Читать книгу Dr. Norden Box 10 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

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»Der arme Kerl schafft es kaum noch, die Knöpfe an seiner Hose zu schließen. Haare kämmen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit!« Als Felicitas Norden von den Beschwerden ihres jungen Patienten berichtete, wurde ihr das Herz schwer. »Es fällt Kevin schwer, sich an- und auszuziehen, und seine Hände und Beine fühlen sich taub an.«

Dr. Daniel Norden saß seiner Frau am Tisch des Cafés ›Schöne Aussichten‹ gegenüber, wo sie sich in ihrer Mittagspause getroffen hatten. Während des Essens – sie hatten sich Flammkuchen und Gemüsequiche schmecken lassen – hatten sie über dies und das geplaudert. Doch jetzt konnte Fee mit ihren Sorgen nicht länger hinter dem Berg halten.

»Wie lange ist der Junge jetzt schon bei euch in der Klinik?«, erkundigte sich Daniel und nippte an seinem Kaffee.

»Seit zwei Tagen. Er hat mit seiner Mutter Urlaub in Indien gemacht und sich dort laut Meinung eines Kollegen eine Typhus-Infektion eingefangen. Als sich sein Zustand nicht gebessert hat, hat er Kevin in die Klinik eingeliefert.«

»Der Junge war nicht geimpft?« Um seiner Missbilligung Ausdruck zu verleihen, zog Dr. Norden eine Augenbraue hoch.

»Nein. Und keine Sorge, ich halte das für ebenso verantwortungslos wie du. Aber leider können wir das jetzt nicht mehr ändern.«

»Zumal ich nicht dran glauben kann, dass es sich wirklich um Typhus handelt«, gab Daniel zu bedenken. »Wenn es Kevin trotz Antibiotika nicht besser geht, muss was anderes dahinter stecken.«

»Das versuche ich Lammers ja auch klarzumachen«, klagte Fee ihr Leid über den ungeliebten Kollegen. »Aber er lacht mich nur aus und meint, ich wäre zu ungeduldig und würde dem Jungen keine Chance zur Genesung geben. Eine typisch weibliche Eigenschaft.« Der Ärger trieb ihr das Blut in die Wangen. In diesem Moment sah sie so jung aus wie damals, als Daniel sich in sie verliebt hatte, und schlagartig war das Gefühl von damals wieder da.

»Hat er das gesagt?«, fragte Daniel, und ein Lächeln spielte um seinen Mund.

»Sag bloß, du findest das lustig?«

Unmöglich für Dr. Norden, seiner Frau in diesem Moment seine Liebe zu gestehen. Deshalb musste er sich wohl oder übel schnell eine Antwort einfallen lassen.

»Ich finde es lustig, dass du dich von solchen Bemerkungen irritieren lässt.«

»Tue ich gar nicht«, verteidigte Fee sich. »Aber weißt du, wie es sich anfühlt, wenn deine Arbeit ständig kritisiert wird? Wenn du dich ständig mit Widerspruch und Querulantentum herumschlagen musst, statt Unterstützung zu erfahren?«, machte sie ihrem Ärger über den Kollegen, der so eifrig an ihrem Stuhl sägte, Luft. »Ich möchte meine Kraft darauf verwenden, mich um meine Patienten zu kümmern, und nicht darauf, mich mit meinem Kollegen herumzustreiten und meine Diagnosen zu verteidigen.« Sie war so aufgebracht, dass sie ganz vergaß, ihren Kaffee zu trinken.

Als Tatjana Bohde, die Chefin der Bäckerei mit dem angeschlossenen Café und Freundin von Danny Norden, zum Kassieren kam, war er kalt.

»O je, hat Marla wieder mal ihre Herzinfarktmischung serviert oder warum hast du ihn nicht getrunken?«, erkundigte sich Tatjana bei ihrer Schwiegermutter in spe.

»Wie bitte? Was?« Felicitas war sichtlich verwirrt und wusste im ersten Moment nicht, wovon Tatjana sprach.

»Der Kaffee … was ist los mit dir? Du bist in letzter Zeit so zerstreut«, sagte sie Fee auf den Kopf zu, während sie das Wechselgeld abzählte.

»Der Kaffee war gut«, beeilte sich die stellvertretende Chefin der Pädiatrie zu versichern. »Aber mein Kollege ärgert mich mal wieder.«

»Passiert ein bisschen oft in letzter Zeit«, erinnerte sich Tatjana an Fees abendliche Erzählungen. »Warum hält Jenny so stoisch an ihm fest, wenn er nur Unruhe in die Klinik bringt?«, stellte sie eine berechtigte Frage, die so oder anders schon öfter gefallen war.

»Ganz einfach: Weil er diese Kommentare nur loswird, wenn wir allein sind«, hatte Felicitas eine einfache Erklärung. »Kaum sind ein paar Kollegen anwesend«, Fee schnippte mit den Fingern wie ein Zauberer, »und schwupps, ist er die Liebe in Person. Kein Mensch glaubt mir, dass er so gemein sein kann.« Fee seufzte. »Mal abgesehen davon, dass er fachlich wirklich sehr gut ist. Er führt Operationen erfolgreich durch, an die wagen andere noch nicht einmal zu denken.«

»Klingt ja irgendwie psychopathisch.« Tatjana dachte nicht daran, aus ihren Gedanken ein Geheimnis zu machen.

»Oder einfach nur sehr manipulativ«, gab Daniel zu bedenken und griff über den Tisch nach der Hand seiner Frau, um durch diese Geste seine Solidarität und Liebe zu bekunden.

»Schade, dass man den Leuten nicht hinter die Stirn schauen kann«, seufzte die Bäckerin und griff nach Fees Tasse. »Soll ich dir einen neuen bringen?«

»Nein, danke.« Die Ärztin sah auf die Uhr. »Es wird Zeit, dass ich wieder in die Klinik fahre. Zu lange will ich Lammers dort nicht unbeaufsichtigt lassen.«

»Was ist mit Mario?«, erkundigte sich Daniel nach seinem Schwager, der die Leitung der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik innehatte.

»Jenny ist heute früh auf eine Vortragsreise in die USA aufgebrochen.«

»Ach, richtig«, erinnerte sich Daniel und stand auf, um seiner Frau in die Jacke zu helfen. »Und Mario hat mal wieder das Vergnügen, sie zu vertreten.«

Fee nickte, dankbar dafür, zumindest kurz an etwas anderes denken zu können.

»Vergnügen trifft es ziemlich gut! Nach den Ereignissen vom letzten Mal ist er recht skeptisch«, erwiderte sie und musste an die Miene denken, die Mario nach der Besprechung mit der Klinikchefin zur Schau gestellt hatte.

»Wenn ihr auch absichtlich Blutkonserven vertauscht, um seine Belastbarkeit auf die Probe zu stellen…«, schmunzelte Daniel.

Inzwischen konnte auch seine Frau über diese Ereignisse lachen. Damals allerdings war es gar nicht lustig gewesen, und um ein Haar hätte Jenny Behnisch aus dem Urlaub zurückkommen müssen. Zum Glück war aber auch diese Geschichte gut ausgegangen, und inzwischen war Gras darüber gewachsen.

Die Erinnerung an den kleinen Leon stimmte Fee positiv, dass sie Volker Lammers weiterhin in Schach halten konnte. Irgendwann würde er aufgeben und sich zu einer Zusammenarbeit entschließen. Das war ihre heimliche Hoffnung, als sie sich von Tatjana verabschiedete und gemeinsam mit ihrem Mann vor das Café trat.

»Bis heute Abend, Feelein.« Daniel küsste seine Frau vor der Tür und strich ihr eine Strähne ihres weizenblonden Haares aus dem Gesicht. »Lass dich nicht unterkriegen. Und denk dran: Ich liebe dich.«

»Ehrlich gesagt wüsste ich gar nicht, ob ich diesen Unsinn ohne dich überhaupt durchstehen würde.«

»Das siehst du falsch«, korrigierte er sie. »Ohne mich wärst du gar nicht dort, würdest ein herrlich ruhiges Leben an der Seite eines langweiligen Mannes führen und die Welt der Halbgötter in Weiß nur aus dem Fernsehen kennen.«

Über diese Vorstellung konnte Felicitas nur lachen.

»Da ist mir die Wirklichkeit doch tausend Mal lieber!«« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Mann zu küssen. »Übrigens liebe ich dich auch, Halbgott in Weiß«, raunte sie ihm noch zu, ehe sie sich endgültig abwendete und leichtfüßig davonging.

Auf dem Weg zum Wagen klingelte das Handy in ihrer Handtasche, und sie nestelte es heraus. Daniel sah noch, wie sie das Haar in den Nacken warf und das Telefon ans Ohr hielt. Dann bog sie um die Ecke und war seinem Blick entschwunden.

*

An diesem Tag begann die Tortenkünstlerin Marianne Hasselt ih­re Arbeit in der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ erst am frühen Nachmittag. Ihr Freund Mario Cornelius hatte Spätschicht, und so nutzte sie die Gelegenheit, ihn in die Klinik zu fahren. Da sich das Paar wie so oft nicht trennen konnte, parkte sie den Wagen vor der Klinik und brachte Mario bis zum Eingang.

»Diesmal musst du dich gleich durchsetzen und den Leuten zeigen, wo es langgeht, damit es nicht wieder zu solchen Situationen wie beim letzten Mal kommt«, erklärte sie ihm im Plauderton, und hängte sich bei ihm ein.

»Kannst du bitte endlich damit aufhören.« Mario verdrehte die Augen. Es war nicht zu überhören, dass er der Mahnungen allmählich überdrüssig war.

»Komm schon, das ist doch nicht so schlimm. Jeder von uns braucht hin und wieder einen Schubs in die richtige Richtung«, versuchte Marianne, ihren Freund zu beschwichtigen. »Und wenn du gleich klare Ansagen machst, versucht erst gar keiner, dir auf der Nase rumzutanzen.«

»Bitte Marie, hör auf damit, ja?« Mario war der Verzweiflung nahe. »Nur weil ich Jenny vertrete, bin ich noch lange nicht Chef.«

»Hallo, Chef!«, ertönte in diesem Augenblick eine Stimme von hinten.

Marianne wollte sich ausschütten vor Lachen, während sich Mario zu Jennys Assistentin Andrea Sander umdrehte. Sie waren vor dem Eingang der Klinik angekommen. Andrea blieb vor dem Kinderarzt und seiner Freundin stehen und sah ihn erwartungsvoll an.

»Wenn ihr alle schon ein Machtwort von mir hören wollt, will ich euch nicht enttäuschen«, kündigte er an. »Meine erste Amtshandlung wird sein, dass jeder, der mich Chef nennt, zehn Euro in die Kaffeekasse zahlen muss«, verkündete Mario mit großer Geste.

Sowohl Andrea als auch Marianne hatten mit einer schwerwiegenden Ankündigung gerechnet und mussten sich zurückhalten, um nicht laut loszulachen.

»So ist es recht! Sie müssen sich gleich Autorität verschaffen«, scherzte Andrea Sander und zwinkerte Mario zu.

»Jawohl! Zeig den Leuten, wo der Hammer hängt!«, feuerte Marianne mit nicht zu überhörender Ironie an.

»Nehmt mich nur auf den Arm!«, schimpfte Mario. »Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.« Glücklicherweise hatte er seine Schwester Fee entdeckt, die nach ihrer Mittagspause auf die Klinik zueilte, und winkte ihr zu.

»Hey, Fee, komm und rette mich vor diesen niederträchtigen Weibsbildern!«, rief er theatralisch.

»Aber als Chef wirst du dich doch hoffentlich selbst deiner Haut wehren können«, bemerkte Fee, als sie sich zu den dreien gesellte.

Marianne und Andrea lachten, ehe sich die Tortenkünstlerin verabschiedete. Es wurde Zeit, in die Bäckerei zu fahren, und auch Andrea Sander machte sich auf den Weg in ihr Büro. Mario und Fee blieben zurück, und er sah seine Schwester aus schmalen Augen an. »Ich bekomme zehn Euro von dir«, erklärte er ihr auf dem Weg in die Klinik.

Felicitas wunderte sich.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass du mir Geld geliehen hättest.«

»Jeder, der mich Chef nennt, muss zehn Euro in die Kaffeekasse zahlen«, erklärte er ihr, und auch um Fees Mundwinkel begann es verdächtig zu zucken.

»Das sind ja drakonische Maßnahmen. Da kann sich Jenny eine Scheibe von dir abschneiden.«

»Lach du nur auch über mich!«, beschwerte sich ihr Bruder, und fast sofort wurde sie ernst.

»Ehrlich gesagt ist mir gar nicht zum Lachen zumute«, gestand Fee und grüßte eine Schwester, die ihnen entgegen kam.

»Was ist passiert?«, fragte Mario, als Schwester Anita an ihnen vorbei gehuscht war. »Ist dir Lammers schon wieder in die Parade gefahren?«

»Noch nicht. Aber er will nicht wahrhaben, dass Kevin Trostmann keinen Typhus hat. Es muss was anderes hinter dieser seltsamen Schwäche stecken. Aber ich werde ihn schon noch davon überzeugen, dass er mich unterstützt. Oder mich wenigstens meine Arbeit tun lässt, ohne mich ständig zu kritisieren.« Felicitas wunderte sich selbst über ihren neu erwachten Kampfgeist. Mit Sicherheit war dafür Daniel verantwortlich, und sie dankte ihm im Stillen für seine aufmunternden Worte.

»Was ist es dann, was dich bedrückt?«, erkundigte sich Mario, blieb vor einer Glastür stehen und ließ seiner Schwester den Vortritt, nachdem sie sich vor ihnen geöffnet hatten.

»Bedrückt ist das falsche Wort«, rückte Fee zögernd mit der Wahrheit heraus. »Ich habe vorhin einen Anruf bekommen, der mich nachdenklich macht.«

»Bitte, Schwesterherz, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Sonst ist meine Schicht vorbei, bis du zu Ende erzählt hast«, drohte Mario und bat sie in sein Büro. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und warf einen Blick auf seinen Terminkalender, während Fee vor ihm stehen blieb.

»Erinnerst du dich an Carla Hansen?«, fragte sie.

Mario hob den Kopf und sah sie sinnend an.

»Carla Hansen, Carla Hansen…«, wiederholte er, ehe er den Kopf schüttelte. »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Wer soll denn das sein?«

»Unsere Cousine fünften Grades oder so. Jedenfalls ist sie weitverzweigt mit uns verwandt. Sie lebt in der Nähe von Hamburg und hat einen Sohn in München. Leider ist es für Urs nicht gut gelaufen. Offenbar ist er auf die schiefe Bahn geraten, hat Drogen genommen und einen Raubüberfall verübt. Dafür und für ein paar andere Delikte ist er ins Gefängnis gewandert. Jetzt soll er wegen guter Führung Freigänger werden, und seine Mutter hat gefragt, ob ich nicht ein Auge auf ihn haben könnte«, berichtete sie von dem Anruf, den sie auf dem Weg zum Wagen erhalten hatte.

Schweigend hatte Mario den Ausführungen seiner Schwester gelauscht. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn.

»Und? Was hast du gesagt?«

»Dass ich darüber nachdenken muss. Auch wenn Urs irgendwie zur Familie gehört … er ist ein Verbrecher. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich damit etwas zu tun haben will.«

»Verständlich, schon wegen der Kinder«, bemerkte Mario, ganz fürsorglicher Onkel.

Doch Fee war noch nicht fertig.

»Andererseits kann ich mich gut an Urs erinnern. Vor vielen Jahren hat er mal seine Ferien auf der Insel der Hoffnung verbracht. Ich war damals auch dort und habe mich ziemlich viel mit ihm beschäftigt. Als er abreisen musste, hat er sogar geweint. Am liebsten wäre er bei mir geblieben.« Jahrelang hatte Felicitas nicht an diesen Urlaub gedacht. Sie wunderte sich, woher diese Erinnerung auf einmal kam, noch dazu so klar und deutlich, als läge sie erst ein paar Wochen zurück.

Mario, der ihre Gedanken nicht lesen konnte, hatte inzwischen weitergedacht.

»Wie hat sich Carla dieses ›ein Auge auf ihn haben‹ denn vorgestellt?«

Felicitas zuckte mit den Schultern.

»Das habe ich nicht gefragt. Ehrlich gesagt war ich zu verwirrt, um überhaupt klar denken zu können. Ich werde mit Dan darüber sprechen, was er davon hält, und sie morgen zurückrufen.«

»Gute Idee«, nickte Mario, als das Telefon vor ihm auf dem Schreibtisch klingelte. Er schickte seiner Schwester einen entschuldigenden Blick und hob ab. »Cornelius am Apparat.«

»Chef, wo stecken Sie denn?« Selbst aus dieser Entfernung konnte Fee hören, dass Andrea Sander am anderen Ende der Leitung war. »Sie werden zur Besprechung erwartet.«

Mario war so überrascht, dass er die zehn Euro Strafe vergaß.

»Warum? Wo sollte ich denn sein?«, fragte er und sah noch einmal auf den Terminkalender. »Hier steht nichts von einer Besprechung.«

»Sie sitzen ja auch am falschen Schreibtisch«, machte ihn die Assistentin der Klinikleitung auf sein Versehen aufmerksam. »Wenn Sie dann bitte so schnell wie möglich ins Büro des Klinikchefs kommen wollen…« Grußlos legte sie auf.

Einen Moment lang saß Mario wie versteinert am Tisch. Dann erhob er sich.

»Die wahre Chefin der Privatklinik Dr. Behnisch hat ein Machtwort gesprochen«, erklärte er nicht ganz ernst in Fees Richtung und ließ seine Schwester notgedrungen mit ihrem Problem allein.

*

»Wow, wir haben einen Knastbruder in der Familie. Ist ja cool!« Nachdem Felicitas am Abend vor versammelter Mannschaft ihre Geschichte zum Besten gegeben hatte, erntete sie nicht nur skeptische Zurückhaltung. Im Gegensatz zum Rest seiner Familie war Janni Norden sichtlich angetan von der Vorstellung, mit einem Kriminellen verwandt zu sein. »Den will ich unbedingt kennenlernen. Dann kann er mal erzählen, ob’s da wirklich so abgeht wie im Fernsehen.«

Felix hatte dem Monolog seines jüngsten Bruders gelauscht. Mit hochgezogener Augenbraue wandte er sich an seine Eltern.

»Mum, Dad, ich will eure Erziehung ja nicht kritisieren. Aber ist es möglich, dass Janni zu viel fernsehen darf?«

Diesen Vorwurf wollte Daniel nicht auf sich sitzen lassen.

»Ich bitte dich! Janni ist inzwischen alt genug, um selbst verantwortungsbewusst mit diesem Medium umzugehen.«

»Das war aber bei mir noch anders«, beschwerte sich Felix, und in seinen Augen blitzte es verdächtig. »Bei mir wart ihr noch total streng. Aber je mehr wir geworden sind, umso lockerer scheint eure Einstellung zu werden.«

»Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, dein jüngerer Bruder zu sein«, platzte Janni heraus, und der Rest der Familie brach in Gelächter aus.

Sogar Felix stimmte mit ein.

»Diesen Witz und diese Schlagfertigkeit musst du von mir haben.« Er zwinkerte Janni zu, was Felicitas mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm. Nicht immer gingen die Verbalattacken zwischen den Brüdern so glimpflich ab, und sie nutzte die Gelegenheit, um wieder zu dem ernsten Thema zurückzukehren.

»Die Frage ist, ob wir Carlas Bitte nachkommen oder einfach ablehnen sollen.« Diese schwierige Entscheidung raubte ihr den Appetit, und sie stocherte in ihrem Salat mit geschmolzenem Ziegenkäse und Pistazien herum.

»Ich denke, das kommt ganz darauf an, wie sich der junge Mann inzwischen entwickelt hat«, gab Daniel zu bedenken und biss in eine Scheibe des Olivenbrots, das er nach der Sprechstunde noch schnell in der Bäckerei geholt hatte. Selbst ohne Familie in Deutschland, hatte Tatjana die Nordens kurzerhand adoptiert. Ihre Zuneigung stieß auf Gegenliebe, und Danny und sie waren gern gesehene Gäste beim Abendbrot. Diesmal trafen sie sich aber mit Freunden in einem Restaurant, und so musste der Rest der Familie mit Tatjanas Brot vorlieb nehmen. »Ob Urs einsieht, dass das, was er getan hat, Unrecht war. Und ob er wirklich vorhat, ein neues Leben zu beginnen.«

»Offenbar sieht er die Zeit im Gefängnis als positive Erfahrung«, berichtete Felicitas von dem, was die entfernte Verwandte erzählt hatte. »Er hat eingesehen, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist und etwas ändern muss.«

»Es wäre ja schön, wenn das wirklich so wäre«, gab Daniel zurück, und seine Frau sah ihn fragend an.

»Du glaubst nicht daran?«

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand er. »Schließlich kann man den Leuten nur vor die Stirn und leider nicht dahinter sehen. Aber wie denkst du denn darüber?« Anders als Fee hatte der Arzt einen guten Appetit und nahm sich noch einmal von Lennis leckerem Salat, den die Haushälterin der Familie wie jedes Gericht mit viel Liebe zubereitet hatte.

Fee pickte ein Stück Tomate auf die Gabel und sah es fragend an, als ob sie eine Antwort von ihm erwartete. Im nächsten Moment steckte sie es in den Mund und kaute nachdenklich.

»Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient«, sagte sie endlich. »Mal abgesehen davon bricht es mir das Herz, wenn ich an den kleinen Kerl denke, der er mal war. Er war so süß und witzig damals. Schwer vorstellbar, dass er unter die Räder gekommen ist.«

»Das klingt so, als ob du deine Entscheidung längst getroffen hast.« Nach einer weiteren Scheibe Brot war Daniel endlich satt und lehnte sich zurück. Er trank einen Schluck Wasser und sah seine Frau über den Rand des Glases an.

Sie knabberte sichtlich an seinem Kommentar.

»Weißt du, dass du mir manchmal unheimlich bist?«, fragte sie nach einer Weile.

»Nein, warum?«

»Weil du offenbar meine Gedanken lesen kannst. Du scheinst mir tatsächlich hinter die Stirn sehen zu können.«

Daniel lächelte wie ein Schuljunge. »Aber keine Sorge. Bei dir ist das überhaupt nicht furchteinflößend«, beruhigte er seine Frau und legte seine Hand auf die ihre. »Da gibt es andere Kandidaten, bei denen ich lieber nicht wissen will, was in ihren Köpfen vor sich geht.«

»Zum Beispiel bei diesem Lammers«, warf Felix ein.

»Zum Beispiel«, stimmte Felicitas ihrem Zweitältesten zu. Doch diesmal zuckte ein Lächeln um ihre Lippen. »Hab ich eigentlich schon erzählt, dass ich einen Teilsieg gegen ihn errungen habe?«

»Nein, wie hast du das denn angestellt?« Plötzlich dachte niemand mehr an Urs Hansen, und die geballte Aufmerksamkeit richtete sich auf Fee, die nur zu gern davon berichtete, wie sie Volker Lammers den Laborbefund unter die Nase gehalten hatte, der eindeutig bewies, dass Kevin Trostmann doch nicht an Typhus litt.

*

Daniel Norden behielt recht mit seiner Einschätzung. Seine Frau hatte ihre Entscheidung getroffen und meldete sich wie versprochen am nächsten Tag bei Carla Hansen, um die Kontaktdaten von Urs zu erfragen. Das Gespräch verlief angenehm und kreiste nicht nur um das schwarze Schaf der Familie. Hin und wieder machte Carla eine Bemerkung, die Fee zum Lachen brachte.

Dr. Lammers, der vor ihrem Büro auf und ab ging, wurde allmählich ungeduldig. Er hatte etwas mit der stellvertretenden Chefin zu besprechen und als er Fee lachen hörte, ballte er eine Hand zur Faust.

»Können Sie Ihr Kaffeekränzchen eigentlich nicht zu Hause abhalten, wie es jede anständige Hausfrau tut?«, fragte er, als er endlich vor Fee Nordens Schreibtisch stand.

Angesichts dieser Frechheit wäre sie um ein Haar wieder aus der Fassung geraten. Doch das gute ­Gespräch hallte nach, und so gelang Felicitas ein freundliches Lächeln.

»Nur kein Neid. Nur weil meine hausfraulichen Fähigkeiten besser sind als Ihre fachliche Kompetenz im Fall Kevin Trostmann, sollten Sie nicht ausfallend werden.«

Leider hatten ihre Worte nicht die erhoffte Wirkung. Im ersten Moment wurde Lammes zwar blass, er hatte sich aber schnell wieder im Griff und legte ihr mit einer großspurigen Geste ein Blatt Papier auf den Tisch.

»Während Sie Kochrezepte austauschen, habe ich den jungen Mann noch einmal untersucht«, triumphierte er und deutete auf die Ergebnisse.

Felicitas beugte sich vor und nahm das Papier an sich.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, erinnerte sie sich an ihre guten Manieren, während sie den Text überflog.

»Nein, danke. Ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. So angenehm ist Ihre Gesellschaft nun auch wieder nicht.«

»Ihre Entscheidung. Ich fühle mich ganz wohl mit mir«, erwiderte Fee ohne aufzublicken. »Wie ich sehe, haben Sie festgestellt, was ich längst wusste. Der Patient leidet unter einem deutlich messbaren Kraftverlust in den Gliedmaßen.«

»Sie wussten aber noch nicht, dass die Muskeln am Daumen und in der Handinnenfläche schon verkürzt sind.«

Mit dieser Behauptung hatte Lammers recht. Doch Fee hatte keine Gelegenheit, sich darüber zu ärgern. Ihr Blick war auf einen Begriff gefallen, der sie in Alarmbereitschaft versetzte.

»Sie haben das Babinski-Zeichen festgestellt? Haben Sie einen Neurologen zu Rate gezogen?« Das Fehlen des Reflexes, der für das Anheben der Großzehe verantwortlich war, deutete auf eine Störung der Nervenbahnen im zentralen Nervensystem – also im Gehirn oder Rückenmark – hin.

»Ich brauche keinen Babysitter«, schnaubte Dr. Lammers. »So was kann ich gerade noch selbst diagnostizieren.«

»Schön.« Fee war Profi genug, um ihren Schrecken vor dem Kollegen zu verbergen und sofort weiterzudenken. »Aufgrund der beidseitigen Muskelschwäche und Taubheit empfehle ich eine Kernspintomographie«, traf sie eine Entscheidung über die weitere Vorgehensweise und sah ihren Kollegen an.

Doch diesmal war Volker Lammers ihr eine Nasenlänge voraus.

»Die habe ich längst angeordnet«, konterte er, und es war ihm anzusehen, wie zufrieden er mit diesem, wenn auch kleinen, Sieg war. »Ich sagte Ihnen doch: Ich brauche keinen Babysitter.«

»Richtig, ich erinnere mich«, lächelte Fee. »Dann rufen Sie mich bitte, wenn die Bilder da sind.« Sie wunderte sich selbst über ihre Ruhe, als sie Lammers den Bericht zurückgab.

Das lag auch daran, dass sie Kevin Trostberg unabhängig von ihren Sympathien für Dr. Lammers in guten Händen wusste und in Gedanken schon bei ihrem nächsten Vorhaben war.

Der Kinderarzt hatte eine andere Reaktion erwartet und zog sich sichtlich enttäuscht mit dem Versprechen zurück, Fee rufen zu lassen.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, griff sie nach dem Zettel, der auf ihrem Tisch lag, und wählte die Nummer, die Carla Hansen ihr gegeben hatte.

*

»Guten Morgen, Lieblingskollegin. Wie geht’s dir?«, fragte Wendy, als sie an diesem Vormittag später als sonst in die Praxis kam.

An ihren Armen baumelten Einkaufstaschen, die von ihrem erfolgreichen Beutezug zeugten.

»Mein Körper besteht zu 60 Prozent aus Müdigkeit«, gab Janine zu und warf einen hoffnungsvollen Blick auf die Tüte mit der Aufschrift ›Schöne Aussichten‹ »Und der Rest hat Hunger.«

Wendy lachte.

»Das trifft sich gut. Zufällig liegt mein Lieblings-Kleidergeschäft direkt neben Tatjanas Bäckerei. Nachdem ich gestern Abend keine Zeit zum Kochen hatte, hab ich uns eine Kleinigkeit zum Mittagessen mitgebracht«, plauderte sie munter drauflos. »Tatjana hat neue Mini-Calzones erfunden. Denen konnte ich einfach nicht wiederstehen.«

Mit wachsender Verwunderung hatte Janine den Ausführungen ihrer Freundin und Kollegin gelauscht.

»Was ist denn mit dir los? Du klingst ja so aufgekratzt«, sagte sie ihr auf den Kopf zu. »Außerdem Kleidergeschäft? Und beim Friseur warst du auch«, machte sie eine Entdeckung nach der anderen. »Raus mit der Sprache! Was hast du mir verschwiegen?«

Wendy antwortete nicht sofort. Sie ging zur Garderobe und tauschte ihre Jacke gegen einen weißen Kittel. Die Taschen und Tüten verstaute sie im Schrank, ehe sie sich mit einer Tasse Kaffee an ihren Schreibtisch setzte.

»Na jaaaa, ich hab da einen Mann kennengelernt … Das heißt, eigentlich kenne ich ihn gar nicht.« Zögernd kamen die Worte aus ihrem Mund. »Wir schreiben uns seit einer Weile Briefe.«

»Seit einer Weile?«, hakte Janine nach und vergaß sowohl Hunger als auch Müdigkeit. »Ich dachte, du willst nichts mehr von Männern wissen.«

»Das mit Manfred ist ja auch was anderes«, versuchte Wendy, sich herauszureden, und beugte sich geschäftig über den Terminkalender. »Morgen Nachmittag kommt übrigens Dési zur Kontrolle. Ist es nicht unglaublich, dass sie sich wieder ganz von ihrer Krankheit erholt hat? Wenn ich dran denke, welche Angst ich um sie hatte, als sie plötzlich nicht mehr sprechen konnte«, versuchte sie, von ihrer Person abzulenken.

Vergeblich.

»Netter Versuch!«, schmunzelte Janine. Gleichzeitig lächelte sie Danny zu, der eine Patientin zur Tür begleitet hatte und sich zu den beiden Assistentinnen an den Tresen gesellte. »Wendy hat eine Männerbekanntschaft geschlossen und uns nichts davon gesagt«, teilte sie ihrem jungen Chef augenzwinkernd mit.

»Nana, das ist ja nicht gerade ein Vertrauensbeweis«, ging Danny auf den scherzhaften Ton ein und spähte in die Tüte, die immer noch auf dem Tresen lag. »Aber wenn Sie als Wiedergutmachung Tatjanas Mini-Pizzen mitgebracht haben, kann ich nochmal Gnade vor Recht ergehen lassen.«

»Finger weg!« Mit einem Ruck zog Wendy die Tüte weg und brachte sie in die Küche. »Die sind für mittags.«

Der Juniorchef sah auf die Uhr.

»Aber das dauert ja noch fast zwei Stunden. Bis dahin bin ich verhungert.«

»Lenkt nicht alle vom Thema ab«, beschwerte sich Janine, die ihren Hunger fürs Erste vergessen hatte. Ihre Augen hingen an ihrer Kollegin. »Und jetzt raus mit der Sprache. Wer ist Manfred?«

Wendy seufzte tief und verdammte Janines Hartnäckigkeit.

»Ein Häftling«, ließ sie die Katze endlich aus dem Sack. »Nachdem ich im wirklichen Leben nichts mehr mit Männern zu tun haben will, dachte ich mir, ich schreibe mit einem.«

Danny und Janine sahen die Kollegin mit großen Augen an.

»Du schreibst mit einem Verbrecher? Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«

Mit dieser Frage hatte die langjährige Assistentin der Praxis Dr. Norden gerechnet. Trotzdem schoss ihr das Blut in die Wangen.

»In der Wochenendausgabe sind doch immer Bekanntschaftsanzeigen. Da bin ich vor ein paar Wochen über Manfreds Annonce gestolpert. Er ist wirklich ein sehr netter Mann…«

»Und sitzt wahrscheinlich völlig zu Unrecht hinter Gittern«, mutmaßte Danny und nahm die nächste Patientenkarte von seinem Stapel. Es wurde Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Doch Wendys Antwort wartete er noch ab.

»Nein.« Ihre Stimme klang danach, als wollte sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. »Er hat es bereut, Steuern hinterzogen zu haben, und zum Ausgleich einen ansehnlichen Betrag als Spende an einen gemeinnützigen Verein überwiesen«, erwiderte sie mit deutlichem Triumph in der Stimme. »Außerdem findet er die Erfahrung gar nicht schlecht. Er erzählte davon, dass er im Gefängnis von seinem hohen Ross heruntergekommen ist.«

»Interessant! Unser Urs Hansen hat genau dasselbe behauptet«, mischte sich Dr. Norden in das Gespräch ein. Er kam von einem Hausbesuch und hatte eben die Praxis betreten. »Wenn man diesen Beteuerungen Glauben schenken dürfte, dann würde nie mehr ein einziger Häftling rückfällig werden.«

Wendy blickte von ihrem Computer auf und sah ihren Chef an.

»Haben Sie einschlägige Erfahrungen?«, erkundigte sie sich, und Daniel erzählte von dem schwarzen Schaf, das in Fees Familie aufgetaucht war.

»Drogen und Raub sind natürlich ein anderes Kaliber als Steuerhinterziehung«, räumte Janine ein.

»Trotzdem bin ich derselben Meinung wie Ihre Frau. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Vor allen Dingen, wenn er so jung ist wie Urs Hansen.« Es war Wendy anzuhören, dass ihr diese Worte aus tiefstem Herzen kamen.

Janine legte den Kopf schief und musterte ihre Kollegin.

»Und wann gehst du ihn im Gefängnis besuchen?«, stellte sie die Frage, die sich quasi aufdrängte.

»Woher weißt du das?« Wenn möglich, wurden Wendys Wangen noch dunkler.

Janine lachte.

»Ganz einfach: neue Frisur, ein neues Kleid … Diesen Schluss hätten sogar unsere beiden Männer gezogen.«

Dem Seniorchef brannte die Zeit unter den Nägeln, und er musste endlich an seinen Schreibtisch. Da er aber kein Spielverderber sein wollte, schickte er seinem Sohn einen Blick aus schmalen Augen.

»Ich glaube nicht, dass wir uns das gefallen lassen müssen«, scherzte er. »Lass uns arbeiten gehen.«

»Einverstanden.« Doch Danny zögerte. »Aber nur, wenn ich als Wiedergutmachung heute Mittag eine Mini-Calzone bekomme.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, das er parat hatte, und Wendy und Janine lachten.

»Seltsam. Woher wusste ich, dass es so kommen würde, und habe deshalb gleich mehr gekauft?«

»Sie sind eben eine kluge Frau!«, lobte Daniel und machte sich endlich auf den Weg in sein Sprechzimmer, um mit der Behandlung seiner Patienten zu beginnen.

*

Als Felicitas Norden an diesem Spätnachmittag das Café ›Schöne Aussichten‹ betrat, hatte sie kaum Augen für Tatjana hinter dem Tresen. Auch die schwangere Mitarbeiterin Marla begrüßte sie geistesabwesend, während sie sich umsah.

»So oft, wie du in letzter Zeit hier bist, bekommst du demnächst einen eigenen Stammtisch«, witzelte Tatjana, die herbeigekommen war, um die Mutter ihres Freundes zu umarmen.

»Hmm, das wäre eine schöne Idee!« Felicitas schien ihr gar nicht richtig zugehört zu haben.

Noch immer sondierten ihre Augen jeden Tisch in dem kleinen Café, als sie an einer Person hängen blieben. Der junge Mann saß in der hintersten Ecke und versteckte sich hinter der Speisekarte, die aber zu klein war für sein Gesicht. Obwohl es Jahre her war, erkannte Fee in den erwachsenen Zügen den kleinen Urs, mit dem sie damals im Sanatorium ihrer Eltern gespielt hatte.

»Suchst du jemanden?«, fragte Tatjana, der Fees Konzentration nicht entgangen war.

»Ich glaube, ich hab ihn gerade gefunden.«

Tatjanas Blick folgte dem von Fee. Trotz ihrer Sehbehinderung wusste sie sofort, wer dort saß. Sie hatte den jungen Mann hereinkommen sehen und gleich gemerkt, wie unsicher sein Schritt, wie misstrauisch seine ganze Ausstrahlung war.

»Kennst du den jungen Mann?«, fragte sie die Ärztin.

»Kennen ist übertrieben«, erwiderte Fee, ohne den Blick von Urs wenden zu können. »Es ist viele Jahre her. Aber wegen ihm bin ich hier. Bringst du mir bitte zwei Milchkaffee?« Ohne eine weitere Erklärung machte sich Fee auf den Weg in den hinteren Teil des Cafés, vorbei an den unterschiedlichen Stühlen und Tischen, die Tatjana auf Flohmärkten gekauft und zum Teil eigenhändig restauriert hatte. Dazu passte der dunkle Holzboden, der im Kontrast stand zu der ungewöhnlichen, silberfarbenen Decke. Kissen mit kostbaren Bezügen aus Indien und die Glasvasen mit Blumen komplettierten die heimelige Einrichtung. Wirklich zu Hause fühlten sich die Gäste aber auch durch Marlas Bilder, die neben den Werken anderer Künstler die Wände schmückten.

Doch auf all diese liebevollen Kleinigkeiten achtete Felicitas diesmal nicht. An diesem Nachmittag gehörte ihre Aufmerksamkeit allein Urs Hausen.

»Du bist doch Urs, nicht wahr?«, fragte sie, als sie zu ihm an den Tisch trat.

Als bemerke er sie erst jetzt, ließ der junge Mann die Karte sinken und sah die Ärztin an. Im nächsten Moment erkannte er sie. Seine Miene entspannte sich, und ein Lächeln huschte über seine Lippen.

»Tante Fee!« Obwohl Urs längst erwachsen war, hatte seine Stimme etwas Kindliches, und auch seine Augen leuchteten wie die eines Kindes an Weihnachten, als er sie zur Begrüßung umarmte. Hinter ihrem Rücken hustete er.

»Sag bitte nur Fee. Wenn du mich Tante nennst, fühl ich mich so alt«, lächelte Felicitas.

Sie zog die Jacke aus, hängte sie über den Stuhl und setzte sich zu ihm, als Marla auch schon die Getränke servierte. Dabei stieß sie mit dem Tablett an den Tisch, und der Milchkaffee schwappte über.

»Kannst du nicht aufpassen?« Urs Stimme knallte wie ein Peitschenhieb, und sowohl Marla als auch Fee erschraken.

Als Urs die Wirkung bemerkte, sank er sofort in sich zusammen.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und schickte Marla ein Bubenlächeln, das nicht so recht zu dem Männergesicht passen wollte. »Ich bin ein bisschen nervös. Man trifft ja nicht alle Tage seine Kinderliebe.« Er sah Fee an, hielt die Hand vor den Mund und hustete.

»Schon gut. Danke, Marla.« Felicitas war gerührt. Sie nickte der jungen Bäckerin zu, die sichtlich erleichtert den Rückzug antrat. »Hast du dich erkältet?«, wandte sie sich dann an ihr Gegenüber. Die Sorge in ihren Augen war offensichtlich.

»Keine Ahnung. Diesen Husten hab ich mir irgendwann im Knast … ähm, im Gefängnis eingefangen«, korrigierte sich Urs schnell. »Bitte entschuldige meine Ausdrucksweise. Aber das ist so ungefähr das erste, was man im Gefängnis lernt. Und wehe, man passt sich nicht an.«

»Hat sich das der Arzt nicht angeschaut?« Fee ging gar nicht auf seine Bemerkung ein. Sie war nervös, wusste nicht recht, was sie bei diesem Treffen erwartete. »Es gibt doch auch in diesen Anstalten so was wie Arztpraxen, nicht wahr?«

»Klar.« Urs schaufelte den Milchschaum von seinem Kaffee und steckte den Löffel in den Mund. »Aber der Typ da hat mir nur irgendeinen Sirup verschrieben, der nicht geholfen hat.«

Während er sprach, fiel Fee eine Zeitungsmeldung ein, die vor einigen Monaten die Runde gemacht hatte. Eine ganze Reihe Gefängnisinsassen hatten sich mit TBC infiziert.

»Hat das mal jemand auf Tuberkulose untersucht?«, erkundigte sie sich.

Urs schüttelte den Kopf.

»So viel Mühe geben die sich da drin nicht mit uns.«

Diese Worte wagte Fee zu bezweifeln, drang aber nicht weiter in ihn. Sie würde Daniel bitten, ihn im Rahmen seiner Sprechstunde zu untersuchen. Als dieser Entschluss gefasst war, konnte sie sich auf die Fragen konzentrieren, die sie sich zurecht gelegt hatte. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und sah Urs an.

»Ich habe gestern mit deiner Mutter telefoniert. Sie hat mir erzählt, was passiert ist.«

»Ich weiß.« Urs lächelte. Er schien sich wesentlich wohler zu fühlen als seine Verwandte. »Ich hab sie ja schließlich gefragt, ob sie Kontakt zu dir aufnehmen kann.«

Diese Mitteilung überraschte Fee.

»Tatsächlich? Warum?«, entfuhr es ihr.

Urs zuckte mit den Schultern.

»Ach, weißt du, im Knast hat man viel Zeit nachzudenken. Das ist eigentlich ganz gut.« Wie um seine Worte zu bestätigen, nickte er. »Da hab ich mich auch an die Ferien auf der Roseninsel erinnert und daran, wie lieb du damals zu mir warst. Ich war richtig traurig, als ich heimfahren musste.«

»Ich weiß. Daran musste ich gestern auch denken.« Fee schluckte die Rührung herunter. Auf keinen Fall wollte sie sich zu viel Blöße geben. »Trotzdem habe ich gezögert, der Bitte deiner Mutter nachzukommen.«

»Kann ich ja verstehen.« Urs’ Einsicht war erstaunlich. »Immerhin hab ich Drogen genommen und ein paar krumme Dinger gedreht. Aber die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei, ich schwör’s!« Die linke Hand auf dem Herzen, hob er die rechte Hand hoch und reckte Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Luft zum Zeichen, dass es ihm ernst war.

»Und woher soll ich das wissen?« Die Ärztin machte keinen Hehl aus ihrem Misstrauen.

Urs lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Dabei ließ er Fee nicht aus den Augen.

»Hätte ich sonst Freigang und einen Job bekommen?«, stellte er eine berechtigte Frage, wartete aber nicht auf eine Antwort. »Am Anfang hab ich noch gedacht, ich bin der Größte. Dass alle anderen Versager sind. Aber dann hab ich kapiert, dass das ja gar nicht stimmt. Von dem Tag an ist alles anders geworden. Ich hab mit den Drogen aufgehört und mich vorbildlich benommen. Du kannst meine Wärter fragen.« Wieder hustete er, und Fee runzelte die Stirn.

»Was macht man so den ganzen Tag im Gefängnis?«, erkundigte sie sich.

Urs räusperte sich.

»Ich habe in der Schlosserei gearbeitet. Hat voll viel Spaß gemacht, und deshalb hab ich auch den Job draußen bekommen. Den Rest der Zeit war ich im Fitnessraum beim Sport. Irgendwie muss man sich ja bewegen, sonst wird man verrückt.«

Das, was Urs von sich gab, klang sehr vernünftig in Fee Nordens Ohren. Und doch war da ein kleiner Rest Misstrauen. Seine aggressive Reaktion, als Marla das Missgeschick passiert war, lag ihr im Magen.

»Ich hätte es ja besser gefunden, wenn du in die Schule gegangen und deinen Abschluss nachgeholt hättest«, versuchte Fee absichtlich, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. »Aber wenigstens hast du was getan und nicht nur Däumchen gedreht.«

Wider Erwarten blieb Urs ruhig. Er trank von seinem Milchkaffee und lächelte.

»Ehrlich gesagt liegt mir Schule und Lernen und so’n Kram nicht so. Da geh ich lieber arbeiten.«

»Das ist ja kein Fehler«, beeilte Fee sich zu versichern, als Urs einen regelrechten Hustenanfall bekam, der so schauerlich klang, dass sie sich wirklich Sorgen machte.

»Du musst unbedingt zu Daniel in die Praxis gehen«, sagte sie zu ihm, als er sich erholt hatte. »Er wird dich untersuchen.«

Tränen der Anstrengung liefen ihm über die Wangen, und Fee suchte in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern.

»Kann ich nicht zu dir in die Klinik kommen?«, krächzte er, als Fee ihm die Packung über den Tisch reichte.

»Tut mir leid. Aber ich arbeite auf der Kinderstation. Dafür bist du ein bisschen zu alt«, lächelte sie, und Urs beschloss, es für den Moment darauf beruhen zu lassen.

»Wär super, wenn ich zu deinem Mann gehen könnte.«

»Natürlich. Ich spreche heute Abend mit ihm und schicke dir dann eine Nachricht.«

»Das ist echt nett von dir.« Ganz offensichtlich war Urs so gerührt von ihrer Hilfsbereitschaft, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er streckte die Hand aus und tätschelte Fees Arm. »Wenn du mich damals nicht heimgeschickt hättest, wäre vielleicht alles anders geworden.« Seine Stimme war rau, und angesichts dieser Worte zog sich Fees Herz zusammen. Sie wusste um Urs’ Geschichte, von der nichtverarbeiteten Trennung seiner Eltern, von dem Ärger, den er seiner Mutter gemacht hatte. Carla hatte auch von den falschen Freunden beim Eishockey erzählt und davon, dass ein paar von ihnen ihn dazu verleitet hatten, Drogen zu nehmen. Der Rest der Geschichte war schnell erzählt gewesen.

»Damals waren erst meine beiden Ältesten auf der Welt. Felix war noch ein Baby«, erinnerte sie sich. »Ich hätte dich nicht aufnehmen können. Mal abgesehen davon, dass das deine Mutter gar nicht zugelassen hätte.«

»Carlchen?« Urs lachte auf, und ganz kurz hatte Fee den Eindruck, es mit einem ganz anderen Menschen zu tun zu haben. Doch als er aufstand, war dieser Moment schnell vergessen. »Die hatte doch nie Zeit für mich und war viel zu sehr mit sich beschäftigt.« Der junge Mann nahm die Jacke von der Lehne und schlüpfte hinein. Dabei blickte er auf Felicitas hinab. »Bitte, Tante … ich meine, Fee, du musst mir glauben, dass nicht alles wahr ist, was Carla über mich erzählt. Es wäre einfach voll schön gewesen, wenn ich bei dir, bei euch hätte bleiben können. Dann hätte ich heute eine Familie, viele Geschwister, ein intaktes Zuhause…« Wieder glitzerten Tränen in seinen Augen und er beugte sich zu Fee herab, um sie in den Arm zu nehmen. Doch die Umarmung dauerte nicht lange, und er richtete sich abrupt auf.

»Du meldest dich wegen dem Termin bei deinem Mann?«, fragte Urs.

Felicitas nickte.

»Heute Abend noch.«

»Danke.« Urs küsste linkisch ihre Hand, ehe er sich umdrehte.

Sie sah ihm nach, wie er durch das Café ging und es grußlos verließ. Keine zwei Minuten später stand Tatjana vor Dannys Mutter.

»Ist das der Mann, dem du unter die Arme greifen sollst?«, fragte sie und setzte sich ungefragt neben Fee auf den Stuhl.

Aus ihren Gedanken gerissen, fuhr die Ärztin herum.

»Die Buschtrommeln funktionieren ja prächtig. Woher weißt du das denn schon wieder?« Ihre Stimme klang schroffer als beabsichtigt, doch Tatjana nahm es ihr nicht übel.

»Von Danny. Und der weiß es von Dan. Du hast also gar nicht so unrecht mit der Buschtrommel.« Sie saß auf der äußersten Stuhlkante und hielt das Tablett auf den Knien. »Also, was hat er gesagt? Wie findest du ihn?«, konnte sie mit ihrer Neugier nicht hinter dem Berg halten.

Über diese Frage dachte Felicitas kurz nach.

»Eigentlich ist er ein fast normaler, netter, junger Mann, der einsieht, dass er ziemlich viel falsch gemacht hat«, fasste sie ihre Eindrücke zusammen. »Er meinte, er hätte viel Zeit zum Nachdenken gehabt und eingesehen, dass er auf dem Holzweg ist.«

»Wozu so ein Gefängnis gut sein kann!«, konnte sich Tatjana einen ironischen Kommentar nicht verkneifen. Ehe Fee ihre Entrüstung Ausdruck verleihen konnte, fuhr sie auch schon fort. »Und du glaubst nicht, dass er dir was vormacht?«

Fee schüttelte den Kopf, dass ihr blondes Haar hin und her flog.

»Urs ist genauso wie früher. Sogar seine Stimme klingt manchmal noch wie die eines Jungen. Aber wie kommst du drauf, dass er mich belügen könnte? Das hat er doch gar nicht nötig.«

»Ich weiß nicht…« Tatjana zuckte mit den Schultern. »Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin. Sie hat mit jeder Menge solcher Jungs gearbeitet, und mindestens die Hälfte von ihnen hat ihr was vorgespielt. Je mehr sie auf dem Kerbholz hatten, umso schlimmer waren sie.«

Doch davon wollte Fee nichts wissen.

»Ich kann Verallgemeinerungen nicht leiden«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Meinung. »Welchen Grund sollte er haben, mir Märchen zu erzählen?«, wiederholte sie ihre Frage, trank ihren Kaffee aus und sammelte ihre Siebensachen zusammen.

Tatjana sah ihr dabei zu.

»Immerhin bist du ein guter Kontakt. Hast eine ganze Horde angesehener Menschen im Rücken und bist selbst in einer exponierten Position. So was ist immer von Vorteil«, gab sie zu bedenken.

»Unsinn.« Mit einem Ruck erhob sich Fee vom Stuhl. Es wurde Zeit, in die Klinik zurückzukehren, ehe der Kollege Lammers wieder einen Grund zum Meckern fand. »Ich habe die Tränen in seinen Augen gesehen, als er von früher gesprochen hat. So was kann man nicht spielen«, behauptete sie und küsste Tatjana, die ebenfalls aufgestanden war, links und rechts auf die Wange. Hintereinander gingen die beiden Frauen durch das Café, Fee voraus, Tatjana folgte ihr. Am Tresen angelangt drehte sich die Ärztin noch einmal um und winkte Marla und Tatjana zu.

»Lass dich nicht von ihm einwickeln!«, gab Tatjana ihr noch mit auf den Weg.

Doch das hörte Fee schon nicht mehr, denn das Glöckchen über der Tür klingelte eifrig, als sie nach draußen in die Dämmerung trat.

*

Felicitas Nordens Plan ging nicht auf. Das Gespräch mit Urs hatte länger gedauert als gedacht, und Volker Lammers war nicht mehr in der Klinik. Aber er hatte einen Zettel mit einerBotschaft auf ihrem Schreibtisch hinterlassen.

»Falls Sie nicht zu erschöpft vom Kaffeetrinken sind, können Sie ja noch einen Blick auf die Bilder werfen. Gruß Lammers.«

Einen Moment überlegte Fee, ob sie das Stück Papier als Beweismaterial aufheben sollte, verzichtete dann aber darauf. Sie zerknüllte es, zielte und traf den Abfalleimer.

»Ausgezeichneter Wurf!« Niemand anderer als ihr Mann Daniel stand in der Tür und applaudierte ihr.

»Dan, was machst denn du hier?« Fee freute sich, ihn zu sehen, und umarmte ihn stürmisch.

»Nanu, so viel Leidenschaft nach einem anstrengenden Tag?«, fragte er und legte seine Hände auf ihre Hüften. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen.

»Dann besonders. Irgendwo muss ich die verloren gegangene Energie ja wieder herholen«, lächelte sie und streichelte seinen Nacken.

»Ein Energievampir also!«, seufzte Daniel versuchte, bekümmert zu wirken. »Dachte ich es mir doch.«

Doch Fee war nicht nach Scherzen zumute.

»Der Energievampir hier ist Lammers!« Nach einem weiteren Kuss löste sie sich aus der Umarmung und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. »Er hat mir mal wieder eine freundliche Bemerkung verpasst. Und ich ärgere mich darüber, dass er fast jedes Mal sein Ziel erreicht und mich mit seinen Gemeinheiten auf die Palme bringt.«

»Nach einem anstrengenden Tag ist das kein Wunder«, versuchte Daniel, seine Frau zu beruhigen. »Mal abgesehen davon, dass er dich zu sportlichen Höchstleistungen animiert.« Sein bewundernder Blick galt dem Abfalleimer. »Ich nehme an, der Zettel war von ihm?«

Felicitas lachte kurz.

»Stimmt. Mein Treffen mit Urs hat länger gedauert als gedacht, und schon…«

»Du hast den jungen Mann getroffen?«, unterbrach Daniel seine Frau.

»Habe ich dir das nicht heute Mittag am Telefon erzählt?«, fragte sie zurück und schob sich eine Strähne hinters Ohr. Sie stand am Schreibtisch, bückte sich und schob eine CD ins Laufwerk des Computers. »Ich könnte meine rechte Hand verwetten, dass ich es getan habe.«

»Tu’s lieber nicht.« Daniel war neben seine Frau getreten, nahm ihre Hand und küsste sie. »Es wäre schade um das schöne Stück. Wo es doch so geschickt ist…«

»Sprichst du aus Erfahrung?« Sie blinzelte ihm zu, und Daniel grinste, als die Bilder auf dem Bildschirm erschienen und seine Frau sich ein Stück vorbeugte. Vergessen war das anzügliche Gespräch, und ihre ganze Aufmerksamkeit richtet auf die Bilder.

»Das hier sind die Aufnahmen von Kevins Rückenmark«, erklärte sie ihrem Mann. »Du weißt schon, der Junge mit der unerklärlichen Schwäche in den Extremitäten.«

»Diesmal erinnere ich mich. Du hast gestern Abend von ihm erzählt.« Auch Dr. Norden beugte sich vor und studierte die Aufnahmen. »Siehst du das hier?« Mit dem Finger deutete er auf weiße Flecken im Rückenmark.

»Die müssten doch eigentlich dunkelgrau aussehen«, wusste Fee sofort, worauf ihr Mann anspielte. »Mal abgesehen davon, dass das Rückenmark leicht angeschwollen erscheint.«

»Das könnte an einer Flüssigkeitsansammlung liegen«, vermutete Daniel Norden. »Diese Veränderungen könnten eine Erklärung dafür sein, warum Kevin unter einer Störung des Nervensystems leidet«, zog er einen Schluss aus dem, was er sah, und klickte sich weiter durch die Bilder.

Fee hatte sich einen Stuhl an den Schreibtisch gezogen und verfolgte den Wechsel der Aufnahmen, während sie über diese Erkenntnisse nachdachte.

»Aber was könnte diese Entzündung ausgelöst haben?«, murmelte sie und stütze den Kopf in beide Hände. »Vielleicht eine Multiple Sklerose. Oder aber ein Tumor«, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst. Beide Möglichkeiten waren nicht das, was man ermutigend nannte.

»Möglich«, räumte Dr. Norden ein. Doch er hatte noch eine andere Idee. »Wo waren Kevin und seine Mutter im Urlaub?«

»Irgendwo in Indien«, erinnerte sich Felicitas. »Woran denkst du jetzt?«, Sie wusste sofort, dass Daniel diese Frage nicht umsonst stellte.

»An Tuberkulose. Wenn ich mich recht erinnere, ist Indien das Land mit den meisten Tuberkulose-Fällen weltweit. Ich habe mich neulich erst mit einem Kollegen vom Robert-Koch-Institut über diese erschreckenden Zahlen unterhalten.«

An diese Möglichkeit hatte Fee noch gar nicht gedacht.

»Das könnte natürlich auch sein. Diese Alternative wäre mir bedeutend lieber. Tuberkulose hat eine bessere Prognose als die anderen beiden.«

Daniel hatte genug gesehen. Sein Magen knurrte, als er sich aufrichtete und seiner Frau dabei zusah, wie sie den Computer herunterfuhr und ausschaltete.

»Endgültige Gewissheit bekommt ihr erst, wenn ihr das Nervenwasser des jungen Mannes unter die Lupe nehmt«, erklärte er.

»Ich werde diese Untersuchung gleich morgen früh anordnen«, erwiderte Fee und schob den Stuhl an den Schreibtisch. Mit einem letzten Blick vergewisserte sie sich, dass alles in Ordnung war. »Und jetzt werde ich mit dir nach Hause fahren, um dich vor dem sicheren Hungertod zu bewahren.«

Sie ahnte nicht, dass sie mit dieser Ankündigung die Pläne ihres Mannes durchkreuzte.

»Nach Hause? Das überlebe ich nicht. Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Daniel und setzte eine Unschuldsmiene auf, die Fee sofort durchschaute.

»Moment mal. Hat nicht hier in der Nähe ein spanisches Lokal eröffnet?«, erinnerte sie sich an eine seiner Bemerkungen neulich.

»Wirklich?«, spielte Daniel den Ahnungslosen. Doch das Funkeln in seinen Augen verriet ihn. »Das hatte ich ja ganz vergessen.«

Felicitas stand an der Tür und wartete auf ihn.

»Gib dir keine Mühe. Du bist ein schlechter Lügner!«

»Wirklich?« Daniel legte den Arm um ihre Schultern und wartete, bis sie die Tür von außen geschlossen und abgesperrt hatte. »Du bist aber die einzige, die mich durchschaut.«

»Wer weiß, vielleicht kannst ja nicht nur du meine, sondern ich auch deine Gedanken lesen«, lächelte sie ihn an. »Und ich glaube, ich weiß, was du nach dem Essen mit mir vorhast.«

Seite an Seite waren sie auf die Straße hinausgetreten. Die Dämmerung war der Dunkelheit gewichen, und die Straßenlaternen wiesen ihnen den Weg zum Wagen.

»Dann weißt du mehr als ich«, erwiderte Daniel. Doch auch auf diese neuerliche Lüge fiel Felicitas nicht herein.

»Du weißt, dass auf Lügen schwere Strafen stehen«, erinnerte sie ihren Mann, während sie darauf wartete, dass er ihr die Beifahrertür aufhielt.

»Ich kann’s kaum erwarten.« Daniels Lachen war rau, und er schlug die Wagentür zu, ehe seiner Frau ein passender Kommentar eingefallen war.

*

Auch an diesem Abend fiel die Tür der Zelle wieder hinter Urs Hansen ins Schloss. Doch diesmal sorgte dieses Geräusch nicht für Beklemmungen und Panikattacken. Endlich hatte er einen Plan, ein Ziel vor Augen.

Sein Mithäftling Lothar lag auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah Urs dabei zu, wie er die Straßenkleidung gegen einen Trainingsanzug tauschte. Als er begann, Liegestütze zu machen, wurde Lothar ungeduldig.

»Mann, jetzt sag schon! Wie ist es gelaufen?«

Urs drückte sich hoch und sank wieder hinunter, auf und ab, ohne Pause, bis sein Atem schneller ging und feine Schweißperlen auf seine Stirn traten. Lothar machte Anstalten, sich auf seinem Bett aufzusetzen.

»Alles im Lot. Sie hat es gefressen«, verkündete Urs, kurz bevor sein Mitbewohner die Geduld verlor, und Lothar sank auf die Matratze zurück.

»Scheint, als hättest du eine Glückssträhne, was? Zuerst der Job als Schlosser draußen, damit du Freigänger werden kannst. Und jetzt auch noch freundschaftliche Kontakte zu einem Arzt.«

Doch Urs wollte sich nicht zu früh freuen.

»Noch hab ich kein Rezept in der Tasche. Ich muss den Alten erstmal überreden, mir das zu geben.«

»Ach, das wird schon«, winkte Lothar ab. »Den Husten nimmt dir jeder ab. Der Doc kann gar nicht anders, als dir das Zeug zu verschreiben. Sonst kannst du nicht arbeiten gehen.«

Urs rappelte sich vom Boden auf, griff nach dem Handtuch, das über der Stuhllehne hing, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte er und ging zur Tür, um zu horchen. Als kein Geräusch an sein Ohr drang, ging er zu seinem Bett. Er schob es ein Stück zur Seite und kniete nieder. An einer Stelle löste er die Fußbodenleiste, und ein kleines Loch kam zum Vorschein, in dem Urs ein Päckchen versteckt hatte. Seine Finger zitterten, als er eine der Pillen aus der Alufolie schälte und in den Mund steckte. In Windeseile verstaute er das Päckchen wieder an seinem Platz und schob das Bett zurück an die Wand. »Wenn die Wärter mich nicht jeden Morgen beim Ausgang durchsuchen würden, wär’s einfacher.« Der junge Mann tat es seinem Mitbewohner gleich und legte sich auch auf’s Bett.

»Das Leben ist nun mal kein Ponyhof«, lachte Lothar. »Aber so, wie ich dich kenne, steckst du den Doc locker in die Tasche. Dann hast du erst mal ein paar Rationen, bis du eine andere Quelle aufgetan hast.«

Urs lag auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Die Pille tat ihre Wirkung und ließ seinen Kopf zu Watte werden. Es gab nichts auf der Welt, was er mehr liebte als dieses Gefühl.

»Die andere Quelle hab ich schon. Die Alte, diese Fee, arbeitet in ´ner Klinik«, erklärte er mit Reibeisenstimme und lachte. »Ich brauch nur noch ein bisschen Zeit, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Dann kann ich da rein und raus spazieren, wie es mir gefällt.«

»Und mitnehmen, was dir gefällt«, stimmte Lothar in sein Lachen mit ein.

»Wahnsinn!« Urs wusste selbst nicht, warum er nicht mehr aufhören konnte zu lachen. Es kam einfach über ihn und er lachte und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen und die Feuchtigkeit durch sein Shirt drang. Es fühlte sich kühl und unangenehm an. Trotzdem konnte er nicht aufhören und lachte, bis er keine Luft mehr bekam.

*

In dieser Nacht wurde Fee Norden von einem Geräusch geweckt, das sie nicht recht einordnen konnte. Zuerst dachte sie, es wäre der Wecker, der sie unbarmherzig aus dem Schlaf riss. Ihr Mann Daniel lag dicht neben ihr. Sein Kinn kratzte an ihrer Schulter und sein Arm lag quer über ihrem Bauch, sodass sie sich erst befreien musste, ehe sie die Hand nach dem Wecker ausstrecken konnte. Als sie ihn aber zu sich heranzog, stellte sie fest, dass es erst kurz nach drei war. In diesem Augenblick begriff Felicitas, dass es ihr Handy war, das in der Tasche klingelte, die sie auf dem Sessel neben dem Schrank abgelegt hatte.

»Müssen wir schon aufstehen?«, brummte Daniel, als er den Lufthauch bemerkte, der ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

»Mein Handy klingelt«, wisperte Fee und tastete sich durch die Dunkelheit in der Hoffnung, sich nirgendwo anzuschlagen.

»Seit wann ruft die Klinik auf deinem Handy an?« Daniel zog die Decke über die Schulter und drehte sich um.

»Keine Ahnung«, gestand Fee. Ohne Unfall hatte sie den Sessel erreicht und setzte sich. Das Klingeln hatte inzwischen aufgehört, aber jetzt wollte sie doch wissen, wer der nächtliche Anrufer gewesen war. Sie zog die Tasche auf ihren Schoß und wühlte darin herum, als das Klingeln von Neuem begann. Das hell erleuchtete Display erleichterte ihr die Suche. Als sie sah, wer der Anrufer war, erschrak sie.

»Urs!«

»Tante Fee … ich wollte sagen Fee!« Seine Stimme war kläglich, und sofort bekam Felicitas einen Schreck.

»Was ist passiert? Geht’s dir nicht gut?«

»Doch … Nein, eigentlich nicht … Du wolltest mich anrufen wegen dem Termin«, stammelte Urs. Ganz offensichtlich war er den Tränen nahe. »Und weil ich nichts mehr von dir gehört hab, hab ich Angst bekommen, dass du doch nichts mit mir zu tun haben willst.«

Trotz der späten Stunde und ihrer Müdigkeit erschrak Fee.

»O Urs, das tut mir leid«, entfuhr es ihr. »Ich bin nach unserem Treffen wieder in die Klinik gefahren. Über einer schwierigen Diagnose habe ich mein Versprechen völlig vergessen.« Das war wenigstens die halbe Wahrheit. Schließlich musste Urs nichts von dem verliebten Abend und den leidenschaftlichen Stunden mit Daniel wissen, die der wahre Grund dafür waren, dass sie den jungen Mann vorübergehend vergessen hatte. »Aber weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Ich konnte die ganze Zeit nicht schlafen, weil ich so Angst hatte, dass du mich nicht mehr magst«, schniefte der junge Mann und klang unendlich erleichtert.

Fee lachte leise auf.

»Aber natürlich mag ich dich«, versicherte sie. »Es war sehr schön, dich wiederzusehen. Und ich denke, zusammen kriegen wir das schon alles wieder hin.«

Diese Bemerkung überhörte Urs.

»Dann kann ich morgen zu deinem Mann kommen?«

Fees Worte schienen ihn schnell getröstet zu haben.

Diese Frage konnte die Ärztin nicht einfach so beantworten. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie sah hinüber zum Bett, wo Daniel den Schlaf des Gerechten schlief. Sie überlegte kurz, entschied sich dann aber dazu, ihn zu wecken. Unter allen Umständen wollte sie Urs die Sicherheit geben, die er offenbar so dringend von ihr brauchte.

»Warte mal kurz. Ich bin gleich wieder da! Leg nicht auf«, bat sie ihn und legte den Apparat zur Seite.

Sie schlich hinüber zu Daniel und rüttelte sanft an seiner Schulter.

»Dan, es tut mir leid, aber ich muss dich kurz was fragen«, raunte sie ihm zu.

»Hmmm.« Mehr Kraft hatte er nicht.

»Hast du morgen Zeit, Urs zu untersuchen? Er hat schlimmen Husten und ich hab ihm versprochen, dass er zu dir kommen kann.«

Es dauerte einen Moment, bis Daniel wach genug war, um den Sinn ihrer Worten zu verstehen.

»Natürlich«, murmelte er endlich. »Er soll sich einen Termin bei Wendy oder Janine holen.«

Doch damit war Fee nicht zufrieden.

»Kann ich ihm nicht gleich irgendwas sagen? Der Junge ist völlig aufgelöst. Und ich bin schuld daran, weil ich vergessen habe, mein Versprechen einzulösen und ihn anzurufen.« Sie klang so deprimiert, dass Daniel ihrer Bitte nicht länger widerstehen konnte. Er rieb sich die Augen und versuchte, sich seine Termine des kommenden Tages ins Gedächtnis zu rufen.

»Lass mich nachdenken«, bat er, als ihm etwas einfiel. »Kommt nicht Dési morgen Nachmittag um vier Uhr zur Nachuntersuchung in die Praxis? Ich habe eine ganze Stunde für sie eingeplant. Mit Sicherheit brauche ich aber noch nicht einmal eine halbe. Wenn er also auch im vier da ist, kann ich ihn dran nehmen.«

»Du bist ein Schatz!« Fee gab ihrem Mann einen Kuss.

»Weißt du das erst jetzt?«

»Natürlich nicht«, versicherte sie, küsste ihn noch einmal und kehrte dann zum Sessel und ihrem Telefon zurück. »Urs, bist du noch dran?«

»Klar. Und ich hab schon gehört. Morgen um vier. Ich werde da sein. Vielen, vielen Dank, Tante Fee.« Er hustete, ehe er sich spürbar zufrieden von ihr verabschiedete.

Und auch Felicitas Norden fühlte sich gut, als sie wieder ins Bett schlüpfte und sich an ihren Mann kuschelte, der schon wieder tief und regelmäßig atmete. Ein paar Minuten später war auch die Ärztin wieder eingeschlafen und erwachte am nächsten Morgen gut erholt und ausgeruht.

*

Es war noch früh am Tag, als Janine Merck gut gelaunt den Gartenweg zur Praxis Dr. Norden hinaufging. Der Nebel hing noch zwischen Ästen voller zartem Grün und wartete darauf, von der Sonne geschmolzen zu werden. Vögel zwitscherten, und die wenigen Menschen, die um diese Uhrzeit schon auf den Straßen unterwegs waren, lächelten einander zu in Erwartung des angekündigten Sonnenscheins.

An diesem Morgen war die ehemalige Krankenschwester früher dran als sonst. Und das hatte seinen guten Grund.

»Bist du aus dem Bett gefallen, oder warum bist du schon hier?«, erkundigte sich Wendy, die, bewaffnet mit einer Gießkanne, aus dem Sprechzimmer des Seniorchefs kam.

»Ach, ich dachte mir, ich komm ein bisschen früher, damit wir Zeit für einen Plausch haben«, gab Janine zurück und setzte eine Unschuldsmiene auf.

Doch Wendy hatte ihre Freundin längst durchschaut.

»Gib doch zu, dass es die Neugier war, die dich jetzt schon hergetrieben hat«, sagte sie ihr auf den Kopf zu. Sie lachte, und die Grübchen tanzten rechts und links auf ihren Wangen. Ein gutes Zeichen, wie Janine befand.

»Ich nenne es Interesse an der wichtigsten Frau in meinem Leben«, erwiderte sie und ging in die Küche, um zwei Tassen Kaffee einzuschenken, den Wendy wie jeden Morgen schon gekocht hatte.

»Nette Umschreibung.« Wendy sah sich um und dachte darüber nach, ob sie alles für die Sprechstunde vorbereitet hatte. »Was willst du wissen?«

»Alles«, entfuhr es Janine, und sie reichte ihrer Kollegin die Tasse. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, versetzte dem Boden unter sich einen Schubs und ließ sich zu Wendy herumdrehen. »Wie alt ist Manfred? Wann trefft ihr euch? Seit wann schreibt ihr euch? Und überhaupt…«, purzelte eine Frage nach der anderen aus ihrem Mund. » … Warum tust du so was?«

Lächelnd und mit brennenden Wangen setzte sich Wendy an den Schreibtisch. Um Zeit zu gewinnen, trank sie einen Schluck Kaffee.

»Schwer zu sagen«, begann sie endlich. »Wie gesagt, ich bin durch Zufall über Manfreds Annonce gestolpert. Die Art, wie er geschrieben hat, hat mich irgendwie angesprochen«, erinnerte sie sich. »Außerdem hat es mir imponiert, dass er so mutig war und auf diesem Weg Kontakt zu seiner Außenwelt aufgenommen hat.«

Darüber hatte Janine noch nicht nachgedacht und musste ihrer Freundin und Kollegin recht geben.

»Bestimmt wollten viele Verwandte, Bekannte und Freunde nichts mehr von ihm wissen«, mutmaßte sie.

Wendy nickte.

»Das ist auch der Grund, warum Manfred die Anzeige aufgegeben hat. Denn irgendwann wird er ja wieder entlassen. Und dann ist es doch schön, wenn man sich schon einen neuen Bekanntenkreis aufgebaut hat.« Wendy saß am Schreibtisch und dachte an die Briefe, die sie getauscht hatten.

»Und du bist dir ganz sicher, dass du ihn besuchen willst?«, fragte Janine in ihre Gedanken hinein. »Lass mich raten: Bestimmt sollst du ihm einen Kuchen mit Feile mitbringen.«

Über diese Vermutung lachte Wendy, aber viel zu schnell wurde sie wieder ernst. Nach einem weiteren Schluck Kaffee stellte sie die Tasse auf den Tisch. Sie schaltete ihren Computer ein, ehe sie sich zu Janine umdrehte.

»Nein, bin ich überhaupt nicht«, gestand sie und lachte. »Als ich ihm auf seine Anzeige geantwortet hatte, dachte ich, das sind ja nur Briefe. Ich hatte nie vor, ihn persönlich kennenzulernen. Und er hat mich weder um einen Kuchen noch um sonst einen Gefallen gebeten.«

»Und warum willst du ihn dann doch besuchen?«, stellte Janine eine berechtigte Frage.

Wendy zuckte mit den Schultern.

»Weil er ein netter Mensch ist.«

»Aber er ist auch ein Verbrecher«, konterte ihre Kollegin unbarmherzig.

»Das stimmt. Vielleicht will ich ihn auch kennenlernen, um herauszufinden, ob das, was er mir schreibt, zu dem Menschen passt, der er wirklich ist.«

Janine schmunzelte.

»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Draufgängerin bist.«

»Ich auch nicht«, gestand Wendy. »Deshalb bin ich umso gespannter auf das, was der Chef über diesen Verwandten erzählt, um den sich Fee kümmern soll. Du weißt schon. Den Freigänger. Vielleicht erfahre ich ja was, was ich noch nicht bedacht habe, und kann es mir nochmal überlegen.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Daniel Norden kam herein. Er begrüßte seine beiden Assistentinnen und hängte seine Jacke an die Garderobe. Wendy holte inzwischen eine weitere Tasse Kaffee und stellte sie auf den Tresen.

»Vielen Dank!« Nach ein paar ebenso freundlichen wie belanglosen Worten wollte er in sein Sprechzimmer gehen, als ihm etwas einfiel. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal um. »Ach, übrigens kommt heute um vier ein Patient vorbei, der nicht angemeldet ist. Es handelt sich um den Freigänger, um den Fee sich kümmern soll. Er heißt Urs Hansen. Wenn Sie ihm bitte eine halbe Stunde von Désis Termin abgeben?« Damit wandte er sich ab und ging den Flur hinunter. Das leise Klacken der Tür zeugte davon, dass er sein Ziel erreicht hatte.

Die beiden Assistentinnen tauschten vielsagende Blicke.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich meinen Erfahrungsschatz so schnell aufstocken kann«, murmelte Wendy.

»Wer weiß, wofür es gut ist«, gab Janine zurück und wandte sich lächelnd an den ersten Patienten des Tages, der eben die Praxis betreten hatte.

*

Volker Lammers war noch nicht in der Klinik, als Felicitas Norden die Untersuchung des Liquors bei Kevin Trostmann anordnete. Danach musste sie für mehrere Stunden in den Operationssaal.

»Gute Arbeit, Schwesterherz!«, lobte Mario Cornelius ihre Fähigkeiten, als sie nach dem Eingriff nebeneinander am Waschbecken standen.

»Oh, ein Lob aus dem Munde des Chefs«, scherzte Fee. »Das muss ich glatt im Kalender notieren.«

Ihr war noch nicht bewusst, welchen Fehler sie gemacht hatte, bis Mario die Faust in die Luft reckte. Wassertröpfchen flogen umher.

»Macht zehn Euro für die Kaffeekasse!«, triumphierte er.

»Nein, nein, dieses Spiel mache ich nicht mit«, setzte sich Felicitas zur Wehr. »Gestern zehn Euro, heute zehn Euro … dafür kann ich zu Hause einen ganzen Monat lang Kaffee trinken.«

»Aber der schmeckt nicht so gut wie der, den Frau Sander für mich kocht«, versprach Mario. »Hast du Lust auf eine Tasse? Ich lade dich ein«, machte er ein Angebot zur Versöhnung.

»Geht leider nicht.« Fee griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. »Ich habe eine Untersuchung in Auftrag gegeben und will unbedingt wissen, was dabei herausgekommen ist.« Sie lächelte ihren Bruder an. »Ein andermal vielleicht.«

»Eine würdige Vertreterin habe ich mir da ausgesucht«, lobte der Chef der Pädiatrie das Engagement seiner Schwester. »Dann heb ich dir eine Tasse auf.«

»Eine Tasse für zwanzig Euro … du bist zu gütig!« Fee zwinkerte ihm zu, ehe sie den Vorraum des Operationssaales verließ und den Flur hinunter eilte in Richtung ihres Büros. Dort angekommen, durchsuchte sie sofort die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Vergeblich. Obwohl sie Anweisung gegeben hatte, den Laborbericht dort abzulegen, war er nirgendwo zu finden. Fee griff nach dem Hörer, als Schwester Anita den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Tut mir leid, wenn ich störe, Chefin. Aber wissen Sie zufällig, wo die Patientin Ada Jacobs steckt? Ihre Tante ist hier und will sie besuchen. Aber ich kann sie nirgendwo finden.«

Über diese Frage musste Felicitas Norden nicht nachdenken. Sie selbst hatte das Mädchen am Morgen in den Kindergarten geschickt.

»Wahrscheinlich ist sie gerade mit den anderen Kindern beim Essen. Die Tante soll doch bitte so lange in der Cafeteria warten. Nach der Mittagspause kann sie Ada vom Kindergarten abholen.«

»Gut, dann richte ich ihr das aus.« Anita wollte schon davon eilen, als Fee sie aufhielt.

»Moment. Ich habe auch eine Frage.«

»Ja?« Blitzschnell überlegte die junge Schwester, ob sie etwas vergessen hatte, kam aber zu dem Schluss, sich keiner Schuld bewusst zu sein.

»Ist der Laborbericht von Kevin Trostmann noch nicht da?«, erinnerte Fee sie an ihr Versprechen, die Unterlagen auf dem Schreibtisch zu deponieren.

Schwester Anita blickte verwundert drein.

»Aber Dr. Lammers ist doch jetzt für den Fall verantwortlich. Er hat mir den Umschlag aus der Hand genommen und versprochen, dass das so in Ordnung ist«, erklärte sie mit Unschuldsmiene. »War das falsch?«

»Ja«, entfuhr es Felicitas, und sie machte keinen Hehl aus ihrem Ärger. »Allerdings trifft Sie keine Schuld. Sie konnten ja nicht wissen, dass der Kollege nicht die Wahrheit sagt. Es ist nicht sein Fall.«

»Ist das nicht egal?«, stellte die Schwester eine berechtigte Frage. »Hauptsache, es kümmert sich überhaupt jemand um den Patienten.«

Fee lag eine Bemerkung auf der Zunge, die sie sich aber im letzten Moment verkniff.

»Sie haben recht«, bestätigte sie der Einfachheit halber und entließ die Schwester.

Gleich im Anschluss machte sie sich auf die Suche nach Dr. Lammers und fand ihn im Aufenthaltsraum der Ärzte. Umringt von einigen Kollegen saß er am Tisch. Er war so in seine Rolle als Wortführer vertieft, dass er nicht bemerkte, wie seine Chefin das Zimmer betrat. Fee gab ihren Mitarbeitern ein Zeichen, sie gar nicht zu beachten, verschränkte die Arme vor dem Körper und lehnte sich an einen Schrank neben der Tür.

»Anhand dieser Ergebnisse können wir also eins und eins zusammenzählen«, fuhr Volker Lammers mit seinen Ausführungen fort. »Das Ergebnis ist…«

»Zwei«, entfuhr es Simon Wertheim, einem Kollegen, den Fee sehr schätzte.

Alle lachten. Nur Volker Lammers verzog keine Miene.

»Hahaha«, bemerkte er und klatschte drei Mal in die Hände. Das Lachen der Ärzte versickerte. »Sie halten sich wohl für besonders witzig«, wandte sich Lammers an den Kollegen Wertheim. »Vielleicht vergeht Ihnen das Lachen, wenn ich Sie von der Operation ausschließe.«

Simon wollte schon widersprechen, als sich seine Chefin in die Unterhaltung einmischte.

»Warum sollte der Patient operiert werden?«, machte sie sich bemerkbar und trat an den Tisch.

Die Kollegen begrüßten sie mit leisem Murmeln. Nur Dr. Lammers starrte sie aus schmalen Augen an.

»Wie würden Sie eine Neurotuberkulose denn behandeln?« Er griff nach dem Laborbericht und hielt ihn ihr vor die Nase.

»Ach, da ist ja der Bericht meines Patienten, den ich in Auftrag gegeben habe.« Fee dachte nicht daran, seine Frage zu beantworten. »Schwester Anita sollte ihn auf meinen Schreibtisch legen. Sie wird eine Abmahnung bekommen, weil sie sich nicht an meine Anweisungen gehalten hat«, bluffte sie so überzeugend, dass Lammers nach einem Ausweg suchte.

»Dem kleinen Trostberg geht es schlecht. Da Sie nicht da waren, habe ich mich dazu entschieden, mich des Falles anzunehmen.« Er lauerte geradezu darauf, dass Fee den Fehler machte und ihn vor den Kollegen tadelte. Doch sie dachte nicht daran, ihm diesen Gefallen zu tun.

»Darüber unterhalten wir uns später unter vier Augen«, kündigte sie an, nahm ihm den Bericht aus der Hand und überflog die Auswertungen. »Leicht erhöhte Entzündungsmarker, viel zu viel Eiweiß und zu wenig Glukose«, las sie halblaut vor.

»Aufgrund dieser Ergebnisse habe ich das Labor nach dem Erreger suchen lassen«, erwiderte Dr. Lammers, um seiner Chefin zuvorzukommen. »Die Diagnose steht fest. Wir haben es mit einer Neurotuberkulose zu tun. Ein chirurgischer Eingriff mit nachfolgender Antibiotika-Therapie ist die Standardbehandlung in diesen Fällen.« Damit schien die Diskussion für den Kinderarzt beendet zu sein. Fees Einverständnis voraussetzend, wandte er sich wieder an die Kollegen, die er um sich geschart hatte. »Ich werde den Eingriff für morgen früh auf den OP-Plan setzen lassen. Sie wissen also Bescheid?«

Doch keiner der Ärzte machte Anstalten, ihm zuzustimmen. Alle Blicke ruhten auf der Chefin, die sich noch nicht zu dem geplanten Eingriff geäußert hatte.

Dr. Lammers bemerkte das Zögern und ahnte schon, woran es lag. Der Ärger brodelte in seinem Magen, und er wandte sich wieder an Felicitas.

»Was denn?«, schnaubte er und vergaß völlig, dass er nicht allein war mit seiner Chefin. »Sagen Sie bloß, dass Sie der OP nicht zustimmen?«

»Kevin ist in einer denkbar schlechten Verfassung. Deshalb denke ich über eine schonendere Alternative nach.«

»Wollen Sie ihn etwa gesundstreicheln?«, versuchte Volker zu scherzen.

Doch diesmal lachte keiner der Kollegen.

»Das wäre in der Tat nicht die schlechteste Lösung.« Fee tat ihm wenigstens den Gefallen und lächelte. »Aber ich glaube, ich habe eine andere Idee. Falls ich mich doch zu einem Eingriff entschließe, informiere ich Sie rechtzeitig. Meine Herren.« Ohne die Kollegen in ihre Pläne einzuweihen, nickte sie ihnen zu und verließ dann den Aufenthaltsraum. Obwohl sie sich bemüht hatte, Lammers nicht vor den Mitarbeitern bloß zu stellen, hatte sie keine Pluspunkte bei ihm gesammelt. Schon jetzt ahnte sie, dass seine Rache fürchterlich sein würde. Doch das spielte in diesem Moment keine Rolle. Die Interessen des Patienten standen über allem anderen.

*

Die Auseinandersetzung mit Volker Lammers hatte aber nicht nur Schattenseiten. Sie hatte Fee auch daran erinnert, dass sie vergessen hatte, ihren Mann an etwas zu erinnern. Das holte sie gleich im Anschluss nach und informierte Janine, den Patienten Urs Hansen wegen der möglichen Tuberkulosegefahr in ein separates Zimmer zu setzen.

»Danke für die Info!«, erwiderte die ehemalige Krankenschwester und drehte sich zum Fenster um. Aus dem Augenwinkel hatte sie eine Bewegung bemerkt. »Ich glaube, da kommt er eh schon. Und Dési ist nur ein Stück hinter ihm.«

»Sehr gut. Bitte sagen Sie schöne Grüße«, bat die Ärztin und beendete das Telefonat, um sich wieder ihrer Arbeit und in erster Linie der Behandlung von Kevin Trostmann zu widmen.

Janine legte auf und hatte gerade noch Gelegenheit, ihre Kollegin Wendy anzustupsen.

»Da kommt unser hoher Besuch!« Mit dem Kopf wies sie in Richtung Tür, die sich gleich darauf öffnete.

Dicht gefolgt von Dési betrat Urs Hansen den Flur der Praxis Dr. Norden. Er blieb so dicht vor dem Eingang stehen, dass Dési ihn um ein Haar umgerannt hätte. Doch daran schien er sich nicht zu stören und sah sich suchend um.

»Kommen Sie nur näher. Wir beißen nicht«, lächelte Janine freundlich und winkte den jungen Mann zu sich.

Zögernd folgte er der Aufforderung.

»Mein Name ist Urs Hansen. Ich habe einen Termin beim Doc.«

»Du bist also Urs«, tönte eine Stimme hinter ihm. Sie gehörte niemand anderem als Dési, die sich an den Namen erinnert hatte, den ihre Mutter am Abend zuvor erwähnt hatte.

Urs fuhr herum und funkelte Dési an.

»Woher weißt du das?«, fauchte er.

»Na, du hast es doch gerade selbst gesagt.« Dési gelang es nicht, sich ein Lachen zu verkneifen.

Einen Augenblick lang sah Urs Hansen so aus, als wollte er sich auf sie stürzen. Doch dann besann er sich und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

»Sorry, du hast natürlich recht«, räumte er am Tresen stehend ein. »Aber wenn du schon meinen Namen weißt, kannst du mir deinen auch verraten«, verlangte er.

»Ich bin Dési Norden. Meine Mum hat uns von dir erzählt«, verriet sie, und plötzlich ging Urs ein Licht auf.

»Ach, sieh mal einer an.« Seine Augen wurden schmal, während er sie eingehend musterte. »Das ist ja mal eine interessante Neuigkeit.«

Dési sah ihn aus großen Augen an. Sie wusste nicht recht, was er mit dieser Bemerkung meinte, zumal der Unterton in seiner Stimme irgendwie bedrohlich wirkte. Doch das Lächeln, das um seine Lippen spielte, sprach eine andere Sprache. Die Arzttochter suchte noch nach einer lustigen Antwort, als Janine befand, dass es genug war mit der Plauderei.

»Bevor ihr eure intimsten Geheimnisse austauscht, würde ich gern die Daten von Herrn Hansen aufnehmen und ihn dann wegen des Verdachts auf Tuberkulose in ein separates Zimmer bitten«, erklärte die Assistentin in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Einen Moment lang ruhten Urs’ Augen noch auf Dési. Dann wandte er sich ab und trat an den Tresen.

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, erklärte er und füllte den Patientenbogen aus, den Janine ihm reichte.

Wendy, die die Unterhaltung schweigend verfolgt hatte, wandte sich an Dési.

»Meine Güte, du hast dich ja ganz schön gemausert«, lobte sie die jüngste Tochter der Familie Norden, die sie eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. »Groß bist du geworden.Wenn das so weitergeht, hast du mich bald eingeholt.«

Janine sah hinüber zu ihrer Kollegin.

»Ich will dir ja deine Illusionen nicht rauben, aber ich fürchte, das ist bereits passiert.«

Wendy seufzte.

»Das liegt daran, dass ich inzwischen in einem Alter bin, in dem man wieder schrumpft.« Sie zwinkerte Dési zu. »Du kannst schon mal im Wartezimmer Platz nehmen. Dein Vater hat gleich Zeit für dich.«

»Sie sind die Beste!«, lächelte Dési. »Und es macht gar nichts, dass Sie schrumpfen. Kleinsein hat viele Vorteile. Ich spreche aus Erfahrung.« Sie winkte den beiden Assistentinnen zu und machte sich auf den Weg ins Wartezimmer.

Wendy sah ihr nach.

»Das war jetzt nicht unbedingt das, was ich hören wollte«, gestand sie.

»Mach dir nichts draus. So ist die Jugend von heute eben. Schonungslos offen«, amüsierte sich Janine sichtlich und nahm das Blatt entgegen, das Urs inzwischen ausgefüllt hatte. Sie legte es beiseite und stand auf, um den jungen Mann in ein leer stehendes Untersuchungszimmer zu bringen.

»So, hier können Sie Platz nehmen. Der Doktor hat gleich Zeit für Sie. Soll ich Ihnen ein paar Zeitschriften bringen?«, fragte sie und rückte den Stuhl zurecht, der in der Ecke bereitstand.

»Nein, danke. Alles bestens.« Urs hustete und hielt die Hand vor den Mund. »Ich bin so dankbar, dass Dr. Norden mich behandelt«, versicherte er.

»Das sagen Sie jetzt! Aber warten Sie, bis er erst mal loslegt. Dann denken Sie möglicherweise anders darüber«, scherzte Janine gut gelaunt, als sie die Sorgen in den Augen des Patienten bemerkte. »Oh, tut mir leid. Das war nur ein dummer Witz. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.«

Urs zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Er war im Begriff, die Geduld zu verlieren, und wusste doch, dass das unmöglich war, wenn er nicht alles verderben wollte.

»Ich hab doch keine Angst«, versicherte er deshalb im Brustton der Überzeugung und hoffte, dass die Assistentin keine Gedanken lesen konnte.

Seine Hoffnung erfüllte sich.

»Sehen Sie, das wusste ich!« Janine zwinkerte ihm zu, ehe sie ihn allein ließ.

*

Zuerst setzte sich Urs und überdachte seinen Plan, überlegte, welche seiner Argumente imstande wären, Dr. Norden von der Notwendigkeit des Hustenmittels zu überzeugen. Dieses Mittel war bekannt für seine berauschende Wirkung und würde ihm über den Tag helfen, bis er am Abend ins Gefängnis zurückkehren musste. Doch allein der Gedanke daran machte Urs nervös, und er hob den Blick und ließ ihn durch den Raum wandern. Er betrachtete das Bild an der Wand – es stellte eine Berglandschaft im Nebel dar – und den Schrank, der daneben stand. Eine Weile fixierte er ihn, versuchte sich vorzustellen, was dahinter wohl verborgen war. Doch ein paar Minuten später genügte die Vorstellung nicht mehr. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, stand Urs plötzlich auf und ging wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen auf den Schrank zu.

Er blieb direkt vor dem Möbel stehen und haderte mit sich.

»Vielleicht … nein … oder doch?« Seine Hand zitterte, als er sie nach dem Knauf ausstreckte. Er drehte ihn herum und die Tür öffnete sich, gab den Blick frei auf Verbandmaterial, Scheren, Pinzetten und andere Gerätschaften. Daneben standen zahllose Medikamentenschachteln in allen Größen und Farben. Urs war wie vom Donner gerührt. Damit hatte er nicht gerechnet. »Tabletten«, hauchte er und war plötzlich den Tränen nahe. Dieser Anblick erinnerte ihn wieder an die Tage und Nächte im Drogenrausch, der ihn immer noch und immer wieder in seine gnädigen Arme schloss. Mit den Drogen war das Leben leichter. Nicht so hart und grell, sondern gedämpft und weich und warm. Mit einem Schlag war alles andere vergessen. Urs wusste nicht mehr, weswegen er gekommen war. Wie von Sinnen starrte er auf den Schatz, der sich vor seinen Augen auftat. »Ein ganzer Schrank voller Tabletten«, murmelte er. »Da ist doch bestimmt was für den kleinen Urs dabei! Ich brauch gar kein Rezept. Ich muss nur zugreifen.« Es war ein kleiner Teufel auf seiner Schulter, der ihm diese Worte zuflüsterte. Urs streckte die Hände aus. Doch kurz bevor seine Fingerspitzen eine der Schachteln berührte, zog er sie wieder zurück. »Lass es!«, kreischte eine andere Stimme in seinem Ohr. »Wenn du das tust, ist alles kaputt, was du erreicht hast.«

»Pah, was hat er denn erreicht?«, lachte der Teufel. »Er hat das Paradies gegen eine Stelle als Schlosser getauscht.«

»Der Knast soll ein Paradies sein?«, widersprach der Engel auf der anderen Seite.

»Die Pillen, die sind das Paradies.« Wiederum war der Teufel nicht um eine Antwort verlegen. »Mit ihnen ist alles gut. Damit geht das Leben nicht nur drinnen, sondern auch draußen sorglos weiter. Also greif zu, Junge, greif zu, greif zu.«

Die Worte hallten in Urs’ Kopf. Zuerst wusste er nicht, auf wen er hören sollte. Doch die Stimme des Teufels wurde lauter und lauter, bis er nicht anders konnte und in den Schrank greifen musste. Zitternd hielt er eine Packung vor die Augen. Doch wie groß war seine Enttäuschung, als er nur ein Antibiotikum in Händen hielt. In diesem Augenblick war er nicht mehr Herr über sich selbst. Er ließ die Schachtel fallen, wo er stand, und nahm die nächste heraus und dann noch eine und noch eine, bis er schließlich mit beiden Händen den Schrank durchwühlte und voller Wut die Packungen durchs Zimmer warf. Erst als er eine Stimme hinter sich hörte, hielt er in seiner Raserei inne. Doch Urs drehte sich nicht sofort um. Einer inneren Stimme folgend, griff er nach einer Schere. Dann bewegte er sich nicht mehr.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Dési seinen Rücken an.

»Hör sofort auf damit! Du bist ja total durchgedreht!« Da Wendy und Janine beschäftigt waren, hatte sie sich angeboten, Urs zu ihrem Vater zu bringen. Doch mit dem, was sie jetzt zu sehen bekam, hatte sie nicht gerechnet.

In diesem Moment fuhr Urs herum. Mit der Schere in der hoch erhobenen Hand war er mit einem Satz bei Dési. Ehe sie begriff, was passierte, packte er sie am Arm, wirbelte sie herum und verdrehte ihr die Hand, dass sie vor Schmerz schrie.

»Halt’s Maul!«, zischte er. »Sonst mach ich dich einen Kopf kürzer.« Er umklammerte sie mit einem Arm, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte, und drückte ihr die Klinge der Schere an den Hals.

Als Dési das kalte Metall spürte, schluckte sie. Tränen schossen ihr in die Augen, doch kein Laut kam mehr über ihre Lippen.

*

»Sie können jetzt nicht zum Chef!« Andrea Sanders Stimme war völlig ruhig. Die Assistentin der Klinikleitung saß hinter ihrem Schreibtisch und sah ihren Besucher an. »Dr. Cornelius hat eine Besprechung.«

»Dann will ich sofort die Nummer von Frau Behnisch haben«, verlangte Volker Lammers bebend vor Zorn. »Das ist mir eh lieber, als mich mit diesen Möchtegern-Vorgesetzten zu unterhalten.«

Um ihre Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, zog Andrea Sander eine Augenbraue hoch.

»Frau Doktor Behnisch ist vorübergehend nicht erreichbar.« Besondere Betonung legte sie auf den Titel ihrer Chefin, den Volker Lammers unter den Tisch hatte fallen lassen. »Und allein, dass sie die Geschäfte vertrauensvoll in Mario Cornelius’ Hände gelegt hat, sollte Beweis genug für seine Kompetenzen sein.«

Dr. Lammers verstand, dass er sich mit seinen Mitteln bei Andrea Sander die Zähne ausbeißen würde. Deshalb atmete er ein paar Mal durch, änderte seine Strategie und setzte ein Lächeln auf.

»Also schön. Dann brauche ich bitte einen Termin bei Cornelius … entschuldigen Sie, Doktor Cornelius.« Er sah der Assistentin an, dass sie ihn am liebsten rausgeworfen hätte, und lächelte wie ein Engel.

Zähneknirschend beugte sich Andrea über den Terminkalender, als aus dem Büro Fußgetrappel, Stimmen und Lachen zu hören waren. Es war offensichtlich, dass sich die Runde auflöste, und tatsächlich öffnete sich gleich darauf die Tür, und zwei Männer in Anzügen und eine Frau im Kostüm kamen in Begleitung von Mario Cornelius heraus.

»Ihr Ultraschallskalpell der neuen Generation hat mich voll und ganz überzeugt«, bemerkte der Kinderarzt, während er seine Gäste ins Vorzimmer begleitete.

»Jetzt müssen Sie nur noch die Verwaltung davon überzeugen, das Gerät zu bewilligen«, wiederholte die Dame in Schwarz das Argument, das Dr. Cornelius vorhin erwähnt hatte.

»Und das könnte schwierig werden«, bedauerte der stellvertretende Klinikchef. »Wie ich ja schon vorhin gesagt habe, wurde die Pädiatrie erst umfassend renoviert. Ich fürchte, im Augenblick sind leider keine Gelder vorhanden.«

»Jedenfalls danken wir Ihnen dafür, dass Sie sich Zeit genommen haben«, sagte ihr Kollege und reichte Mario an der Tür die Hand. »Sie haben ja meine Karte. Bitte melden Sie sich, falls sich die Vorzeichen doch ändern. Und vergessen Sie nicht: Unser Gerät kann Leben retten!«

»Selbstverständlich.« Mario sah seinen Besuchern nach, wie sie sich von Andrea Sander verabschiedeten und das Vorzimmer im Gänsemarsch verließen.

Dr. Lammers, der den Besuchern Platz gemacht hatte, sah er nicht, als er zu Andrea an den Schreibtisch trat und eine Praline aus der Schachtel stibitzte, die vor ihr stand.

»Ach, dieses Gerät ist ein Traum«, geriet er unvermittelt ins Schwärmen. »Es arbeitet mit 56 000 Schwingungen pro Minute. Diese Geschwindigkeit ist mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar.« Mario hielt kurz inne, und Andrea wollte ihn auf den Besucher aufmerksam machen, doch im selben Augenblick fuhr er fort. »Vorteil dieser Methode ist, dass die Schwingungen Verbindungen im Gewebe sprengen und auf diese Weise schneiden. Dabei produzieren sie 50 Grad Wärme, so dass die Blutgefäße sofort verödet werden. Das Gewebe wird nicht in der Tiefe geschädigt und die Gefahr einer Nachblutung ist wesentlich geringer als bei der herkömmlichen Methode.« Während der Kinderarzt die Vorteile dieses Instruments aufzählte, leuchteten seine Augen mit seinen Wangen um die Wette.

Andrea Sander konnte nicht anders und musste lachen.

»Wenn ich Ihre Freundin wäre, würde ich glatt eifersüchtig werden auf dieses Ultraschall-Dings«, bemerkte sie und deutete gleichzeitig in die Richtung, wo Dr. Lammers stand und wartete. »Aber hier ist noch jemand anderer, der ein Eifersuchts-Problem hat«, raunte sie Mario so leise zu, dass Volker Lammers sie nicht hören konnte.

Auf ihren Fingerzeig hin drehte sich Dr. Cornelius um und hätte um ein Haar laut aufgestöhnt. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an die Pflichten, die die Stellvertretung mit sich brachten, und setzte ein Lächeln auf.

»Kollege Lammers, schön, Sie zu sehen.«

»Ach, tatsächlich?«, fragte der Kinderarzt, und seine Stimme troff vor Ironie. »Das werden Sie gleich nicht mehr denken. Können wir uns kurz unterhalten?«

»Natürlich.« Mario machte einen Schritt zur Seite und ließ seinem Mitarbeiter den Vortritt. Hinter seinem Rücken schickte er Andrea einen fragenden Blick. Doch die verdrehte nur die Augen. Was Volker Lammers anging, waren sie alle einer Meinung. Alle, bis auf die Chefin, die eisern an dem Kinderchirurgen festhielt. Das hatte seinen guten Grund. Bereits mehrfach war es ihm gelungen, das Leben eines Kindes mit einem waghalsigen Eingriff zu retten. Schnell hatte sich das Gerücht in der Klinik verbreitet, dass Lammers selbst dann noch operierte, wenn alle anderen die Hoffnung aufgegeben hatten. Sein Erfolg gab ihm recht und sicherte ihm den Respekt und das Wohlwollen der Chefin. Jenny Behnisch sah großzügig darüber hinweg, dass Volker Lammers seinen Kollegen Fee Norden und Mario Cornelius die Positionen streitig machen wollte.

DiesesVorhaben bekam auch Mario an diesem Nachmittag wieder zu spürten.

»Es tut mir außerordentlich leid, dass ich mit meinem Anliegen zu Ihnen kommen muss«, begann Lammers, kaum dass Mario die Bürotür hinter sich geschlossen hatte. »Vor allen Dingen auch deshalb, weil es sich um Ihre Schwester handelt. Leider kann ich mich nicht länger des Eindrucks erwehren, dass Frau Dr. Norden mich mobbt. Sogar vor den Kollegen.«

Dieser Vorwurf war so lächerlich, dass sich Mario verschluckte und einen Hustenanfall bekam.

Lammers setzte sich an den Besprechungstisch und wartet, bis sich der stellvertretende Chef wieder gefangen hatte.

»Aber keine Sorge, ich bin nicht gekommen, um mich über Ihre Schwester zu beschweren«, fuhr er fort und klopfte auf den Platz neben sich. »Kommen Sie, setzen Sie sich«, spielte er sich wie der Hausherr persönlich auf. »Ich brauche eine Entscheidung von Ihnen.«

Mario verzichtete darauf, Lammers’ Aufforderung nachzukommen. Statt an den Besprechungstisch setzte er sich an seinen Schreibtisch.

»Um was geht es konkret?«

»Um einen Eingriff bei einem Patienten«, ließ sich Volker Lammers nicht von Marios Reaktion irritieren. »Sagt Ihnen der Name Kevin Trostmann etwas?«

»Das ist doch der Junge mit dem Typhus-Verdacht«, erinnerte sich Dr. Cornelius an diesen Fall, der auch ihn beschäftigt hatte.

»Inzwischen hat sich herausgestellt, dass der Junge an einer Neurotuberkulose leidet.«

»An einer Tuberkulose des zentralen Nervensystems?« Auf diese Idee wäre Dr. Cornelius nicht im Traum gekommen, und sie erschreckte ihn. »Wenn ich recht informiert bin, können bleibende Beeinträchtigungen oder der Tod in vielen Fällen noch immer nicht ausgeschlossen werden.«

Volker Lammers nickte düster.

»Stimmt auffallend. Um dem Jungen dieses Schicksal zu ersparen, möchte ich die Entzündungsherde operativ entfernen. Ihre Schwester hat meiner Meinung allerdings widersprochen.«

Mario saß am Tisch, die Ellbogen auf die Platte gestützt, die Hände unter dem Kinn gefaltet.

»Welche Gründe hat sie genannt?«, stellte er die Frage, deren Antwort für ihn von größter Bedeutung war.

»Ihrer Ansicht nach ist der Junge zu schwach für einen Eingriff«, schnaubte Lammers und dachte gar nicht daran, seine Verachtung für diese Meinung kundzutun. »Als ob eine Behandlung mit Medikamenten schonender wäre. Ganz im Gegenteil zieht sie damit das Leid des Jungen unnötig in die Länge und riskiert sogar, wie Sie ganz richtig gesagt haben, eine bleibende Behinderung.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

Im ersten Augenblick wusste Mario nicht, was er dazu sagen sollte.

»Um eine Entscheidung treffen zu können, brauche ich Kevins Unterlagen«, fasste er schließlich einen Entschluss, der Lammers ganz und gar nicht gefiel.

»Sie vertrauen mir nicht?« Seine Augen waren schmal geworden.

Um den Streit nicht eskalieren zu lassen, musste er jetzt die richtigen Worte wählen. Das war Dr. Cornelius mehr als bewusst.

»Ich weiß, dass Sie ein begnadeter Operateur sind«, versuchte er, den Kollegen gewogen zu stimmen. »Aber ich kenne auch Fees Fähigkeiten. Wenn sie der Ansicht ist, dass eine Operation gefährlich sein könnte, möchte ich diese Einwände nicht außer Acht lassen.« Mario zuckte zusammen, als Lammers so abrupt vom Stuhl aufsprang, dass er umfiel.

Das Poltern war so laut, dass sogar Andrea Sander an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer erschrak. Im ersten Moment wollte sie nach dem Rechten sehen. Als sie aber die Stimmen der beiden Männer hörte, entschied sie sich dagegen und spitzte lediglich die Ohren.

»Das sagen Sie doch nur, weil sie Ihre Schwester ist!«, schimpfte Lammers unterdessen und sah einen Moment lang so aus, als wollte er mit dem Fuß auf dem Boden aufstampfen wie ein kleiner Junge.

Mario antwortete nicht sofort. Er erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und hob den Stuhl auf. Er wartete darauf, dass Lammers einen Schritt zur Seite machte, und stellte den Stuhl dann wieder an seinen Platz.

»Als Chef dieser Klinik habe ich keine Verwandten, Freunde oder Bekannte«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Als Chef dieser Klinik habe ich Patienten und Mitarbeiter. Und jede Stimme hat ein Recht darauf, gehört und geprüft zu werden. Zum Wohle unserer Patienten.« Zum Zeichen, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet war, ging Mario zur Tür.

Volker Lammers blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

»Ich lasse die Akte Trostmann kommen. Dann sehen wir weiter.« Mario drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.

»Ich brauche noch heute eine Entscheidung«, erwiderte Lammers, ehe er grußlos davonstürmte.

Mario sah ihm nach und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen.

»Ich beneide Jenny nicht um ihren Posten. Es ist wirklich nicht leicht, Chef zu sein.«

»Apropos Chef«, hatte er Andrea damit ohne Absicht ein Stichwort gegeben. »Sie schulden der Kaffeekasse 20 Euro.«

»Ich?« Mario konnte es nicht fassen, und das Lächeln auf Andrea Sanders Gesicht wurde tiefer.

»Allerdings. Ich hab genau gehört, dass Sie sich vorhin selbst zwei Mal als Chef bezeichnet haben.«

Mario Cornelius stemmte die Hände in die Hüften.

»Lauschen Sie etwa?«

»Das würde ich niemals tun. Ich passe lediglich auf, dass Sie mit dem Leben davonkommen«, verteidigte sich die Assistentin. »So, wie es bei Ihnen zugeht, könnte man schon manchmal Angst bekommen.«

Lächelnd ließ Mario die Hände wieder sinken.

»Wahrscheinlich haben Sie auch noch recht. Und bevor Lammers mit ganz anderen Sachen als mit Stühlen nach mir wirft, sollte ich mich wirklich um den Fall Trostmann kümmern. Lassen Sie mir bitte die Akte kommen.«

»Klar, Chef!«, strahlte Andrea von einem Ohr zum anderen. »Und die 10 Euro bezahle ich freiwillig.«

*

Während Dr. Norden auf seinen Patienten Urs Hansen wartete, telefonierte er mit seiner Frau Fee, die ihm ihr Leid klagte.

»So schwach, wie Kevin ist, würde er einen solchen Eingriff nicht überleben.«

»Aber was, wenn die Medikamente nicht anschlagen?«, stellte Daniel eine berechtigte Frage. »Immerhin hat auch das Antibiotikum nicht gewirkt, das er bekommen hat.«

»Kein Wunder«, war Fee nicht um eine Antwort verlegen. »Das Antibiotikum war ja auch nicht auf diese Krankheit abgestimmt. Es gibt moderne Medikamente, mit denen ein Erfolg durchaus möglich ist«, verteidigte sie ihre Einstellung.

Dr. Norden wiegte nachdenklich den Kopf, als sein Blick auf die Uhr auf seinem Schreibtisch fiel. Er wunderte sich, wo Urs so lange blieb, konzentrierte sich dann aber wieder auf das Telefonat.

»In diesem Fall würde ich Mario zu Rate ziehen. Immerhin ist er Jennys Stellvertreter und muss eine Entscheidung treffen.«

»Gut. Ich werde sofort mit ihm sprechen«, erklärte sich Fee mit dieser Lösung einverstanden und verabschiedete sich hastig von ihrem Mann.

Daniel war gerade im Begriff, den Hörer aufzulegen, als Désis Schrei durch den Flur hallte und Mark und Bein erschütterte.

Einen Moment lang blieb er sitzen und lauschte. Doch kein Laut drang mehr in sein Büro, und Daniel beschloss, nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Flur begegnete ihm Danny.

»Weißt du, was das war?«, fragte er seinen Vater.

»Es klang nach Dési. Aber ich weiß nicht, was passiert ist.« Ein Verdacht war Dr. Norden gekommen, der so schrecklich war, dass er ihn lieber nicht laut aussprach.

»Dann finden wir es heraus«, beschloss Danny, als ein leises Schluchzen über den Flur hallte, gefolgt von unterdrücktem Fluchen. Danny wandte den Kopf nach links und rechts. »Das kam von da drüben!«

In diesem Moment kam Janine um die Ecke. Ihre Miene sprach Bände.

»Dési … Sie wollte den Freigänger holen und zu Ihnen bringen«, stammelte sie und presste die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. »Er hat im Behandlungszimmer 3 gewartet.«

»Sag ich’s doch!« Danny wartete nicht länger und stürzte los, um die Ecke und ans Ende des Flurs, wo das kleine Zimmer lag, das in erster Linie für Infusionspatienten genutzt wurde. Als er die Tür aufriss, stockte ihm der Atem. »Lass sofort meine Schwester los!« Er wollte grimmig klingen. Doch seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Hinter ihm tauchten Janine und Dr. Norden auf. Mit einem einzigen Blick erfasste auch Daniel die Szene. Er sah die Klinge an der Kehle seiner Tochter, bemerkte den Arm, der ihre Brust umklammerte, die Hand, die sich auf ihren Mund presste. Er sah direkt in Urs’ Augen, in denen ein Ausdruck von Irrsinn lag. Die Medikamentenschachteln, die auf dem Boden verstreut waren, bemerkte der Arzt nicht.

»Was soll dieser Blödsinn?«, fauchte Daniel und machte einen Schritt auf die beiden zu. »Lass sofort meine Tochter los!«

Doch Urs war wie von Sinnen.

»Zurück!«, befahl er und seine Stimme schnappte über. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und die Hand, mit der er die Schere an Désis Hals hielt, zitterte. »Sonst schneid ich ihr die Kehle durch!« Er drückte die Klinge fester auf die Haut. Dési konnte nicht schreien. Doch ihr unterdrücktes Stöhnen war schlimmer als alles, was Daniel je gehört hatte.

»Bitte! Sie ist doch noch ein halbes Kind«, flehte Danny, der nicht von der Seite seines Vaters wich.

»Na und?« Urs lachte.

Danny atmete ein paar Mal tief ein und aus und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Mach keinen Quatsch. Wir können doch über alles reden«, versuchte er sein Glück auf einer anderen Schiene.

»Ich will aber nicht reden«, knurrte Urs. »Ich brauch Pillen.« Er nannte den Namen des Präparats. »Und kommt bloß nicht auf die Idee, mich reinzulegen«, warnte er.

»Ich hol sie. Die Apotheke um die Ecke ist offen«, erklärte Janine, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.

»Halt, so leicht kommt ihr nicht davon«, fuhr Urs fort. Während er Dési festhielt, hatte er Zeit genug gehabt, sich Gedanken darüber zu machen, wie es jetzt weitergehen sollte. »Ich will ein vollgetanktes Auto. Und eine Viertelmillionen Euro. Das sollte fürs Erste reichen.«

»Aber das ist doch Wahnsinn!«, versuchte Daniel Norden, auf den jungen Mann einzuwirken.

Schlagartig drückte sich die Klinge wieder fester an Désis Hals. Ihr unterdrücktes Schluchzen schnitt wie ein Messer in das Herz des Vaters, und jede ihrer Tränen war ein Tropfen seines Blutes.

»Kein Wort mehr!«, zischte Urs. »Ihr habt genau eine Stunde. Dann ist die süße Kleine tot. Und jetzt raus hier!«

Um seine Worte zu unterstreichen, zog er mit einem Ruck an Désis Kopf, dass es knackte.

Das Wimmern seiner Tochter war mehr, als Daniel Norden verkraftete. Er schickte Dési einen verzweifelten Blick, in den er ein Versprechen legte. Das Versprechen, sie aus dieser Hölle unversehrt zu befreien. Koste es, was es wolle!

»Keine Angst, Süße, dir wird nichts passieren!« Es war Danny, der dieses Versprechen laut aussprach.

Antwort gab aber ein anderer.

»Raus hier!«, schrie Urs noch einmal aus Leibeskräften.

Diesmal kamen Daniel, Danny und Janine seinem Befehl nach und schlossen die Tür hinter sich.

*

Nachdem Felicitas Norden im Büro ihres Bruders angerufen und von Andrea Sanders, vertröstet worden war, hatte sie unverzüglich mit den Recherchen im Fall Trostmann begonnen. Wenn sie geahnt hätte, welches Drama sich in diesem Moment in der Arztpraxis abspielte, wäre sie nicht so ruhig an ihrem Schreibtisch gesessen. So aber beugte sie sich über die Unterlagen, die sie zu Tuberkulose und der wesentlich selteneren Neurotuberkulose gefunden hatte, und suchte nach nützlichen Hinweisen zur Behandlung dieser seltenen Form der Krankheit.

»Meine Güte«, seufzte sie schließlich und klappte einen dicken Wälzer zu, in dem sie gelesen hatte. »Wenn Urs wirklich Tuberkulose hat, kann er froh sein, wenn sie sich nicht in andere Organe ausbreitet.« Sie zog das nächste Buch zu sich heran und schlug es auf. »Ich bin gespannt, was Dan feststellen wird.«

Sie blätterte noch durch die Seiten auf der Suche nach dem richtigen Kapitel, als es klopfte. Sofort musste Fee an Volker Lammers denken und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Als sie aber Mario sah, der den Kopf durch die Tür steckte, lächelte sie.

»Und ich dachte schon, mein Erzfeind kommt mich mal wieder besuchen…« Felictias lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

Ihre Augen waren rot vor Anstrengung, und sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Dieses Vergnügen hab ich dir abgenommen.« Mario Cornelius kam herein.

Er schloss die Tür hinter sich, ehe er zu seiner Schwester kam und sich auf die Schreibtischkante setzte. Voll böser Vorahnung sah seine Schwester ihm dabei zu.

»Sag bloß, er ist mir zuvorgekommen und hat dich heimgesucht?«

»Wenn du es so nennen willst, dann ja. Daraufhin hab ich die Akte Trostberg kommen lassen. Außerdem war ich bei dem Jungen und hab ihn untersucht«, fackelte Mario nicht lange. »Und ich muss zugeben, dass auch mir die Entscheidung schwer fällt. Ich weiß nicht, welcher der richtige Weg ist.«

Felicitas Norden traute ihren Ohren nicht. Sie rutschte ein Stück vor und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Dabei ließ sie ihren Bruder nicht aus den Augen.

»Ich bitte dich, Mario! Wenn du dir den Jungen angesehen hast, weißt du doch Bescheid. Er ist völlig apathisch und sehr schwach. Meiner Ansicht nach würde er eine Operation nicht überleben.«

»Aber Lammers ist bekannt für seine Eingriffe am Limit. Wenn es zu riskant wird, bricht er ab.«

»Dann kommt er nicht weit. Allein die Narkose wäre zu viel für Kevin«, wehrte sich Fee mit allen Mitteln.

»Was, wenn du dich irrst und sich Kevins Zustand durch eine Operation schneller verbessert als durch eine konservative Therapie?« Der Einwand ihres Bruders war berechtigt.

Trotzdem schüttelte Felicitas in aller Entschiedenheit den Kopf. Ihr Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wippte im Takt dazu.

»Ich will dieses Risiko nicht eingehen.«

»Und Lammers will das Risiko nicht eingehen, noch länger abzuwarten«, gab Mario zu bedenken. »Ich selbst kann keine Entscheidung treffen.«

»Und jetzt?« Fee war sichtlich ratlos. Es ging ihr nicht darum, recht zu haben. Sie dachte einzig und allein an das Wohl des Kindes. Den richtigen Weg kannte nur der Himmel. »Wollen wir deine Glaskugel befragen?«, konnte sie sich eine Spur Sarkasmus nicht verkneifen.

Doch Mario brachte kein Lächeln zustande.

»Ich denke, wir sollten die Eltern mit ins Boot holen und ihnen die Entscheidung überlassen«, sprach der stellvertretende Klinikchef ein salomonisches Urteil aus.

Fee saß am Tisch und dachte nach. Viel zu oft war sie als Mutter schon vor so einer Entscheidung gestanden und hatte über Wohl und Wehe eines ihrer Kinder entscheiden müssen. Ihr ganzes Mitgefühl gehörte Kevins Eltern. »Gut, dann machen wir es so«, stimmte sie Marios Vorschlag schließlich zu. »Rufen wir die Eltern an. Sie sollen so schnell wie möglich in die Klinik kommen.«

Damit war Dr. Cornelius zufrieden und rutschte von der Tischkante.

»Ich werde alles Nötige veranlassen, damit wir uns in der nächsten Stunde treffen können. Andrea sagt dir noch Bescheid, ob das klappt.« Er nickte seiner Schwester zu und verließ ihr Büro ohne ein weiteres Wort.

Felicitas Norden saß an ihrem Schreibtisch und sah ihm nach, nichtahnend, dass nicht nur Kevin Trostbergs Leben an einem seidenen Faden hing.

*

Nach Urs Hansens Rauswurf hatte sich das gesamte Team der Praxis Dr. Norden zu einer Lagebesprechung am Tresen eingefunden.

»Ich habe bereits die restlichen Termine für diesen Nachmittag abgesagt«, erklärte Wendy. Als sie Désis Schrei gehört hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Zum Glück hatte nur ein Patient im Wartezimmer auf seine Behandlung bei Danny gewartet.

Während Janine losgelaufen war, hatte Wendy sich eine Ausrede einfallen lassen und Herrn Weber, versorgt mit einem neuen Termin, aus der Praxis komplimentiert. Dann hatte sie sich ans Telefon gesetzt und die restlichen Termine verschoben. Sie hielt den Hörer noch in der Hand, als sich ihre drei Kollegen sichtlich aufgelöst zu ihr gesellten.

»Rufen Sie die Bank an, ich brauche sofort eine Viertelmillion Euro. Egal, woher!«, befahl Dr. Norden in der ersten Verzweiflung.

Doch Danny schüttelte den Kopf.

»Zuerst rufen Sie bitte bei der Polizei an. Sie soll sofort kommen. Wenn möglich ohne großes Tamtam. Nicht, dass Urs noch nervöser wird als ohnehin schon und etwas tut, was er später bereuen wird.«

»Das wird er so oder so tun«, knurrte Dr. Norden senior und ballte die Hände zu Fäusten.

»Ganz ruhig, Dad!«, versuchte Danny, auf seinen Vater einzuwirken. »Dési ist nicht geholfen, wenn wir jetzt die Nerven verlieren.«

Daniel atmete ein paar Mal tief ein und aus.

»Schon gut. Es geht schon wieder.« Das war eine glatte Lüge, und er begann, mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Flur auf und ab zu gehen.

»Die Polizei ist in ein paar Minuten hier«, verkündete Wendy und legte den Hörer auf.

Auch sie war nervös wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie stand auf und ging zur Garderobe.

»Was haben Sie vor?«, fragte Danny.

»Ich gehe raus und warte dort auf die Beamten.«

Stumme Blicke folgten ihr, als sie durch den Flur ging und die Praxis verließ.

»Die Ärmste. Ich möchte nicht wissen, was ihr jetzt alles durch den Kopf geht«, murmelte Janine voller Mitgefühl. Sie bemerkte die fragenden Blicke und fuhr fort. »Sie schreibt seit einer Weile mit einem Häftling Briefe und wollte ihn demnächst besuchen. Wenn ich mich nicht irre, ist sie sogar ein kleines Bisschen verliebt.«

»Man sollte jetzt nicht den Fehler machen und alle Gefängnisinsassen über einen Kamm scheren«, versuchte Daniel, trotz seiner Sorgen um Dési gerecht zu sein.

»Tatjana hat eine Freundin, die sich als Sozialarbeiterin um ehemalige Häftlinge kümmert«, meldete sich Danny zu Wort. Mit den Ellbogen auf dem Tresen gestützt stand er da und starrte aus dem Fenster. Die Minuten zogen sich wie Stunden in die Länge, und er war froh über dieses Gespräch, das wenigstens ein bisschen Ablenkung brachte. »Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, dass viele der Knackis wahre Meister im Lügen sind. Nicht alle, aber viele«, wiederholte er.

»Ich gehe mal davon aus, dass sich Wendy keine Gedanken mehr darüber machen muss. Dieses Erlebnis wird ihre Verliebtheit im Keim ersticken«, mutmaßte Dr. Norden senior, als Leben in seine Sohn kam.

Ein Streifenwagen der Polizei war vorgefahren, gefolgt von einem Mannschaftswagen. Beide parkten vor der Praxis, und Wendy nahm die Beamten in Empfang.

*

Nichtahnend, was sich außerhalb des kleinen Behandlungszimmers abspielte, wurde Urs Hansen allmählich müde. Trotz seiner körperlichen Fitness war es anstrengend, seine Geisel ständig festzuhalten, und so sann er nach einem Ausweg, der schnell gefunden war.

Als sich sein Griff um Brust und Mund löste, wollte Dési schon aufatmen. Doch ihre Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.

»Auf die Liege mit dir!«, befahl er und versetzte ihr einen Stoß, dass sie gegen die Behandlungsliege geschleudert wurde.

Dési keuchte und wollte schreien. Doch ihr Instinkt sorgte dafür, dass kein Laut über ihre Lippen kam. Wie Urs es befohlen hatte, legte sie sich auf die Liege. Ihr tränennasses T-Shirt klebte an ihrer Haut. Doch sie bemerkte es nicht, während sie ihm dabei zusah, wie er in den Sachen auf dem Boden wühlte. Dabei wirkte er gesund und munter wie ein Fisch im Wasser.

»Das mit dem Husten war gelogen, oder?«, entfuhr es ihr, und sie zog automatisch den Kopf ein.

Doch Urs wurde nicht etwa böse, sondern lachte auf. Genauso stellte sich Dési das Lachen des Teufels vor.

»Gar nicht schlecht, was? Sogar deine Alte ist drauf reingefallen. Und sie ist eine gute Ärztin.«

»Die Beste«, gab Dési tapfer zurück und dachte fieberhaft nach. »Sie ist auch die beste Mutter. Wie deine bestimmt auch. Denkst du nicht drüber nach, was du deiner Mutter antust?«, versuchte sie, ihn bei seiner Ehre, seinen Gefühlen zu packen. Doch diese Eigenschaften schienen Urs schon vor langer Zeit abhanden gekommen zu sein.

»Meine Mutter?« Er lachte wieder und winkte ab. »Die interessiert sich einen Dreck für mich. Hat nur ihr eigenes Leben im Kopf.« Er hielt kurz inne und dachte nach. »Wenn ich eine Mum hätte wie du und deine Geschwister…« Einen Augenblick lang meinte Dési, Trauer in seinen Augen zu sehen. Doch der Moment verging, und Urs schüttelte ärgerlich den Kopf. »Hör gefälligst auf, mir solche Fragen zu stellen.«

Inzwischen hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte, und richtete sich auf. Er klemmte die Schere zwischen die Zähne. Neben der Liege stehend riss er die Verbandpäckchen auf. Dési sah ihm mit großen Augen dabei zu.

»Was hast du vor?«

Urs nahm die Schere aus dem Mund und klemmte sie zwischen die Beine.

»Was wohl? Ich muss doch dafür sorgen, dass mir mein Täubchen nicht weg fliegt.« Mit diesen Worten wickelte er den Verband ab und begann, Désis Oberkörper an der Liege festzubinden. Hilflos musste sie dabei zusehen, wie sie zur Reglosigkeit verdammt wurde, und erneut begannen die Tränen zu fließen. »Hör auf mit der verdammten Heulerei!«, schimpfte Urs, als er sein Werk vollendet hatte. Er schob den Hocker ans Fußende der Liege und setzte sich hinter Dési, die Schere wieder an ihrem Hals und die Tür fest im Blick. »Sonst mach ich dich kalt.«

Dési wagte es nicht, noch einen Ton zu sagen. Eingewickelt in meterlange Verbände lag sie auf der Liege und wartete darauf, dass sich ihr Schicksal auf die eine oder andere Art vollenden würde.

*

»Natürlich respektiere ich Ihre Entscheidung!«, erklärte Volker Lammers und lächelte die Eltern von Kevin Trostberg an. Das Gespräch in der Klinik war beendet ,und alle Beteiligten inklusive Felicitas Norden und Dr. Mario Cornelius erhoben sich. Wieder einmal war es dem Kinderchirurgen gelungen, seine Vorgesetzte zu verwirren. Fachmännisch und ohne Emotionen hatte er seine Sicht der Dinge erläutert und sich schließlich der Entscheidung der Eltern gebeugt, ohne sein charmantes Lächeln zu verlieren. »Ich bin sicher, dass alles gut gehen und Ihr Sohn bald wieder gesund sein wird.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Die Mutter war den Tränen nahe, als sie Seite an Seite mit ihrem Mann und Dr. Lammers das Zimmer verließ.

Fee und Mario schien sie völlig vergessen zu haben.

»Manchmal denke ich, ich leide unter Wahrnehmungsstörungen«, raunte Felicitas ihrem Bruder zu. »Wie kann ein Mensch so charmant und verständnisvoll und auf der anderen Seite so bösartig sein?«

»Vielleicht liegt es an deiner Haltung ihm gegenüber«, erwiderte Mario. Es war ihm anzusehen, dass diese Bemerkung nicht ernst gemeint war. »Du solltest es wie Frau Trostmann machen und Lammers das Gefühl geben, dass er der Größte ist. Dann frisst er dir mit Sicherheit aus der Hand.«

»Nur über meine Leiche!«, zischte Fee und setzte ein Lächeln auf, als sie zu dem Ehepaar trat, das an der Tür auf sie wartete. »Ich habe schon im Vorfeld mit den Kollegen eine Kombinationstherapie erarbeitet, die voll und ganz auf Kevins Bedürfnisse abgestimmt ist«, erklärte sie den Eltern. »Wir werden sofort mit der Behandlung beginnen.«

»Wann können wir mit ersten Ergebnissen rechnen?«, erkundigte sich Anton Trostmann.

»Ich rechne spätestens übermorgen mit einer Verbesserung seines Zustands.« Als Fee diese Worte aussprach, schickte sie ein Stoßgebet in den Himmel. Das Risiko zu scheitern war groß. Doch sie musste es eingehen.

Die drei Ärzte sahen dem Elternpaar nach, das sich auf den Weg zu seinem Sohn machte. Kurz darauf verabschiedete sich auch Mario Cornelius und kehrte in Jenny Behnischs Büro zurück. Volker Lammers und Fee blieben zurück. Allein mit dem Kollegen wappnete sich Fee innerlich schon gegen seine nächste Attacke. Diese Niederlage würde er ihr nicht verzeihen. Doch ihre Erwartung erfüllte sich nicht.

»Gratulation, Kollegin Norden. Sie haben brillant argumentiert«, lobte Dr. Lammers, während sie gemeinsam den Flur hinuntergingen.

Fee war so überrascht, dass sie den Sinn seiner Worte zunächst nicht verstand.

»Wie bitte?«

Volker Lammers schickte ihr einen Seitenblick, der Bände sprach.

»Ich sagte…«

»Ich habe verstanden, was Sie gesagt haben«, unterbrach sie ihn und trat zur Seite, um zwei Schwestern mit einem Utensilien-Wagen vorbeizulassen. »Aber warum? Ich meine, warum sagen Sie so was?«

»Weil es wahr ist«, erwiderte er in schönster Selbstverständlichkeit und weidete sich insgeheim an der Verwirrung seiner Kollegin.

Fee konnte nicht ahnen, dass er seine Strategie inzwischen überdacht hatte und ihm die Entscheidung der Eltern nur recht sein konnte. Falls Fees konservative Therapie versagte, musste Jenny Behnisch endlich einsehen, dass sie mit ihrem Vertrauen in die stellvertretende Chefin der Pädiatrie auf dem Holzweg war. Dann würde ihm endlich der Erfolg zuerkannt werden, der ihm zustand. Diese Gedanken ließen Volker Lammers lächeln, als er sagte: »Sagen Sie bloß, Sie gehören zu den Frauen, die mit Komplimenten nicht umgehen können?«

»Doch, im Normalfall schon. Aber aus Ihrem Mund klingen sie irgendwie verdächtig«, sprach Felicitas offen das aus, was sie bewegte.

Inzwischen waren sie vor dem Ärztezimmer angekommen, wo bereits ein paar Kollegen darauf warteten, grünes Licht für die Therapie zu bekommen. Fee blieb vor der Tür stehen.

»Könnte es sein, dass Sie unter Verfolgungswahn leiden?«, fragte Dr. Lammers, der ebenfalls stehen geblieben war. Seine Stimme klang so milde, als spräche er mit einem Kind, das Dummheiten gemacht hatte. »Nicht umsonst haben Sie ja eine Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie angefangen.«

Dieser Satz bewies Fee, dass sie doch noch alle Sinne beisammen hatte.

Sie lachte erleichtert auf und suchte noch nach einer würdigen Antwort, als Schwester Anita auf sie zueilte.

»Da sind Sie ja, Frau Dr. Norden. Ich hab Sie schon überall gesucht.« Die Angst stand Anita ins Gesicht geschrieben.

Fees erster Gedanke galt ihrem Patienten.

»Stimmt was nicht mit Kevin?«

»Es geht um Ihre Tochter«, stammelte Anita, während sie den Kopf schüttelte. »Eine Geiselnahme … in der Praxis…«

Unwillkürlich hielt die Ärztin die Luft an. Ihre Gedanken wirbelten im Kreis, als ihr schlagartig klar wurde, was passiert sein musste. Ohne ein weiteres Wort rannte sie los.

Volker Lammers sah ihr nach.

»Geiselnahme? Wo gibt’s denn so was? Ich wusste doch von Anfang an, dass diese Familie nicht ganz dicht ist«, murmelte er, ehe er die Schwester stehen ließ, um endlich Feierabend zu machen.

*

»Ich bin die Assistentin in dieser Praxis«, erklärte Wendy, als sie die Polizeibeamten in Empfang nahm.

»Wo ist der Chef?«, erkundigte sich Kommissar Huber. Im Gegensatz zu seinen Kollegen war er in Zivil erschienen.

»Den müssen Sie schonen. Seine Tochter ist die Geisel«, klärte Wendy ihn auf und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich eine Gruppe bewaffneter Polizisten vor dem Haus zusammen fand. »Bitte, Sie dürfen die Praxis nicht stürmen«, bat sie, und ihre Stimme zitterte. »Wir kennen den Geiselnehmer. Er ist gemeingefährlich und zu allem fähig.«

Erich Huber sah sie aus schmalen Augen an.

»Das sind ja mal wunderbare Neuigkeiten«, knurrte er. »Ich muss trotzdem mit dem Chef reden.«

Durch das Fenster hatten Daniel, Danny und Janine beobachtet, wie sich Wendy und der Kommissar unterhielten.

»Was haben die denn zu reden?«, fragte Daniel ungeduldig und wollte schon aus der Praxis stürmen.

Diese Untätigkeit machte ihn rasend, aber Janine hielt ihn zurück.

»Warten Sie! Sie kommen schon.«

Nur wenige Augenblicke später betraten die beiden die Praxis. Auf Weisung ihres Chefs warteten die übrigen Beamten draußen.

»Huber, Sie sind es«, begrüßte Daniel den Mann, mit dem er schon öfter zu tun gehabt hatte. Draußen dämmerte es bereits. Deshalb hatte er ihn nicht früher erkannt. »Was haben Sie jetzt vor?«

»Zuerst einmal versuche ich, mit ihm zu reden.«

»Reden, reden! Gibt es keine andere Möglichkeit?« Daniel war außer sich vor Angst. »Meine Tochter ist da drin.«

»Bitte bleiben Sie ruhig, Doc!« Kommissar Huber kannte und schätzte den Arzt, der für gewöhnlich die Ruhe in Person war. Seine Nervosität verriet, wie gefährlich die Lage wirklich war. »Ich verstehe Ihre Sorge ja. Aber wir haben unseren Job gelernt. Bitte vertrauen Sie uns.«

Daniel presste die Lippen aufeinander und nickte.

»Eine andere Wahl hab ich ja nicht«, bemerkte Danny.

»Dann wollen wir uns mal die Höhle des Löwen wagen. Zeigen Sie mir das Zimmer!«, befahl Erich Huber dem Arzt, und gefolgt von Janine, Danny und Wendy machten sich die beiden auf den Weg.

Obwohl sich alle Beteiligten bemühten, so leise wie möglich zu sein, blieben sie nicht unbemerkt.

Als Urs hörte, dass sich Schritte näherten, straffte sich seine Haltung. Er hatte Dési ein paar Verbandpäckchen in den Mund gesteckt und die Schere zur Seite gelegt. Jetzt griff er wieder danach und drückte ihr das kalte Metall an die Kehle. Mit weit aufgerissenen Augen lag die Arzttochter auf der Liege. Die Schritte waren verstummt.

»Können Sie mich hören, Herr Hansen?«, fragte Kommissar Huber mit lauter Stimme.

»Wer bist du und was willst du?«

Erich dachte kurz nach.

»Ich bin der Bankdirektor«, schwindelte er dann.

»Und ich der Osterhase.« Urs lachte hämisch. Er drückte die Klinge noch fester an Désis Hals und sah auf die Uhr über der Tür. »Ihr habt noch genau einunddreißig Minuten.«

Erich Huber dachte kurz nach.

»Vielleich brauchen wir ein bisschen länger. So viel Geld haben wir nicht in der Filiale. Der Transporter ist unterwegs, steckt aber im Stau.«

Die Worte klangen plausibel, und Urs wurde nervös.

»Wenn die Frist vorbei ist, schneide ich ihr die Kehle durch!«

Der Nachhall seiner Worte hing noch in der Luft, als sich Daniel Norden auf die Tür stürzen wollte. Danny, der hinter seinem Vater stand, bemerkte es und hielt ihn gerade noch rechtzeitig zurück. Er nahm ihn an den Schultern und schob ihn zur Seite. Einen Moment verharrte er vor der Tür. Dann drückte er die Klinke herunter und trat mit erhobenen Händen ein.

»Tu ihr nichts. Ich will dir einen Vorschlag machen.«

Urs beobachtete ihn aus schmalen Augen.

»Ich warne dich…« Die Schere in Urs’ Hand zitterte, und Dési auf der Liege hielt die Luft an.

Langsam ließ Danny die Arme sinken und trat ans Fußende der Liege. Um seine Schwester zu beruhigen, legte er die Hand auf ihr Schienbein.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ließ Urs ihn gewähren. Seine Neugier war geweckt.

»Raus mit der Sprache! Was willst du mir vorschlagen?«

Danny schluckte. Er wusste nicht, ob sein Plan aufgehen würde. Doch einen Versuch war es wert. Das war er seiner kleinen Schwester schuldig.

»Ziemlich schwierige Lage, in die du dich da reinmanövriert hast, findest du nicht?«

»Das ist meine Sache.«

Keine vielversprechende Antwort, wie Danny insgeheim befand. Trotzdem fuhr er fort.

»Wenn sie dich kriegen, bist du erledigt.«

Urs wurde ungeduldig.

»Komm auf den Punkt, Mann!«, knurrte er und ließ die Klinge aufblitzen. »Was willst du von mir?«

Danny räusperte sich.

»Wenn wir dir eine vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit attestieren, hat das alles hier keine Konsequenzen für dich«, versuchte er, Urs zur Aufgabe zu bewegen.

In seinen Augen war das ein verlockendes Angebot. Doch sein Kontrahent wurde wütend.

»Soll das ein Witz sein?«, fauchte Urs und drückte die Klinge so fest an Désis Hals, dass ihre Tränen wieder zu laufen begannen. »Ich geh nicht zurück in den Knast. Du hast noch fünfundzwanzig Minuten. Mach was draus. Und jetzt raus mit dir!«

»So eine Chance bekommst du nie wieder!«

»Raus! Hier! Sofort!«

Der junge Arzt zögerte, musste dann aber einsehen, dass seine Idee nicht von Erfolg gekrönt sein würde. Mit hängendem Kopf trat er den Rückzug an und verließ das Zimmer.

Daniel, der die Szene mit den anderen durch die halb geöffnete Tür verfolgt hatte, klopfte seinem Sohn auf den Rücken.

»Einen Versuch war’s wert.«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sich Wendy an ihnen vorbei drängte und ins Zimmer trat.

Als Urs sie sah, verdrehte er die Augen.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

Dr. Nordens Assistentin zitterte am ganzen Körper, blieb aber trotzdem tapfer stehen. Sie hatte die Hände gefaltet und rieb und knetete sie vor Aufregung.

»Nehmen Sie mich als Geisel.« Es kostete Wendy eine schier übermenschliche Anstrengung, nicht zu weinen. Doch sie gab der Versuchung nicht nach. Um jeden Preis wollte sie das Ihre dazutun, um Dési zu beschützen. »Lassen Sie die Kleine laufen. Sie hat doch noch ihr ganzes Leben vor sich.«

Urs’ Augen blitzten auf.

»Das macht es doch gerade so lustig!«, lachte er. »Bei einer alten Schachtel wie dir macht es nur halb so viel Spaß!«

Wendy sah Dési an, die weinend auf der Liege lag und nur hin und wieder leise schluchzte. Sie hatte alles versucht. Und trotzdem verloren.

»Jetzt weiß ich auch nicht weiter«, flüsterte sie, als sie an Daniel Norden, Danny, dem Kommissar und Janine vorbei den Flur hinunter Richtung Empfang ging. Dort angekommen setzte sie sich an ihren Schreibtisch und stützte die Hände in den Kopf.

*

»Und jetzt?« Daniel, Danny und der Kommissar hatten sich zur Beratung in Daniels Sprechzimmer zurückgezogen.

Der Arzt warf einen fragenden Blick in die Runde.

»Jetzt bleibt uns nur übrig abzuwarten und darauf zu hoffen, dass er irgendwann eine Schwäche zeigt«, gestand Erich Huber.

»Sie vergessen, dass wir noch genau eine Viertelstunde haben.« Daniel starrte auf seine Armbanduhr, einem Geschenk von Fee zum Hochzeitstag. Wann immer er sie betrachtete, zauberte sie ein Lächeln auf sein Gesicht. Doch nicht an diesem Abend. Plötzlich war sie sein Feind, zählte sie doch unerbittlich und unaufhaltsam die Zeit. Fünfzehn Minuten, die über ein ganzes Leben entschieden. »Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass er Dési was antut.« Allein der Gedanke daran raubte Dr. Norden den Atem.

»Sobald sich die Lage zuspitzt, müssen wir das Zimmer stürmen und die Geiselnahme beenden«, erklärte der Kommissar.

Auch er wirkte mitgenommen. Sein Gesicht war blass, und der Schatten um sein Kinn zeugte davon, dass er an diesem Tag schon einiges hinter sich hatte.

»Eine Stürmung wird Dési nicht überleben«, sprach Danny laut das aus, was alle anderen insgeheim befürchteten.

»Wir müssen es trotzdem versuchen. Hansen lässt uns keine Wahl.«

Eine Weile saßen die drei Männer schweigend am Tisch und sahen der Zeit dabei zu, wie sie verrann. Plötzlich setzte sich Daniel kerzengerade auf. Er hatte die Stimme seiner Frau gehört. Leise zwar, aber unverkennbar.

»Fee!« Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte sich sein Gesicht.

Er sprang vom Stuhl auf und lief aus dem Zimmer und den Flur hinab Richtung Eingang.

»Sie können hier nicht durch!« Zwei Polizisten versperrten Felicitas Norden den Weg, als sie die Praxis betreten wollte.

»Aber ich muss da rein!«, rief sie außer sich vor Empörung und war nahe dran, sich gewaltsam Zutritt zur Praxis zu verschaffen. Ein letzter Rest Beherrschung hielt sie davon ab. »Da drin ist der Typ, der meine Tochter als Geisel genommen hat. Ich muss mit ihm reden. Ich habe Einfluss auf ihn«, beteuerte sie.

In diesem Moment entdeckte Fee ihren Mann, der drinnen auf sie wartete.

»Dan!«

Einer der Beamten sah sich nach dem Arzt um.

»Das ist Ihr Mann?«

»Welchen Beweis wollen Sie denn noch? Unsere Heiratsurkunde?«, fauchte Felicitas.

Endlich trat der pflichtbewusste Mann zur Seite und ließ sie vorbei. Nur wenige Sekunden später flog sie in Daniels Arme und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Die Versuchung war groß, sich einfach in dieser Umarmung zu verlieren. Alles zu vergessen und der grausamen Wirklichkeit zu entfliehen. Doch der schwache Moment verging, und als sich Fee aus den Armen ihres Mannes löste, war sie so entschlossen wie nie zuvor.

»Wo sind sie?«, fragte sie, und ihre Stimme klang hart wie Metall.

»Im Infusionszimmer am Ende des Flurs«, gab Daniel Auskunft und sah seiner Frau nach, wie sie entschlossenen Schrittes davonging. »Was hast du vor?«, rief er ihr leise nach.

Doch Fee antwortete nicht. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf, ein Ziel vor Augen, von dem sie sich nicht ablenken ließ. Ohne nach links und rechts zu sehen, ging sie auf die Tür zu.

»Frau Norden, bitte!«, wollte der Kommissar sie auf den letzten Metern zur Vernunft bringen.

Doch auch ihn hörte die Löwenmutter nicht, und wenn er nicht umgerannt werden wollte, musste er Platz machen. Genau wie Danny, der gar nicht erst versuchte, Fee umzustimmen. Mit angehaltenem Atem sah er dabei zu, wie sie auf das Zimmer zutrat, die Hand auf die Klinke legte und sie herunterdrückte. Sie stieß die Tür auf und ging einfach weiter, an der Behandlungsliege vorbei und direkt auf Urs zu.

Der stand da und starrte die Frau an, in die er als Kind unsterblich verliebt gewesen war. Bilder aus den glücklichsten Tagen seines Lebens zogen an ihm vorbei. Er hörte Fees Lachen, fühlte, wie sie ihn durch die Luft wirbelte, spürte ihre weiche Hand, die ihm durchs Haar fuhr. Und noch einmal jagte ihm ihr zärtlicher Blick eine Gänsehaut über den Rücken.

»Was soll das?« Fees scharfe Stimme, die nichts mit seinen Erinnerungen zu tun hatte, riss ihn in die Gegenwart zurück. Doch die Bilder hatten ihn schwach gemacht, verletzlich.

»Tante Fee … bitte bleib zurück!« Urs Stimme zitterte, und hilflos sah er ihr dabei zu, wie sie ihm einfach die Schere aus der Hand nahm. Dann holte sie aus und ohrfeigte ihn. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Urs war so verblüfft, dass er den Schmerz nicht spürte.

»Du schlägst mich?«, fragte er fassungslos.

Und dann ging plötzlich alles ganz schnell.

Der Kommissar hatte die Szene mit Argusaugen verfolgt. Die Ohrfeigen hallten noch durchs Zimmer, als er mit gezückten Handschellen losspurtete. Auch Wendy war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen und hatte die Beamten vor der Tür informiert. Im Handumdrehen war das Zimmer voller Menschen. Handschellen klickten, und flankiert von seinen Kollegen führte Erich Huber den Geiselnehmer ab. Danny durchschnitt Désis Fesseln und hob seine Schwester von der Liege, während Fee mit gesenktem Kopf vor ihrem Mann stand. Schlagartig war die Anspannung von ihr abgefallen, und die ausgestandene Angst brach sich Bahn. Wie ein kleines Kind brach sie in Tränen aus, und Daniel wiegte sie in seinen Armen, bis sie sich langsam beruhigte.

*

»Jetzt mal ehrlich!« Am nächsten Morgen saß Felix Norden am Frühstückstisch und musterte seine Schwester Dési nachdenklich. »Findest du es nicht ein bisschen übertrieben, dich als Geisel nehmen zu lassen, nur damit du einen Tag schulfrei bekommst?«

Vor Lachen verschluckte sich Dési fast an ihrem Brot und musste husten, so dass ihr Zwillingsbruder Janni eine Antwort gab.

»Also, wenn ich dann auch immer daheim bleiben darf, kann sie das ruhig öfter machen.« Er hatte die ganze Geschichte erst im Nachhinein erfahren und konnte die Aufregung kaum nachvollziehen.

»Um Himmels willen!«, entfuhr es Fee. In dieser Nacht war sie immer wieder hochgeschreckt und musste sich ins Gedächtnis zurückrufen, dass alles vorbei und gut ausgegangen war. Genau wie ihrem Mann stand ihr der ausgestandene Schreck noch ins Gesicht geschrieben. »Noch mal so was, und ich lande als Pflegefall im Heim.«

»Keine Angst, Mamilein«, grinste Felix frech und zwinkerte ihr zu. »Wir kommen dich auch regelmäßig besuchen.«

Alle lachten, und Daniel schickte einen dankbaren Blick in die Runde. Die ganze Familie hatte sich zum Frühstück am Esstisch versammelt, um gemeinsam den Schock zu verarbeiten, den Urs Hansen allen Beteiligten und allen voran Dési versetzt hatte. Der Zusammenhalt der Familie und das fröhliche Geplauder ließen das traumatische Erlebnis zum Glück schnell verblassen. Am Ende blieb nur Mitleid mit Urs übrig, der mit dieser Tat alles zunichte gemacht hatte.

»Komisch«, sinnierte Dési. Obwohl noch keine Erdbeerzeit war, hatte Lenni keine Kosten und Mühen gescheut und extra Désis erklärtes Lieblingsobst besorgt. Diese Gelegenheit nutzte das Zwillingsmädchen denn auch weidlich aus und nahm sich noch eine Erdbeere aus der Schale, ehe sie fortfuhr. »Klar hab ich zwischendurch wahnsinnig Angst gehabt. Aber wenn ich jetzt so drüber nachdenke, tut mir Urs einfach nur leid.«

Diese Bemerkung war das beste Zeichen dafür, dass sie das Erlebte ohne Schaden an ihrer Seele überstanden hatte. Daniel und Fee sahen sich an, Erleichterung und Dankbarkeit im Blick, dass es ihnen gelungen war, ihren Kindern ein so stabiles Fundament mitzugeben.

»Er kann einem wirklich leid tun«, bestätigte der Arzt. Auch er dachte voller Mitgefühl an den jungen Mann, der nicht mit dieser stabilen Psyche ausgestattet war. »Nach dieser Geschichte kommt er so schnell nicht mehr raus aus dem Gefängnis. Mal abgesehen von der Geiselnahme wurden in seiner Zelle Drogen gefunden.«

»Aber wie kann das sein?«, fragte Anneka. »Ich dachte, im Gefängnis gibt’s so was nicht.«

»Leider doch. Und wenn es nicht so traurig wäre, könnte man die Kreativität der Schmuggler bewundern, mit denen sie die Drogen an die Häftlinge bringen«, wusste Daniel Norden zu berichten. »Erst neulich hab ich etwas Unglaubliches in der Zeitung gelesen. Ein Unbekannter hat einen Tennisball über die Gefängnismauern geworfen, der bis zum Rand mit Drogen gefüllt war. Allerdings fiel er genau einem Wärter vor die Füße, der natürlich sofort Verdacht geschöpft hat.«

»Dumm gelaufen.« Felix amüsierte sich sichtlich über diesen misslungenen Coup.

Doch Désis Gedanken verharrten bei Urs.

»Warum hört er denn nicht auf mit dem Blödsinn?«, wandte sie sich an ihre Mutter. »Das kann doch nicht so schwer sein.«

»Leider schon.« Bedauernd schüttelte Fee den Kopf. Sie hatte die schwere Aufgabe übernommen, Urs’ Mutter über die Tat ihres Sohnes zu informieren. Am Telefon war Carla Hansen in Tränen ausgebrochen und hatte von Urs’ langem Leidensweg berichtet. »Vor allen Dingen dann, wenn er nicht einsehen will, dass er ein Problem hat«, seufzte Fee. »Urs hat mit diesen Sachen angefangen, weil er mit der Trennung seiner Eltern nicht zurechtkam. Die Drogen gaukeln ihm vor, dass das Leben erträglicher und einfacher ist. Aber das ist ein Trugschluss, denn durch die Rauschmittel kommen neue Probleme, die er mit immer höheren Dosen bekämpfen muss. Ein Teufelskreis, aus dem es nur sehr schwer ein Entrinnen gibt.«

»Dann kann ihm kein Arzt der Welt helfen?« Annekas Stimme bebte vor Mitgefühl mit dem jungen Mann, der schon vor Jahren auf die schiefe Bahn geraten war.

»Zumindest so lange nicht, wie er nicht einsieht, dass er ernsthaft krank ist.« Trotzdem wollte Felicitas nicht ganz ohne Hoffnung in Urs’ Zukunft sehen. »Allerdings wird er jetzt in eine andere Anstalt verlegt. Dort bekommt er intensive psychologische Betreuung. Und hin und wieder gibt es durchaus Menschen, die ihre Sucht überwinden und ein glückliches, normales Leben führen können.«

Diese Hoffnung konnte ihr Mann nur teilen.

»Es gibt da einen erfolgreichen Triathleten, der seine Drogensucht mit Hilfe des Sports überwunden hat«, wusste er zu berichten, als Fee auf die Uhr sah und erschrak.

»Leider muss ich an dieser Stelle meine Faulheit überwinden und trotz allem den Tag in Angriff nehmen«, verkündete sie schweren Herzens und stand auf.

Auch wenn die Geschwister den Tag gemeinsam zu Hause verbringen durften, mussten die Eltern ihre Pflicht erfüllen.

In der Klinik wartete neben Kevin jede Menge Arbeit auf Dr. Felicitas Norden, und auch Daniel wollte Danny nicht zu lange mit den Patienten allein lassen.

*

»Wie kommt Tatjana nur immer auf diese unglaublichen Ideen?«, erkundigte sich Wendy und betrachtete das Tablett mit karamellisierten Apfelküchlein in Rosenform, die Danny zur Feier des Tages und mit besten Grüßen aus der Backstube an diesem Morgen serviert hatte.

»Wahrscheinlich liegt’s an Dannys Arbeitszeiten«, mutmaßte Janine und leckte sich den Zucker von den Fingern.

»Dann können wir nur hoffen, dass wir jeden Tag eine Geiselnahme haben«, konnte Wendy schon wieder scherzen und nahm sich noch eine der leckeren, klebrigen Rosetten. Im Laufe der vielen Jahre, die sie nun schon in der Praxis Dr. Norden arbeitete, hatte sie zu viel erlebt, um sich nachhaltig aus der Ruhe bringen zu lassen. »Oder sagen wir mal jeden zweiten. Dann sollte Tatjana genug Zeit haben, damit sie auch in Zukunft so tolle Rezepte erfinden kann.«

Janine sah ihre Freundin und Kollegin entgeistert an.

»Deine Nerven möchte ich haben.«

»Kein Problem«, lächelte Wendy und tupfte mit der Fingerspitze die Krümel vom Teller, um nur ja kein Bröselchen verkommen zu lassen. »Du musst einfach nur weiter in dieser Praxis arbeiten. Dann bist du irgendwann genauso abgehärtet wie ich.«

»Ich werd mal drüber nachdenken«, versprach Janine und klappte die Patientenakte zu, die sie eben bearbeitet hatte. Eine Frage brannte ihr auf der Seele, und sie haderte mit sich, ob sie es wagen konnte, sie zu stellen.

Wendy bemerkte den Blick ihrer Kollegin und lächelte.

»Du willst mich fragen, wie es nach dem gestrigen Erlebnis mit Manfred weitergehen soll. Stimmt’s oder hab ich recht?«

»Kannst du Gedanken lesen?«, wunderte sich Janine.

»Leider nein. Sonst hätte ich Urs gestern hochkant rausgeworfen.« Als Wendy an den jungen Mann dachte, schüttelte sie den Kopf. »Und zwar, bevor er eine Dummheit machen konnte.« Sie nippte an ihrem Kaffee und gab sich einen Moment ihren Gedanken hin, ehe sie wieder zum Thema zurückkehrte. »Aber dich kenne ich wenigstens so gut, dass ich weiß, was dir auf der Seele brennt.«

Janine lachte und gönnte sich eine weitere karamellisierte Apfelrose.

»Und? Wie geht es jetzt mit Manfred weiter? Willst du ihn immer noch treffen?«

»Stell dir vor, das Schicksal hat mir diese schwere Entscheidung abgenommen.« Sichtlich zufrieden zog Wendy die prall gefüllte Unterschriftenmappe zu sich heran und stand auf, um sie den Chefs vorzulegen. »Gestern Abend lag ein Brief von ihm in meinem Briefkasten.«

»Lass mich raten«, platzte Janine aufgeregt heraus. Die nächste Patientenakte lag vor ihr. Doch Wendys Geständnis war so spannend, dass sie sich jetzt nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. »Er hat sich in eine andere Frau verliebt und will deshalb den Kontakt abbrechen.«

»Um Gottes willen, nein!«, lehnte Wendy sichtlich entsetzt ab. »Ich denke ja immer noch, dass man nicht alle Menschen über einen Kamm scheren darf, und finde ihn immer noch nett. Auf ein Treffen kann ich allerdings erstmal verzichten. Und das muss auch nicht sein.« Sie ging um den Tresen herum und machte sich auf den Weg in Danny Nordens Sprechzimmer. Schon hatte Janine Angst, noch länger im Ungewissen leben zu müssen, als sich Wendy noch einmal umdrehte. »Manfred hat mir geschrieben, dass er in ein anderes Gefängnis verlegt wird. Das ist so weit weg, dass ich ihn leider nicht besuchen kann. Eine Männerbekanntschaft mit Sicherheitsabstand also. Das ist die ideale Lösung!« Sie zwinkerte Janine zu und genoss das helle Lachen ihrer Freundin und Kollegin, das hinter ihr her durch den Flur hallte.

»Schön, dass Sie schon wieder lachen können«, freute sich auch Dr. Norden, der den Fröhlichkeitsausbruch schon vor der Praxis gehört hatte.

»Na, der Mann, der uns die Laune verderben kann, muss erst noch geboren werden«, verkündete Janine und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel, ehe sie aufstand und ihrem Chef eine Tasse Kaffee holte.

*

Und auch Felicitas Norden hatte an diesem Vormittag allen Grund zur Freude. Schneller als erwartet zeigte die Therapie bei Kevin Trostmann eine erste Wirkung, und als Jenny Behnisch vierzehn Tage später von ihrer Vortragsreise zurückkehrte, war er längst als geheilt entlassen.

Staunend studierte die Klinikchefin den Bericht über die Dinge, die während ihrer Abwesenheit vorgefallen waren.

»Sieh mal einer an!« Kopfschüttelnd hob sie den Hörer, um ihre Assistentin anzurufen. »Bitte schicken Sie Mario, Fee und Dr. Lammers in mein Büro.«

Andrea Sander gab diesen Befehl mit der ihr eigenen Sachlichkeit weiter.

»Was glaubst du, was Jenny von uns will?«, fragte Fee, als sie eine halbe Stunde später mit ihrem Bruder den Flur hinab ging.

»Wahrscheinlich hat sich Lammers mal wieder über uns beschwert«, mutmaßte Mario Cornelius. Erst tags zuvor war er mit dem seit Tagen schlecht gelaunten Kollegen wegen des Ultraschallskalpells aneinander geraten. »Er findet, das alte Gerät ist noch gut genug, und will lieber eine neue Kamera für seine minimalinvasiven Spielchen«, machte er keinen Hehl aus seinem Ärger.

»Nur weil du dich in das Skalpell verliebt hast, heißt das noch lange nicht, dass eine neue Kamera nicht auch eine sinnvolle Anschaffung wäre«, schlug sich Fee jedoch zu seiner großen Überraschung auf die Seite des Feindes.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte er argwöhnisch. »Ihr beiden werdet doch nicht etwa hinter einem Rücken ein Bündnis geschlossen haben?«

Diese Idee war dann doch zu absurd, und Fee musste herzlich lachen.

»Nein, so weit reicht die Liebe noch nicht. Und wird es nie tun«, gestand sie und wurde ernst. »Aber ich rechne es ihm hoch an, dass er mich bei Kevins Behandlung unterstützt hat.«

»Als er gesehen hat, wie gut deine Therapie anschlägt, ist ihm ja gar nichts anderes übrig geblieben«, wollte Mario diese Begründung jedoch nicht gelten lassen.

Fee schickte ihrem Bruder einen amüsierten Seitenblick.

»So unversöhnlich bist du doch sonst nicht«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Am Ende geht es gar nicht um Lammers, sondern darum, dass du den Chefsessel wieder räumen musstest.«

»Hach, nein! Aber um meine einträgliche Einnahmequelle ist es schon schade«, grinste Mario und vergaß seine Ressentiments schnell wieder. »Nie war die Kaffeekasse so voll wie heute.«

»Und wann werden wir alle zu einer rauschenden Party in Tatjanas Café eingeladen?«, fragte Fee.

Sie machten vor Jennys Büro Halt und sah ihren Bruder an.

Bedauernd schüttelte Mario den Kopf.

»Da muss ich dich leider enttäuschen. Marianne und ich haben uns unterhalten. Urs’ Schicksal beschäftigt sie so sehr, dass sie mich gebeten hat, das Geld in ein Projekt für Suchtprävention zu stecken.«

Doch von Enttäuschung konnte keine Rede sein. Diese Idee war ganz in Fees Sinn, und sie nickte zufrieden, als sie ins Vorzimmer zu Andrea Sander traten.

»Die Chefin und Herr Lammers erwarten Sie schon!«, erklärte die Assistentin, und um ein Haar wäre Mario das Grinsen wieder vergangen.

Es war nur dem mahnenden Blick seiner Schwester zu verdanken, dass er ein freundliches Gesicht aufsetzte.

»Ah, da seid ihr ja!«, begrüßte Jenny die beiden Ärzte und bat sie zu Volker Lammers an den Tisch. »Es freut mich, dass ihr so schnell Zeit gefunden habt. Ich will euch gar nicht lange aufhalten.«

Andrea kam herein und versorgte die Kollegen mit Getränken, und erst, als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, kam Jenny Behnisch zur Sache.

»Ihr habt während meiner Abwesenheit ja mal wieder nichts ausgelassen«, bemerkte sie mit vielsagendem Blick auf den Bericht, den Andrea Sander für sie verfasst hatte. »Gibt es eigentlich einen Grund, warum ihr euch die schwierigen Entscheidungen immer aufhebt, bis ich aus dem Haus bin?«

»Meine Idee war das nicht«, brummte Volker Lammers, der seit Fees Behandlungserfolg dauerhaft schlecht gelaunt war. »Und ehrlich gesagt bin ich froh, dass Sie endlich wieder da sind. Ich habe Ihnen ja schon von der Kamera erzählt…«

»War ja klar, dass Sie wieder damit anfangen«, fiel Mario Cornelius ihm ärgerlich ins Wort. »Das Ultraschallskalpell…«

»Schluss jetzt!«, sprach die Klinikchefin ein Machtwort. Sie musste noch nicht einmal die Stimme heben, und sowohl Volker Lammers als auch Mario schluckten die Worte hinunter, die ihnen auf den Lippen gelegen hatten. »Eigentlich spreche ich von dem Fall Trostmann«, klärte Jenny die beiden Streithähne auf und richtete ihren Blick auf den Kollegen Lammers. »Ich habe mir die Akte kommen lassen und muss ehrlich zugeben, dass selbst mir eine Entscheidung schwer gefallen wäre. Umso größer ist meine Hochachtung vor Ihnen, Kollege Lammers, dass Sie auf einen operativen Eingriff verzichtet haben. Die Tatsache, dass Sie einer konservativen Therapie den Vorzug gegeben und die Kollegin Norden in ihren Bemühungen unterstützt haben, spricht für Sie und Ihre Kompetenzen«, sparte sie nicht mit Lob in die Richtung des Mitarbeiters.

Lammers’ Miene erhellte sich. Auch wenn er mit diesem Verhalten sein Ziel wieder einmal nicht erreicht und Fee von ihrem Thron gestoßen hatte, bekam er wieder Hoffnung.

»Freut mich, wenn Sie das so sehen. Aber ich habe nur meine Pflicht getan«, gab er sich bescheiden.

Fee und Mario tauschten vielsagende Blicke. Diese neue Zurückhaltung passte so gar nicht zu Lammers, und insgeheim fragten sich die beiden, welchen Plan er bereits wieder ausheckte, um ihnen das Leben schwer zu machen.

Jenny hingegen ahnte nichts von den heimlichen Ressentiments.

»Und ich freue mich darüber, dass in die Pädiatrie offenbar endlich Frieden eingezogen ist«, lobte sie arglos. »Weiter so, meine Herrschaften. Wenn meine Abwesenheit einen so positiven Effekt hat, werde ich gleich einen Urlaub planen.« Zum Zeichen, dass die Besprechung an dieser Stelle für sie beendet war, stand Jenny auf. »Roman meinte neulich, dass es mal wieder höchste Zeit wird.«

Als Felicitas das hörte, wandte sie sich lachend an Mario.

»Tja, Chef, sieht so aus, als ob du dich mal besser an diese Anrede und das Büro hier gewöhnst«, neckte sie ihn.

Mario verdrehte die Augen gen Himmel.

»In diesem Fall erhöhe ich die Abgabe an die Kaffeekasse auf zwanzig Euro!«

»Das ist Wucher!«, protestierte Fee.

»Ich nenne es nur gerecht!«, ließ Mario diesen Einwand nicht gelten.

Nachdem sich die beiden von der Klinikchefin verabschiedet hatten, gingen sie munter plaudernd ihrer Wege.

Volker Lammers folgte ihnen in gebührendem Abstand und tief in Gedanken versunken. Mochte die Klinikchefin sich ruhig in Sicherheit wiegen. Seine große Stunde würde noch kommen.

»Und dann wird euch allen das Lachen vergehen!«, knurrte er und ballte grimmig die Faust.

Dr. Norden Box 10 – Arztroman

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