Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Das hätte nicht passieren dürfen, es tut mir leid.« Wasser spritzte in das Chromwaschbecken. Dr. Daniel Norden stellte den Wasserhahn ab. Benjamin Gruber stand in der Tür zum Operationsbereich. Er hatte die Hände in die Kitteltaschen gesteckt und wagte es kaum, den Rücken seines Chefs Dr. Norden anzusehen.

Daniel trocknete sich die Hände ab. Er warf das sonnengelbe Handtuch in den Wäscheeimer in der Ecke. Dann drehte er sich zu dem jungen Assistenzarzt um.

»Neulich haben Sie die Operationsassistenz auch dem Kollegen überlassen. Was ist eigentlich los mit Ihnen? Sie sind doch kein blutiger Anfänger mehr.«

Benjamin wusste genau, was los war mit ihm. Sagen wollte er es trotzdem nicht. Nicht, bevor er herausgefunden hatte, welche Ursache seine Beschwerden hatten. Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung.«

Daniel drückte auf den Spender mit der Handcreme. Sensitiv und entzündungshemmend. Mit dem frischen Duft nach Aloe Vera. Er verrieb die Creme auf der schrumpeligen Haut. Der allerschönste Moment – abgesehen vom erfolgreichen Verlauf eines Eingriffs – war das Gefühl frischer Luft auf den verschwitzten Händen. Der zweitschönste war die Creme. Wenigstens ein bisschen Trost in diesen schweren Zeiten.

»Also gut. Das ist Ihre Sache. Aber wenn es Ihnen jetzt wieder gut geht, können Sie sich am Operationsbericht versuchen. Die Kollegin Lektutat muss sich um die Patientin kümmern.«

»Natürlich. Ich erledige das. Sie werden keinen Grund zum Klagen haben.« Wie angewurzelt stand Benjamin immer noch in der Tür. Er dachte auch noch nicht daran zu gehen, als Daniel Norden an ihm vorbei den Operationsbereich verließ.

»Wirklich alles in Ordnung?«

»Ja, ja. Ich bin schon auf dem Weg.«

Daniel wartete darauf, dass ihm der junge Arzt folgte. Am Ende des Gangs trennten sich ihre Wege. »Bitte legen Sie mir den Bericht vor«, bat der Klinikchef noch. Erst dann ging er kopfschüttelnd davon.

Nur ein paar Schritte weiter hatte er Benjamin Gruber vergessen. Kein Wunder, gab es doch genug andere Dinge, über die er sich Sorgen machen musste. Zum Beispiel seine Frau Felicitas.

Nach einem Herzinfarkt und einer Kopfverletzung wusste sie nicht mehr, wer Freund und Feind war und glaubte ausgerechnet ihrem ärgsten Konkurrenten Volker Lammers. Seit Jahren trachtete er nach ihrem Posten. Diesmal standen die Zeichen wirklich günstig. Wenn Felicitas nicht bald ihre Erinnerung wiederfand, konnte Daniel Norden nichts mehr für seine Frau tun. Volker Lammers wäre am Ziel seiner Wünsche angelangt. Das war die eine Seite der Geschichte. Schlimm genug. Doch was aus seiner Ehe werden sollte, wenn Fee nicht wieder gesund wurde, darüber wollte Daniel gar nicht erst nachdenken.

Besser, sich auf den nächsten Patienten zu konzentrieren. Er besorgte sich die Akte aus dem Schwesternzimmer. Ein Auge auf den Flur gerichtet, überflog er die Informationen, die ein Kollege gesammelt hatte.

Tobias Lichte, 29 Jahre alt, am Vorabend eingeliefert. In den vergangenen Jahren litt er immer wieder unter stechenden Schmerzen im rechten Abdomen, die in den Rücken ausstrahlten. Er war fieberfrei, der Bauch weich und ohne tastbare Raumforderung, mit leichter Druckempfindlichkeit im rechten unteren Quadranten. Wegen des wiederholten Auftretens der Symptome war ein kontrastmittelverstärktes Computertomogramm angefertigt worden. Dabei hatte sich ein vergrößerter Blinddarm als Übeltäter gezeigt.

Daniel Norden klappte die Akte zu, klopfte und betrat das Zimmer.

Der junge Mann wartete im Bett auf den Besuch des Arztes und ­vertrieb sich die Zeit mit seinem Handy.

Dr. Norden kannte die Melodie des Computerspiels. Sein jüngster Sohn Janni spielte das Autorennspiel selbst. Einmal hatte er sich herabgelassen, seinem Vater die Strecken zu zeigen. Er hatte ihm erklärt, wie man mit den PS-starken Autos mächtige Sprünge machte, Überschläge hinlegen und sich in Wettbewerben mit anderen Spielern messen konnte. Seitdem hatte er seinem Vater kein Spiel mehr erklärt.

»Das Spiel kenne ich«, begrüßte Daniel Norden den jungen Mann und warf einen Blick über seine Schulter auf den kleinen Bildschirm. »Magic Cars.«

»Ich bin schon ganz schön weit.« Tobias Lichte starrte auf das Display, lenkte seinen Wagen mit angehaltenem Atem über den anspruchsvollen Parcours. Eine scharfe Kurve bereitete dem Vergnügen ein Ende. »Mist. Schon wieder rausgeflogen.«

»Sie hätten weiter ausholen müssen«, erklärte Daniel. »Darf ich mal?«

»Natürlich. Gern.« Sichtlich amüsiert reichte Tobi sein Mobiltelefon an den Klinikchef weiter.

»Dann wollen wir mal sehen.« Daniel startete das Spiel. Zehn Sekunden später war der Spaß auch schon wieder vorbei. »Es hat einen Grund, warum mein Sohn mir keine Spiele mehr zeigt.« Schmunzelnd gab Daniel das Gerät zurück. »Wie heißt es so schön: Schuster, bleib bei deinen Leisten.«

»Wenn Sie meinen Blinddarm genauso schnell entfernen, wie Sie das Auto an die Wand gesetzt haben, sind Sie mein Mann«, erwiderte Tobias.

Sein Lachen klang nicht echt.

*

Nach und nach erinnerte sich Felicitas. Wenigstens an gestern. Sie wachte auf und wusste: Sie lag in der Behnisch-Klinik, weil sie einen Herzinfarkt gehabt hatte. Infolgedessen war sie gestürzt.

Eine schwere Gehirnerschütterung, möglicherweise in Kombination mit der Herzattacke, war dafür verantwortlich, dass sie sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern konnte. Sie litt unter einer ausgeprägten retrograden Amnesie. Die jungen Menschen, die sie besuchten, waren ihre Kinder. Der Mann, der nicht mehr versuchte, sie zu küssen, ihr Ehemann Daniel. Er machte gemeinsame Sache mit einem Victor Lammers. Oder hieß er Volker? Egal. Jedenfalls hatte dieser Lammers ihr gesagt, dass Daniel schon eine neue Stelle in der Klinik für sie suchte. Eine, der sie in Zukunft gerecht werden konnte. Denn dass sie nicht mehr in der Lage sei, die Pädiatrie zu führen, sei ja wohl sonnenklar. Diesem Dr. Daniel Norden konnte sie also nicht mehr trauen. Aber auch bei Lammers hatte sie ein schlechtes Gefühl.

Felicitas saß am Tisch am Fenster ihres Krankenzimmers und fuhr sich über die Augen. Wenn sie sich nur erinnern könnte … Doch so sehr sie sich auch abmühte, die Türen in ihrem Kopf blieben verschlossen.

Es klopfte, und Fee drehte sich erleichtert um. Endlich musste das Gedankenkarussell einen Stopp einlegen.

»Frau Schramm!«

Sie erkannte die Psychologin, eine hagere Frau Anfang Vierzig mit einem Gesicht wie ein grob behauener Holzklotz.

Gerda Schramm reichte ihrer Patientin eine kühle Hand mit rauer Haut.

Wie Baumrinde, wusste Fee, noch bevor sie sie nahm und drückte. Wenn sie sich doch auch an den Rest ihres Lebens so gut erinnern könnte!

»Sie erinnern sich an mich! Das ist ein gutes Zeichen.«

»Ich erinnere mich an alles nach dem Unfall. Aber was ist mit dem Davor?«

Die Psychologin setzte sich und schlug ein Bein über das andere. Felicitas befürchtete, die Beine könnten bei dieser waghalsigen Bewegung abbrechen.

»Dazu kann ich leider keine verlässlichen Angaben machen«, erwiderte sie. Ihr Fuß wippte wie ein Ast im Wind. »Es ist denkbar, dass der Zeitraum, an den Sie sich nicht erinnern, mit der Zeit kleiner wird. Es kann sein, dass auf der weißen Landkarte des Vergessens plötzlich farbige Flecken auftauchen. Wie entdecktes Land.« Der Vergleich schien ihr zu gefallen. Gerda Schramm lächelte. »Es wäre auch denkbar, dass Ihnen alles auf einen Schlag wieder einfällt. Oder auch nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist das Problem an der Sache: Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

Diese Worte stürzten Felicitas Norden in tiefe Verzweiflung. Als ihr Daniel von der Psychologin erzählt hatte, hatte sie so große Hoffnungen gehabt. Und nun?

»Ich dachte, es gäbe Möglichkeiten, Erinnerungen wiederzufinden.«

»Das gilt leider nur dann, wenn ein Mensch seine Erinnerung durch ein traumatisierendes Erlebnis verloren hat. Nicht aber bei einem körperlichen Auslöser.«

Fee saß da wie ein Mädchen, das den Weg nach Hause nicht mehr fand.

»Und was soll ich jetzt tun?«

Die Psychologin setzte sich kerzengerade auf und nahm ihre Patientin ins Visier.

»Trainieren Sie ihr Gedächtnis. Gebrauchen Sie Ihren Kopf. Spielen Sie Computerspiele. Lösen Sie Sudoku-Rätsel. Und vor allen Dingen: Arbeiten Sie so schnell wie möglich wieder.« Sie erhob sich. Mehr gab es in diesem Fall nicht zu tun. »Je mehr Sie Ihre grauen Zellen füttern, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erinnerungen zurückommen.« Wieder spürte Felicitas die Baumrindenhand in ihrer. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

*

Dr. Gruber saß am Schreibtisch und starrte auf den Computerbildschirm. Da war es wieder, dieses Flimmern in den Augen. Ein Teil des Bildschirms löste sich in irisierenden Regenbogenfarben auf.

»So ein Mist!« Benjamin rückte näher an den Monitor heran. Mit Mühe konnte er das eben Geschriebene entziffern. Sein Herz trommelte in seiner Brust. »Reiß dich zusammen, Benni! Der Bericht ist wichtig, sonst bist du die Assistenzarztstelle schneller los, als dir lieb ist.« Er holte tief Luft und schrieb weiter. »Zugang Hautschnitt medio ventraler Tibiakopf. Zur Entnahme der Semitensubiazaawgbw …«

Unbemerkt war Dr. Lekutat hinter ihn getreten.

»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Semitendinosussehne herausgeschnitten. Bei dieser Gelegenheit können Sie mir erklären, was das überhaupt ist.«

Benjamin Gruber fuhr herum und starrte die Chirurgin an. Zugegeben, das Regenbogenmuster war schön. Aber nicht, wenn es in ihrem Gesicht flimmerte.

»Der Musculus semitendinosus ist einer der Skelettmuskeln auf der hinteren Seite des Oberschenkels«, sagte er wie aus der Pistole Geschossen. »Er streckt das Hüftgelenk und dient häufig als Ersatz eines gerissenen vorderen Kreuzbandes im Knie.«

»Sehr gut.« Christine nickte. »Und jetzt erklären Sie mir bitte, was mit Ihnen los ist. Das war ja nicht Ihr erster Ausfall im OP. Abgesehen von all den anderen Kleinigkeiten.«

Benjamin Gruber schluckte.

»Ich weiß gar nicht, was Sie meinen«, stammelte er und wandte sich wieder dem Monitor zu.

Christine Lekutat verschränkte die gepolsterten Arme unter der Brust.

»Meiner Ansicht nach leiden Sie an einer Sehstörung. Sie haben drei Mal neben das Skalpell gefasst, bis sie es endlich in der Hand hielten.

Benjamin räusperte sich. Warum konnte er sich nicht genauso auflösen wie das Computerbild vor seinen Augen?

»Ich … ich habe das seit ein paar Wochen. Aber nicht immer. Nur manchmal.«

»Dann würde ich mir an Ihrer Stelle einen neuen Beruf suchen. Mit diesen Augen schneiden Sie einem Blinddarmpatienten am Ende noch ein Auge raus.« Sie lachte über ihren Witz.

Dr. Gruber lief ein Schauer über den Rücken.

»Dass die Augen ab und zu mal müde sind, ist doch ganz normal. Das kann viele Ursachen haben.«

Die Schranktüren klapperten, Christine nahm zwei Tüten mit frisch sterilisierten Scheren heraus.

»Interessant. Dann lassen Sie mal hören!«, verlangte sie. Die Tüten in ihren Händen raschelten.

Benjamin starrte auf den Bildschirm.

»Zum Beispiel Stress …«

»Mir kommen die Tränen.«

»Überanstrengung und Übermüdung.«

»Wenn Sie glauben, mit diesen Ausreden meinen Patientenbriefen zu entkommen, haben Sie sich geirrt.« Sie lächelte. »Weiter!«

Benjamin zog den Kopf ein.

»Vitaminmangel. Eine drohende Migräne oder eine Schilddrüsenerkrankung …«

»Fehlt noch Fernweh oder hormonelle Verwirrung«, spottete die Lekutat. »Oder Zuckermangel. Essen Sie ein Stück Schokolade. Wenn Ihre Probleme dann besser sind, haben Sie als Chirurg noch eine Chance. Eine kleine wenigstens.« Sie nickte seinem Rücken zu.

Ihre Schritte entfernten sich, und Benjamin Gruber atmete auf. Er lehnte sich zurück und schloss eine Weile die Augen. Als er sie ein paar Minuten später wieder öffnete, war der Regenbogen verschwunden.

»Na bitte«, stöhnte er erleichtert auf und machte sich wieder an die Arbeit. Höchste Zeit, den Bericht zu beenden!

*

»Und das hier ist die Klinik am Wald. Sie ist spezialisiert auf Rehabilitation nach Herzinfarkten.« Daniel Norden hatte eine bunte Palette an Prospekten vor seiner Frau ausgebreitet. Fee saß am Tisch. Schwer zu sagen, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte. »Was meinst du? Welche gefällt dir am besten?«

Endlich wendete sie ihm das Gesicht zu.

»Keine. Ich werde nicht zur Reha gehen.«

Viele Dinge hatten sich nach dem Unglück verändert. Der Blick seiner Frau zum Beispiel, mit dem sie ihn musterte. Keine Liebe lag mehr darin. Nur noch blankes Misstrauen. Oder ihre Unfähigkeit, sich lange auf etwas zu konzentrieren. Ihre Appetitlosigkeit. Eine Sache war allerdings gleich geblieben: Wenn ihre Stimme so klang, duldete sie keinen Widerspruch.

Daniel stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Die vergangenen Wochen hatten ihm alles abverlangt. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Die Rate an Post-Infarkt-Depressionen ist sehr hoch. Etwa drei Viertel der Patienten sind davon betroffen«, beschwor er Fee. Gleichzeitig wusste er um das Risiko. Jedes Wort konnte sie in den falschen Hals bekommen. Trotzdem fuhr er fort. »Deshalb ist die Reha immens wichtig, um Ängste zu verlieren und das Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen.«

»Dummerweise ist das genau das Gegenteil von dem, was mir Frau Dr. Schramm gesagt hat.« Dass seine Frau so spitz klingen konnte, darauf war Daniel nicht gefasst gewesen. Sie musterte ihn aus schmalen Augen. »Gib doch zu, dass du mich aus der Klinik vergraulen willst. Dieser Lammers hat es mir gesagt.«

Er hatte es gewusst! Am liebsten hätte Daniel Norden laut geschrien.

»Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass das Unsinn ist?« Er machte keinen Hehl aus seiner Verzweiflung. »Herrgott noch einmal, Felicitas. Du hast dich da in etwas verrannt. Warum nimmst du dir nicht die Zeit, die du brauchst, um ganz gesund zu werden? Die Klinik wartet auf dich.«

Er hätte genauso gut mit dem Bild an der Wand sprechen können.

»Das sieht Lammers aber anders.« Wie oft hatte sie diesen Satz schon gesagt? Es war zum Haareraufen.

»Auch wenn du dich nicht daran erinnerst: Lammers hat schon viel versucht, um sich deinen Posten unter den Nagel zu reißen. Um uns beide in Misskredit zu bringen. Er hat es nur seinen chirurgischen Fähigkeiten zu verdanken, dass ich ihn noch nicht gefeuert habe. Mit deinem Einverständnis übrigens.« Er klang wie ein angeschossener Löwe. »Und noch etwas: Entscheidungen über Personalfragen treffe immer noch ich.« Es war alles gesagt, was es zu sagen gab. Daniel Norden stand auf und ging zur Tür. Die heiße Hand auf der kühlen Klinke drehte er sich noch einmal um. »Übrigens hat Janni gesagt, dass er dich gegen Mittag abholen kommt. Hast du deine Sachen schon gepackt?«

»Es ist alles fertig.« Fee sah ihrer Entlassung mit gemischten Gefühlen entgegen.

Gerda Schramm hatte Fälle erwähnt, in denen die Rückkehr in eine vertraute, familiäre Umgebung den Betroffenen geholfen hatte, die Erinnerungen wiederzufinden.

Doch Fee war nicht sicher. Sollte sie sich Hoffnungen machen, um dann umso enttäuschter zu sein, wenn es nicht klappte?

Daniel sah auf die Uhr und nickte.

»Gut möglich, dass er gleich da ist.« Schritte auf dem Flur ließen ihn aufhorchen. »Ah, da ist er ja schon.« Er trat einen Schritt zur Seite.

Doch es war nur die Schwester mit dem Mittagessen.

»Sie brauchen Kraft, damit Sie schnell wieder auf den Beinen sind!«, sagte sie in munterem Plauderton und stellte das Tablett vor Fee auf den Tisch.

Die achtete nicht darauf. Stattdessen starrte sie nach draußen. Hinunter auf den Kiesweg, der sich wie eine Schlange durch den Klinikgarten schlängelte. Keine Menschenseele war dort unten unterwegs. Kein Wunder. Die Wolken sahen aus, als wollten sie sich jeden Moment von ihrer grauen Last befreien. Genau wie Fees geschundene Seele. Wann würde es ihr endlich gelingen, die Schleier zu zerreißen und die Wahrheit zu finden? Manchmal wähnte sie sich kurz davor. Doch dann entglitt ihr die Erinnerung wieder, wie ein Blatt, das der Wind vor ihr hertrieb, sobald sie danach greifen wollte. Als sie endlich aus ihren Gedanken auftauchte, war sie allein.

*

Die Akte Tobias Lichte klemmte unter dem Arm von Dr. Benjamin Gruber. Gemeinsam mit dem Klinikchef war er auf dem Weg zu dem Patienten.

»Ich möchte, dass Sie sich den Patienten Lichte ansehen, und bin gespannt auf Ihre Einschätzung.« Vor dem Krankenzimmer machte Daniel Halt. »Alles klar?«

Dr. Gruber nickte. Einen Atemzug später standen sie an Tobias’ Bett.

»Das hier ist der Kollege Dr. Gruber. Er wird den Eingriff leiten, ich werde ihm assistieren«, er­klärte Dr. Norden dem jungen Mann.

Tobias sah kurz von seinem Handy hoch.

»Nur noch die Kurve … gleich … ach, schon wieder nicht.« Er ließ das Mobiltelefon sinken. »Sie bringen mir kein Glück, Doktor.« Er schnitt eine Grimasse in Daniels Richtung.

»Das tut mir außerordentlich leid. Dann muss wohl Dr. Gruber zur Tat schreiten. Machen Sie bitte einmal den Bauch frei?«

Die Bettdecke raschelte. Tobias zog das Schlafanzugoberteil hoch. Benjamin trat ans Bett. Er rieb sich die kalten Hände.

»Nicht, dass ich Sie erschrecke.«

»Das hat der Chef schon erledigt, als er gesagt hat, dass er mich operieren will.«

»Keine Angst. Das ist ein Routineeingriff«, erwiderte Benjamin, während er die Bauchdecke abtastete.

An einer Stelle zischte Tobias Lichte wie eine Schlange.

»Ich habe keine Angst.« Er verkroch sich wieder unter der Bettdecke.

»Herr Gruber, erklären Sie unserem Patienten doch bitte den Ablauf des Eingriffs«, bat Dr. Norden den jungen Kollegen.

Tobias zog eine Augenbraue hoch.

»Muss das sein?«

»Bei gut aufgeklärten Patienten wirkt die Behandlung besser«, erwiderte Dr. Norden. »Ein gutes Vertrauensverhältnis ist in meinen Augen elementar wichtig für das Gelingen des Eingriffs. Je besser Sie sich auf das einstellen können, was Sie erwartet, umso weniger Überraschungen müssen Sie befürchten. Sie fühlen sich wohler und werden schneller gesund. Zumindest im Idealfall«, fügte er hinzu.

Tobias Lichtes Lächeln erreichte die Augen nicht.

»Dann schießen Sie mal los«, forderte er Benjamin auf.

Der junge Arzt schluckte und lächelte wie ein Schuljunge. Seine Wangen waren gerötet.

»In Ihrem Fall würde ich zu einer Entfernung des Wurmfortsatzes mittels Bauchspiegelung raten.« Ein schneller Blick hinüber zum Chef. Der sah zufrieden aus. Benjamin räusperte sich. »Über einen kleinen Schnitt im Nabelbereich wird eine Kamera in die Bauchhöhle eingeführt. Zur besseren Übersicht wird zuvor über eine Nadel Gas in den Bauchraum geleitet.« Er holte Luft. Zumindest sein Erinnerungsvermögen ließ ihn nicht im Stich. »Über einen weiteren kleinen Hautschnitt im rechten Unterbauch werden dann über sogenannte Führungshülsen die Arbeitsinstrumente eingebracht. Die Gefäße des Blinddarms werden elektrisch verkocht oder abgebunden, mit Hilfe einer Schlinge abgeschnitten und über die Hülse aus der Bauchhöhle geholt. Zum Schluss werden die Instrumente entfernt und die Schnitte vernäht.«

Daniel Nordens Gesichtsausdruck verriet, dass er immer noch zufrieden war. Seine Befürchtungen bezüglich des Kollegen Grubers schienen sich nicht zu bewahrheiten. Der Assistenzarzt wirkte konzentriert und aufgeräumt.

»Gut. Dann sehen wir uns in einer Stunde im OP.«

*

»Hallo, Mum!« Wie versprochen tauchte Jan Norden ein paar Minuten nach Mittag auf.

Fee saß noch immer am Tisch und starrte nach draußen. Ein Gärtner war unten im Garten aufgetaucht. Ein Rechen kratzte über den welken Rasen. Das Scharren war bis in ihr Zimmer zu hören. Felicitas beobachtete jeden seiner Handgriffe. Sah zu, wie er das Laub zu Häufchen auftürmte. Schließlich lehnte er den Rechen an einen Baumstamm, der vor Nässe glänzte. Er schob die Schiebermütze in den Nacken und bückte sich, um die Haufen in den mitgebrachten Korb zu packen.

Ein plötzlicher Luftzug weckte sie. Im selben Moment schmatzte ein Kuss auf ihre Wange.

»Und? War es lecker?« Jan war um sie herum gewirbelt. Er hob den Deckel vom Tablett. Ein Duft wie in Enzos Gaststube zog durch das Zimmer. »Oh.«

»Ich hatte keinen Appetit.«

»Bist du sicher, dass du auf dem Weg der Besserung bist?«

Janni sah seine Mutter so ungläubig an, dass Fee lachen musste.

»Bitte, bediene dich!«, forderte sie ihn auf.

Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Er setzte sich an den Tisch und ließ sich Tortellini in Sahnesauce und Salat schmecken. Paprikaschoten und Salatblätter knackten zwischen seinen Zähnen. Es war ein Vergnügen, ihm zuzusehen.

»Willst du nicht doch was?«, nuschelte er zwischendurch.

Fee schüttelte den Kopf.

»Hattest du schon immer so einen guten Appetit?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

»Wir alle lieben Essen. Du übrigens auch.« Jan machte sich über den Pudding her. »Ich sollte doch Arzt werden. Bei der Küche«, seufzte er endlich glücklich. Er lehnte sich zurück und strich sich über den wohlgefüllten Bauch.

Fee sah ihn an mit diesem leicht abwesenden Blick. Als wäre sie seit dem Unglück immer mit einem Teil ihrer Gedanken in einer anderen Welt.

»Irgendwie raubt mir diese Ahnungslosigkeit den Appetit.«

Janni musterte seine Mutter. Jedes einzelne Wort, das er über retrograde Amnesie gelesen hatte, ging ihm durch den Kopf.

»Möglich, dass du deine Erinnerungen in der vertrauten Umgebung wiederfindest.« Er nestelte an seinem Brillengestell, das ihm den Spitznamen ›Professor‹ eingebracht hatte. Seine Klassenkameraden nannten ihn auch Nerd. Ganz falsch war das nicht. Immerhin war Jan tatsächlich ein intensiver Computernutzer mit einer manchmal fast unheimlich anmutenden Intelligenz. Obwohl er nie viel lernte und dem Unterricht nur mit mäßiger Aufmerksamkeit folgte, schrieb er durchweg gute bis sehr gute Noten. Sein fotografisches Gedächtnis tat ein Übriges dazu, um das Bild des Sonderlings mit Farbe zu füllen. Jan nahm es mit Humor und war im Übrigen dankbar dafür, mit einer großen Familie gesegnet zu sein, die ihn davor bewahrte, sich in seiner eigenen Welt zu verlieren. Ein unheimlicher Gedanke. Genauso unheimlich wie das, was seiner Mutter widerfahren war. Höchste Zeit, diesem Zustand ein Ende zu bereiten.

»Hast du deine Sachen gepackt?« Die Stuhlbeine kratzten über den Boden. Er stand auf.

Fee deutete auf die grüne Reisetasche in der Ecke. Grün wie die Hoffnung.

»Alles fertig.«

Er ging hinüber zu den Schränken, öffnete einen nach dem anderen, wie er es von seinen Eltern gelernt hatte.

Seit seine Zwillingsschwester Désie nach zweihundert Kilometern Fahrt festgestellt hatte, dass sie ihr Lieblingskuscheltier im Urlaubsbett vergessen hatte, gab es eine Regel in der Familie Norden. Am Ende des Urlaubs wurden noch einmal alle Schränke und Schubladen durchsucht, unter den Betten nachgesehen.

Felicitas sah ihrem Sohn mit offenem Mund zu.

»Was machst du denn da?«

»Hast du auch wirklich nichts vergessen?«

»Ich glaube nicht.«

Jan zog die Nachttischschublade auf.

»Und was ist das?« Triumphierend hielt er ein kleines Kästchen hoch, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Ein Kabel mit Kopfhörern baumelte daran.

Fee suchte in ihrem Gedächtnis, konnte aber nichts finden. Es war frustrierend! Ein dunkles Tuch legte sich über ihr Gemüt.

»Bist du sicher, dass das mir gehört?«

»Ja, aber das kannst du ausnahmsweise einmal wirklich nicht wissen.« Jan hatte selbst vergessen, dass er den MP3-Spieler mit Fees derzeitiger Lieblingsmusik mit in die Klinik gebracht hatte. Doch seine Mutter hatte geschlafen, und so war das kleine Gerät in der Schublade verschwunden. »Vielleicht hilft dir die Musik, dein Gedächtnis wiederzufinden.«

Felicitas nahm ihm den Spieler aus der Hand und steckte ihn in die Tasche ihrer Strickjacke.

»Zuerst fahren wir nach Hause. Wenn das nicht hilft, kann ich das mit der Musik immer noch ausprobieren.« Sie stand auf und schlang die Jacke eng um sich. Obwohl es warm im Zimmer war, fröstelte sie. Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

*

Am Tresen herrschte reger Betrieb. Ein Geräuschteppich aus Stimmengewirr, Telefonklingeln und Fußgetrappel erfüllte die Luft. Die Aufzugtüren öffneten sich. Eine Frau trat heraus und sah sich um.

»Unternehmerin!«, tippte Josefa, eine der beiden Lästerschwestern, die am Tresen auf ein Rezept wartete.

»Quatsch. Höchstens Chefsekretärin«, urteilte ihre Freundin Astrid.

Daniel Norden hob den Kopf. Er stand hinter dem Tresen mit Schwester Elena zusammen und unterhielt sich leise über den Notfall, den er vorhin operiert hatte.

»Keine Kommentare über Patienten und ihre Angehörigen«, mahnte er.

Josefa rollte mit den Augen.

»Schon klar. Tut mir leid.« Sie stieß Astrid in die Seite. Eine Aufforderung, das Gespräch woanders fortzusetzen.

Die Dame war inzwischen an den Tresen getreten.

»Hallo, können Sie mir sagen, wo ich meinen Mann finde?«, wandte sie sich an Elena. »Tobias Lichte. Er wurde heute operiert. Blinddarm.« Sie wippte auf den Sohlen hin und her. Die Ohrringe klapperten im Takt dazu.

Daniel wurde hellhörig. Er kam nach vorn. Sie trug ein Parfum, wie gemacht für diese Jahreszeit. Mit einem Herz aus Bergamotte, Jasmin und Haselnuss.

»Frau Lichte, Ihr Mann wird noch heute Nachmitatg operiert.« Er sah auf die Uhr. »Der Termin hat sich ein wenig verschoben, weil wir einen Notfall hereinbekommen haben.«

Die Steine auf Nataschas Armbanduhr funkelten im Licht über dem Tresen.

»Oh.« Einen Moment hörten die Ohrringe auf zu wackeln. »Das ist aber ungünstig. Ich habe heute Abend einen Auftritt und muss gleich zum Flughafen.«

»Tut mir leid. Es ging wirklich nicht anders.«

Natascha musterte den Arzt aus schmalen Augen.

»Irgendwoher kenne ich Sie.«

»Dr. Norden, Klinikchef«, stellte sich Daniel vor.

»Richtig.« Ihre Augen leuchteten auf. »Ich habe Ihr Foto im Internet gesehen. Als ich für Tobias die Klinik ausgesucht habe.«

»Dann scheinen wir ja einen positiven Eindruck gemacht zu haben.«

»Das wird sich zeigen.« Nataschas Stimme war spitz wie eine Nadel. »Wenn mein Mann noch nicht operiert ist, kann ich ihn ja sicher noch einmal sehen, oder?«

»Natürlich. Station 3, Zimmer 28«, gab Elena die gewünschte Information.

Irgendwo klingelte ein Handy. Plötzlich hatte es Natascha Lichte eilig.

»Vielen Dank.« Im Weggehen nestelte sie das Mobiltelefon aus der Tasche. Ihre Stimme übertönte die Geräuschkulisse am Tresen noch, als sie schon meterweit entfernt war.

Kopfschüttelnd sah Dr. Norden ihr nach. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn, und er sah sich um.

»Apropos Tobias Lichte. Wo steckt eigentlich der Kollege Gruber? Der soll nachher die OP leiten.«

Elenas Miene strahlte auf.

»Seine erste?«

Daniel nickte.

»In letzter Zeit wirkte er etwas fahrig. Ich dachte mir, dass ihm diese Erfahrung zu etwas mehr Selbstsicherheit verhelfen könnte.«

»Ich gehe ihn suchen«, versprach Schwester Elena.

Sie schnappte sich ein paar Akten, die sie den Lästerschwestern zur Bearbeitung anvertrauen wollte – Arbeit hielt vom Gerüchtestreuen ab –, und machte sich auf den Weg.

*

Lange musste die Pflegedienstleitung nicht suchen. Sie fand den jungen Kollegen im Aufenthaltsraum. Er saß am Computer und suchte nach Krankheiten, die zu seinen Symptomen passten. Gebannt starrte er auf den Bildschirm.

Seine Lippen bewegten sich lautlos. Lärm machten nur die Schritte auf dem Flur. Diesmal gingen sie nicht vorbei. Schnell klickte er auf einen anderen Reiter in der oberen Leiste des Bildschirms. Anatomie des Menschen.

»Querverlaufdender Dickdarm, Leerdarm, Blinddarm«, benannte er die Körperteile auf dem Monitor. Mit einem Auge schielte er hinüber zur Tür.

Elena steckte den Kopf herein.

»Hast du kurz Zeit?«

Er zuckte zusammen.

»Hast du mich jetzt erschreckt!«

Sollte sie ihm sagen, dass er ein schlechter Lügner war?

»Tut mir leid.« Elena schloss die Tür hinter sich und gesellte sich zu ihrem Kollegen. Sah ihm über die Schulter. »Hoffentlich ist der Kerl, dem du zu Leibe rücken darfst, auch so gut gebaut.«

Er lachte nicht.

»Meine erste OP-Leitung.«

»Ich weiß. Ich habe es vorhin vom Chef persönlich erfahren. Gratulation.«

Benjamin rang sich ein Lächeln ab.

»Danke. Kannst du mich vielleicht ein bisschen abfragen?«

»Es geht doch nur um einen Blinddarm.« Elena legte den Kopf schief und musterte ihn. Dieses Blinzeln. Erst neulich war ihr ein Buch über Körpersprache in die Hände gefallen. Was versuchte Benjamin, vor ihr zu verbergen?

»Bist du etwa nervös?«

»Quatsch«, erwiderte er eine Spur zu schnell. »Ich will nur keinen Fehler machen.«

»Verständlich.« Elena meinte es ernst. Mit dem Chef zu operieren, war auch für sie immer noch eine große Sache. Selbst wenn sie privat mit ihm und seiner Frau Fee befreundet war. Beim Gedanken an Felicitas wurde ihr Herz schwer. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf den Assistenzarzt. »Was hältst du eigentlich von Tobias Lichte?«

»Sympathischer Mann. Meiner Ansicht nach spielt er ein bisschen zu viel auf dem Handy herum. Aber das ist ja nicht mein Problem.«

Elena klemmte die Akten vor die Brust und sah Benjamin nachdenklich an.

»Ich glaube eher, damit versucht er, seine Angst in den Griff zu bekommen.«

Tobias? Angst?

»Meinst du wirklich?«, fragte Benjamin mit großen Augen.

Beim Anblick ihres jungen Kollegen zog sich Elenas Herz zusammen. Sie hätte noch so viel zu sagen gehabt. Doch die Akten in ihren Armen erinnerten sie daran, dass sie anderes zu tun hatte, als ihrem Kollegen Mut zuzusprechen.

»Mach dir nicht so viele Sorgen um das Medizinische. Ich kenne keinen korrekteren Arzt als dich. Versuche lieber, ihm Sicherheit zu geben.« Sie zwinkerte ihm zu und verließ das Zimmer.

Mit angehaltenem Atem wartete Dr. Gruber darauf, dass die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Erst dann vergrub er das Gesicht in den Händen. Seine Augen flimmerten! Schon wieder! Und er hatte immer noch keine Ahnung, was ihm fehlte.

*

»Wenn du hier wartest, dirigiere ich das Taxi vor die Tür«, machte Janni ein Angebot, das Fee nicht ausschlagen konnte.

Gerda Schramm hatte ihr ans Herz gelegt, Sport zu machen. Schwer vorstellbar, wo sie doch nach wenigen Metern atmete wie ein wilder Stier. War sie einmal ein sportlicher Mensch gewesen? Felicitas erinnerte sich nicht.

»Ich laufe auch bestimmt nicht weg«, versprach sie und sank auf eines der Lounge-Sofas in der Lobby. Vor ihr stand ein kleiner Tisch aus Kunstleder. Eine vielgelesene Zeitschrift lag darauf. Aber Fee hatte keine Lust auf Lesen. Gab es überhaupt etwas, worauf sie noch Lust hatte? Sie lehnte sich zurück und sah sich um.

Eine Frau durchquerte die Lobby. Den rechten Arm trug sie in einer schwarzen Schiene vor dem Bauch. Der linke war so geschient, dass sie ihn nicht abwinkeln konnte. Wie eine Polizistin, die den Verkehr regelte. Der Mann neben ihr redete ohne Punkt und Komma auf sie ein. Fee ließ den Blick weiter schweifen. Sie sah gebrechliche Menschen in sportlichen Jogginghosen. Alte Damen mit Lockenwicklerfrisuren in wattierten Morgenmänteln. Patienten mit Krücken oder Rollstuhl, die fahrbaren Infusionsständer im Schlepptau. Ein buntes Durcheinander aus Besuchern, Ärzten, Patienten, Schwestern und Pflegern, mit geschäftigen, bedrückten oder fröhlichen Gesichtern. Sie alle waren wie Fee. Und doch gab es einen Unterschied: Im Gegensatz zu ihr erinnerten sie sich alle an ihre Vergangenheit. Nur sie, Dr. Felicitas Norden, hatte keine Ahnung, wer sie war. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab. Sie suchte in ihrer Strickjacke nach einem Taschentuch. Zuckte zurück, als sie auf etwas Hartes, Kühles stieß.

»Ach, der Musikspieler.« Sie zog das Kästchen mitsamt dem Kabel heraus. Drehte und wendete die Streichholzschachtel und fand schließlich einen Knopf zum Einschalten. »Na ja, warum eigentlich nicht?« Sie nestelte die Stöpsel, die an den Kabelenden baumelten, in die Ohren und schaltete ein. Einaudis Hände tanzten über die Klaviertasten. Fee schloss die Augen. Die Welt um sie herum löste sich auf. Sie hörte nur noch die Musik. Summte mit, als hätte sie nicht ihr Gedächtnis verloren.

Und plötzlich lag alles vor ihr, als hätte sie es nie vergessen.

Sie saß an ihrem Schreibtisch in der Klinik. Eine ganze Weile fühlte sie sich schon nicht mehr gut, irgendwie krank. Doch so schlimm wie an diesem Morgen war es noch nie gewesen. Die Stiche in der Brust glichen eher einem Druckschmerz. Deshalb dachte sie nicht sofort ›mein Herz‹. Sie ärgerte sich vielmehr über die Kollegen. Über Elena und Matthias Weigand, die auf dem Flur standen und schwatzten. Dagegen gab es nur ein Mittel. Fee schaltete den CD-Spieler auf ihrem Schreibtisch ein. Ludovico Einaudis Hände tanzten über die Klaviertasten. Sie entspannte sich ein bisschen. Vielleicht waren die Schmerzen nur Verdauungsstörungen, hervorgerufen von Popcorn und Nachos, die sie am Abend zuvor im Kino durcheinandergegessen hatte. Matthias’ Lachen wehte herüber.

»Ist das nicht normal im Kino?«, scherzte er.

»Blödmann«, zischte Elena.

In diesem Moment hielt Fee es nicht mehr am Schreibtisch aus. Sie stürzte hinaus auf den Flur.

»Wenn ihr denkt, ich höre euch nicht mehr, habt ihr euch getäuscht.« Ihr Herz krampfte sich zusammen. An dieser Stelle hörten ihre Erinnerungen auf.

*

»Es ist doch ganz normal, dass man vor so einem Eingriff ein bisschen nervös ist.« Dr. Gruber hatte seinem Patienten noch einmal einen Besuch abgestattet, um eine weitere Blutprobe zur Analyse ins Labor zu geben, bevor es für alle Beteiligten ernst wurde.

»Ich habe keine Angst.« Tobias Lichte zog den Schlafanzugärmel herunter. »Ist ja nicht mein erster Eingriff.« Er zog die Bettdecke weg und deutete auf sein vernarbtes Knie. »Skiunfall. Das Band wurde unter örtlicher Betäubung wieder zusammengeflickt.«

Benjamin lachte.

»Meine Rede. Sport ist Mord. Ich glaube, ich bin der unsportlichste Mensch auf der Welt.« Er klopfte sich auf den kleinen Bauch, der sich unter dem Kittel wölbte.

Tobias deckte sich wieder zu. Sein Blick ruhte auf dem jungen Arzt.

»Aber operieren ist ja auch so etwas wie Sport, oder?«

»Assistieren nicht so. Und selbst geleitet habe ich noch keine. Sie sind mein erster Fall. Und eine Vollnarkose ist etwas anderes als eine örtliche Betäubung.«

»Dann bekomme ich wenigstens nichts mit. Wird schon schief gehen.« Tobias Lichte zwinkerte ihm zu und wollte wieder nach dem Handy greifen, als es kurz klopfte. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür. »Natascha!« Tobias’ Augen leuchteten auf. »Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du bist auf dem Weg zum Flughafen.«

»Kleine Überraschung.« Sie beugte sich über ihren Mann und küsste ihn. »Ich dachte, du bist längst operiert.« Ihr zweiter Blick galt Dr. Gruber. Der musste kein Hellseher sein, um den Vorwurf darin zu lesen.

»Dr. Norden hatte einen Notfall. Aber ich denke, dass wir in einer Stunde loslegen können.«

»Das ist genau drei Stunden zu spät«, reklamierte Natascha Lichte.

Tobias zwinkerte dem Assistenzarzt zu.

»Sie meint es nicht so. Meine Frau ist Pianistin und hat heute Abend ein Konzert. Vor solchen Ereignissen ist sie immer ziemlich gestresst.« Er streckte die Hand nach seiner Frau aus und streichelte ihren Arm.

Natascha verzog den Mund, schwieg aber. Dafür hatte Benjamin das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.

»Ich denke, Sie können unbesorgt fliegen. Die Entfernung eines Blinddarms ist heute eine Routinesache.«

»Was nicht heißt, dass nicht trotzdem etwas passieren kann.«

Tobias rollte mit den Augen.

»Ich bin mir sicher, Dr. Norden und Dr. Gruber wissen, was sie tun.«

Benjamin Gruber räusperte sich.

»Natürlich kann man Komplikationen nie ausschließen. Wovon ich in Ihrem Fall aber nicht ausgehe. Sie sind ein junger, gesunder Mensch.« Er griff nach der Akte und klappte sie auf. Der Anästhesiebogen lag zuoberst. »Sie trinken kaum Alkohol, rauchen nicht. Haben weder Allergien noch eine chronische Erkrankung. Und Medikamente nehmen Sie auch nicht.« Er klappte die Mappe wieder zu und lächelte. »Der Traum eines jeden Anästhesisten. Er legt Sie schlafen, wir entfernen den Appendix, und im Handumdrehen sind Sie Ihre Schmerzen los.«

»Das wäre ein Traum«, erwiderte Natascha. Sie meinte es ernst. »Tobias leidet sehr unter diesen Attacken. Sie kommen immer dann, wenn man sie am wenigsten brauchen kann.« Tobias drückte ihre Hand, sie lächelte ihm zu. »Auch, wenn du immer gern den starken Mann spielst. Ich weiß, dass es in dir drin anders aussieht.«

*

Wie zur Feier von Fee Nordens bunter Landkarte zerriss der Wind für einen Moment die Wolkendecke. Die Sonne fiel durch die großen Scheiben der Behnisch-Klinik und beleuchteten die Eingangshalle wie eine Filmkulisse. Fee zog die Stöpsel aus den Ohren und betrachtete das unwirkliche Bild.

»Das Taxi wartet.« Jannis Stimme hallte durch die Lobby. Mit weitausgreifenden Schritten kehrte er zu seiner Mutter zurück. Keuchend blieb er vor ihr stehen. Es war schon eine Weile her, dass er zum letzten Mal Jogginghose und Laufschuhe angezogen hatte. »Was ist mit dir?« Er starrte auf Fee hinab. »Du bist schneeweiß.«

In Zeitlupe hob sie den Kopf und sah ihren Sohn an. Wie Lichtblitze zuckten Bilder in wildem Durcheinander durch ihren Kopf. Janni als Baby, mit der lustigen Zipfelmütze auf dem Kopf, die Lenni ihm gestrickt hatte. Im Blumenbeet nach dem Sturz vom Longboard. Janni zwischen Chipstüten und Schokoladenpapier beim Computerspielen. Janni mit der selbstgebastelten Drachenschultüte. Nach seinem Einbruch im Eis auf der Intensivstation. Das Entsetzen auf seinem Gesicht, als Fee seinen Computer aus dem Fenster werfen wollte. Ein Lächeln erhellte ihr Miene wie die Sonne den Himmel.

»Weißt du noch, als ich deinen Computer aus dem Fenster werfen wollte?«

»Das war der schrecklichste Moment in mein …« Mitten im Satz hielt Jan inne. »Du erinnerst dich?«

Felicitas nickte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet, dass sie es selbst noch nicht glauben konnte. Sie spürte das Kästchen in ihrer Hand und hielt es hoch.

»Die Musik … an dem Morgen meines Zusammenbruchs habe ich Einaudi gehört.«

Jan fiel seiner Mutter um den Hals. Er führte einen Freudentanz auf, bis Fee ihn lächelnd von sich schob. Die Aufmerksamkeit der anderen Patienten war ihr unangenehm. Nicht alle Menschen hatten so wie sie Grund, fröhlich zu sein.

Jan hielt nichts von vornehmer Zurückhaltung. Er stieß die Faust in die Luft.

»Dann hatte ich also doch recht.« Er berichtete, wie er Schwester Elena lang und breit von der Wirkung von Musik auf den menschlichen Organismus erzählt hatte. Trotzdem hatte sie ihm nicht erlaubt, seine Mutter diesem Experiment zu unterziehen.

»Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie ist gerade eingeschlafen«, hatte sie ihm gesagt.

So war der MP3-Spieler in der Schublade verschwunden und in Vergessenheit geraten.

»Wäre Elena nicht gewesen, hättest du deine Erinnerung schon viel früher wiederfinden können«, schimpfte er.

Felicitas wackelte mit dem Kopf.

»Das werden wir nie erfahren. Wahrscheinlich haben mehrere Dinge zusammengespielt, um die Tür wieder zu öffnen.« Sie griff nach der Hand ihres Sohnes und drückte sie. »Zum Beispiel euer Glaube an mich.« Ihre Stimme war kratzig vor Rührung. »Eure Unterstützung. Obwohl ihr nicht sicher sein konntet, ob ich euch je wieder erkennen würde.« Dieser Gedanke tat ihrem Herzen nicht gut. Sie schob ihn schnell zur Seite.

Jan war ihr dankbar dafür.

»Bitte nicht weinen. Frauentränen sind das Allerschlimmste für einen Mann.«

Wie so oft war es kompliziert. Immerhin waren Tränen nicht gleich Tränen. Es galt zu unterscheiden zwischen Tränen, die wegen eines traurigen Films vergossen wurden. In diesem Fall brauchte eine Frau die klassische, starke Schulter zum Anlehnen. Die Sicherheit, ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Mehr war nicht nötig. Dummerweise verhielt es sich mit Tränen wegen eines Unglücks ganz anders. Bei Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit oder dem Verlust eines geliebten Menschen war es das Wichtigste zuzuhören. In diesen Fällen musste ein Mann zeigen, dass er für sie da war. Phrasen wie ›Das wird schon wieder‹ waren strengstens verboten, echtes Interesse das Wertvollste, das ein Mann bieten konnte. Aber was, wenn ein Mann selbst die Tränen verursacht hatte? Dann half nur noch, die Schuld zu bekennen und sich ernsthaft zu entschuldigen. Drei verschiedene Reaktionen auf weibliche Tränen? Zum Glück ersparte Felicitas ihrem Sohn, das Problem mit einer Wahrschein­lichkeitsrechnung zu lösen. Sie schluckte die Tränen hinunter, sammelte ihre Siebensachen zusammen, die sie um sich herum verstreut hatte, und stand auf.

»Du hast recht. Ich habe überhaupt keinen Grund zum Weinen. Ganz im Gegenteil!« Sie machte ein paar Schritte.

Wie angewurzelt stand Jan da und sah seiner Mutter nach.

»Wo willst du hin?«, fragte er. »Das Taxi steht draußen. Nicht hier in der Lobby.«

»Ich muss zu deinem Vater! Kümmerst du dich um meine Tasche?« Sie deutete auf die grüne Reisetasche neben dem Lounge-Sofa, ehe sie sich abwandte und winkend davon ging.

*

Tobias Lichte lag im Bett und sah seiner Frau dabei zu, wie sie mit verschränkten Armen vor dem Fußende auf und ab ging. Immer wieder hob sie den Arm, zog den Ärmel zurück. Die Uhr blitzte auf.

»Du kannst wirklich gehen, Natascha.«

Sie blieb stehen. Die Bettumrandung aus Chrom beschlug unter ihren Händen.

»Ich habe überhaupt kein gutes Gefühl, dich hier allein zu lassen.«

Tobias lächelte.

»Du bist ein Schatz.« Er hauchte einen Kuss durch die Luft. »Aber du kannst wirklich fahren. Denk an dein Konzert! An all die Menschen, die viel Geld bezahlt haben, um dich spielen zu hören. Du darfst sie nicht enttäuschen.«

»Stimmt schon.« Ihre Fingernägel klapperten auf der Bettumrandung. »Trotzdem …«

»Ich bin hier in guten Händen. Du hast doch selbst recherchiert und herausgefunden, dass es niemand Besseren für diesen Eingriff gibt, als diese Klinik und Dr. Norden.«

»Aber vielleicht musst du ja gar nicht operiert werden. Vielleicht ist es wirklich nur eine Reizung, die vorübergeht. Wie die letzten Male auch.«

Tobias legte sich zurück und schob einen Arm unter den Kopf.

»So kann es doch nicht weitergehen, mein Schatz. Du hast selbst gesagt, dass dich diese nervliche Belastung aufreibt. Diese Unsicherheit. Auch deshalb bin ich hier. Und ziehe die Sache jetzt durch! Und du fliegst jetzt nach Paris und gibst heute Abend dein Konzert.«

»Ich weiß nicht.« Natascha setzte ihren Marsch fort. Wie Regen trommelten ihre Absätze auf das Vinyl in Schiffsbodenoptik. Mit normalen statt der Klinikbetten hätte man sich in diesem Zimmer wie zu Hause fühlen können.

Tobias’ Stirn wellte sich wie ein See, über den ein leichter Wind strich. Auch das Lächeln hatte die Brise mitgenommen.

»Du tust gerade so, als ginge es um Leben und Tod. Aber das hier ist nicht wie bei deinem Vater. Du musst endlich aufhören zu denken, dass sich die Geschichte wiederholt.« Etwas sanfter fügte er hinzu. »Für mich ist diese Operation ein Klacks. Aber wenn ich mir vorstelle, ein Konzert vor Hunderte von Menschen zu geben …« Er schnitt eine Grimasse, schüttelte sich. »Dann doch lieber zehn Blinddarmoperationen.«

Natascha zögerte. Sie trat an die Seite ihres Mannes, griff nach seiner Hand.

»Ein Glück, dass du nur einen hast.« Plötzlich war ihre Stimme watteweich.

Tobias sah sie an. Er kannte den Ausdruck in ihren Augen. Wusste, dass nicht mehr viel fehlte.

»Du musst los.« Er zog sie an sich und küsste sie. »Guten Flug.«

Natascha lachte leise an seinen Lippen.

»Du kennst mich gut.« Sie küsste ihn wieder. »Pass auf dich auf! Wenn dir ein Leid geschieht, kaufe ich mir diesen Dr. Norden.«

»Ich werde es ihm ausrichten.«

*

Die Akte seines Patienten in der einen und eine Tasse Kaffee in der anderen Hand bog Dr. Gruber um die Ecke. Und zuckte zurück. In letzter Sekunde gelang es ihm, einen Zusammenstoß mit Christine Lekutat zu verhindern.

Sie erholte sich schneller von dem Schrecken als er.

»Alle Achtung. Sie haben ja Temperament. Dabei haben Sie mich immer an eine Packung Schlaftabletten erinnert.«

Und Sie mich an die Venus von Willendorf!, schoss es Benjamin durch den Kopf. Die 30.000 Jahre alte kleine Steinfigur galt als ältestes Fundstück Österreichs. Mit dem üppigen Busen, den starken Hüften und Schenkeln, dem vorstehenden Bauch und dem ausgeprägten Gesäß hatte sie in der Tat Ähnlichkeit mit Christine Lekutat. Laut ausgesprochen hätte der Assistenzarzt das allerdings nie. Dazu war er einfach zu gut erzogen.

»Tut mir leid!«, erwiderte er leise und bückte sich, um den verschütteten Kaffee mit einem Taschentuch vom Boden aufzuwischen. Mit gesenkten Augen ging er an der Kollegin vorbei.

Die Lekutat sah ihm nach.

»Ach, ich habe gehört, der Chef hat Sie für die Leitung einer OP eingeteilt«, rief sie über den Flur.

Benjamin schickte einen Blick in den Himmel. Blieb ihm denn heute nichts erspart?

»Stimmt. Darauf muss ich mich noch vorbereiten. Wenn Sie mich bitte entschuldigen …«

Er ging weiter.

Gleich darauf hörte er das Wetzen von Stoff zwischen zwei Oberschenkeln. Dr. Lekutat hatte es sich anders überlegt und folgte ihm. Er verschwand hinter dem Tresen und setzte sich an einen Computer in der Hoffnung, die Chirurgin würde sich abschütteln lassen. Sie erfüllte sich nicht.

»Warum denn so eilig, junger Mann?«

»Wie gesagt, ich muss mich noch vorbereite …«

»Sie wollen im Ernst mit diesen Augen operieren?«

Musste sie so laut schreien? Er war doch nicht schwerhörig. Benjamins Blick flog über die Kollegen. Ein Arzt unterhielt sich mit einer Schwester am Tresen. Der Kollege Weigand war in eine Patientenakte vertieft. Das Telefon klingelte. Pfleger Sascha steckte bis zur Hüfte in einem der Schränke und suchte etwas. Alle waren mit ihren Aufgaben beschäftigt und schienen der Lekutat keine Beachtung zu schenken. Und Lästerschwester war auch keine in Sicht. Dr. Gruber atmete auf.

»Wenn Sie mein Augenflimmern meinen, das ist momentan wieder weg. Außerdem ist es mir gelungen, ein paar Ursachen auszuschließen.«

Christine Lekutat stemmte die gepolsterten Hände in die Hüften.

»Und welche?«

Benjamin zog einen kleinen Block aus der Kitteltasche. Er überflog seine Notizen.

»Hmmm … alle.«

Die Chirurgin zog eine Augenbraue hoch.

»Oh, das würde mir in der Tat auch Sorgen machen.«

»Und was soll ich jetzt tun?« Benjamin fühlte sich nicht nur wie ein Schuljunge beim Ausfragen vor der Klasse. Er sah auch so aus.

»Bevor Sie in Tränen ausbrechen, sollten Sie einen unserer Augenärzte konsultieren. Dr. Caspari kann den Augeninnendruck messen, um grünen Star auszuschließen. Außerdem kann er eine Augenspiegelung vornhmen.« Christine Lekutat sah sich um. »Schwester Astrid? Übernehmen Sie den Counter.«

Benjamin zuckte zusammen. Ausgerechnet eine der Lästerschwestern! Wie hatte er sie nur übersehen können?

»Was? Jetzt gleich?«, fragte er. Ein verzweifelter Versuch, die Lekutat von ihrem Vorhaben abzuhalten. Er scheiterte.

»Natürlich jetzt gleich. Oder wollen Sie abwarten, bis Sie den Patienten vor lauter Panik ins Jenseits geschickt haben?«

Astrid gab sich wenig Mühe, das Prusten zu unterdrücken. Benjamin schoss das Blut in die Wangen.

»Ja, dann …« Er lächelte zu Schwester Astrid hinüber und stand auf. »Vielen Dank schon mal.«

*

»O Fee. Mein Feelein. Ist das wirklich wahr?« Daniel Norden stand in der Mitte seines Büros. Er hielt das Gesicht seiner Frau in Händen und liebkoste es mit den Augen, bedeckte es mit Küssen. »Kannst du dich wirklich wieder erinnern?«

»Besonders an das Chaos auf deinem Schreibtisch zu Hause. Daran, dass du schon vor Monaten ausmisten und für Ordnung sorgen wolltest. Außerden …«

Den Rest des Satzes erstickte er mit einem Kuss.

»Du hast mich überzeugt. Obwohl es mir lieber wäre, wenn du dich an andere Dinge erinnern würdest. An unsere Kreuzfahrt zum Beispiel. Oder an das Wochenendende am Chiemsee …«

»Weißt du, an was ich mich am liebsten erinnere? An die Abende, an denen wir alle zusammen waren. Du, die Kinder und ihre Partner. Lenni und Oskar. Bei uns zu Hause. Bei Danny und Tatjana. Oder bei Enzo.« Fee küsste ihren Mann wieder und schob ihn ein Stück von sich. Ihre Augen hatten ihren alten Glanz zurück. »Was meinst du: Sollten wir heute Abend zur Feier des Tages zu Enzo gehen? Alle zusammen?«

»Eine tolle Idee! Ich trommel die Kinder zusammen.«

Fee nickte.

»Du bist ein Schatz. Dann mache ich mich mal auf den Weg.«

Daniel Norden stand in seinem Büro und sah seiner Frau nach. Das Wunder war geschehen. Sie würde wieder ganz gesund werden.

Noch tanzte dieses Wissen an der Oberfläche. Es würde eine Weile dauern, bis er es verinnerlicht hatte, an das Wunder glauben konnte. Aber eines wusste er schon jetzt: Er konnte den Abend kaum erwarten.

»Komm gut heim.«

Auf halbem Weg blieb Fee stehen.

»Wieso heim?« Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

Daniels Miene verdunkelte sich.

»Wo willst du hin?«

»In mein Büro. Warum?«

Er schnappte nach Luft.

»Du willst gleich wieder arbeiten?«

Die Hand auf der Klinke drehte sich Fee zu ihrem Mann um.

»Mir geht es gut, Dan. Und die Psychologin hat gesagt, dass Arbeit die beste Medizin für mich ist.«

Diesem besonderen Tonfall, dem Lächeln, das um ihre Lippen spielte, hatte Daniel nichts entgegenzusetzen. Seufzend gab er sich geschlagen.

»Du solltest es langsam angehen lassen.«

»Etwas anderes lässt schon meine Kondition nicht zu.« Felicitas zwinkerte ihm zu und verließ das Büro.

»Sagst du Lammers Bescheid, oder soll ich das für dich übernehmen?«, rief er ihr nach.

Ihr Kopf erschien noch einmal in der Öffnung.

»Das mache ich schon selbst. Das Vergnügen, sein Gesicht zu sehen, will ich mir nicht entgehen lassen.« Ein Handkuss noch, dann war Fee endgültig verschwunden.

Mit einer Mischung aus Stolz und Sorge sah Daniel Norden ihr nach.

»Diese Frau ist einfach unverbesserlich.«

Seine Kitteltasche klingelte. Ein letzter sehnsüchtiger Gedanke an Fee, ehe er das Mobiltelefon aus der Tasche zog.

»Der OP für Herrn Lichte wäre dann so weit«, teilte ihm eine Schwester mit. »Außerdem hat Frau Lichte Bedenken wegen des Eingriffs geäußert.«

»Ich kümmere mich darum. Und sagen Sie bitte Gruber Bescheid. Ich warte im OP auf ihn.«

Er ließ das Mobiltelefon in die Kitteltasche zurückfallen und machte sich auf den Weg zu seinem Patienten.

*

»So, Herr Lichte. Es tut mir wirklich leid, dass Sie so lange warten mussten. Aber jetzt kann es gleich losgehen.« Daniels kühle Finger legten sich um Tobias’ Handgelenk. »Alles bestens.« Er notierte den Wert im Krankenblatt, nahm den Infusionsbeutel vom Ständer und legte ihn auf das Bett. Mit einem Blick versicherte er sich, dass alles zum Aufbruch bereit war. Die Bremse des Bettes klapperte leise, als er sie löste. »Ich habe gehört, dass Ihre Frau Bedenken wegen der Operation hat.«

»Natascha macht mich schon ein bisschen nervös«, gestand Tobias. »Ihr Vater ist bei einem Routineeingriff gestorben.«

Dr. Norden zog eine Augenbraue hoch.

»Was genau ist da passiert?«

»Ein Narkosezwischenfall. Soweit ich das verstanden habe, hat Gernot die Medikamente nicht vertragen und während der Operation einen Herzstillstand erlitten. Den Ärzten ist es zwar gelungen, ihn zurückzuholen. Allerdings war er nicht mehr ansprechbar und ist ein paar Tage später gestorben, ohne wieder aufzuwachen.« Tobias zuckte mit den Schultern. »Dazu muss man allerdings sagen, dass Gernot schon über siebzig war und ein Lebemann, wie er im Buche stand.«

Dr. Norden holte tief Luft. Kein Arzt der Welt wünschte sich so ein Erlebnis. Geschweige denn die Angehörigen.

»Herr Lichte, wenn Sie irgendwelche Bedenken wegen der Operation haben, können wir den Eingriff gern auf morgen früh verschieben und noch einmal alles in Ruhe durchgehen.«

Tobias lächelte.

»Das ist nett, aber wirklich nicht nötig. Ich weiß, dass ich bei Ihnen gut aufgehoben bin.«

Daniel erwiderte das Lächeln.

»Das ist sehr gut. Vertrauen ist für den Heilungsprozess ebenso wichtig wie der Eingriff selbst. Gemeinsam mit dem Kollegen Gruber werden wir das Kind schon schaukeln.« Er zwinkerte Tobias zu.

Ein kräftiger Ruck, und das Bett setzte sich in Bewegung.

*

Benjamin Gruber stand im Aufenthaltsraum der Ärzte und blickte hinab auf den Untersuchungsbericht des Augenarztes. In seine Gedanken hinein klingelte das Telefon. Eine Schwester informierte ihn, dass der Chef ihn im OP erwartete. Es wurde ernst.

»Ich bin schon auf dem Weg!« Benjamin legte auf. Bis gerade eben waren Blutdruck und Herzfrequenz halbwegs normal gewesen. Einen Wimpernschlag später war nichts mehr normal. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Herz machte jedem Schlagzeugsolo Konkurrenz. Doch es nützte nichts. »Los jetzt! Sonst kannst du dir wirklich einen anderen Job suchen.«

»Ist es schon so weit, dass sie Selbstgespräche führen?«

Benjamin musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer in der Tür stand. Er verdrehte die Augen. Warum klebte die Lekutat ausgerechnet heute an ihm wie eine Biene am Honigtopf?

»Ich habe telefoniert.« Er drehte sich um und zuckte gleich wieder zurück.

Christine stand so dicht hinter ihm, dass er um ein Haar mit ihr zusammengestoßen wäre. Er presste die Hand auf das Herz und schnappte nach Luft.

»Meine Güte, haben Sie mich erschreckt.«

»Gruber, Gruber, allmählich mache ich mir wirklich Sorgen über Sie.« Christines Blick fiel auf das Papier auf dem Tisch. »Sind das Casparis Ergebnisse?«

Benjamin wollte nach dem Blatt greifen. Doch die Lekutat war schneller. Sie überflog die Zeilen.

»Oh, oh, das sieht aber gar nicht gut aus.«

Benjamin Gruber schluckte.

»Finden Sie? Dr. Caspari meinte, es wäre alles im grünen Bereich.«

»Wie bitte?« Christine klopfte mit dem Zeigefinger auf eine Zahlenreihe. »Entschuldigen Sie mal! Das sieht ganz nach einem Gehirntumor aus.«

Benjamin verschluckte sich. Er hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.

»Ich dachte, Sie sind auf meiner Seite«, krächzte er endlich. »Und jetzt kommen Sie mir mit einem Gehirntumor.«

»Na gut, grüner Star wäre auch denkbar. Auch nicht lustig.« Sie legte das Blatt zurück auf den Tisch. »Tut mir wirklich leid.«

Wieder klingelte das Telefon in seiner Tasche.

»Verdammt!« Das auch noch! »Dr. Norden wartet auf mich.« Er drängelte sich an Christine vorbei aus dem Zimmer.

»Heute scheint wirklich nicht Ihr Tag zu sein«, rief sie ihm nach.

Ihre Stimme vermischte sich mit seinen Schritten und verhallte auf dem Flur.

*

»Ja, natürlich weiß ich, wie wichtig dieses Konzert ist.« Natascha Lichte drückte das Telefon ans Ohr. Ihre Absätze klapperten Richtung Chirurgie. Ihre Stimme war so aufgeregt, dass sie sich der Aufmerksamkeit der Menschen in ihrer Nähe sicher sein konnte. Sogar der Reinigungsmann hörte auf zu wischen und sah hoch. »Aber manchmal gibt es Dinge, die wichtiger sind.« Sie lauschte in den Hörer. »Ich weiß auch nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl. Als ob irgendwas nicht stimmt mit Tobias. Wir müssen das Konzert verschieben.« Sie war am Tresen angelangt und blieb dort stehen. »Ja, das ist mein letztes Wort.« Natascha lehnte sich neben den Blumenstrauß auf die Ecke der Theke. Tannengrün mit Misteln, Amaryllis und roten Rosen, Augenweide für Besucher und Personal, Trost für Patienten. Natascha hingegen bemerkte die Blumen noch nicht einmal. Sie konzentrierte sich auf das Telefonat. »Meine Güte. Stell dich nicht so an. Lass dir was einfallen! Wofür bezahle ich dich überhaupt, wenn ich alles selbst machen soll?«

Sie wartete nicht auf eine ­Antwort, drückte eine Taste und ließ den ­Apparat in der Umhängetasche verschwinden. »Entschuldigung. Manchmal ist es nicht leicht mit dem Personal.«

Dr. Lekutat sah von den Unterlagen hoch und nickte.

»Sie haben ja so recht.«

»Dann bin ich ja wenigstens nicht allein«, seufzte Natascha. »Können Sie mir sagen, ob mein Mann inzwischen operiert wird und wo ich auf ihn warten kann?«

»Kleinen Augenblick!« Dr. Lekutat rollte hinüber zu einem der Computer. Ein paar Tastenklicks später wusste sie Bescheid. »Ihr Mann ist gerade in OP 3. Den Gang hinunter und am Ende rechts. Dort finden Sie einen Aufenthaltsraum für Besucher. Sobald Ihr Mann fertig ist, bekommen Sie Bescheid.« Sie nickte der Besucherin zu und wollte sich wieder auf ihre Unterlagen konzentrieren.

»Können Sie mir sagen, wie die OP läuft?«

Christine sah Natascha an, als käme sie von einem anderen Stern. Was dachten sich die Leute eigentlich?

»Während eines Eingriffs? Wie stellen Sie sich das vor?«

»Na ja … Sie sind Ärztin … Bitte!«

Dr. Lekutat zögerte. Sie stemmte sich vom Stuhl hoch.

»Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich verspreche nichts. Wir sehen uns im Aufenthaltsraum.«

Natascha sah ihr nach, wie sie auf kurzen Beinen davon wetzte. Das Bild einer Ente kam ihr in den Sinn. Schnell schob sie es beiseite. Immerhin tat ihr diese Ärztin einen großen Gefallen. Da durfte sie nicht undankbar sein.

*

»Da sind Sie ja, Gruber. Ich dachte schon, ich muss mir einen anderen Kollegen suchen.« Dr. Daniel Norden machte keinen Hehl aus seinem Ärger.

»Es … es tut mir leid. Heute ist einfach nicht mein Tag«, keuchte Benjamin. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und stellte sich ans Waschbecken. Wasser spritzte. Der Geruch nach Desinfektionsmittel war nicht halb so angenehm wie der nach Orange und Zitrone. Doch dieses Vergnügen erwartete ihn erst nach der Operation.

Daniel Norden ließ sich von einer Schwester in den Operationskittel helfen. Er ließ den jungen Kollegen nicht aus den Augen.

»Das klingt nicht gerade vielversprechend. Soll ich die Leitung des Eingriffs übernehmen?«

»Nein, nein, ich schaffe das schon.« Benjamin stellte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.

Ein paar Minuten später stand er im Operationssaal. Fast erwartete er, Tobias Lichte mit Handy in der Hand anzutreffen. Natürlich schlief der Patient tief und fest.

»Er gehört euch!«, verkündete der Anästhesist Arnold Klaiber.

Dr. Gruber konzentrierte sich. Bis jetzt war alles gut. Kein Flimmern vor den Augen, das seinen Blick trübte. Dieser dämlichen Lekutat würde er es zeigen! Wild entschlossen, aus seiner ersten Operationsleitung einen vollen Erfolg zu machen, streckte er die Hand aus.

»Skalpell!«

Die Schwester folgte seinem Befehl. Er wog das Instrument in der Hand. Ein letzter Blick hinüber zum Chef. Die Haut um Dr. Nordens Augen kräuselte sich. Er nickte dem jungen Assistenzarzt zu.

Benjamin Gruber senkte den Kopf und setzte den Schnitt. Eine Weile arbeitete er schweigend. Nur das Piepen des EKGs und das Schnaufen des Beatmungsgeräts waren zu hören. Ab und zu klapperte ein Operationsbesteck in einer Nierenschale. Langsam beruhigte sich Dr. Grubers Herz. Konzentriert blickte er auf das Bild, das die winzige Kamera auf den Monitor über dem Operationstisch lieferte.

»Ich bin so froh, dass Sie mich das hier machen lassen«, brach er irgendwann das Schweigen.

»Das ist Teil Ihrer Ausbildung. Und ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, warum Sie so viel Angst vor dem Eingriff hatten. Sie machen das sehr gut.«

Dr. Norden wusste um die Macht warmer Worte. Lob konnte Mitarbeiter enorm motivieren. Dabei galt es jedoch, ein paar Regeln zu beachten, um nicht das Gegenteil zu erreichen. Die Situation im Operationssaal war perfekt für eine anerkennende Bemerkung. Im Kreise erfahrener Mitarbeiter war sie besonders viel wert. Genau das, was Dr. Gruber seiner Ansicht nach am dringendsten brauchte.

Die Schnitte waren gesetzt. Benjamin führte die erste der drei Führungshülsen ein.

Dr. Norden sah hinüber zum Kollegen Klaiber. Der nickte. Alles in Ordnung.

»Was war eigentlich vorhin mit Ihnen los? Sie sahen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, setzte Daniel das Gespräch fort.

Die zweite Hülse. Sollte er seinem Chef von Frau Lekutats Verdacht erzählen? Gehirntumor? Grüner Star? Benjamin schluckte. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Und gleich darauf die Schweißperlen.

»Schweiß!«, krächzte er.

Die Schwester tupfte die glitzernden Schweißperlen weg. Und plötzlich geschah es. Das Flimmern. Ausgerechnet jetzt! Das Instrument in Benjamins Hand zitterte. Ein schwarzer Fleck breitete sich auf dem Bildschirm aus.

»Eine Blutung!«, rief Dr. Norden.

Die Kurven und Zahlen auf dem Geräteturm schlugen Kapriolen.

Ein Pfeifen zerriss die Luft.

»Blutdruck fällt!«, rief Dr. Klaiber.

»Ich übernehme!« Dr. Norden trat an den Platz seines Kollegen Gruber. Die Geräte schlugen weiter Alarm. Es gelang ihm nicht, die Blutung zu stillen. »Verdammt, was ist denn hier nur los? Was haben Sie getan, Gruber? Sauger! Klemme!«

Wie betäubt stand Benjamin Gruber am Operationstisch und tat, was er mit der verminderten Sehkraft konnte, um seinem Chef zu helfen.

»Ich … ich weiß es nicht«, stammelte er.

»Egal.« Daniel ließ sich den Schweiß von der Stirn tupfen. »Wir brauchen einen Bauchschnitt. Sonst bekommen wir die Situation nicht in den Griff.« Er sah hinüber zu Klaiber.

»Aber machen Sie schnell! Lange kann ich ihn nicht auf diesem Niveau halten.«

Dr. Norden nickte, holte tief Luft und machte sich an die Arbeit. Wie immer war auch diese Situation zweischneidig. Auf der einen Seite hatte er Angst, einen Fehler zu machen. Auf der anderen erfüllte ihn Euphorie darüber, sein ganzes Können auszuspielen. Natürlich musste er diese Emotionen unterdrücken, um vernünftig zu entscheiden. Da waren sie aber trotzdem und trieben ihn an. Dr. Norden zog die Instrumente aus den Führungshülsen. Die Geräuschkulisse war enorm. Geräte piepten und pfiffen. Dazwischen das Schlürfen des Saugers, Operationsbesteck klapperte. Unbeirrt arbeitete der Klinikchef weiter. Endlich hatte er den Ursprung allen Übels entdeckt.

»Ich werde verrückt! Ein Aneurysma.«

Einen Atemzug lang hielt der ganze Operationssaal die Luft an.

Am liebsten wäre Benjamin Gruber in Tränen ausgebrochen.

»Dann ist es nicht meine Schuld?«, flüsterte er, ehe es Nacht um ihn wurde. Ein dumpfer Knall, und er landete auf dem Boden.

Daniel verdrehte die Augen gen Himmel.

»Holen Sie Weigand, schnell!«, wies er eine der OP-Schwestern an. »Und bringen Sie jemanden mit, der sich um Gruber kümmert.« Im nächsten Moment beugte er sich wieder über das Operationsfeld. Wenn er nicht wollte, dass Tobias dasselbe Schicksal widerfuhr wie seinem Schwiegervater, musste er handeln. »Wir müssen das Gewebe rund um das Aneurysma stabilisieren. Ich implantiere eine Gefäßprothese.«

»Tun Sie, was Sie wollen. Aber tun Sie es schnell!«, feuerte Dr. Klaiber seinen Chef an.

Daniel nickte, ohne hochzusehen.

»Tupfer!«, verlangte er. »Hoffentlich bereuen wir es nicht bald, dass Herr Lichte seine Frau weg­geschickt hat.«

*

»Was ist denn mit Lammers los?« Wie auf Kommando waren Josefa und ihre Freundin und Kollegin Astrid stehengeblieben. Beide sahen dem stellvertretenden Chef der Kinderstation nach, der, ein Liedchen auf den Lippen, den Gang entlang tänzelte.

»So, wie der aussieht, ist er verliebt«, stellte Astrid scharfsinnig fest.

»Du glaubst wirklich, der hat ein Herz?«

»Ein Mann braucht kein Herz, um sich zu verlieben.«

Josefa verstand die Anspielung und lachte, dass selbst ein Gänseblümchen errötet wäre.

»Und wen, glaubst du, hat er flach gelegt?«

»Vielleicht die Norden. Darüber hat sie gleich ihr Gedächtnis verloren.«

Die beiden bogen sich vor Lachen, bis die Pflegedienstleitung, Schwester Elena, des Weges kam. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass sie sich schleunigst davon machen sollten, wenn sie nicht für den Rest des Tages Bettpfannen leeren wollten.

Elena ahnte nur, dass die beiden ihren Lästermäulern wieder einmal freien Lauf gelassen hatten. Doch für diesmal kamen Astrid und Josefa davon. Kopfschüttelnd folgte sie ihnen und bog schließlich in den Aufenthaltsraum ab. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand saß Lammers am Tisch. Eine Zeitschrift raschelte. Als Elena eintrat, hob er den Kopf. Spielte etwa ein Lächeln um seine Lippen? Aber nein! Ausgeschlossen!

»Einen wunderschönen guten Tag, Schwester!«, grüßte er sie.

Wie angewurzelt blieb Elena stehen. »Wie bitte?«

Tatsächlich. Er lächelte.

»Ich habe Ihnen einen schönen Tag gewünscht. Ist das etwa verboten?« Er leerte die Tasse mit einem großen Zug, stand auf und stellte sie nicht etwa wie sonst in die Spüle. Nein! Sie landete direkt im Geschirrspüler. Elena traute ihren Augen nicht. »Oder verstehen Sie kein Deutsch?« Er ging zur Tür.

»Es muss an Ihrem Dialekt liegen«, schickte sie ihm hinterher.

Lammers war noch nicht aus dem Zimmer verschwunden, als eine Stimme über den Flur hallte. Elena spitzte die Ohren. Unverkennbar! Fee war zurück!

Auch Volker hatte sie gehört. Er fuhr herum. Jetzt sah er wieder aus wie der Lammers, den die Klinik kannte.

»Was ist das?«, fauchte er.

Elena zuckte mit den Schultern.

»Klingt danach, als ob Sie Ihren Chefstatus abgeben müssten.«

Volker schnaubte wie ein Stier. Er ballte die Hände zu Fäusten und stapfte aus dem Aufenthaltsraum direkt in das Büro seiner Chefin. Er machte sich nicht die Mühe, an die halb offenstehende Tür zu klopfen. Seine ärgste Feindin saß an ihrem Schreibtisch, als wäre nichts geschehen! Als hätte sie niemals einen Herzinfarkt gehabt. Wäre sie niemals zusammengebrochen. Hätte sich niemals eine schwere Kopfverletzung zugezogen und das Gedächtnis verloren. Nichts von alledem. Ganz im Gegenteil. Wie sie so am Schreibtisch saß und den Telefonhörer ans Ohr drückte, schien sie niemals weggewesen zu sein. Bei Lammers’ Anblick wurde ihre Miene noch grimmiger.

»Ja, ich brauche die Informationen so schnell wie möglich. Danke. Bis später.« Ohne ihren Stellvertreter aus den Augen zu lassen, verabschiedete sie sich von ihrem Gesprächspartner und legte auf.

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, zischte sie wie eine Schlange.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Die Rolle des Unschuldslamms beherrschte Lammers wie kein Zweiter.

»Wie konnten Sie die Operation bei dem kleinen Schreiber durchführen? Er wäre um ein Haar verblutet.«

»Ist er aber nicht, oder?«

Fees Herz stolperte.

»Wie erklären Sie sich, dass die Eltern rechtliche Schritte gegen die Klinik angedroht haben?«

»Was kann ich denn dafür, dass die Rotznase unter einer Gerinnungsstörung leidet, die vorher nicht bekannt war.«

Felicitas schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Stifte im bunt umhäkelten Stifteköcher tanzten.

»Weil Sie die nötigen Voruntersuchungen nicht durchführen ließen.« Sie ärgerte sich darüber, sich nicht im Griff zu haben. »Wie konnten Sie das tun?«

Lammers’ Ruhe war nervtötend. Er hob eine Hand und betrachtete seine frisch manikürten Fingernägel.

»Sparmaßnahmen. Anordnung von oben. Fragen Sie unseren Verwaltungsdirektor«, erwiderte er, als erzählte er ihr von einem Sonntagsausflug.

Fee atmete eine paar Mal tief ein und aus. Sie musste sich beruhigen. Schon ihrem Herzen zuliebe.

»Das ist längst nicht die einzige Sache, über die wir beide uns unterhalten müssen.« Der Stapel Papier in ihrer Hand raschelte, als sie damit durch die Luft wedelte. »Die Absage des Kongresses für alternative Heilmethoden. Die Stornierung diverser Fachzeitschriften. Die Retoure der von mir georderten Medikamente. Um nur einige zu nennen …«

Schritte und Stimmen auf dem Flur ließen sie innehalten. Ehe Lammers eine Antwort gefunden hatte, tauchten ein Mann und eine Frau in Blaumännern in der Tür auf.

»Herr Dr. Lammers, dachte ich es mir doch, dass Sie hier stecken. Dann wollen wir mal! Zeit ist schließlich Geld«, begrüßte die Handwerkerin den Arzt.

Im nächsten Atemzug zückten sie einen Zollstock.

Felicitas fühlte sich wie im falschen Film. Ihre Augen flogen von einem zum anderen.

»Einen wunderschönen guten Tag, die Herrschaften.« Sie erhob sich vom Stuhl.

Die Handwerker schienen sie erst jetzt zu bemerken. Fragende Blicke.

»Darf ich fragen, was das hier werden soll?«, fuhr Fee fort.

Die Frau im Blaumann sah zu Lammers hinüber.

»Wir vermessen dieses Büro. Es geht um den Umzug.«

Volker Lammers blickte zu Boden. Was für eine ungünstige Entwicklung. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er räusperte sich.

»Ich glaube, das hier ist ein schlechter Zeitpunkt«, wandte er sich an die Handwerker.

Die beiden sahen sich an, unterhielten sich kurz flüsternd.

»Wie Sie wollen. Die Anfahrt müssen wir trotzdem berechnen.«

In diesem Moment hatte Felicitas genug.

»Klären Sie das draußen mit Herrn Lammers. Ich habe zu arbeiten.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte.

Gleich darauf fiel die Tür hinter den dreien ins Schloss. Selten zuvor war Fee glücklicher darüber gewesen, allein zu sein.

Sie fiel auf ihren Schreibtischstuhl, presste die Hände auf die Brust und schloss die Augen.

*

Schnuppernd hob Dr. Lekutat die Nase. Ein Duft nach Curry und Gebratenem zog durch den Flur. Er stammte aus einer Papiertüte mit chinesischen Schriftzeichen, die der Pfleger Sascha an ihr vorbei trug. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich nicht irrte.

»Hmmm, Zeit für Abendessen!«

»Das könnte Ihnen so passen!«

Die wütende Stimme ließ sie herumfahren. Auf der anderen Seite des Tresens stand, wieder einmal, Natascha Lichte. Bei ihrem Anblick vergaß Christine ihren Hunger.

»O Schreck! Sie habe ich ja total vergessen.«

»Das habe ich gemerkt. Was ist mit meinem Mann?« Ihre Stimme überschlug sich.

Selten bewegten sich Dr. Lekutats Finger so schnell über die Computertastatur wie in diesem Moment.

»Tut mir leid. Ihr Mann ist immer noch im OP.«

»Warum dauert das denn so lange? Es geht um eine Blinddarmoperation, keine Herztransplantation. Ein Routineeingriff, wie man mir glaubhaft versichert hat.« Bilder tauchten vor Nataschas geistigem Auge auf, die sie am liebsten vergessen würde. Ihr Vater nach der Operation, bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen im Klinikbett. Kaum zu erkennen zwischen all den Schläuchen und Kabeln, Apparaten und Geräten. Sie wischte sich über die Stirn, als könnte sie damit die Bilder löschen. »Was ist passiert?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Sie wollten sich schon vor Stunden erkundigen.«

Irgendwo klingelte ein Telefon. Natascha beachtete es nicht.

»Wollen Sie nicht drangehen?«, fragte die Lekutat, froh, von ihrem Fehler ablenken zu können.

Natascha sah aus, als wollte sie über den Tresen gehen und sich auf Christine stürzten.

»Mein Mann wird gerade operiert, und niemand kann oder will mir sagen, was eigentlich los ist. Ich kann jetzt nicht telefonieren.« Ihre Hände zitterten, als sie das Mobiltelefon aus der Tasche zog. Sie musste drei Mal auf den Knopf drücken, bis es ihr gelang, es auszuschalten. »Ich hoffe nur, der Chef ist wirklich so kompetent, wie alle behaupten. Oder ist das auch nur eine billige Lüge?«

Was zu viel war, war zu viel. Dr. Lekutat stemmte die Hände in die Hüften.

»Eines kann ich Ihnen versichern: Es gibt für unseren Chef nichts Wichtigeres als seine Arbeit.« Ihre Augenbrauen hatten sich zusammengeschoben. »Soll ich Ihnen mal was sagen? Er steht sogar im OP, wenn seine Frau schwer krank ist.«

»Die arme Frau!«, schnaubte Natascha.

Christine lächelte schmal.

»Sollte er lieber seine Patienten im Stich lassen und Händchen halten?«

Natascha Lichte öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre Augen irrten über den Tresen, bis sie schließlich am Blumenstrauß hängen blieben. Diesmal nahm sie ihn sogar wahr. Rote Rosen. Rot wie die Liebe. Rot wie Blut. Sie atmete tief durch.

»Es tut mir leid. Ich habe solche Angst um Tobias.« Ihr Blick kehrte zu Dr. Lekutat zurück. »So, und jetzt gehe ich selbst in den OP und sehe nach, was da los ist.« Sie wandte sich ab und wollte davon gehen.

Christines Lachen bremste sie.

»Glauben Sie wirklich, hier kann jeder in den OP spazieren, wie es ihm gefällt? Wenn Sie unbedingt Bekanntschaft mit unserem Sicherheitspersonal machen wollen, bitteschön! Aber das können Sie auch einfacher haben.« Sie hob den Telefonhörer. »Wollen Sie?«

»Nein, natürlich nicht.« Natascha kehrte an den Tresen zurück. »Aber was soll ich denn machen? Seit Stunden sitze ich hier und warte. Ich werde noch verrückt.«

»Sehen Sie. Und genau das ist der Grund, warum unser Chef im OP steht.« Christine lächelte der besorgten Ehefrau zu und wählte eine Nummer.

»Was machen Sie da?«, fragte Natascha.

»Ich bestelle uns etwas zu essen. Mögen Sie chinesisch?«

*

Das Erste, was Dr. Benjamin Gruber wieder hörte, waren Schritte. Sie eilten hin und her, verstummten manchmal.

Eine Schranktür klapperte. Die Schritte kehrten zurück. Seine Gedanken begannen zu wandern. Was war geschehen? Nach und nach sickerten Bilder in seine Erinnerung. Wie Aquarellfarben auf einem Blatt Papier breiteten sie sich aus. Blutrot.

Benjamin riss die Augen auf. Kerzengerade schoss er hoch. Schwester Ines schrie auf. Ein dumpfes Geräusch, gefolgt von Rascheln. Hunderte Verbandpäckchen rollten über den Boden. Dr. Gruber achtete nicht darauf. Er sprang von der Liege und lief aus dem Behandlungszimmer. Auf dem Gang sah er von links nach rechts. Ah, hier war er also, der Operationssaal nur zwei Türen weiter. Das Schild darüber leuchtete rot. Er stürzte los. Die automatischen Türen öffneten sich vor ihm. Im selben Moment streifte Dr. Daniel Norden die OP-Schürze samt Handschuhen ab und warf sie in den Wäschekorb. Im Vorraum des OPs herrschte rege Betriebsamkeit. Matthias Weigand stand am Computer und tippte etwas ein. Eine OP-Schwester schob einen Wagen mit Wäsche vorbei. Ein Pfleger kümmerte sich um den schlafenden Patienten. Offenbar war es noch einmal gut gegangen.

»Gute Arbeit, vielen Dank.« Dr. Norden musste die Stimme heben, um die Gespräche, das Schwatzen und Lachen zu übertönen.

Eine unsichtbare Hand legte sich um Benjamins Kehle. Doch Atemnot hin oder her. Er hatte keine Wahl.

»Chef!«, krächzte er und wunderte sich, dass sich Dr. Norden tatsächlich umdrehte.

Er musterte den jungen Assistenzarzt aus schmalen Augen.

»Gruber, da sind Sie ja wieder. Wie geht es Ihnen?«

»Ich … es tut mir leid. Ich habe Mist gebaut. Das hätte nicht passieren dürfen.«

Daniel neigte den Kopf.

»Ich gehe mal davon aus, dass Sie nicht absichtlich umgefallen sind.«

»Das meine ich nicht.« Benjamin rang die Hände. »Die Operation … die Blutung … ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe.«

Daniel legte dem jungen Kollegen die Hand auf den Arm. Sein Lächeln war farblos.

»Sie trifft keine Schuld. Für die Blutung war ein rupturiertes Bauchaortenaneurysma verantwortlich. Wir haben die Aorta unterhalb der Nierenarterien und oberhalb des Risses mit einer Gefäßklammer abgeklemmt und weitere Arterien mit Ballonkathetern abgedichtet.« Es war ein Ritt auf einer Rasierklinge gewesen. Der Schweiß stieg Daniel auf die Stirn, wenn er daran dachte. »Nach Eröffnung des aneurysmatischen Sacks hat der Kollege Weigand den Thrombus entfernt. Anschließend setzten wir eine Aortenprothese ein, die die Ruptur überbrückt.«

»Sie hätten dabei sein sollen, Gruber«, rief Matthias Weigand über die Schulter. »So was erlebt man nicht alle Tage.«

»Zum Glück!«, entfuhr es Daniel. »Leider ist der Blinddarm immer noch dort, wo er war. Ein weiterer Eingriff ist nötig. Zeitnah.«

Dr. Gruber fühlte sich wie in einer Achterbahn. Hier das Hochgefühl darüber, nicht für die Blutung verantwortlich zu sein. Und dort der drohende Abgrund.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Was ist eigentlich los mit Ihnen?« Dr. Norden sah seinen Assistenzarzt fragend an. »Irgendwas stimmt doch nicht.«

Eine Lüge wollte sich über Benjamins Lippen mogeln. Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Unterlippe. Höchste Zeit, das Versteckspiel zu beenden. Mit gesenktem Kopf stand er vor seinem Chef.

»Ich … seit einer Weile habe ich ab und an so ein Flimmern in den Augen. Manchmal ist es so schlimm, dass ich kaum mehr etwas sehen kann. Deswegen war ich auch schon bei Dr. Caspari.«

Daher also das Blinzeln. Die Unsicherheiten. Daniel Norden nickte. Das erklärte natürlich einiges.

»Und? Was hat der Kollege Caspari herausgefunden?«, fragte er und trat ans Waschbecken. Der lang ersehnte Duft nach Orange und Zitrone stieg ihm in die Nase. Der weiche Seifenschaum umschmeichelte seine strapazierte Haut.

»Er vermutet ein Flimmerskotom, die Ursache muss noch abgeklärt werden.« Da war sie wieder, die Hand, die seine Kehle zudrückte. »Dr. Lekutat sieht die Sache allerdings anders. Sie denkt an ein Glaukom.« Das war noch die angenehmere Variante. »Oder einen Gehirntumor.«

Daniel stellte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.

»Sie sind umgeben von Spezialisten. Lassen Sie die Ursache abklären«, sagte er und warf das Handtuch zu der restlichen schmutzigen Wäsche. »Bis Sie Sicherheit haben, ist der Operationssaal tabu für Sie. Haben wir uns verstanden?«

Benjamin Gruber hörte auch all die Vorwürfe, die sich sein Chef in diesem Augenblick verkniff.

»Natürlich.« Er starrte auf den Boden, als hätte er nie Schöneres gesehen.

Dr. Norden verzichtet auf weitere Fragen und wollte sich schon abwenden, als ihm eine Idee in den Sinn kam. Die Lösung für das drängendste seiner Probleme!

»Ach, und bis es eine Diagnose gibt, haben Sie bitte ein Auge auf meine Frau. Dr. Felicitas Norden. Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben …«

»Herzinfarkt und retrograde Amnesie nach Sturz mit Kopfverletzung«, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.«

Daniel lächelte.

»Vielen Dank für Ihre Anteil­nahme. Zum Glück hat meine Frau ihre Erinnerungen wiedergefunden. Pech ist, dass sie schon wieder an ihrem Schreibtisch sitzt.«

»Und ich soll auf sie aufpassen?«, hakte Benjamin mit großen Augen nach. Bis jetzt kannte er Fee nicht persönlich. Nur den Ruf, der ihr vorauseilte. »In der Klinik wird gemunkelt, dass es kaum möglich ist, Ihre Frau von etwas abzuhalten, was sie sich vorgenommen hat.«

Dr. Norden lächelte.

»Betrachten Sie diese Aufgabe als Erfahrung im Umgang mit Frauen.« Er zwinkerte Benjamin Gruber zu und verließ den Operationssaal in dem guten Gefühl, wenigstens eines seiner beiden großen Probleme gelöst zu haben. So einfach würde es mit Tobias Lichte leider nicht werden.

*

»Sehen Sie! So eine Mahlzeit hat auch ihr Gutes.« Dr. Lekutat leckte sich den letzten Rest Curry von den Lippen. Die gebratenen Nudeln mit Gemüse waren aber auch zu lecker gewesen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie noch einen Nachschlag vertragen können.

Leider hatte auch Natascha Lichte ordentlich zugeschlagen und kein Nüdelchen übrig gelassen. Da machte es auch nichts aus, dass der Chef des Weges kam. »So ist die Wartezeit doch wirklich schnell vergangen.« Sie nickte hinüber zu Daniel Norden.

Natascha wandte den Kopf. Im nächsten Atemzug sprang sie vom Stuhl auf und eilte dem Klinikchef entgegen.

»Herr Dr. Norden! Was ist passiert? Warum hat das so lange gedauert?«

Daniel wunderte sich nur kurz, die Frau seines Patienten hier zu sehen.

»Wir haben während der Operation ein Bauchaortenaneurysma bei Ihrem Mann gefunden. Dabei handelt es sich um die Erweiterung einer Schlagader. Es kam zu einer Ruptur, also einem Riss. Wir mussten den geplanten Eingriff abbrechen und uns um die lebensbedrohliche Blutung kümmern.«

Alle Farbe war aus Nataschas Wangen gewichen.

»Wie geht es ihm?«

»Den Umständen entsprechend gut.« Der überstandene Schrecken stand Dr. Norden ins Gesicht geschrieben. So ein Aneurysma im Bauch kam einer Bombe gleich. Das Hauptrisiko der OP bestand durch die massiv bedrohlichen Blutverluste. Erst bei der Rückschau wurde ihm klar, dass zwei Faktoren Tobias das Leben gerettet hatten. Erstens hatte es sich um eine gedeckte Ruptur gehandelt. Die Blutung war in den Bereich hinter dem Bauchfell gelaufen, hatte sich dort selbst zusammengedrückt. Sonst wäre Tobias innerhalb von Minuten verblutet. Aber das musste Natascha nicht unbedingt im Detail wissen. Nicht nach der Vorgeschichte ihres Vaters. »Tobias hat unglaublich viel Glück gehabt, dass er wegen seines Blinddarms ohnehin auf dem OP-Tisch lag«, erklärte er ihr lieber den zweiten glücklichen Umstand. »Wäre das Aneurysma außerhalb der Klinik geplatzt, hätte es schwerlich Rettung für Ihren Mann gegeben.« Er lächelte. »Aber wollten Sie nicht längst in Paris sein und ein Konzert geben?«

»Ich hätte so oder so nicht spielen können. Deshalb habe ich es abgesagt.« Natascha ließ die Spitzen ihres Schals durch die Finger gleiten. Immer und immer wieder. Dabei ließ sie den Klinikchef nicht aus den Augen. »Kann ich Tobias sehen?«

»Sobald er aufgewacht ist.« Sollte Daniel die anstehende zweite Operation erwähnen, oder damit lieber bis später warten?

Natascha lächelte.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen gegenüber so misstrauisch war.«

Später. Er würde dem Ehepaar die Neuigkeit später unterbreiten.

»Sie hatten Angst. Das ist kein Grund, sich zu entschuldigen.« In diesem Moment hatte Daniel Norden das unbedingte Bedürfnis, sich nach dem Wohlergehen seiner Frau zu erkundigen. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Wir sehen uns später noch.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg.

*

Als Felicitas Norden die Augen wieder öffnete, hatte sie sich beruhigt. Ihr Herz schmerzte nicht mehr, ihre Atmung ging ruhig. Das hatte sie in erster Linie einem Entspannungsprogramm zu verdanken, das sie über die vergangenen Wochen gerettet hatte. Selbst wenn es den Herzinfarkt nicht hatte verhindern können, war sie weitaus glimpflicher davongekommen als ohne diese Übungen. Davon war Fee felsenfest überzeugt. Der sogenannte Body Scan war eine Methode, bei der man sich bewusst nacheinander auf jeden einzelnen Körperteil konzentriert. Angefangen bei den Zehen, fokussierte Felicitas ihre Aufmerksamkeit über die Füße, Waden und Oberschenkel hinauf bis zum Oberkörper. Wenn sie beim Kopf angekommen war, fühlte sie sich erfrischt und entspannt. Zeit, sich wieder um ihre Arbeit zu kümmern. Mit neuer Energie klappte sie den Laptop auf.

Dort saß sie immer noch, als Dr. Gruber den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht persönlich.« Schüchtern wie ein Schuljunge trat er an den Schreibtisch. »Mein Name ist Benjamin Gruber.«

Fee zog eine Augenbraue hoch.

»Ach, einer der Assistenzärzte.«

War es möglich, dass seine Wangen noch mehr brannten als vorher?

»Sie kennen mich?«

Fees Lächeln war verbindlich. Sie wusste sofort, wen sie vor sich hatte.

»Es steht auf Ihrem Namensschild.« Sie lachte. »Außerdem hat mein Mann schon viel von Ihnen erzählt. Nur Mut, Sie schaffen das schon.« Sie blinzelte ihm zu.

Benjamin nickte, hüstelte, räusperte sich.

»Hmmm, ja, bestimmt.« Er hielt das mitgebrachte Blutdruckmessgerät hoch. »Ihr Mann hat mich gebeten, Ihre Gesundheit zu überwachen. Darf ich?«

Felicitas machte keinen Hehl aus ihrer Überraschung. Sollte sie sich ärgern? Im nächsten Moment beschloss sie aber, gerührt zu sein angesichts von Daniels Sorge. Gab es nicht auch ganz andere Ehemänner? Die sich nicht im Mindesten für die Gesundheit ihrer Frau interessierten? Schon gar nicht nach so vielen gemeinsamen Jahren?

»Bitteschön.« Sie zog den Ärmel ihres Pullovers hoch und ließ sich die Manschette um den Oberarm legen.

»Was machen Sie denn da Schönes?«, fragte Benjamin mit einem Blick auf den Laptop beiläufig.

»Ich koordiniere die Termine für nächste Woche.«

»Sie wollen schon wieder Vollzeit arbeiten?« Er setzte das Stethoskop auf die Ohren. Die Pumpe schnaufte, die Manschette um Fees Arm füllte sich mit Luft. Er schob das Bruststück unter die Manschette und sah auf den Manometer. »110 zu 70. Das ist in Ordnung.« Er nahm das Stethoskop wieder ab und sah sie an, wartete auf die Antwort auf seine Frage.

»Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich nicht verstehen werden, aber ich MUSS wieder arbeiten. Sonst laufe ich Gefahr, meine Abteilung zu verlieren. Und das will ich auf keinen Fall riskieren.«

»Ihr Leben sollten Sie dafür aber auch nicht aufs Spiel setzen«, mahnte Benjamin. »Deshalb würde ich mal ein paar der Termine streichen.« Er deutete auf den Bildschirm. »Die Fortbildung hier kann man doch sicher verschieben. Und wie sieht es mit dem Vortrag im Kindergarten aus?«

Felicitas schielte hinüber zum Monitor.

»Ja, Sie haben ja recht«, erwiderte sie gedehnt. »Aber was mache ich dann mit der gewonnenen Zeit? Hier herumsitzen und mich langweilen? Da komme ich nur auf dumme Gedanken.«

Benjamin Gruber nickte. Er steckte das Blutdruckmessgerät in die Tasche. Aber was knisterte da? Er ging der Sache auf den Grund und fand den Ausdruck von Dr. Caspari. Eine Idee kam ihm in den Sinn.

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte er schüchtern.

Fees Herz schmolz dahin wie Erdbeereis in der Sonne. Gab es einen Menschen, der diesem Mann eine Bitte abschlagen konnte?

»Um was geht es denn?«

»Das hier sind meine Untersuchungsergebnisse vom Augenarzt.« In knappen Worten berichtete er von seinem Problem.

Felicitas hörte aufmerksam zu.

»Wann genau treten diese Beschwerden denn auf?«, fragte sie.

»Meistens, wenn ich im OP bin. Ich dachte schon an eine Art Allergie gegen irgendein Desinfektionsmittel.« Er sah Fee an, zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe. »Oder glauben Sie auch, dass ich einen Gehirntumor habe?«

Fee betrachtete die Werte auf dem Blatt Papier. Langsam schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Nein, das glaube ich nicht. Und jetzt erzählen Sie noch einmal ganz genau …«

*

Das EKG piepte gleichmäßig vor sich hin. Wie ein Schmetterling lautlos von Blatt zu Blatt flatterte, huschte die Schwester durch das Intensivzimmer. Sie kontrollierte die Werte auf dem Geräteturm, notierte sie im Krankenblatt, das auf einem Wagen am Fußende des Bettes lag. Sie überprüfte die Medikamentengaben, maß Fieber und verließ mit einem Lächeln in Natascha Lichtes Richtung schließlich das Zimmer.

Kurz darauf wurde Tobias unruhig. Er warf den Kopf im Kissen nach rechts und links. Blinzelte. Stöhnte leise. Wie die Schwester ihr es gezeigt hatte, griff Natascha nach dem Becher auf dem Nachttisch und betupfte Tobias’ rissige Lippen mit einem in Wasser getränkten Wattebausch. Sie wollte weinen vor Erleichterung, als sie seine Stimme hörte.

»Du bist da?«, krächzte er.

Natascha beugte sich über ihn. Ihre Ohrringe schaukelten hin und her.

»Ich war so unruhig. Da habe ich das Konzert abgesagt. Zu Recht.« Sie lächelte.

Tobias’ Blick irrte durch das Intensivzimmer.

»Was … was ist passiert?«

»Du hattest ein Aneurysma im Bauch. Das ist bei der Operation geplatzt. Um ein Haar wärst du verblutet.«

»Ausgeschlossen.« Tobias zog die Mundwinkel hoch. »Mein Schutzengel war ja bei mir.«

»Der Schutzengel heißt Dr. Norden.« Natascha strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Blicke streichelten sein Gesicht. »Ich habe ihm Unrecht getan. Mein Misstrauen war nicht gerechtfertigt.«

»Ich bin sicher, er wird dir verzeihen.«

Natascha lächelte.

»Hat er schon. Übrigens hat er versprochen, nachher noch vorbei zu kommen.« Sie nahm die Hand ihres Mannes zwischen die ihren und sah ihn an. »Dann fragen wir ihn, wann du entlassen wirst. Ich habe mir nämlich eine kleine Überraschung für dich ausgedacht.« Tobias’ größter Traum war ein Besuch bei der Baja 1000, einem berühmten Autorennen im Süden Kaliforniens. Bei dem gefährlichsten und härtesten Rennen der Welt maßen die Fahrer von Motorrädern, Trucks und umgebauten Autos ihre Kräfte. »Statt immer nur auf dem Handy deine Runden zu drehen, fliegen wir nach Kalifornien und sehen uns das Ganze live und in Farbe an.«

Wäre Tobias im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte gewesen, hätte er einen Jubelschrei ausgestoßen. Wäre mindestens einen Meter in die Luft gesprungen. Derart lädiert, blieb ihm aber nur ein Lächeln.

»Du bist großartig«, murmelte er und drückte Nataschas Hand. »Aber was ist mit deiner Arbeit?«

Sie beugte sich über ihn, wagte kaum, seine Lippen mit den ihren zu berühren.

»Die kann warten«, raunte sie ihm zu. »Aber unsere Liebe und das Leben nicht.«

*

Wie so oft herrschte auch an diesem frühen Abend reger Betrieb auf dem Klinikflur. Besucher strebten allein, in Pärchen oder Gruppen in Richtung Aufzug, nur wenige Richtung Treppenhaus. Schwestern und Pfleger schoben Essenswagen durch die Flure. Das Klappern von Geschirr vermischte sich mit dem Stimmengewirr. Dr. Daniel Norden hatte sich in das bunte Treiben gemischt. Nachdem er mehrmals aufgehalten worden war – seine Assistentin Andrea Sander hatte eine Unterschrift gebraucht; der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs wollte wieder einmal über Personalfragen diskutieren und eine seiner Patientinnen die Klinik partout nicht verlassen –, war er endlich unterwegs zu seiner Frau. Diesmal wollte er sich nicht abhalten lassen. Eilige Schritte hinter ihm ließen ihn jedoch nichts Gutes ahnen. Sollte sein Vorhaben schon wieder zum Scheitern verurteilt sein?

»Auf ein Wort, Chef!« Eine Stimme hinter ihm bestätigte seine Vorahnung. Wenn das mit dem Klinikleiter nicht mehr klappt, werde ich Wahrsager!, ging es ihm durch den Kopf, während er auf den Kollegen Lammers wartete.

»Was kann ich für Sie tun?«

Der Kinderchirurg blieb vor ihm stehen. Er gab vor, Atem zu schöpfen. In Wahrheit wollte er Zeit gewinnen. Die Spannung steigern.

»Ich habe mit dem Direktor der Schön-Klinik in Hannover gesprochen.« Ob Norden die Lüge wohl schlucken würde? »Er hat mir ein Angebot gemacht.«

Daniel versuchte, sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen. Gute Ärzte waren das Kapital jeder Klinik. Er konnte es sich nicht leisten, einen von ihnen zu verlieren. Schon gar nicht einen von Lammers’ Kaliber. Viele Kollegen und Patienten beklagten sich über seine nur in Ansätzen vorhandene emotionale Intelligenz. Sein außerordentliches Können im medizinischen Bereich sprach allerdings für sich. Es war der einzige Grund, warum Daniel Norden ihn unbedingt an der Klinik halten wollte.

»Was für ein Angebot denn?«, fragte er vorsichtig.

Die Haut um Volker Lammers’ Augen kräuselte sich, seine Mundwinkel kletterten hoch. Der Fisch hatte angebissen.

»Mein Typ ist gefragt. Er hat mir einen Chefarztposten angeboten.«

Dr. Norden kannte den Kollegen aus Hannover nicht.

»Er will Sie abwerben?«

Lammers schnalzte mit der Zunge.

»Was für ein böses Wort! Sagen wir lieber, er hat von meinen Fähigkeiten gehört und ist voll und ganz überzeugt von mir.«

»Und die Konditionen?«

»Beeindruckend.«

Daniel Norden nahm Lammers ins Visier und zählte eins und eins zusammen.

Bestimmt hatte er schon bemerkt, dass Fee zurück und damit seine Hoffnungen auf den Chefposten der Pädiatrie ein weiteres Mal geplatzt waren. Ganz sicher war er allerdings nicht. Trotzdem wagte er das Pokerspiel.

»Sie bluffen«, sagte er dem Kinderchirurgen auf den Kopf zu.

Täuschte er sich, oder wurde Volkers Lächeln eine Spur blasser?

»Meinetwegen können wir es gern auf einen Versuch ankommen lassen.«

Verdammt! Lammers wirkte sehr selbstsicher. Daniel beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.

»Es geht Ihnen um den Chefarztposten, nicht wahr?«

Der Ausdruck auf Volkers Gesicht war Bestätigung genug.

»Sind wir mal ehrlich: Ihre Frau hatte einen Herzinfarkt. Und eine schwere Kopfverletzung. Glauben Sie wirklich, sie ist den Aufgaben und Belastungen, die dieser verantwortungsvolle Posten mit sich bringt, noch länger gewachsen?« Seite an Seite wanderten die beiden den Flur entlang. Lammers schickte seinem Chef einen Seitenblick. Die Gelegenheit für diesen Vorstoß war mehr als günstig. Das wussten sie beide.

In der Tat hatte Volker einen wunden Punkt getroffen. Am liebsten hätte Daniel seine Frau vier Wochen in Reha geschickt und ihr anschließend einen Teilzeitjob an der Klinik verpasst.

Reines Wunschdenken, wie er wusste.

»Warum besprechen Sie das nicht direkt mit meiner Frau?«

Lammers lachte kalt.

»Sie hätten die gute Fee mal erleben sollen heute. Versucht, mir dauernd Vorschriften zu machen. Redet mir in meine Behandlungen rein und steht nicht hinter mir. Wie soll ich da vernünftig mit ihr sprechen?«

Dr. Norden wusste, wie er diese Beschwerde zu bewerten hatte. Einen Funken Wahrheit enthielt sie aber dennoch. Lammers ahnte, dass seine Chancen diesmal besser standen als bisher.

»Sie wollen doch, dass ich mich weiterhin hier wohlfühle«, fügte er hinzu.

Nur mit Mühe gelang es Daniel, ein Seufzen zu unterdrücken.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie waren am Ende des Flurs angelangt. Selten hatte sich Daniel mehr darüber gefreut, dass sich ihre Wege trennten.

*

Nach dem Besuch bei ihrem Mann hatte Natascha endlich die Ruhe, um mit ihrem Agenten zu telefonieren und mit ihm über die Konsequenzen des abgesagten Konzerts zu sprechen. Irgendwann erwachte Tobias wieder. Unfähig, irgendetwas anderes zu tun, griff er nach seinem Handy. Er nutzte die Gunst der Stunde, um sein geliebtes Handyspiel zu spielen. Die Musik unterschied sich deutlich von den übrigen Geräuschen auf der Intensivstation. Sie dudelte bis hinaus auf den Flur. Dr. Benjamin Gruber lächelte erleichtert.

»Sie können ja schon wieder spielen«, stellte er fest und trat an den Geräteturm. Er kontrollierte die Linien und Zahlen, die nervös hin und her sprangen, und regulierte die Laufgeschwindigkeit des Tropfs.

»Es gibt keine bessere Medizin als einen neuen Rundenrekord.« Tobias zwinkerte ihm zu. Sein gespenstisch blasses Gesicht, die Schatten um die Augen straften ihn genauso Lügen wie die Kabel und Schläuche, die von seinem Körper in die Geräte führten.

»Und wie geht es Ihnen wirklich?«

Tobias unterdrückte ein Gähnen. Er ließ das Mobiltelefon sinken.

»Ein bisschen schlapp. Aber es war ja auch mehr als ein Routineblinddarm, wie meine Frau mir erzählt hat.« Er ließ seine Blicke wandern. »Sonst wäre ich wohl kaum hier gelandet.«

»Das kann man wohl sagen.« Die Erinnerung genügte, um Benjamin Gruber erneut den Schweiß auf die Stirn zu treiben. »Als es angefangen hat zu bluten … Ich dachte, ich hätte irgendwas falsch gemacht. Sie können sich nicht vorstellen, welche Angst ich hatte.«

»Da bin ich ja richtig froh, dass nicht Sie den Fehler gemacht haben, sondern meine Aorta.« Tobias schnitt eine Grimasse. »Zum Glück ist ja alles noch einmal gut gegangen. Was meinen Sie? Wann kann ich nach Hause gehen? Meine Frau und ich, wir haben nämlich große Pläne. Kennen Sie das legendäre Autorennen in der Wüste Kaliforniens? Natascha und ich wollen dorthin fliegen.«

»Daraus wird wohl nichts«, platzte Benjamin heraus. »Sie müssen erst Ihren Blinddarm loswerden.« Der Nachhall seiner Worte tanzte noch durch das Zimmer, als er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»Der Blinddarm ist noch drin?« Tobias’ Lichtes Stimme klirrte wie Eis.

Benjamin räusperte sich.

»Als es zu bluten anfing, war Holland in Not. Da hatten wir keine Zeit mehr für den Blinddarm.« Warum hatte er nur nicht den Mund gehalten? Doch nun war das Kind schon in den Brunnen gefallen.

Tobias’ Miene verriet es.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich noch einmal unters Messer lege!«

Händeringend suchte Dr. Gruber nach einem Mittel, um seinen Patienten zu beruhigen. Am liebsten hätte er ihm das Handy in die Hand gedrückt und ihm eine neue Runde vorgeschlagen. Doch in diesem Augenblick machte Tobias nicht den Eindruck, als hätte er Lust auf Computerspiele.

»Vielleicht hat die Operation ja auch noch Zeit bis später.« Er fuhr sich über die Augen. Da war es wieder, das Flimmern! Dabei war der nächste OP weit entfernt. Egal. Im Augenblick gab es Wichtigeres, als sich über eine regenbogenfarbene Raute aufzuregen. »Darüber müssen Sie sich mit Dr. Norden unterhalten. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn gleich an.« Er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Seine Hand zitterte wie ein Blatt im Wind.

Doch Tobias Lichte schüttelte den Kopf. Kraftlos lag er im Bett und blinzelte den Assistenzarzt an.

»Schon gut. Er hat Natascha versprochen, noch bei mir vorbei zu schauen. Dann können wir ja über alles reden.« Er gähnte wieder.

Benjamin atmete tief durch und steckte das Telefon zurück in die Tasche. Entwarnung.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen. Dr. Norden hat Ihnen das Leben gerettet. Beim zweiten Mal wird es nicht so wild.«

»Eine Routineoperation, ich weiß«, winkte Tobias ab und schloss die Augen.

Dr. Gruber überhörte den grimmigen Unterton.

»Ganz genau. Alles reine Routine.« Er stand am Bett seines Patienten und wartete, bis sich seine Brust ruhig hob und senkte. Hinter ihm öffnete sich die Tür. Benjamin drehte sich zu Natascha um und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

»Er schläft.« Auf Zehenspitzen schlich er sich hinaus.

Natascha folgte ihm.

»Schlaf ist die beste Medizin«, erklärte sie.

Benjamin musterte sie.

»Dasselbe sollten Sie auch tun. Sie sehen sehr müde aus.«

»Kein Wunder. Nach DEM Tag.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber Sie haben recht. Ich sollte nach Hause fahren und mich ein bisschen ausruhen. Tobias braucht mich und meine Kraft.« Sie verabschiedete sich von dem Assistenzarzt und machte sich auf den Weg. Das Klappern ihrer Absätze wurde leiser und verhallte schließlich ganz.

Nach einem Blick auf die Uhr beschloss auch Benjamin Gruber, dass es Zeit wurde, die Klinik zu verlassen. Genug erlebt für heute. Er steckte die Hände in die Kitteltaschen und ging davon. Die Schritte, die auf dem Flur verhallten, verrieten ihn.

Darauf hatte Tobias nur gewartet. Es kostete ihn alle Überwindung, sich aufzusetzen. Obwohl er das Gefühl hatte, mindestens drei Messer im Bauch zu haben, kämpfte er sich hoch. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, sein Atem ging stoßweise. Doch all das hielt ihn nicht davon ab, die Bettdecke zurückzuschlagen und die Beine über die Kante zu heben.

*

Fee Norden lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie legte die Hände an die Schläfen und stöhnte leise. Offenbar hatte sie ihre Leistungsfähigkeit überschätzt. Oder die Schwere ihrer Verletzung unterschätzt. Je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man es betrachtete.

Das Ergebnis war dasselbe. In ihrem Kopf dröhnte ein Presslufthammer und wollte einfach nicht damit aufhören. Sie öffnete die Augen wieder. Ihr Blick fiel durch das Fenster hinaus in die Dämmerung. Blaue Stunde. Ein schöner Name für die besondere Färbung des Himmels während der Zeitspanne nach Sonnenuntergang und vor Eintritt der nächtlichen Dunkelheit. Leider nicht ganz richtig. Violette Stunde wäre an diesem Abend treffender gewesen. Der Himmel hatte sich in alle Nuancen von Lila getaucht. Lila, der letzte Versuch. Lila, die Farbe des Feminismus. Oder die des 26. März, Tag der Epilepsie, im Englischen auch ›Purple Day‹ genannt.

Fee war so beschäftigt mit ihren Betrachtungen, dass sie nicht hörte, wie sich die Tür öffnete.

»Alles in Ordnung?«

Erst die besorgte Stimme ihres Mannes ließ sie zurückkehren.

»Dan!« Ein Leuchten huschte über ihr Gesicht. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass die ­Bezeichnung ›blaue Stunde‹ falsch ist.«

Er atmete auf, trat neben sie, stützte sich auf die Armlehnen und küsste sie.

»An wen müssen wir uns wenden, um uns zu beschweren?«

Sie lachte an seinen Lippen.

»Ich werde es herausfinden.«

»Weißt du was: Das glaube ich dir sogar.« Noch ein Kuss. Dann setzte sich Daniel auf die Schreibtischkante.

Sie musterte ihn aus schmalen Augen.

»Im Übrigen bin ich böse mit dir.«

»Ich weiß, und ich nehme alle Schuld auf mich.« Wie um sich vor einem drohenden Angriff zu schützen, hob er die Hände. »Ich habe Dr. Gruber nur deshalb gebeten, ein Auge auf dich zu werf …«

»Darum geht es nicht«, unterbrach Fee ihn.

»Nicht?« Daniel legte den Kopf schief.

»Du hast dich nicht um meinen Keksvorrat gekümmert. Jetzt habe ich Kopfschmerzen, weil ich unterzuckert bin.«

Um ein Haar hätte er laut aufgelacht.

»Wie konnte ich nur?« Er schüttelte den Kopf. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. »Ich fürchte, für diese Vergesslichkeit ist der Kollege Lammers verantwortlich.« Was für eine glänzende Überleitung!

Felicitas zog eine Augenbraue hoch.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Ich hatte heute ein denkwürdiges Gespräch mit ihm.«

»Lass mich raten! Er hat sich über mich beschwert.« Fee faltete die Hände auf dem Bauch. Ausgeschlossen, in diesem Augenblick den Body Scan zur Beruhigung anzuwenden. So blieb ihr nur eine ausgefeilte Atemtechnik, um ihren Puls in Zaum zu halten. »Was hat er gesagt?«

Daniel wusste, dass er behutsam vorgehen musste.

»Er behauptet, du würdest ihm ständig ins Handwerk pfuschen, ihm Vorschriften machen und nicht loyal ihm gegenüber sein.«

Einen Moment lang war nur das leise Rauschen des Computers zu hören. Rollläden, die geschlossen wurden. Ein Martinshorn in weiter Ferne.

Daniel hielt die Luft an.

Doch was tat Fee? Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte.

Er atmete weiter.

»Das hat er wirklich gesagt?«, japste Felicitas endlich. »Und du hast ihm geglaubt?«

»Ich dachte mir schon, dass er die Dinge wieder mal so dreht, dass sie in sein Bild der Welt passen.«

»Das hast du schön gesagt.« Fee wurde ernst. »Fakt ist, dass ein Kind während einer OP um ein Haar verblutet wäre, weil er einen wichtigen Gerinnungstest nicht durchgeführt hat. Und zwar aus Kostengründen.«

Daniels Nackenhaare sträubten sich.

»Ich werde sofort mit Fuchs sprechen.« Er zückte sein Handy und machte eine Notiz ein seinem Kalender.

»Er hat eigenmächtig meine Fortbildungen abgesagt, Medikamente zurückgeschickt. Krönung war allerdings, dass er sich mein Büro unter den Nagel reißen wollte.« Dieser Aufregung war die schönste Atemübung nicht gewachsen. »Die Handwerker wollten es schon vermessen.«

Das war ja noch schlimmer, als Daniel vermutet hatte. Und trotzdem … Er rutschte von der Tischkante, verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen.

»Das ist wirklich haarsträubend«, murmelte er.

Fees Augen wurden schmal.

»Das klingt nach einem Aber.«

Ihr Mann blieb stehen und suchte ihren Blick.

»Feelein, dir muss ich doch nicht erklären, dass wir jeden guten Arzt brauchen«, warb er leidenschaftlich um ihr Verständnis. »Und Lammers ist mehr als das. Das weißt du so gut wie ich. Er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Und wie jedes Genie ist er eben auch eine Diva.« Er seufzte tief. »Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren. So gern ich ihn auch auf der Stelle feuern würde.«

Fees Augen sprühten Funken.

»Du findest es richtig, dass er ständig meine Position in Frage stellt? Mich tagtäglich in irrwitzige Machtkämpfe verwickelt?« Sie hielt es nicht länger auf ihrem Stuhl aus und sprang auf. »Wie groß könnte sein Genie sein, wenn er seine Kraft ausnahmsweise einmal auf seine Arbeit und nicht an mich verschwenden würde?«

»Ganz deiner Meinung. Aber was soll ich tun? Sag’ du es mir!«

Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Es war Daniel, der schließlich die Hände auf die Schultern seiner Frau legte.

»Ich mache mir solche Sorgen um dich. Was, wenn diese ständige Belastung, dieser Kleinkrieg mit Lammers schuld an deinem Herzinfarkt ist?«

»Und deswegen soll ich meinen Platz räumen?«, fragte Felicitas ungläubig. »Ist es das, was du hören willst?«

Langsam schüttelte Daniel Norden den Kopf. Er wusste, um was es ging. Spürte sie selbst jeden Tag aufs Neue, diese Berufung als Arzt. Genau wie Fee war sie ihm in die Wiege gelegt worden. Doch im Gegensatz zu seiner Frau hatte er keine Hürden überwinden müssen. War einen geraden Weg gegangen. Fee dagegen hatte sich lange gedulden müssen, ehe sie Zeit genug gehabt hatte, ihrer Berufung zu folgen. Nachdem die Kinder sie nicht mehr gebraucht hatten, hatte sie alle Kraft dafür aufgewendet, ihr Ziel – Chefärztin der Pädiatrie – zu erreichen. Und das, obwohl ihr Studium viele Jahre zurücklag. Daniel hatte sie nach Kräften unterstützt, tat es immer noch. Aus eigener Erfahrung wusste er: Wer eine Berufung spürte, der folgte diesem Signal unbeirrbar. Egal, wie viele Steine sich ihm in den Weg legten. Selbst, wenn sie die Größe von Felsbrocken hatten und Volker Lammers hießen.

»Nein, mein Schatz. Das ist es mit Sicherheit nicht, was ich hören will«, sagte er mit Sandpapierstimme. Er legte die Arme um ihre Schultern – wie Kinderschultern und viel zu schmal – und zog sie an sich. »Ich will einfach, dass du glücklich bist.«

Fee zögerte. Endlich legte sie den Kopf an seine Brust.

»Dann hilf mir, Lammers in Schach zu halten. Das hat doch bisher auch ganz gut geklappt.«

*

Ein Kreischen zerriss die liebevolle Stille. Schlagartig pumpte Fees Herz doppelt so viel Blut durch die Adern. Daniel dagegen zuckte nur kurz zusammen. Ein Blick auf den Pieper genügte.

»Tobias Lichte. Verdammt!« Er hauchte Fee einen Kuss auf die Wange.

Im nächsten Augenblick trommelten seine Schritte über den Vinylboden. Auf halbem Weg kam ihm Natascha Lichte entgegen.

»Mein Mann … Er war nicht mehr in seinem Zimmer. Die Schwestern haben keine Ahnung, wo er steckt.« Ihre Stimme klang dumpf durch das Taschentuch. In schwarzen Bächen rann die Wimperntusche über ihre Wangen.

»Weit kann er in seinem Zustand ja nicht sein«, presste Dr. Norden durch die Lippen. Er stürmte in das Intensivzimmer. Die verwaisten Geräte schlugen Alarm. »Ausschalten! Sofort!«, herrschte er eine der Schwestern an, die wie aufgescheuchte Kaninchen durch die Gegend sprangen. Er öffnete und schloss Schränke. Ging auf die Knie, um einen Blick unter das Bett zu werfen. Sah hinter die Tür. Vergeblich. »Das gibt’s doch nicht! Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«

Daniel rannte zur Tür.

»Wir haben auch schon überall gesucht«, erklärte Schwester Elena mit einem Blick auf ihren Kollegen Weigand. Der fuhr sich mit der Hand durch das blasse Gesicht.

»Die kleinste Anstrengung kann tödlich sein.«

»Ich weiß«, erwiderte Dr. Norden tonlos. Er stand wieder auf dem Flur. Sah von links nach rechts und zurück. Wo sollte er anfangen zu suchen? Gab es überhaupt Hoffnung?

*

»Oh Mist!« Schwester Lisa stand in dicker Strickjacke im Aufenthaltsraum vor den Spinden. Sie hielt einen großen Knopf hoch. »Hast du mal Nadel und Faden?«

Dr. Gruber zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch und drehte sich um.

»Nein. Aber in der Chirurgie können Sie dir sicher weiterhelfen.«

»Sehr witzig.« Sie schnitt eine Grimasse und wandte sich mit ihrer Bitte an eine Kollegin.

Benjamin schulterte seine Tasche, wünschte allerseits einen schönen Abend und verließ den Aufenthaltsraum. Er war kaum durch die Tür getreten, als er sich auch schon wieder in Sicherheit brachte. Schwester Elena und Matthias Weigand spurteten vorbei. Er sah den beiden nach und wunderte sich. Mehr aber auch nicht. Der Tag war lang und anstrengend genug gewesen. Und noch war die Ungewissheit nicht vorüber. Er fuhr sich über die Augen und machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg Richtung Ausgang.

Surrend schoben sich die Glastüren vor ihm auf. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Sie roch nach Schnee. Benjamin zog den Reißverschluss noch weiter zu und den Hals ein. Er steckte die Hände tief in die Taschen und marschierte los, hinein in die laternenbeschienene Dunkelheit. Kieselsteine knirschten unter seinen Füßen. Sein Atem stand in kleinen Wolken vor seinem Mund. Ein Fahrrad quietschte an ein paar Fußgängern vorbei, die es eilig hatten, nach Hause zu kommen. Ein paar Meter entfernt, verdeckt von Büschen und Sträuchern, rauschte der Verkehr vorbei. Benjamin war der einzige Gast an der Bushaltestelle. Die Straßenlaterne war kaputt. Dunkelheit umgab ihn. Er stellte sich in eine Ecke, zog die Schultern hoch und wartete. Aber was war das? Ein Röcheln und Keuchen in seinem Rücken? Benjamins Nackenhaare richteten sich auf. Er warf einen Blick über die Schulter. Das Geäst neben der Bushaltestelle war dicht. Ein Rascheln. Benjamin schluckte. Hoffentlich kam der Bus bald. Er trat von einem Bein auf das andere. Sah sich immer wieder um. Da! Da war es wieder! Diesmal laut und deutlich. Adrenalin flutete Benjamins Adern. Jeder Muskel spannte sich an. Er zögerte, machte einen Schritt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Vielleicht ein Igel. Die machten doch auch so komische Geräusche, wenn sie in Gefahr waren. Er streckte den Fuß aus. Schob das Gebüsch auseinander. Und schrie auf.

»Ein Fuß. Da liegt ein Fuß«, jammerte er. Sah sich um. Stellte fest, dass er immer noch allein war. Überlegte. Und kam immer wieder zum selben Schluss: Er hatte keine Wahl.

»Hallo! Hören Sie mich?« Benjamin ging in die Knie. Schob das Gebüsch weiter auseinander. Ein Auto fuhr vorbei. Der Scheinwerfer glitt über die Äste. Ein Körper blitzte auf, ein Gesicht, und verschwand wieder in der Dunkelheit.

»Mein Güte! Herr Lichte! Was machen Sie denn hier?«

»Helfen Sie mir hoch. Dann geht es schon wieder«, ächzte Tobias.

Das war leichter gesagt als getan. Schweißperlen standen auf Benjamin Grubers Stirn, und seine Wangen glühten, bis er Tobias endlich in die Vertikale gebracht hatte. Wie ein nasser Sack lehnte er an der Wand der Bushaltestelle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er wieder einknicken würde.

»Sie können von Glück sagen, dass Sie noch nicht tot sind.« Mit zitternden Fingern nestelte Benjamin das Mobiltelefon aus der Hosentasche. Um ein Haar wäre es heruntergefallen. Er brauchte drei Anläufe, um die Nummer der Behnisch-Klinik im Telefonbuch zu finden und zu wählen. Endlich meldete sich die erlösende Stimme.

*

Nachdenklich sah sich Felicitas Norden in ihrem Büro um. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Hatte sie auch nichts vergessen? Die wichtigsten Telefonate geführt? Alle Briefe verschickt? Die fälligen Rechnungen zur Bezahlung an die Buchhaltung weitergeleitet? Den Computer ausgeschaltet? Endlich drückte sie auf den Knopf der Schreibtischlampe. Dunkelheit umgab sie. Zum Glück stand ihre Tür halb offen. Mit Absicht. Abgekapselte Mitarbeiter oder unzugängliche Kollegen waren ihr ein Gräuel. Offene und eindeutige Kommunikation war ein entscheidendes Kriterium für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihren Mitarbeitern. Offenheit in den Fluren gehörte zu ihrer Philosophie, die manchmal, wie in diesem Fall, durchaus auch einen praktischen Sinn hatte. Fee durchquerte den dunklen Raum und gelangte sicher zur Tür. Ihre Schritte hallten über den fast menschenleeren Flur. Als sie an Lammers’ Büro vorbeikam, blieb sie stehen. Natürlich: Seine Tür war geschlossen. Schon wollte sie weitergehen, als sie den Lichtschein bemerkte, der unter der Tür hindurch auf den Gang fiel. Verräterisch. Diesmal überlegte Felicitas nicht lange. Sie klopfte. Trat ein, ohne ein »Herein« abzuwarten.

Lammers saß am Schreibtisch. Beim Anblick seiner Chefin legte er den Kugelschreiber aus der Hand und lehnte sich zurück.

»Ich habe schon auf Sie gewartet.« Er sah auf die Uhr. »Erstaunliches Durchhaltevermögen. Dafür, dass Sie erst heute wieder aus der Versenkung aufgetaucht sind.«

Fee hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihm zu gestehen, dass ihr Kopf dröhnte vor Kopfschmerzen. Dass sie sich erschöpft fühlte. Dass ihr alles wehtat, allem voran das Herz. Als hätte sie ein LKW angefahren und die Brust erwischt. Ein Aufenthalt in der Reha, wie Daniel ihn vorgeschlagen hatte, umsorgt und gepflegt, das klang wie der ultimative Traumurlaub. Doch der Preis dafür war zu hoch! Sie blieb in der Tür stehen.

»Sie hätten mit mir sprechen müssen. Nicht mit meinem Mann.«

»Ich habe es versucht. Vergeblich, wenn Sie sich recht erinnern.«

»Sie wollten mein Büro besetzen.«

»Ich bin für klare Verhältnisse«, erwiderte Volker Lammers kühl.

»Das habe ich gemerkt.« Felicitas hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Später! Nur jetzt keine Schwäche zeigen. Später hätte sie alle Zeit der Welt dafür, sich auszuruhen. Zwei volle Tage. Ein ganzes Wochenende. »Lange Zeit hatte ich gehofft, dass wir beide doch Freunde werden können. Jetzt nicht mehr.«

Lammers lachte. Ein Geräusch wie klirrendes Eis in einem Glas.

»Das beweist mal wieder, dass Sie viel zu emotional sind. Wer braucht denn schon Freunde?«

Felicitas strich sich über den Arm, als wollte sie die Gänsehaut auf der Haut glätten.

»Sie tun mir wirklich leid.« Das Bedauern in Ihrer Stimme war echt. »Diese Klinik hier ist nur erfolgreich, weil wir alle als Team zusammenarbeiten. Alle. Bis auf Sie.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Felicitas sah ihren Stellvertreter an. Sie hatte es geahnt: Seine Augen waren leer. Dort, wo andere Menschen ein Herz, eine Seele hatten, war bei ihm nur ein großes, schwarzes Loch. Wie diese Löcher im Weltraum, aus denen nichts entkommen konnte, wenn es einmal hineingeraten war. Dem nicht einmal Lichtstrahlen entweichen konnten. Es war frustrierend, ernüchternd. »Gute Nacht, Dr. Lammers.«

Fee Norden drehte sich um und verließ das Büro. Ihre Schritte waren längst auf dem Flur verhallt, als Volker Lammers immer noch dasaß und auf den Fleck starrte, an dem sie gestanden hatte.

*

Einer der Rettungsassistenten klopfte vom Fahrerraum gegen die Trennscheibe und rief:

»Wir sind da!«

Da spürte Dr. Gruber auch schon, wie der Wagen über die Schwelle an der Auffahrt zur Notaufnahme rumpelte.

»Das war mit Abstand meine kürzeste Fahrt im Rettungswagen«, sagte er zu seinem Patienten.

Doch Tobias reagierte nicht. Mit weit geöffneten Augen, die Hände über der Brust gefaltet wie ein Toter, lag er festgeschnallt auf der Liege. Nur seine Brust, die sich hob und senkte, zeugte davon, dass er noch am Leben war. Die Atemmaske unterstützte ihn dabei, es auch zu bleiben. Genau wie die Infusion, die in den Zugang auf seinem Handrücken tropfte.

Der Rettungsarzt Dr. Erwin Huber und sein Assistent stiegen aus. Sie öffneten die Türen. Metall klirrte auf Metall, als sie die Beine der Liege ausklappten. Benjamin wartete, bis Tobias unten angekommen war. Dann sprang er selbst hinunter.

Der Patient wurde schon erwartet. Daniel Norden, Schwester Elena und Dr. Weigand standen im gleißenden Scheinwerferlicht vor der Ambulanz. Natascha Lichte war bei ihnen.

»Tobias!« Ihr Schrei hallte von den Wänden des Innenhofs wider. Sie stürzte auf die Liege zu.

Es kostete Matthias alle Überzeugungskraft, dass sie den Weg frei machte.

»Herr Lichte, wie fühlen Sie sich?« Dr. Norden beugte sich über den Patienten.

Tobias presste die Lippen aufeinander und schwieg.

»Was haben Sie mit meinem Mann gemacht?«

Diese Frage konnte nur einer beantworten.

»Ich glaube, diesmal war es wirklich meine Schuld«, gestand Benjamin Gruber und wusste nicht, wohin er den Blick wenden sollte.

Gab es nicht ein Loch, in das er sich verkriechen konnte?

»Das erzählen Sie uns später!«, sprach der Klinikchef ein Machtwort. »Bringen Sie Herrn Lichte in Schockbox drei«, wies er einen Pfleger an, der herbeigeeilt war. »Sie erledigen die Formalitäten mit dem Kollegen Huber. Und danach sehen Sie bitte nach meiner Frau. Wie ich Fee kenne, sitzt sie immer noch am Schreibtisch.« Er nickte Dr. Gruber zu, ehe er dem Tross folgte, der sich auf den Weg gemacht hatte.

Ein paar Minuten später schob er den Schallkopf über Tobias Lichtes Unterleib. Sein Blick konzentrierte sich auf den Monitor des Ultraschallgeräts. »Keine freie Flüssigkeit im Bauchraum.«

Alle Anwesenden atmeten auf. Matthias Weigand grinste.

»Ich will uns ja nicht loben. Aber die Naht ist nicht von schlechten Eltern.«

Die entspannten Gesichter machten Natascha Mut.

»Wie geht es Tobias?«, wagte sie eine Frage aus dem Hintergrund.

Daniel Norden drehte sich zu ihr um.

»Ihr Mann hat großes Glück gehabt. Dieser Ausflug so kurz nach den Eingriff hätte auch ganz anders ausgehen können.« Er machte eine einladende Handbewegung.

Nataschas Augen schwammen in Tränen. Sie trat ans Bett und beugte sich über Tobias.

»Was machst du denn für Sachen?«, schniefte sie.

Er blinzelte sie an. Öffnete mühsam die Lippen.

»Ich … ich … keine Operation mehr«, krächzte er.

Natascha lachte. Es klang nicht froh.

»Du musst doch gar nicht mehr operiert werden«, raunte sie ihm zu, laut genug, dass die Klinikmitarbeiter sie hörten.

Daniel, Elena und Matthias tauschten vielsagende Blicke. Kurz darauf fühlte Natascha zwei Hände an ihren Schultern.

»Das ist leider so nicht ganz richtig.« Als Klinikchef fühlte sich Daniel Norden dazu verpflichtet, die Wahrheit zu überbringen. Gewöhnen würde er sich aber nie daran. Nicht an den Schock in den Augen der Patienten und ihrer Angehörigen. Nicht an den Unglauben. Aber auch nicht an die Hoffnung, die es manchmal einfach nicht gab.

Natascha Lichte neigte den Kopf und sah ihn an.

»Wie meinen Sie das?«

»Bevor wir den Blinddarm entfernen konnten, ist das Aneurysma eingerissen. Danach blieb keine Zeit mehr …«

»Das ist nicht wahr!« Nataschas Stimme war schrill wie eine Alarmglocke und hatte dieselbe Wirkung. Sie packte Daniel am Revers. Trommelte mit den Fäusten auf seine Brust ein. »Sagen Sie, dass das nicht wahr ist! Sagen Sie es! Sofort!«

Daniel wusste wirklich, warum er diese Situationen hasste. Er griff nach ihren Handgelenken und hielt sie fest. Erstaunlich viel Kraft, die er dazu aufwenden musste.

»Es tut mir leid, Frau Lichte.«

Nataschas Kinn fiel auf ihre Brust. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Dr. Norden bedeutete seinen Kollegen, sich um den Patienten zu kümmern. Ein Blick genügte, und Schwester Elena und Dr. Weigand wussten, was sie zu tun hatten. Lautlos beendeten sie die Untersuchung und brachten Tobias Lichte schließlich zurück auf die Intensivstation. Daniel dagegen blieb so lange bei Natascha, bis sie sich beruhigt hatte. Endlich wurde ihr Schluchzen leiser, versiegten die Tränen. Als sie den Kopf hob, waren ihre Augen rot, die zarte Haut darum geschwollen. Aber zumindest glänzten sie nicht mehr. Doch Daniel Nordens Erleichterung sollte nicht lange währen.

»Ich lasse nicht zu, dass Tobias noch einmal operiert wird«, sagte sie mit einer Stimme, die keine ­Fragen offenließ.

*

Fee Norden drückte die Klinke herunter. Verschlossen.

»Seltsam.« Sie sah auf die Uhr. Gut, es war schon nach sieben. Aber hätte Daniel die Klinik verlassen, ohne sie mitzunehmen? »Vielleicht noch ein Notfall.« Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, und machte sich auf den Weg Richtung Ambulanz. Um diese Uhrzeit wurde es ruhig auf den Fluren. Wechselte die Beleuchtung in den Nachtmodus. Ein angenehmes, indirektes Licht, das die farbenfrohen Bilder an den Wänden erst richtig zur Geltung brachte. Doch Felicitas hatte keine Augen für die Schönheit. Stimmen, das leise Quietschen von Rädern, ließen sie hellhörig werden. Sie täuschte sich nicht. Zwei Kollegen schoben ein Bett um die Ecke. Sie erkannte die beiden sofort.

»Elena, Matthias, wisst ihr zufällig, wo Daniel ist?«

»Der steckt bis zum Hals in der Notaufnahme«, unkte Matthias Weigand.

Elena war nicht zum Scherzen zumute. Sie musterte ihre Freundin aus schmalen Augen.

»Kannst du mir mal verraten, was du noch hier machst? Schon vergessen, dass du erst kürzlich ­einen Herzinfarkt überstanden hast?«

»Und eine schwere Kopfverletzung«, ergänzte Dr. Weigand.

Aus den Augenwinkeln sah Felicitas, dass Rettung nahte.

»Keine Sorge. Daniel hat einen Kollegen zu meiner Überwachung abgestellt.«

Elena war nicht überzeugt. Wenn es um ihre Arbeit ging, war Fee immer sehr erfinderisch.

»Und wen, wenn ich fragen darf?«

»Dr. Gruber.« Felicitas drehte sich zu Benjamin um, der gerade des Weges kam.

»Sie habe ich gesucht!« Er trat zu den Kollegen. »Was ist? Warum schauen Sie mich so an?« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Stimmt es, dass Sie auf Fee aufpassen sollen?«, fragte Elena spitz.

In Erwartung eines Vorwurfs hob Benjamin abwehrend die Hände.

»Auftrag vom Chef persönlich. Ich kann nichts dafür.«

»Habe ich es euch nicht gesagt?«, frohlockte Fee.

Elena entspannte sich.

»Na schön. Dann bringen wir zwei Hübschen Herrn Lichte jetzt zurück auf die Intensiv. Und Sie«, sie sah hinüber zu Benjamin, »achten darauf, dass Felicitas auch wirklich nach Hause geht.«

»Ich werde jeden ihrer Schritte bewachen.« Er hob die Hand zum Schwur.

»Bis ins Badezimmer müssen Sie ihr nicht folgen«, wies Matthias Weigand den Assistenzarzt zurecht.

Sein Lachen hallte noch über den Flur, als die beiden mit ihrem Patienten um die Ecke verschwunden waren.

»Tut mir wirklich leid, dass ich Sie zum Gespött aller mache«, entschuldigte sich Benjamin mit glühend roten Wangen. »Heute ist wirklich nicht mein Tag.«

Es fehlte nicht viel, und Fee hätte ihn in die Arme geschlossen und getröstet.

»Machen Sie sich nichts draus. Dafür habe ich zum Schluss noch eine gute Nachricht für Sie.« Seite an Seite wanderten sie weiter.

Benjamin zog eine Augenbraue hoch. »Ach ja? Und welche?«

»Dass Sie aller Wahrscheinlichkeit nach weder unter Migräne, noch unter einem Glaukom oder gar einem Gehirntumor leiden.«

Die zweite Augenbraue folgte.

»Nicht?«

Fee schüttelte vorsichtig den Kopf, bedacht darauf, ihn nicht noch mehr in Aufruhr zu versetzen.

»Nach allem, was Sie mir so erzählt haben, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Ihr Flimmerskotom stressbedingt ist.«

»Stress?«, wiederholte Benjamin ungläubig.

»Ich habe mich in der aktuellen Literatur schlau gemacht«, fuhr Fee fort. »So wird unter anderem beschrieben, dass es im Zusammenhang mit physischer beziehungsweise psychischer Überlastung häufiger zum Augenflimmern kommt. Dazu passt, dass Sie das Flimmern vorzugsweise im OP haben.« Sie seufzte. »Offenbar sind Sie zu emotional.« Manchmal war es wie verhext. Was der eine zu viel hatte, fehlte dem anderen. »Dabei ist Empathie prinzipiell eine herausragende Eigenschaft, besonders im Arztberuf.«

Benjamin Gruber hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er starrte auf den Boden vor seinen Füßen, als hätte er Angst zu stolpern. Oder suchte er dort nach einer Lösung für sein Problem?

»Viele meiner Mitstudenten hatten damals besondere Schwierigkeiten mit dem Leidensweg psychiatrischer Patienten. Sie konnten sich besser abgrenzen von somatischen Krankheiten wie zum Beispiel Krebs oder Herzkrankheiten.« Seine Stimme wurde leiser. »Bei mir war es eigentlich eher umgekehrt. Ist es bis heute. Schwere körperliche Krankheiten machen mir furchtbar zu schaffen.«

Bis zum heutigen Tag hatte er sich diese Tatsache nicht eingestanden. Doch plötzlich war es sonnenklar. Lag das an Fee Norden? An ihrem Talent, mit ihm zu sprechen? In einer Sprache, die er verstand?

»Na, sehen Sie! Dann sind wir doch schon einen großen Schritt weiter.«

Benjamin lächelte verschmitzt.

»Eigentlich wurde ich engagiert, um Ihnen zu helfen und nicht umgekehrt.«

»Sie haben mir mehr geholfen, als Sie denken«, versicherte Fee. Sie waren vor der Notaufnahme angekommen. Die automatischen Türen öffneten sich mit einem lauten Schmatzen. »Zu wissen, dass es Ärzte gibt wie Sie, ist ein großer Trost.« Er ahnte nicht, wie groß.

»Aber wie soll es jetzt mit mir weitergehen?« Benjamin ließ ihr den Vortritt.

»Sie haben Glück.« Fee zwinkerte ihm zu, als sie an ihm vorbei die Ambulanz betrat. »Auf eine Art und Weise sind wir Leidensgenossen. Auch ich soll mich ja möglichst viel entspannen. Deshalb kann ich Ihnen ein paar tolle Techniken beibringen, die mir sehr geholfen haben.«

»Wirklich?« Dr. Grubers Stirn glättete sich langsam.

»Wirklich. Und einen Versuch ist es allemal wert. Obwohl ich mir sicher bin, dass Sie einen tollen Psychologen abgeben würden.« Sie reichte ihm die Hand zum Abschied. »Darum kümmern wir uns morgen. Jetzt muss ich mich bei meinem Mann melden, bevor er sich unnötig Sorgen macht. Ach, da ist er ja schon!«

Doch Daniel erkannte seine Frau in diesem Moment nicht. Kopflos stürzte er an ihr vorbei, dicht gefolgt von Natascha Lichte, und verließ die Notaufnahme.

»Oh!« Fee sah den beiden verdutzt nach.

Benjamin Gruber reagierte sofort.

»Darf ich Sie nach Hause begleiten?«, wandte er sich an seine mütterliche Freundin und bot ihr galant den Arm. »Immerhin bin ich ihr offiziell bestellter Aufpasser.«

*

Minuten vorher hatten Schwester Elena und Dr. Weigand das Bett ihres Patienten wieder an seinen Platz im Intensivzimmer gestellt. Nachdem die Geräte angeschlossen waren und sie sich versichert hatten, dass alles in Ordnung war, hatten sie sich zurückgezogen. Tobias Lichte war allein zurückgeblieben. Die Überwachungsgeräte hatten gepiept. Das Licht war gedimmt gewesen. Eigentlich hätte er sich entspannen können. Er war in Sicherheit gewesen. Und doch hatte er sich ganz und gar nicht wohl gefühlt in seiner Haut. Der Ausflug schien ihm nicht bekommen zu sein. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er fror. Gleichzeitig war ihm heiß. Und dann diese Übelkeit. Von Atemzug zu Atemzug wurde es schlimmer. Lange würde es nicht mehr gut gehen. Er hob den Kopf und sah sich um. Weit und breit kein Gefäß, das für seine Zwecke geeignet war. Seine zitternde Hand suchte den Notknopf. Ein rotes Licht blinkte. Tobias keuchte und schluckte. Keuchte und schluckte. Es schien eine Ewigkeit vergangen, bis er endlich Schritte hörte. Eine Schwester trat an sein Bett.

»Herr Lichte …« Weiter kam sie nicht.

Eine eiskalte Hand packte ihren Arm. Um ein Haar hätte sie laut aufgeschrien.

»Eine Schüssel. Mir ist schlecht«, krächzte Tobias mit letzter Kraft, ehe sein Kopf zur Seite sackte.

Die Geräte schlugen Alarm.

Schwester Miriam hatte sofort reagiert. Wenige Atemzüge später trommelten Schritte über den Flur. Daniel Norden stürzte ins Zimmer. Natascha Lichte folgte ihm auf den Fersen.

»Was ist passiert?« Ohne die Schwester eines Blickes zu würdigen, kümmerte sich Dr. Norden sofort um den Patienten.

»Er sagte, dass ihm schlecht sei. Dann ist er ohnmächtig geworden.«

»Wahrscheinlich der Blinddarm«, mutmaßte Daniel.

Natascha rang die Hände. Ihre Knöchel traten weiß hervor.

»Stirbt er?« Ihre Stimme versagte.

»Nicht, wenn Sie einer Notoperation zustimmen. Andernfalls kann ich für nichts garantieren.« Er durchbohrte sie mit Blicken. Warum sagte sie nichts? Jede Sekunde zählte. »Jetzt liegt es an Ihnen.«

Natascha starrte zurück. Doch sie sah den Klinikchef nicht. Sie sah ihren Vater auf dem Sterbebett. Sah auch die gerötete, von geplatzten Äderchen durchzogene Nase. Seinen Bauch, der sich unter der Decke wölbte. Mit erschreckender Klarheit erkannte sie: Er war selbst für sein Schicksal verantwortlich. Nicht die Ärzte. Er selbst hatte seine Gesundheit ruiniert und deshalb die Operation nicht überlebt. Warum hatte sie diese Wahrheit nie zuvor erkannt? Dr. Nordens fordernder Blick ließ keine Zeit für Fragen. Er forderte eine Entscheidung.

»Operieren Sie!«, hörte sie sich sagen, noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte.

*

»Skalpell!« Ohne den Blick vom Operationsfeld zu wenden, hielt Dr. Norden die Hand auf. Das kühle Metall fühlte sich gut an. Er wog das Instrument kurz in der Hand. Ein letzter Blick zu Dr. Klaiber. Der Anästhesist nickte. Es konnte losgehen. Daniel setzte den Schnitt. Zügig arbeitete er sich vor. Der Zustand seines Patienten war kritisch, jede Minute konnte über Leben und Tod entscheiden. »Muskelschichten eröffnet. Da haben wir ja den Übeltäter.« Er wandte den Kopf. »Schweiß.«

Die Schwester tupfte ihm die glänzenden Perlen von der Stirn. Dr. Norden arbeitete weiter.

»Ich entferne jetzt den Appendix.« Das Piepen und Pfeifen der Überwachungsgeräte lieferten die Musik zu seiner Arbeit. Je nachdem, welcher Arzt die Operation leitete, herrschte mehr oder weniger Schweigen im Operationssaal. Daniel Norden unterhielt sich mit den Kollegen, wenn die Lage unkritisch war. An diesem Abend schwieg er beharrlich. Den Scherz eines Pflegers ahndete er mit einem strengen Blick. Schlinge mitsamt Wurmfortsatz landeten leise klirrend in der Chromschale. Der größte Teil der Operation war geschafft. »Ich ligiere den Stumpf und versenke ihn im Blinddarm.« Das war normalerweise die Stelle, an der der Operateur an den Assistenten übergab. Nicht dieses Mal. Dr. Daniel Norden leitete den Eingriff bis zum Schluss. Erst, als der Bauchschnitt verschlossen war und Dr. Klaiber versicherte, dass der Patient stabil sei, atmete er auf.

»Gute Arbeit, Kollege Norden«, lobte Matthias Weigand, als er im Vorraum des Operationssaals neben Daniel am Waschbecken stand. Zur Feier des Tages spritzte er seinem Freund und Chef Wasser ins Gesicht.

»Hey! Was soll das?« Im ersten Moment wollte Daniel wütend werden. Doch dann besann er sich eines Besseren. Hatte er nicht allen Grund, froh und glücklich zu sein? Die Bilanz am Ende dieses aufregenden Tages las sich doch gar nicht so schlecht. Seine Frau hatte ihre Erinnerungen wiedergefunden. Ein Aneurysma war zur rechten Zeit geplatzt. Ein Blinddarm hatte im richtigen Augenblick rebelliert. Tobias Lichte würde wieder gesund werden. Das gemeinsame Essen mit Frau und Kindern bei ihrem Lieblingsitaliener Enzo? Gut, es konnte nicht alles perfekt sein. Blieb nur die Frage nach seiner Frau. Wo steckte Fee? Daniel trocknete die Hände ab und zog das Mobiltelefon aus der Tasche. Schaltete es ein, um seiner Fee eine Nachricht zu schicken. Ob sie wohl in der Klinik auf ihn gewartet hatte? Ein Piepen überraschte ihn. Eine neue Nachricht!

»Wer schreibt dir denn?«, erkundigte sich Matthias Weigand und warf einen Blick über seine Schulter. »Oh làlà! Der schüchterne Benjamin. Traut er sich nicht, mit dir zu sprechen?«

»Blödmann!« Daniel versetzte seinem Freund einen Ellbogenstoß in die Rippen. Er öffnete die Nachricht.

»Habe Ihre Frau nach Hause begleitet. Netter Versuch. Ihre Familie erwartet Sie bei Enzo. Bis morgen. Grüße, Benjamin Gruber.«

Lächelnd steckte Daniel Norden das Telefon ein. Genau so und nicht anders sah es aus: Das Ende eines perfekten Tages!

Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman

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