso!«, jubelte sie, als sie den Druck spürte. Verhalten und kraftlos zwar, aber immerhin. »Das hast du großartig gemacht.«

Emil Steinhilber atmete auf und sank zurück auf den Stuhl. Julius stieß die gesunde Faust in die Luft.

»Yeah, der nächste Contest kann kommen! Und Sie bekommen Freikarten.«

Volker Lammers wollte sich schon bedanken, als Julius fortfuhr. »Sie, Frau Dr. Norden. Und Ihr Mann und Ihre Kinder.«

Lammers klappte den Mund wieder zu. Fee dagegen beugte sich über den Jungen und schloss ihn kurzerhand in die Arme. Aus weiter Ferne hörte sie ein »Danke!« Die Stimme gehörte Emil Steinhilber. Doch viel wichtiger als sein Dank war die Umarmung seines Enkels Julius.

*

Oskar Roeckl stand vor dem Krankenzimmer seiner Liebsten und hob die Hand, um anzuklopfen, als die Tür von innen aufgerissen wurde.

»Dann messen Sie Ihren Blutdruck doch selbst«, schimpfte die Schwester und stürmte davon.

»Ich wurde an den Augen operiert. Was hat mein Blutdruck damit zu tun?«, schickte Lenni ihr nach.

Oskar rollte mit den Augen. So kannte er seine Lenni. Aber um sie weiterhin zu lieben, musste sich etwas ändern. Er holte tief Luft und trat ein.

»Was wollen Sie schon wieder hier? Ich habe doch gesagt, dass …«, schimpfte Lenni schon wieder los, als sie die Schritte hörte. Aber was war das? Mitten im Satz hielt sie inne und lauschte. Die Falten in ihrem Gesicht glätteten sich. »Sie sind nicht die Schwester!«

»Stimmt auffallend.«

Lenni schnappte nach Luft. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie auch die Augen aufgerissen. Doch Daniel hatte ihr den Verband wieder aufgenötigt. So musste sie sich damit begnügen, nach Oskars Hand zu tasten.

»Endlich! Da bist du ja wieder.« Er war es wirklich. Sie fühlte es an der vom vielen Spülen rauen Haut. An den Schwielen vom Tragen der schweren Kisten mit Saft- und Wasserflaschen und all den anderen Waren, mit denen der Kiosk bestückt werden musste. Zu gern hätte sie die geliebte Hand an ihre Wange gezogen. Doch ihr Stolz verbot ihr solche Rührseligkeiten. »Was fällt dir eigentlich ein, mich ausgerechnet jetzt im Stich zu lassen?«

Oskar wusste, dass Lenni damit ihre Rührung überspielte. Trotzdem zerplatzte seine Hoffnung in diesem Moment wie eine Seifenblase. Sie würde sich niemals ändern! Vielleicht war Hannah doch nicht so unrecht gewesen. Warum nur hatte er ihre Nummer nicht aufgeschrieben?

Sein Schweigen verunsicherte Lenni.

»Was ist denn? Warum sagst du nichts?«

»Wenn du nur wieder auf mir herum hackst, kann ich genausogut wieder gehen. Und dann komme ich nicht zurück. Nur damit du es weißt.« Er wollte seine Hand zurückziehen. Mit erstaunlicher Kraft hinderte Lenni ihn daran.

»Meine Güte, seit wann bist du so eine Mimose?«

»Ich bin keine Mimose. Du benimmst dich einfach manchmal unmöglich. Sogar die Schwester vertreibst du.«

»Weil sie keine Ahnung hat vom Blutdruckmessen.«

»Wahrscheinlich hast du sie mit deinem Gemecker total durcheinander gebracht.«

Mit so viel Gegenwind, noch dazu von allen Seiten, hatte Lenni nicht gerechnet. Sie öffnete den Mund um ihn im nächsten Augenblick wieder zuzuklappen. Eine Weile lag sie im Bett und nagte an ihrer Unterlippe.

»Du bist schuld, dass ich die Schwester angemault habe«, murmelte sie schließlich. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, dass du nicht zurückkommst. Dass du dir eine andere suchst, die schöner ist als ich.«

»Darum geht es doch überhaupt nicht …«

Lenni hob die Hand.

»Ich weiß. Das hat die Frau Doktor auch schon gesagt.

Oskar setzte sich auf die Bettkante und seufzte tief. Er betrachtete Lennis Hand zwischen seinen Händen.

»Manchmal wundere ich mich wirklich, wie sie es so lange mit dir ausgehalten haben.«

Lenni schluckte.

»Bin ich wirklich so schlimm?«

»Manchmal schon.«

»Vielleicht … vielleicht liegt es ja daran, dass der Kiosk so viel Arbeit macht und wir so wenig Zeit füreinander haben«, krächzte sie so zerknirscht, dass es Oskar trotz allem warm wurde ums Herz. Wusste er nicht auch, dass seine Lenni das Herz am richtigen Fleck hatte? Dass er sich auf sie verlassen konnte, wann immer Not am Mann war? Dass sie einfach nicht gelernt hatte, dass Gefühle keine Schande waren?

»Das kann schon sein. Wir sollten mit Tatjana sprechen. Vielleicht gibt es eine Lösung für den Kiosk.«

»Ja, das machen wir.« Lenni wusste, was auf dem Spiel stand. »Aber bis dahin habe ich noch eine Überraschung für dich.«

Oskar zog eine Augenbraue hoch.

»Eine Überraschung?«

Lenni zog die Hand weg und tastete auf dem Nachtkästchen herum. Endlich bekam sie den Umschlag zu fassen, den Fee dorthin gelegt hatte.

»Hier, das ist für dich.« Sie hielt ihrem Liebsten das Kuvert hin.

Oskar zog die Lasche hoch. Zwei Eintrittskarten fielen heraus. Edel, mit geschwungenen Buchstaben, in Gold gedruckt. Das waren doch nicht etwa …? Umständlich nestelte er seine Brille aus dem Etui. Gleich darauf schnappte er nach Luft.

Lenni war zufrieden mit seiner Reaktion.

»Ich wusste, dass du dich freust.«

Oskar gab sich einen Ruck.

»Und wie!« Lachend beugte er sich über sie und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, während die Eintrittskarten für den Ball im Bayerischen Hof leise raschelnd zu Boden segelten.

Chefarzt Dr. Norden Box 4 – Arztroman

Подняться наверх