Читать книгу Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 8 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

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»Die Sprechstunde endet heute Mittag. Nach der Pause geht es für Danny um 14 Uhr weiter mit einem Vortrag zum Steven-Johnson-Syndrom vor einigen Professoren der Städtischen Kliniken. Danach soll es eine Diskussionsrunde geben, zu der auch Vertreter der Pharmaindustrie geladen sind.« Wie jeden Tag saß das Team der Praxis Dr. Norden zusammen, um die Aufgaben zu besprechen. Der konzentrierte Blick der langjährigen Assistentin Wendy ruhte auf dem Kalender, während sie einen Termin nach dem anderen vorlas. »Um sechzehn Uhr möchte Dr. Weigand von der Behnisch-Klinik dann mit Danny über die Weiterbehandlung von Herrn Wohlrab sprechen. Und dann hat Jenny Behnisch darum gebeten, dass einer von euch zur Verabschiedung des langjährigen Kollegen Bruhns kommt. Da Danny ohnehin schon in der Klinik ist, bietet sich an, dass er das übernimmt und das Geschenk der Praxis überreicht.« Ohne den Kopf von ihren Unterlagen zu wenden, deutete Wendy mit der Hand auf einen Korb mit Delikatessen, den Janine für diesen Anlass besorgt hatte. Endlich war sie am Ende von Dannys Aufgabenliste angelangt und wandte sich noch einmal Daniel zu. »Chef, darf ich Sie bitten, die Glückwunschkarte zu schreiben, die ich Ihnen schon auf den Schreibtisch gelegt habe? Außerdem wünscht sich Frau Dr. Behnisch eine kleine Rede anlässlich des Jubiläums des Projekts ›Ein Bild für Mama‹, das Ihre Frau damals ins Leben gerufen hat.«

»Warum schreibt Fee die Rede nicht selbst?«, stellte Daniel Norden eine berechtigte Frage.

Wendy hatte ihm die Aufgaben des Tages bereits präsentiert, und er fragte sich noch immer, woher er die Zeit nehmen sollte, um das straffe Pensum zu bewältigen.

Wendy lächelte engelsgleich.

»Sie wissen doch, dass Ihre Frau mit ihrem Bruder Mario an der Umgestaltung der Pädiatrie arbeitet. Da kann sie sich unmöglich auch noch um solche Dinge kümmern.«

»Interessant«, brummte Dr. Norden unwillig. »Aber ich kann neben meiner Arbeit als Arzt an einer Video-Konferenz teilnehmen und den Medizintechnik-Hersteller davon überzeugen, dass ich kein neues Ultraschallgerät brauche. Und soll nun auch noch Glückwunschkarten und Reden schreiben.«

»Sie sind eben ein gefragter Mann«, bemerkte Janine Merck und lächelte ihren Seniorchef gewinnend an.

»Könnte es auch daran liegen, dass Sie ein bisschen übereifrig sind und nicht ›nein‹ sagen können, wenn Anfragen kommen?«, widersprach Daniel und sah auf die Uhr. In wenigen Minuten begann die Sprechstunde. »Aber konzentrieren wir uns erst mal auf das Naheliegende. Mit welchem Patienten habe ich gleich das Vergnügen?«

»Frau Körber ist heute Ihre unangefochtene Nummer Eins«, verkündete Janine schmunzelnd.

Dr. Norden nickte wissend.

»Richtig! Die nekrotisierende Fasziitis«, erinnerte er sich an den kritischen Fall, der auch anders hätte ausgehen können. Beim Kartoffelschälen hatte sich Anna Körber in den Finger geschnitten. Ein paar Tage später waren um die Verletzung herum dunkle Blasen aufgetreten. Als sie zur Behandlung in die Praxis gekommen war, war der Finger bereits rot verfärbt gewesen. Er schmerzte, und eine Entzündung hatte sich über die ganze Hand ausgebreitet. Die Diagnose dieser durch Streptokokken hervorgerufenen Krankheit war nicht ganz einfach gewesen, und Frau Körber verdankte ihr Leben Daniel Nordens Erfahrung und Geistesgegenwart. »Bei dieser heimtückischen Krankheit hätte sie entweder die Hand, den ganzen Arm oder sogar ihr Leben verlieren können. Es war höchste Zeit.«

Danny Norden, der seit geraumer Zeit Partner seines erfahrenen Vaters war, horchte auf.

»War das nicht dieselbe Krankheit, die der berühmte Dirigent Richard Menza hatte?«, erinnerte er sich an die Geschichte, die Auslöser für einige haarsträubende Ereignisse im Leben der Familie Norden gewesen war.

»Das ist richtig.« Daniel lächelte versonnen. »Hätte nicht ein Fachblatt von der schweren Erkrankung des Maestros und seiner glücklichen Heilung berichtet, wäre Scheich Ahmed niemals auf mich aufmerksam geworden. Dann wären Fee, die Zwillinge und ich nicht im Orient gelandet und hätten keines der unglaublichen Abenteuer erlebt, an die wir heute noch gern denken.« Tatsächlich verklärten sich seine Augen, als er an die Farben und Gerüche des Orients dachte, an den fremden Geschmack der Speisen und das Gefühl der warmen Luft auf der Haut.

»Es gab Zeiten, da waren Sie nicht so erpicht auf diese Erlebnisse«, erinnerte Wendy ihren Chef unbarmherzig an die unabänderlichen Tatsachen.

Daniel nickte.

»Zwischendurch war ich mir auch nicht so sicher, ob wir alle mit dem Leben davonkommen«, gestand er und schüttelte sich angesichts der vielfältigen Gefahren, die sie im Reich des Scheichs erlebt hatten. Und doch gehörten diese Erinnerungen zu den schönsten seines Lebens, die er nicht mehr missen wollte. Noch heute verband die Familie Norden eine innige Freundschaft mit Scheich Ahmed, seiner wunderschönen Frau und seinem Sohn Hasher. »Schade, dass du nicht dabei sein konntest«, sagte er versonnen zu seinem Sohn.

»Irgendeiner musste ja deine Arbeit machen, während du dich in der Weltgeschichte rumgetrieben hast«, bemerkte Danny schelmisch grinsend. »Mal abgesehen davon, dass ich Tatjana niemals kennengelernt hätte, wenn ich dich nicht in der Praxis vertreten hätte.« Dieser Gedanke war so schrecklich, dass Danny trotz der angenehmen Wärme in der Praxis erschauerte.

Zu gern hätte Dr. Norden dieses Gespräch noch fortgeführt. Doch die Zeit drängte, und mit einem Blick auf die Uhr stand Dr. Norden auf. Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

»Schon Kierkegaard wusste, dass man das Leben nur rückwärts verstehen kann. Leben muss man es vorwärts. Also passen Sie auf beim Kartoffelschälen!«, warnte er seine Assistentinnen. »Nicht dass Sie auch noch auf unvermutete Art und Weise in ein Abenteuer schlittern.«

Seine Mitarbeiter taten es ihm gleich. Dabei lachten sie belustigt.

»Solange wir einen begnadeten Diagnostiker wie Sie an unserer Seite haben, kann uns nichts passieren«, gab Wendy unbeschwert zurück und machte sich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Wenig später betraten die ersten Patienten die Praxis Dr. Norden. Der Tag würde lang und anstrengend werden. Doch die vielen Termine garantierten auch, dass die Zeit wie im Flug vergehen würde.

*

Auch die Klinikchefin Jenny Behnisch hatte alle Hände voll zu tun, bis sie ein schriller Klingelton an die Verabredung mit ihrem Lebensgefährten erinnerte.

»Schon so spät?«, fragte sie sich mit gelindem Entsetzen. Ihr Schreibtisch sah immer noch genauso wüst aus wie zu Beginn des Tages. Doch es nützte nichts. Roman hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er keine Absage mehr tolerieren würde. Seufzend schaltete Jenny den Computer aus und schlüpfte in den Mantel, als ihre Assistentin Andrea Sander hereinkam, zwei prall gefüllte Unterschriftenmappen im Arm.

»Oh, Sie gehen schon?«, erkundigte sie sich sichtlich überrascht.

»Wenn ich nicht demnächst wieder Single sein will, sollte ich das tatsächlich tun«, gab Jenny Behnisch zurück.

Einen Moment lang haderte Andrea sichtlich mit sich. Doch dann siegte ihr Pflichtbewusstsein.

»Ich glaube kaum, dass Herr Kürschner so verständnislos ist«, erwiderte sie lapidar und legte die beiden Mappen vor ihre Chefin auf den Schreibtisch. »Sie haben mir den ganzen Nachmittag lang versprochen, diese Briefe zu unterschreiben.«

Gequält verdrehte die Klinikchefin die Augen.

»Ich hatte heute fünf Operationen, drei Besprechungen und eine Unmenge an Telefonaten. Mal abgesehen von meiner Sprechstunde und den Patienten, die mich darüber hinaus sehen wollten«, erklärte sie das, was Andrea als ihre Assistentin längst wusste. »Stellen Sie sich vor: Auch ich habe ein Zuhause und bin froh, wenn ich irgendwann einfach nur mal gehen kann.«

Doch Andrea hatte nicht vor, sich auf eine Diskussion einzulassen.

»Sie haben es versprochen«, wiederholte sie.

»Wenn ich damals gewusst hätte, wie grausam Sie sind, hätte ich Sie nicht eingestellt!«, bemerkte Jenny düster.

»Doch, das hätten Sie!« Selbstbewusst, wie sie war, ließ sich die pflichtbewusste Assistentin nicht beirren.

Sie zwinkerte ihrer Chefin zu und verließ das Zimmer.

Seufzend ließ sich die Klinikchefin wieder auf den Stuhl fallen und starrte auf die Mappen. Endlich hob sie die Hand. Aber nicht etwa, um sie zu öffnen, sondern um nach dem Telefonhörer zu greifen und eine Nummer zu wählen.

»Ich bin’s, Fee«, sagte Jenny, als sich ihre langjährige Freundin und Kollegin meldete, die seit einiger Zeit ihre Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Behnisch-Klinik machte. »Du musst mir einen Gefallen tun.« In knappen Worten erläuterte sie ihr Dilemma, und Felicitas stimmte lachend zu.

Die Klinikchefin legte auf und spitzte die Ohren. Gleichzeitig schlug sie eine der Mappen auf und nahm einen Füller zur Hand. Sie hatte den ersten Brief noch nicht ganz durchgelesen, als tatsächlich Andrea Sanders Telefon klingelte. Jenny konnte nicht genau verstehen, was gesprochen wurde. Aber das war auch nicht nötig, denn gleich darauf klopfte es. Schnell beugte sie sich über die Unterschriftenmappe.

»Tut mir leid, wenn ich nochmal stören muss«, erklärte Andrea Sander sichtlich zerknirscht. »Frau Dr. Norden war dran. Die Eltern eines kleinen Patienten wollen Sie unbedingt sprechen.«

»Unmöglich!« Ohne den Blick von der Mappe zu heben, schüttelte Jenny entschieden den Kopf. »Ich habe mindestens für die nächsten zehn Jahre zu tun.«

Andrea lachte schuldbewusst auf.

»Vielleicht haben die Unterschriften doch noch bis morgen Zeit«, gab sie nach.

Innerlich gratulierte sich Jenny Behnisch zu ihrer gelungenen List. Doch nach außen hin trug sie eine bedauernde Miene zur Schau.

»Na gut!«, seufzte sie ergeben und legte den Füllhalter zur Seite. »Dann bis morgen!« Sie griff nach Mantel und Aktentasche und ging an Andrea vorbei aus dem Büro.

Auf dem Weg zum Wagen traf sie Fee, die sich auch auf den Nachhauseweg machen wollte. Die beiden Frauen tauschten einen verschwörerischen Blick, ehe sie Seite an Seite weitergingen.

»Du hast mir den Feierabend geret­­tet«, bedankte sich Jenny. »Wenn ich noch eine Verabredung absagen muss, steigt mir Roman aufs Dach.«

»Aber er ist doch selbst im Augenblick gut beschäftigt.« Fee dachte an die kleine Bäckerei, die die Freundin ihres ältesten Sohnes führte.

Roman Kürschner hatte sich bereit erklärt, das Geschäft mit dem angeschlossenen Café nach gemeinsamen Plänen umzugestalten und ein kleines Paradies daraus zu machen.

»Das schon«, stimmte Jenny ihrer Freundin bekümmert zu. »Aber erstaunlicherweise bringt er es immer fertig, sich die Termine mit mir freizuhalten. Irgendwas scheine ich falsch zu machen.«

»Vielleicht sind dir eure Verabredungen nicht so wichtig wie ihm«, entfuhr es Felicitas spontan.

Fast sofort bereute sie ihre Gedankenlosigkeit.

»Was soll denn das schon wieder heißen? Im Gegensatz zu mir hat Roman viel mit Papier zu tun, und das ist ja bekanntermaßen geduldig.« Jennys Stimme war erstaunlich schroff, und Fee zuckte erschrocken zusammen. »Zumindest geduldiger als Patienten.«

Felicitas wusste, dass sie zu weit gegangen war. Jenny war eine mehr als engagierte Ärztin, die sich für ihre Patienten aufopferte, und auf keinen Fall wollte sie ihre Freundin verletzen.

»Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

Doch Jennys Gedanken waren längst weiter geeilt. Sie schüttelte den Kopf.

»Es liegt an Andrea. Sie kann einfach nicht ›Nein‹ sagen, wenn jemand ein Anliegen an mich hat, und stopft meinen Terminkalender dermaßen voll, dass ich nicht mehr weiß, wo links und recht ist.« Es war einfach, die Schuld komplett auf ihre Assistentin zu schieben. Jenny wusste das und schämte sich ein bisschen.

Inzwischen waren die beiden Frauen an Fees Wagen angelangt und blieben stehen.

»Warum sprichst du nicht mit ihr darüber?«, erkundigte sich die Ärztin, während sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel suchte.

»Das nützt doch eh nichts«, tat Jenny entschieden ihre Meinung kund.

Doch Fee war anderer Ansicht und machte trotz der vorangegangenen Ablehnung keinen Hehl aus ihrer Ansicht.

»Könnte es auch sein, dass du einfach den Konflikt scheust?«, fragte sie und ließ die Schlösser des Wagens aufschnappen.

Um nicht wieder ausfallend zu werden, lachte die Klinikchefin unfroh.

»Du bist mit Sicherheit die Erste, die das von mir behauptet. Aber sag, wie machen Daniel und Danny das mit ihren Assistentinnen?«

Felicitas stellte die Aktentasche auf den Rücksitz und schlug die Wagentür zu.

»Hin und wieder setzen sie sich gemütlich zusammen, essen was Schönes und trinken ein Glas. Bei diesen Gelegenheiten werden solche Dinge geklärt. Im entspannten Rahmen geht das alles«, wusste sie aus dem weitgehend harmonischen Praxisalltag zu berichten.

»Und das hilft?« Jenny dachte nicht daran, einen Hehl aus ihrer Skepsis zu machen.

»Na ja, nicht immer«, gestand Fee und erinnerte sich an das heutige Telefonat mit ihrem Mann, in dem er seinen Unwillen über die vielen zusätzlichen Termine sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Im Gegensatz zu Jenny Behnisch hatte sich Daniel aber vorgenommen, so bald wie möglich ein ernstes Wort mit seinen Assistentinnen zu reden. »Aber immer öfter«, fügte sie daher lächelnd hinzu.

Skeptisch wiegte Jenny Behnisch den Kopf.

»Ich werd es bei Gelegenheit ausprobieren«, gab sie sich geschlagen. »Viel wichtiger erscheint es mir allerdings im Augenblick, was ich mit Roman mache. Wie stimme ich ihn versöhnlich?«, kehrte sie zum Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück. »Denn so, wie es im Augenblick ist, geht es offenbar nicht weiter.«

»Lass ihn eine Hauptrolle in deinem Leben spielen!«, empfahl Felicitas, ehe sie in den Wagen einstieg. »Sonst sucht er sich womöglich doch irgendwann eine andere Bühne mit einer anderen Hauptdarstellerin.« Sie zwinkerte Jenny zu und startete dann den Motor.

Auch Fee hatte eine Verabredung mit ihrem Mann und wollte nicht länger darauf warten, dass sie Daniel endlich wiedersah, um die letzten kostbaren Stunden des Tages mit ihm und ihrer Familie zu teilen. Ihr oberstes Interesse galt ihrem Liebsten und ihrer Familie, und trotz allem Stress versuchte Felicitas, ihn das jeden Tag aufs Neue spüren zu lassen.

*

»Hey, das sieht ja schon richtig gut aus hier!« Danny Norden stand mitten in der kleinen Bäckerei und drehte sich um die eigene Achse. »Wenn die Handwerker hier fertig sind, hast du ein richtiges kleines Paradies.« Tatsächlich hatten die Arbeiter, die Roman Kürschner engagiert hatte, innerhalb kürzester Zeit ganze Arbeit geleistet, und die beiden ehemals tristen, schmucklosen Räume waren nicht wiederzuerkennen. Wände waren gewichen, Rohre und Leitungen modernisiert und neu verlegt worden. Die hässliche Decke war unter mit Ornamenten verzierten, silbernen Metallplatten verschwunden, die den Räumen einen magischen Glanz verliehen. Sie bildeten einen schönen Kontrast zum dunkel gebeizten Holzboden und den Tischen und Stühlen in allen erdenklichen Formen, die wie die Kronleuchter vom Flohmarkt stammten. Tatjanas Mitarbeiterin, die Tortenkünstlerin Marianne Hasselt, hatte ihr gestalterisches Talent ein weiteres Mal unter Beweis gestellt und bunte Kissen genäht. An den Wänden hingen Werke unbekannter Künstler, die froh waren, auf diese Art die Aufmerksamkeit der Kunden zu erregen. Glanzstück des neu gestalteten Verkaufsraums war die gläserne, alte Vitrine, die Roman bei einem befreundeten Antiquitätenhändler günstig erstanden hatte. »Das hier wird der Treffpunkt des ganzen Viertels werden.«

»Glaubst du wirklich?«, fragte Dannys Freundin, und ihre Augen strahlten vor Freude wie zwei Sterne. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein.«

Gerührt über ihre kindliche Freude trat Danny auf Tatjana zu und schloss sie in die Arme.

»Das IST zu schön, um wahr zu sein«, versicherte er innig. »Warte nur mal ab, wenn erst das Schaufenster fertig ist.« Roman hatte eine breite Glasfront mit tiefen Fensterbänken als Sitzmöglichkeiten geplant. »Dann musst du die Leute abends rauswerfen.« Auf der einen Seite war dieser Gedanke durchaus verlockend. Andererseits gab er auch Grund zur Sorge. »Hoffentlich bekomme ich dich dann überhaupt noch zu Gesicht.«

»Ich denke schon«, seufzte Tatjana und rieb sich die müden Augen. »Ich kann’s kaum erwarten, endlich wieder jemanden einzustellen. Nachts träume ich schon von riesigen Brotlaiben, die mich überrollen wollen.«

Seit ihre griesgrämige Mitarbeiterin Dorothee gekündigt hatte, war sie zwar erleichtert, doch die viele Arbeit war zu zweit kaum zu bewältigen.

»Meine arme, kleine Bäckerin.« Dannys Mitgefühl war echt. »Wie sieht’s denn aus?«

Tatjana löste sich behutsam aus seinen Armen, um die letzten Arbeiten des Tages zu Ende zu bringen.

»Heute hatte ich zwei Bewerbungsgespräche.« Ihre Stimme ließ nichts Gutes ahnen. »Eine der Damen versicherte mir, dass sie auch ohne fachspezifische Ausbildung eine Meisterin im Brotbacken ist.«

Kritisch zog Danny eine Augenbraue hoch.

»Ein Naturtalent?«

»Schön wär’s.« Während Tatjana die letzten Brösel aufkehrte, schüttelte sie unwillig den Kopf mit den bleistiftkurzen, strohblonden Haaren. »Sie nennt einen Brotbackautomaten ihr eigen.«

Beide sahen sich an und lachten.

»Gut, dann genügt sie wohl kaum deinen Ansprüchen«, räumte Danny schließlich ein. Er musste nur an Tatjanas köstliche Brotsorten und an ihre vielen süßen Eigenkreationen denken, um das zu wissen. »Und was war mit der anderen?«

»Sie wollte doch allen Ernstes ihren Hund mitbringen und ist richtig böse geworden, als ich ihr was von Gewerbeaufsichtsamt und solchen Dingen erzählt habe«, berichtete Tatjana und trat zur Seite, damit Danny die Brösel mit Kehrblech und Besen aufsammeln und in den großen Metalleimer in der Ecke werfen konnte.

»Wie kannst du nur so herzlos sein?«, witzelte er, und Tatjana versetzte ihm einen gutmütigen Knuff in die Seite.

»Ich zeig dir gleich, wie herzlos ich wirklich bin«, versprach sie.

»Ich kann’s kaum erwarten. Bist du fertig?« Danny sah sich prüfend um, und Tatjana nickte.

»Die Tageseinnahmen hat Marianne schon zur Bank gebracht. Wenn du Lust hast, können wir gehen.« Sie band die schwarze Kellnerschürze ab und tauschte sie mit der Jacke, die an der Garderobe hing.

»Wir müssen eh ein paar Meter laufen. Vor der Bäckerei war weit und breit kein Parkplatz.«

»Macht nichts.« Tatjana löschte das Licht und wartete, bis Danny neben ihr auf den Gehweg trat. Erst dann schloss sie die Tür ab. »Kaum zu glauben. Obwohl ich den ganzen Tag auf den Beinen war, habe ich das Gefühl, mich körperlich kaum betätigt zu haben.«

Über dieses jugendliche Temperament konnte Danny nur lachen.

»Dann lass uns noch ein paar Schritte in den Englischen Garten gehen. So kalt ist es ja heute Abend nicht«, machte er einen Vorschlag, der Tatjanas Zustimmung fand.

Er legte den Arm um ihre Schultern, und gemeinsam wanderten sie unter munterem Plaudern durch den kühlen Spätherbstabend. An einer belebten Straße blieben sie stehen und warteten auf eine Lücke im Verkehr, als ein Wagen mit riskanter Geschwindigkeit heranraste. Ins­­­tink­tiv riss Danny seine Freundin zurück.

»Das war knapp!«, stöhnte er auf und sah dem Wagen nach, der sich halsbrecherisch den Weg durch die langsam fahrenden anderen Verkehrsteilnehmer bahnte. Rücksichtslos überholte er links und rechts. Als etwas entfernt eine Fußgängerin die Straße an einem Zebrastreifen überqueren wollte, geschah es. Die Frau wurde von dem Wagen erfasst. In der Dunkelheit und nur erhellt von den Scheinwerfern erkannte Danny den Körper, der wie eine Puppe durch die Luft geschleudert wurde. Ein schriller Schrei hallte durch die Nacht. Da hatte der junge Arzt schon sein Handy aus der Tasche geholt und wählte die Notrufnummer der Behnisch-Klinik. Erst dann griff er nach der Hand seiner völlig verstörten Freundin – Tatjana hatte bei einem Unfall ihre Mutter verloren – und eilte mit ihr an den Unfallort.

*

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich es mich macht, dass das heute geklappt hat.« Zufrieden mit sich und der Welt saß Roman Kürschner am Tisch des griechischen Lokals und biss in ein gefülltes Weinblatt. »Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal zu zweit beim Essen waren.«

Die Beleuchtung war schummrig, trotzdem erkannte Jenny an seinem weichen Tonfall, dass er übers ganze Gesicht strahlte.

»Ich habe mich heute mit Fee über meinen prall gefüllten Terminkalender unterhalten. Sie meinte, ich sollte Andrea doch mal eine klare Ansage machen, dass sie ihn nicht zu sehr überfrachtet.«

Wenn möglich, wurde Romans Lächeln noch tiefer. Sein liebevoller Blick ruhte auf seiner Lebensgefährtin, die ihm gegenüber am groben Holztisch vor einem inzwischen fast geleerten Vorspeisenteller saß.

»Ich habe schon immer geahnt, dass Fee eine kluge Frau ist«, erklärte er. »Allerdings weiß ich auch, dass du es kaum übers Herz bringst, einen Bittsteller abzuweisen.«

Auf diese Worte erwiderte Jenny zunächst nichts. Sie griff nach ihrem Glas und hielt es hoch. Der Weißwein schimmerte verführerisch im Kerzenlicht, und sie lächelte versonnen.

»Ich weiß, dass das Problem nicht nur bei Andrea liegt. Deshalb habe ich mir vorgenommen, meine Prioritäten anders zu legen«, erklärte sie, und ihr Blick wanderte hinüber zu Roman, der sie interessiert ansah. »Und das ist nicht das Einzige, was ich ändern will.«

»Ach ja?« Er putzte sich die fettigen Finger an der Serviette ab und hob ebenfalls sein Glas. »Was denn noch?«

»Du sollst in Zukunft deutlicher spüren, welch wichtige Rolle du in meinem Leben spielst.« Romantische Liebeserklärungen gehörten nicht ins Repertoire von Dr. Jenny Behnisch, und für ihre Verhältnisse kam diese Gefühlsbekundung einem Heiratsantrag gleich.

Roman, der sie schon seit geraumer Weile kannte, wusste diese Worte durchaus zu schätzen und richtig einzuordnen.

»Der Abend wird immer besser«, seufzte er zufrieden. Die Gläser klangen hell aneinander, und er lehnte sich zurück. »Wenn das so weitergeht, heiraten wir doch noch eines Tages …« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ein Handy klingelte.

Zuerst ignorierte Jenny das lästige Geräusch. Doch als es nicht aufhörte, gab sie schließlich seufzend nach.

»Ich fürchte, mein Typ wird verlangt.«

»Hast du mir nicht versprochen, dieses Ding heute Abend ausnahmsweise mal auszuschalten?«, fragte der Architekt unwillig und stellte das Glas zurück auf den Tisch.

Mit einem Schlag war seine gute Laune dahin. Daran konnte auch Jennys entschuldigendes Lächeln nichts ändern.

»Ich fürchte, ich hab’s vergessen«, gestand sie kleinlaut, ehe sie das Gespräch annahm.

Es dauerte nicht lange.

»Ich verstehe. Ich bin in zehn Minuten da«, versprach sie ihrem Gesprächspartner und legte auf.

In diesem Moment war die Verabredung mit Roman ebenso vergessen wie das Versprechen, das sie ihm keine fünf Minuten zuvor gegeben hatte.

»Es gibt ein gravierendes Problem in der Klinik«, sagte sie und stand auf, ohne ihren Lebensgefährten eines Blickes zu würdigen. »Ich muss sofort hin.« Hektisch suchte sie ihre Siebensachen zusammen.

Ungläubig sah Roman ihr dabei zu.

»Das heißt, du kommst nicht zurück?«, fragte er ungläubig. »Aber das Essen ist doch noch nicht mal da.«

»Wie kannst du in so einer Situation ans Essen denken?« Unwillig schüttelte Jenny den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort das Lokal.

Roman sah seiner Lebensgefährtin nach, bis der Kellner ihn aus seinen nicht sehr freundlichen Gedanken riss.

»Einmal Moussaka und ein Bauernsalat.« Fragend sah er seinen Gast an.

Der überlegte nicht lange.

»Die Dame da drüben … wartet die auf einen Tisch?« Roman deutete möglichst unauffällig auf die Frau, die an der Theke neben dem Eingang stand und geduldig auf einen freien Platz in dem hoffnungslos überfüllten Lokal wartete.

»Ganz recht.«

»Könnten Sie sie fragen, ob sie Lust auf einen Bauernsalat hat? Zu zweit schmeckt es einfach besser.«

Ein überraschtes Lächeln huschte über das Gesicht des Obers. Aber er stellte keine Fragen.

»Selbstverständlich. Frau Ostertag wird sich freuen.« Als er Jennys Weinglas und das benutzte Besteck abräumte, beugte er sich zu Roman. »Eine sehr nette Frau und seit kurzem alleinstehend«, verriet er verschworen.

»So weit ist es bei mir noch nicht«, brummte Roman missmutig. »Aber lange kann es nicht mehr dauern.«

*

»Patientin, weiblich, ungefähr 45 Jahre alt«, teilte Danny Norden der Klinikchefin mit, als sie atemlos in die Klinik stürzte. Glücklicherweise hatte direkt vor dem griechischen Lokal ein Taxi gehalten, das sie umgehend mitnehmen konnte. »Drittgradig offene Oberschenkelfraktur nach Autounfall«, fuhr der junge Arzt fort.

»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Jenny ruhig. In ihrer Klinik war sie ganz in ihrem Element. Hier gab es keine Unsicherheiten, hier hatte sie ihre Gefühle im Griff und wusste, was sie zu tun hatte. »Welche Erstmaßnahmen wurden getroffen?«

»Bereits am Unfallort habe ich die Korrektur großer Fehlstellungen vorgenommen und einen sterilen Wundverband angelegt«, zählte Danny das Wichtigste auf. »Zu Beginn war die Patientin noch bei Bewusstsein und hat angegeben, nicht in der Behnisch-Klinik operiert werden zu wollen. Inzwischen ist sie bewusstlos.«

Während der junge Arzt so ruhig wie möglich von den eingeleiteten Maßnahmen berichtete, ließ sich Jenny von einer Schwester in einen grünen, sterilen Kittel helfen.

»Hat sie gesagt, warum sie das nicht will?«, fragte sie verständnislos.

Danny zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Röntgenbilder und neurologischer Status liegen übrigens inzwischen vor.«

»Gut.« Jenny nickte und machte sich auf den Weg in den OP, in den die Patientin bereits gebracht worden war. »Dann wollen wir mal sehen.«

Als sich die Schiebetüren öffneten, hob der diensthabende Arzt Dr. Weigand den Kopf.

»Ah, Chefin, gut, dass Sie hier sind. Es wird höchste Zeit. Die Beine der Patientin werden schon kalt.«

Dr. Behnisch trat neben den Anästhesisten und warf einen Blick auf die Geräte.

»Der Kreislauf ist instabil«, bemerkte sie, ehe sie sich der Patientin zuwandte.

Mund und Nase waren von einer Atemmaske bedeckt. Dennoch kamen ihr diese Züge seltsam bekannt vor, vertraut wie aus einem anderen Leben. Und plötzlich stand es Jenny glasklar vor Augen und sie erstarrte. Plötzlich war ihr eingefallen, woher sie diese Frau kannte.

»Machen Sie eine Angiographie!«, wies sie Dr. Weigand schroff an und ging zur Tür. Dort angekommen machte sie noch einmal Halt und drehte sich um. »Und dann operieren Sie!«

Das OP-Team tauschte verdutzte Blicke.

»Sollten wir nicht versuchen, einen Angehörigen zu erreichen und eine Einwilligung einholen?«, fragte Schwester Elena irritiert.

Die Miene der Klinikchefin zuckte verdächtig. Sonst war ihr keine Gefühlsregung anzusehen.

»Die haben Sie!«, rang sie sich schließlich zu einer Erklärung durch. »Das ist meine Cousine.« Mit diesen Worten drehte sie sich endgültig um und überließ Nicoles Schicksal ihren Mitarbeitern.

*

An diesem Abend war nicht viel Betrieb im Hause Norden. Die Zwillinge Jan und Dési probten für eine Schulaufführung, und Anneka war mit ihrem Freund Noah auf einem Konzert, sodass nur Felix mit seinen Eltern zu Abend aß. Trotz des leckeren Essens, das die Haushälterin Lenni gezaubert hatte, war seine Laune ausnehmend schlecht.

»Warum müssen Fische eigentlich Gräten haben?«, schimpfte er und zupfte an der Forelle auf seinem Teller herum. »Kann man nicht mal welche ohne züchten?«

Daniel und Fee tauschten belustigte Blicke.

»Wie passt diese Frage denn mit deinem ausgeprägten Sinn für eine möglichst natürliche Produktion von Nahrungsmitteln zusammen?«, erkundigte sich Fee, die ihre Forelle perfekt entgrätet hatte.

Demonstrativ steckte sie eine Gabel des aromatischen Fleischs in den Mund.

»Bei Gräten kann man meinetwegen eine Ausnahme machen.« Auch Felix kostete ein Stück, zog aber gleich darauf die Rückenflosse aus dem Mund. »Und Flossen brauchen sie auch nicht. Oder aber, ich lasse es ganz und esse nur Salzkartoffeln mit Salat.« Er schob den Fisch zur Seite und zerteilte ärgerlich eine Kartoffel. Schon jetzt glich sein Teller einem Schlachtfeld.

Allmählich wunderte sich Daniel. So schlecht gelaunt kannte er seinen Sohn gar nicht. Ganz im Gegenteil war Felix im Normalfall ein Garant für gute Laune und witzige Sprüche, mit denen er seine Familie regelmäßig zum Lachen brachte.

»Willst du uns nicht verraten, was wirklich mit dir los ist?«, fragte er behutsam. »Dass Fische Gräten haben, ist ja keine neue Erkenntnis.«

Eine Weile schwieg Felix und starrte blicklos auf seinen Teller, bis er sich schließlich zu einer Antwort durchringen konnte.

»Stimmt schon, die Forelle kann nichts dafür. Es geht um diese Riemerschmidt. Wenn ich gewusst hätte, was für eine Schnepfe sie ist, hätte ich mir eine andere Stelle ausgesucht«, brach endlich sein Ärger über seine Chefin aus ihm heraus. »Jenny ist so ein netter Mensch und hat bestimmt eine Menge Menschenkenntnis. Aber bei Silvie hat sie einfach nur versagt.«

Obwohl Felicitas die Sorgen und Nöte ihrer Kinder durchaus ernst nahm, fiel es ihr diesmal schwer, nicht zu schmunzeln. Zum ersten Mal in seinem Leben flogen Felix die Sympathien nicht zu, was ihm sichtlich zu schaffen machte.

»Was hat sie dir denn jetzt wiede­r gesagt, was dich so wütend macht?«, erkundigte sie sich bei ihrem zweitältesten Sohn, der ein freiwilliges soziales Jahr in der Ergotherapie der Behnisch-Klinik absolvierte.

»Sie hat mich gefragt, ob ich daheim als Kind nicht genug Liebe bekommen habe, weil Susa und ich uns auf dem Flur zum Abschied geküsst haben.«

»Na ja, ein bisschen Spaß musst du aber schon verstehen«, erwiderte Daniel, und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.

»Oder sind deine Nerven schon jetzt so schwach, dass du Urlaub brauchst? Dann gebe ich dir den Hotelgutschein, den ich heute geschenkt bekommen habe.« Während er sprach, griff er nach seinem Glas Bier und trank einen großen Schluck.

Fee, die inzwischen aufgegessen hatte, legte ihr Besteck auf den Teller und sah ihren Mann fragend an.

»Wer schenkt dir einen Hotelgutschein?«

»Eine Patientin, die dankbar darüber ist, noch am Leben zu sein. Eigentlich wollte ich das Geschenk gar nicht annehmen, aber sie hat mich förmlich genötigt.«

»Klingt nach Bestechung«, bemerkte Felix düster, und Daniel schüttelte unwillig den Kopf.

»Eben nicht. Ihr Mann arbeitet in diesem Hotel und bekommt die Gutscheine immer umsonst«, erklärte er. »Und sei mir nicht böse: Wenn du in der Arbeit auch so schlechte Laune hast, wundert es mich nicht, dass Silvie Riemerschmidt ab und an die Daumenschrauben anzieht«, kam er nicht um Kritik an seinem Zweitältesten herum.

In Felix‘ wütendes Schnauben hinein klingelte es an der Tür. Fee sah ihren Mann überrascht an.

»Wer kann das sein?«

Doch da hatte sich der Sohn des Hauses schon auf den Weg gemacht. Er öffnete die Tür und begrüßte Roman, der mit Leichenbittermiene dastand.

»Hey, Roman, komm rein. Die beiden Gutmenschen sind im Esszimmer«, konnte er sich einen frechen Kommentar nicht verkneifen und floh nach ein paar Begrüßungsfloskeln in sein Zimmer. Väterliche Kritik war nicht das, was er an diesem Abend auch noch brauchen konnte.

Verwundert sah der Architekt ihm nach und ging dann hinüber zum Ehepaar Norden.

»Roman, das ist ja eine Überraschung«, begrüßte Daniel Jennys Lebensgefährten und warf einen verwunderten Blick über dessen Schulter. »Nanu, du bist allein hier?«

»Wenn ich störe, bin ich gleich wieder weg«, erklärte Roman schnell.

Doch da hatte Fee schon einen Stuhl zurecht gerückt und ein Glas Wein eingeschenkt. Sie ahnte, wo der Hase im Pfeffer lag.

»Du störst nicht!«, erklärte sie und drückte ihn mit sanfter Gewalt in den Stuhl. »Ganz im Gegenteil freuen wir uns immer, dich zu sehen.« Das entsprach voll und ganz der Wahrheit, und der Architekt entspannte sich ein wenig.

»Es ist schön, wenigstens hier willkommen zu sein«, seufzte er und hob sein Glas, um mit Daniel und Fee anzustoßen, die im Laufe der Zeit auch seine Freunde geworden waren.

»O je«, entfuhr es Felicitas. »Das heißt, dass dich Jenny schon wieder versetzt hat? Aber ich hab sie doch extra vor Andreas Unterschriftenmappen gerettet, damit sie rechtzeitig bei dir sein kann«, erinnerte sie sich an die List vom frühen Abend.

Einen Moment lang starrte Roman die Ärztin ungläubig an. Dann glättete sich seine Miene wieder.

»Wirklich? Das wusste ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wir hatten ja auch kaum Zeit, uns zu unterhalten. Wir waren beim Griechen, als Jennys Telefon geklingelt hat. Da stand das Hauptgericht noch nicht mal auf dem Tisch.«

»Lass mich raten. Die Klinik!«, wusste Daniel Norden aus eigener Erfahrung, mit welchen Pflichten so eine Selbständigkeit einherging. Da machte es keinen Unterschied, ob es sich um eine Praxis wie seine oder eine Privatklinik handelte, wie Jenny sie seit Jahren so erfolgreich führte. »Es gab einen Notfall.«

»Sag bloß, du weißt, wovon ich rede?« Ein trauriges Lächeln zuckte um Romans Lippen.

»Ich kann ein Lied davon singen!« Es war Fee, die die Frage des Freundes beantwortete. »Wahrscheinlich habe ich mehr Nächte ohne als mit meinem Mann verbracht.«

»Du übertreibst schamlos«, wiedersprach Daniel belustigt.

Doch diese Feinheiten waren nicht wichtig für Roman Kürschner. Für ihn ging es ums Ganze.

»Wenn es nur halb so viele Nächte waren, frage ich mich, wie eure Ehe das überstanden hat.« Sein bewundernder Blick hing an dem ganz offensichtlich immer noch verliebten Ehepaar.

»Neben vielen Kleinigkeiten haben wir immer dafür gesorgt, dass es ungestörte Zeiten für uns gab, in denen wir uns nur mit uns beschäftigt haben«, berichtete Daniel, und Fee nickte, zufrieden damit, dass ihr Mann derselben Ansicht war wie sie. »In denen wir uns unserer Liebe versichert und sie vertieft haben. Das gibt Sicherheit, um die übrigen, stürmischen Zeiten zu überstehen.« Daniel hob sein Bier und nahm einen Zug. Dabei musterte er seine Frau über den Rand seines Glases hinweg.

Fee las die stumme Frage darin und nickte kaum merklich.

Von dieser wortlosen Kommunikation bekam Roman nichts mit. Zu sehr war er mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

»Seht ihr, und genau das ist euer Vorteil«, seufzte er und starrte auf den Boden seines Weinglases. »Ihr seid euch wenigstens einig darin, dass eine Liebe gepflegt werden will. Dass man daran arbeiten und hin und wieder Gefühle zulassen muss. Solche guten Vorsätze hat Jenny nur ansatzweise«, erinnerte er sich an ihre wohlklingenden, aber wenig verlässlichen Worte. »Und wenn ein Notruf eingeht, hat sie sie leider genauso schnell wieder vergessen.« Er tat es Daniel nach und hob sein Glas, um einen weiteren Schluck von dem angenehm kühlen Weißwein zu trinken.

Im Normalfall sprach Roman Kürschner nicht mit Außenstehenden über seine Beziehung und schon gar nicht über die Probleme, die er damit hatte. Doch an diesem Abend war alles anders. Jenny hatte ihn schwer verletzt, und der Alkohol tat ein Übriges, um ihn gesprächig werden zu lassen.

»Ich weiß wirklich nicht, wie das mit uns weitergehen soll«, fuhr er mit Grabesstimme fort.

»War Jenny denn schon immer so?«, erkundigte sich Daniel sichtlich schockiert.

Er hatte das Paar stets als harmonisch und liebevoll wahrgenommen und nicht mit diesen Differenzen gerechnet.

Nachdenklich wiegte Roman den Kopf.

»Wahrscheinlich liegt der Fehler auch auf meiner Seite«, gestand er betroffen und durchaus selbstkritisch. »Anfangs hat mir ihre Unnahbarkeit nämlich gefallen. Der Jäger im Manne und so weiter …« , er winkte ab und lächelte grimmig, »…ihr kennt die Sprüche ja. Als ich dann mit Jenny zusammengekommen bin, habe ich ihr viel Liebe gegeben. Ich dachte, sie könnte von mir lernen. Eine Weile ging das auch gut, es war sehr schön und harmonisch. Aber in letzter Zeit habe ich immer mehr das Gefühl, dass sie mich nicht mehr wirklich an sich ranlässt. Statt uns immer näher zu kommen, zieht sie sich wieder zurück. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass etwas zwischen uns wächst. Dabei verstehe ich einfach nicht, warum.« Roman warf einen weiteren, langen Blick in sein Weinglas, während er über seine schwierige Beziehung zu Jenny nachdachte. Dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. Er leerte das Glas in einem letzten, tiefen Zug, stellte es auf den Tisch und stand auf. »Mal sehen, wie lange ich es noch aushalte«, sagte er zu Daniel und Fee. »Aber wenn Jenny mich nicht langsam wichtiger nimmt, kann ich für nichts mehr garantieren.« Er nickte dem Arztehepaar zu und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal um. »Danke für alles.« Damit verschwand der Architekt endgültig.

Als die Haustür ins Schloss fiel, fuhr Fee aus ihren Gedanken hoch.

»O je, das klingt aber gar nicht gut«, seufzte sie bekümmert. »Du hast recht! Eine ungestörte Auszeit wird den beiden gut tun und vielleicht sogar ihre Beziehung retten. Ich finde deine Idee, den beiden den Gutschein zu schenken, perfekt.« Ihre Augen suchten den Blick ihres Mannes. »Das war es doch, woran du vorhin gedacht hast«, hakte sie vorsichtshalber nach.

Daniel lächelte innig und stand auf.

»Ein Glück, dass du den Hotelgutschein erst jetzt erwähnst. Deine Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen, hätte das Fass zum Überlaufen und Roman zur Verzweiflung gebracht.« Er beugte sich über seine Frau und küsste sie innig.

Und Fee küsste ihn wieder, während sie an ihre Freundin dachte, die ihr großes Glück so leichtfertig aufs Spiel setzte.

»Am besten bring ich ihr den Gutschein gleich morgen früh vorbei. Dann könnten die beiden gleich nach Dienstschluss morgen ins Wochenende starten«, sagte sie nachdenklich, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. »Es muss schnell etwas passieren.«

*

»Für einen allein ist meine Wohnung eigentlich viel zu groß.« Mit entschuldigendem Lächeln drehte sich Dr. Mario Cornelius in seinem Wohnzimmer um die eigene Achse.

Marianne Hasselts Augen folgten der Bewegung des Kinderarztes, den sie vor einer Weile in der Behnisch-Klinik kennengelernt hatte.

Nach einer Schlägerei war ihr fast erwachsener Sohn Tobias dort eingeliefert worden. Doch erst als sie selbst wegen einer hartnäckigen Virus-Infektion in die Klinik musste, war sie Mario Cornelius wiederbegegnet, und die beiden hatten ihr Interesse füreinander entdeckt.

Mario, der des Alleinseins überdrüssig war, hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und Marianne zu sich zum Essen eingeladen. Zuerst hatte sie gezögert. Immerhin war der Kinderarzt zehn Jahre jünger als sie. Doch schließlich hatte sie ihre Bedenken über Bord geworfen, und nun war Marianne hier in seiner Wohnung.

»Ich finde es toll hier«, erklärte sie so unbefangen, wie es ihr in der Gegenwart dieses beeindruckenden Mannes möglich war. »Für einen Mann hast du einen erstaunlich guten Geschmack!« Sie hatte kaum ausgesprochen, als sie auch schon die Hand voller Schreck vor den Mund schlug. »Tut mir leid, ich wollte nicht überheblich klingen … Gegen diese Wohnung ist meine ein kleines, düsteres Mauseloch.«

Mario lachte über diese unbedachte Bemerkung.

»Das wiederum kann ich mir gar nicht vorstellen«, erwiderte er und führte sie an den stilvoll gedeckten Tisch. In diesem Moment nahm er sich vor, dass Marianne nie erfahren sollte, dass seine Schwester ihn in Einrichtungsfragen und auch beim Tischdecken beraten hatte. Mariannes offensichtliche Bewunderung war Balsam für seine Seele. »Tatjana hat mir verraten, was für ein gestalterisches Talent du hast.«

Schlagartig fingen Mariannes Wangen an zu glühen.

»Ach, die gute Jana übertreibt mal wieder schamlos«, winkte sie peinlich berührt ab und ließ ihren fachmännischen Blick über den satinierten Glastisch gleiten, der auf Holzbeinen stand. Die echten Efeuzweige machten sich gut zwischen weißem Porzellan und polierten Weingläsern und lockerten das Ensemble genauso auf wie die weißen Kerzen in originellen Holzständern. »Und so perfekt wie du bin ich noch lange nicht.«

»Das werden wir ja sehen, wenn der Bäckereiumbau erst fertig ist und du bei der Innenausstattung Hand angelegt hast«, zwinkerte Mario der Konditorin zu. »Und jetzt muss ich mir kurz entschuldigen. Ich werde in der Küche erwartet. Darf ich dir inzwischen was zu trinken anbieten? Einen Hugo? Oder lieber Aperol Spritz?«

»Einen Aperol Spritz. Und nur, wenn ich mir die Fotos da drüben ansehen darf.« Auf einem antiken Sekretär hatte Marianne eine Reihe von Bilderrahmen entdeckt, die ihre Aufmerksamkeit erregten.

»Du hast Glück. Wenn du dich für Hugo entschieden hättest, wäre nichts draus geworden«, scherzte der Kinderarzt ausgelassen. Ihm gefiel der unbeschwerte Ton der älteren Marianne, der nichts von ihrer inneren Anspannung verriet. »So aber habe ich natürlich nichts dagegen. Spritz ist nämlich auch mein Lieblings-Aperitif. Er erinnert mich immer an laue Sommerabende in Italien«, lächelte er, erfreut darüber, eine Gemeinsamkeit entdeckt zu haben. »Dann viel Spaß mit den Fotos.«

Marianne sah ihrem Gastgeber nach, wie er mit elastischen Schritten durchs Wohnzimmer ging und in der Küche verschwand, die durch eine Schiebetür aus Glas vom übrigen Wohnraum getrennt war. Während sie Eiswürfel klirren und einen Korken ploppen hörte, machte sie ihr Vorhaben wahr und wanderte hinüber zum Sekretär. Viele Fotos in Silberrahmen waren dort aufgereiht. Besonders eines versetzte ihr einen eifersüchtigen Stich.

Sie war so vertieft in den Anblick der schönen, jungen Frau in Marios Armen, dass sie nicht bemerkte, wie er hinter sie trat.

»Auf einen schönen Abend!«, raunte er dicht an ihrem Ohr, und um ein Haar wäre Marianne in Ohnmacht gefallen.

Langsam drehte sie sich wieder zu ihm um und lächelte ihn an.

»Den habe ich schon jetzt.« Ihre Stimme war ein wenig heiser, und als Mario sie ansah, rann ihm ein Schauer über den Rücken. Daran waren ihre dunkelgrauen Katzenaugen nicht unschuldig, die unter den widerspenstigen Locken hervorblitzten. Ihre Blicke verfingen sich ineinander, und bevor Mario auf dumme Gedanken kommen konnte, drehte sich Marianne wieder zu den Bildern um und deutete auf das eine Foto. »Darf ich fragen, wer diese wunderschöne Frau neben dir ist?« Ihr Misstrauen war nicht ungerechtfertigt. Dr. Mario Cornelius war der begehrteste Junggeselle der Behnisch-Klinik, und besonders eine junge Lernschwester hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn zu erobern. Das war auch Marianne zu Ohren gekommen, und sie wunderte sich, dass der Arzt ihr den Vorzug vor der bildhübschen Carina gab.

»Oh, die … ja, da hast du recht. Die ist sehr gefährlich«, erahnte Mario unterdessen Mariannes Gedanken. »Wegen ihr hab ich schon oft Ärger bekommen.«

»Ach, wirklich?« Argwöhnisch zog Marianne eine Augenbraue hoch.

»Allerdings!« Nur mit Mühe gelang es Mario, ein belustigtes Lächeln zu unterdrücken. »Wegen ihr und ihren Geschwistern. Ich habe nämlich das Talent, immer im falschen Augenblick bei meiner Schwester Felicitas aufzutauchen und Pizza oder Eis mitzubringen und das meist dann, wenn meine Nichten und Neffen gerade Ärger mit ihren Eltern haben.«

Es dauerte einen Moment, bis Marianne begriff.

»Du meinst, dieses bildhübsche Mädchen ist deine Nichte?«, fragte sie überrascht.

»Wieso? Sieht sie mir nicht ähnlich?«, mimte Mario Entsetzen.

In diesem Moment löste sich Mariannes Anspannung in Luft auf und sie musste lachen.

»Das werde ich dir nicht verraten«, erwiderte sie schelmisch. »Am Ende wirst du noch eingebildet!« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu, ehe die Eiswürfel im Glas ganz schmelzen konnten.

»Schade. Dabei mag ich Komplimente von schönen Frauen am allerliebsten«, gab Mario zurück und reichte Marianne den Arm, um sie endlich an den Tisch zu führen. »Aber jetzt muss ich unbedingt dafür sorgen, dass du mir nicht verhungerst. Meine Mühe soll ja nicht umsonst gewesen sein.«

Wieder lachte Marianne belustigt auf und ließ sich das leckere Ofengemüse mit Kartoffelgratin servieren, das der Kinderarzt allein für sie gezaubert hatte.

»Du scheinst ein wahrer Traummann zu sein«, seufzte sie, als sie sich endlich pappsatt zurücklehnte. »Nicht nur, dass du gut aussiehst, intelligent und charmant bist. Du hast auch noch einen hervorragenden Geschmack und kannst obendrein kochen. Was will eine Frau mehr?« Auch auf die Gefahr hin, dass ihm die Komplimente zu Kopf stiegen, kam sie nicht umhin, die Wahrheit zu sagen. Diesmal lachte Marianne aber nicht. Ganz im Gegenteil wurden ihre Augen schmal und ihre Miene nachdenklich. »Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, aber ich würde doch gern eine Sache klären, ehe ich mich darauf einlasse, dich näher kennenzulernen«, ging sie auf’s Ganze.

Marios Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Obwohl er sich seiner Qualitäten bewusst war, war er nicht im Geringsten eingebildet. Das lag auch daran, dass er inzwischen zu spüren bekommen hatte, wie schwer es war, eine passende Partnerin zu finden.

»Was willst du wissen?«, fragte er heiser.

Marinna schluckte an dem Kloß in ihrem Hals und verlegen drehte sie das Glas in ihren Händen.

»Warum ich?«, stellte sie die Frage, die ihr am meisten auf der Seele brannte. »Ich meine, ich bin zehn Jahre älter als du, habe einen fast erwachsenen Sohn und denke nicht im Traum daran, nochmal eine Familie zu gründen«, zählte sie die harten Fakten auf. »Du könntest andere Frauen haben, deren Lebensumstände besser zu dir passen. Bestimmt bist du jetzt in einer Phase deines Lebens, in der du davon träumst, deine Gene weiterzugeben, Kinder zu haben, sie großzuziehen.« Sie hielt inne und trank einen Schluck. Vor Aufregung war ihre Kehle ganz trocken. Trotzdem ließ sie ihn nicht aus den Augen. »Ich habe von Schwester Carina gehört…«

An dieser Stelle hob Mario schlagartig abwehrend die Hände und verdrehte die Augen gen Himmel. Hatte denn wirklich jeder von dieser unglückseligen Angelegenheit erfahren?

»Carina ist viel zu jung und hat keine Ahnung, was sie will«, erklärte er offen. »Ich gebe zu, dass wir eine Weile miteinander geflirtet haben. Aber es kam nie zu einem privaten Treffen, zuletzt nicht deswegen, weil sie aus lauter Unsicherheit ihre Spielchen mit mir gespielt hat.« Wieder dachte er an den Korb, den ihm die Lernschwester ohne Grund kurz vor einem Date gegeben hatte. Inzwischen ärgerte er sich nicht mehr darüber, verstand aber auch nicht die hartnäckigen Annäherungsversuche, die sie seither unternahm.

Mario beugte sich vor und nahm Mariannes Hände in die seinen.

»Ich habe einen anstrengenden Beruf und viel Verantwortung. Dazu brauche ich eine reife Frau, die weiß, was sie will. Eine, bei der ich nicht ständig Angst haben muss, dass sie mich wieder verlässt, weil sie gerade keine Lust auf mich hat. Eine, die hinter mir steht, auch wenn ich in den schönsten Momenten zu einem Notfall gerufen werden«, sprach er eindringlich auf Marianne ein. Er suchte und fand ihren Blick und hielt ihn fest. »Du bist stark, intelligent und unabhängig, hast ein Kind großgezogen und einen Beruf, mit dem du dich ernähren kannst. Du hast Lebenserfahrung und bist klug und selbstsicher. Und wunderschön obendrein. Eine Traumfrau wie aus dem Bilderbuch. Meine Traumfrau!«

Marianne hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser offensichtlichen Liebeserklärung. Überwältigt von den widersprüchlichsten Gefühlen suchte sie verzweifelt nach den richtigen Worten.

»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll«, stammelte sie endlich so hilflos, dass Marios Herz noch weiter wurde.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, zeigte sie ihm ihre weiche, verletzliche Seite, ohne die auch ihre starke Seite nichts wert gewesen wäre.

»Du musst nichts sagen. Wenn du es dir zutraust, es mit mir zu versuchen, könntest du mich auch einfach küssen«, bot er heiser an und zog sie an den Händen zu sich.

»Nur, wenn du die Verantwortung übernimmst«, hauchte sie überwältigt.

»Nichts lieber als das!«, gab Mario zurück und ließ seinen Worten Taten folgen, die Marianne nicht mehr so schnell vergessen sollte.

*

Es war tief in der Nacht, und Jenny Behnisch wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Stuhl am Bett ihrer Cousine saß und den Geräuschen der Geräte und Maschinen lauschte, die Nicole mit all dem versorgten, was sie im Augenblick brauchte. Lange hatte die Klinikchefin ihren Gedanken nachgehangen. Sie war tief hinabgetaucht in die Vergangenheit, die sie jahrelang erfolgreich verdrängt hatte. Doch Nicoles Anblick hatte genügt, um alles wieder ans Tageslicht zu holen, und Jenny dachte darüber nach, bis sie den Schmerz nicht mehr ertrug. Leise seufzend kehrte sie in die Gegenwart zurück und stand auf. Sie reckte und streckte sich, ehe sie den Weg zur Tür antrat. Doch eine krächzende Stimme in ihrem Rücken ließ sie innehalten.

»Ja, hau nur ab!«

Erschrocken fuhr Jenny herum. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Cousine wach war.

»Nicole!«

»Sieh mal einer an! Du erinnerst dich also noch an meinen Namen.« Nicole lachte krächzend. Doch es klang nicht froh. Ganz im Gegenteil. »Warum hast du mich operiert? Das lass ich mir nicht gefallen.«

Inzwischen hatte sich die Klinikchefin halbwegs von ihrem Schrecken erholt.

»Du warst schon immer stur. Daran scheint sich in all den Jahren nichts geändert zu haben«, erwiderte Jenny und kehrte schweren Herzens ans Bett ihrer Cousine zurück. Im schwachen Schein des Nachtlichts konnte sie ihre blassen Züge erkennen. »Außerdem hatte ich das Recht, dich zu behandeln. Immerhin gehöre ich zur Familie. Ob dir und mir das passt oder nicht.« Ihre Stimme war ruhig und besonnen. Und doch schwang ein Unterton mit, der Jennys Gefühle verriet.

Ein hämisches Grinsen verzog Nicole Zieglers Gesicht.

»Und du hast dich schon immer gut gefühlt, wenn du über andere bestimmen konntest«, beschuldigte sie ihre Cousine erbarmungslos. »Das, was andere wollen, hat dich nie interessiert. Und tut es offenbar immer noch nicht.«

Für diesen Kommentar hatte Jenny nur ein unwilliges Schnauben übrig.

»Das sagt genau die Richtige.« Sie stand an Nicoles Bett und blickte fassungslos auf ihre Cousine hinab. »Wer hat mir denn damals den Mann ohne Rücksicht auf Verluste ausgespannt?« Jenny verachtete sich dafür, dass ihre Stimme bebte. Und auch dafür, dass ihre Neugier siegte. »Seid … seid ihr immer noch zusammen?«

»Warum willst du das wissen?«, machte Nicole ihrem Unglauben lautstark Luft. »In Wahrheit interessiert dich das doch gar nicht. Sonst hättest du auf meine E-Mails und Telefonanrufe geantwortet«, sagte sie Jenny auf den Kopf zu.

Im Laufe der Jahre hatte die Klinikchefin viele Erfahrungen gesammelt. Es gab kaum etwas, was sie noch aus der Ruhe bringen konnte. Doch ausgerechnet Nicole schaffte das schier Unmögliche. Zitternd vor Wut stand Jenny am Bett. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und starrte auf ihre Cousine hinunter.

»Willst du wissen, warum ich nicht geantwortet habe?«, fragte sie schließlich. »Weil ich wusste, dass du dich nicht geändert hast. Weil es sinnlos ist, mit dir zu reden. Damals wie heute. Das hast du mir gerade mehr als deutlich gezeigt.« Mit diesen bitteren Worten machte Jenny auf dem Absatz kehrt, um das Zimmer endgültig zu verlassen.

Nicole lag im Bett und sah ihrer Cousine nach. Diesmal machte sie keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Sie wusste, dass es ein Wiedersehen geben würde, ob sie selbst das wollte oder nicht. Diesmal hatte das Schicksal für sie beide entschieden.

*

»Kann es sein, dass du manchmal ein bisschen zu frech zu deiner Chefin bist?«, erkundigte sich Fee Norden, als sie am nächsten Morgen neben ihrem Zweitältesten im Wagen saß und wie inzwischen jeden Morgen gemeinsam mit ihm in die Klinik fuhr. »Es könnte ja sein, dass Silvie Riemerschmidt deshalb so erbarmungslos ist, weil sie ein völlig falsches Bild von dir hat.« Als verantwortungsbewusster Mutter ließ sie das Verhältnis der Ergotherapeutin zu ihrem Sohn natürlich nicht kalt, und Felicitas dachte darüber nach, was in diesem Fall zu tun war.

Doch Felix schien die Sache wesentlich weniger zu beschäftigen, als sie gedacht hatte.

»Wie kommst du darauf?«, fragte er und grinste unbekümmert wie immer, während er in eines der Croissants biss, die seine Mutter noch schnell in der Bäckerei Bärwald gekauft hatte. Über Nacht hatte sich seine schlechte Laune in Luft aufgelöst und er strahlte wieder wie eh und je in die Welt. »Ich bin nicht frech. Höchstens verbal überlegen, aber dafür kann ich ja nichts. Das ist deine und Dads Schuld.«

»O je«, seufzte Fee und verdrehte die Augen. »Allmählich wundert mich gar nichts mehr.« Sie setzte den Blinker und fuhr wenig später auf den Mitarbeiter-Parkplatz der Behnisch-Klinik. »Bist du heute Abend zum Abendessen daheim?«, fragte sie noch, ehe sich ihre Wege trennten.

»Susa und ich gehen in die Therme«, verneinte Felix und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Wir beide werden erst morgen früh wieder das Vergnügen miteinander haben. Aber ich freu mich jetzt schon auf dich.« Er schenkte Fee einen letzten strahlenden Blick und machte sich dann auf den Weg in die Neurologie, an die die Ergotherapie angeschlossen war.

Kopfschüttelnd sah Felicitas ihrem unbekümmerten Sohn nach, ehe sie von einer bekannten Stimme aus ihren Betrachtungen gerissen wurde.

»Frau Dr. Norden, Sie sind ja auch schon da!«, rief Lernschwester Carina über den Parkplatz und verfiel in Laufschritt, nachdem sie Mario Cornelius‘ Schwester entdeckt hatte. »Da können wir ja zusammen auf die Station gehen.«

Felicitas wusste, woher das Interesse der jungen Krankenschwester rührte. Doch es gab keinen Grund, nicht mit der sympathischen Carina zu gehen, auch wenn es keine Hoffnung mehr auf ein Happyend zwischen ihr und Mario gab.

»Pünktlich wie die Eisenbahn«, lobte Fee, als Carina sie erreicht hatte und atemlos nach Luft schnappte.

»Ob das heute noch ein Kompliment ist, sei mal dahingestellt«, lachte die Lernschwester.

Doch ihr Lachen erreichte ihre grünen Augen nicht. Fee ahnte, warum das so war. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass Mario Cornelius und die schöne Konditorin Marianne Hasselt Gefallen aneinander gefunden hatten. Auf dem Weg in die Pädiatrie hütete sich Felicitas Norden davor, dieses Thema gegenüber Carina anzuschneiden.

»Da haben Sie auch wieder recht«, gab sie ihr lächelnd recht und sah auf die Uhr. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir rechtzeitig zum Schichtwechsel da sein wollen.«

»Ach, Mario ist nicht so streng«, war es Carina selbst, die die Sprache auf das Objekt ihrer Begierde brachte. Allmählich verfinsterte sich ihre Miene. »Zumindest nicht in letzter Zeit. Das wird wohl an dieser Bäckerei-Verkäuferin liegen«, bemerkte sie herablassend.

»Jeder Beruf verdient Anerkennung. Ob Verkäuferin, Krankenschwester oder Mathematikerin«, kam Felicitas nicht umhin, die junge Frau zurechtzuweisen. »Mal abgesehen davon, dass Marianne keine Verkäuferin, sondern Konditorin mit einer meisterlichen Begabung ist.«

»Puh, ist ja schon gut«, stöhnte Carina auf, wohlwissend, dass sie die Sache falsch angepackt hatte. Wenn sie die kluge Ärztin auf ihre Seite ziehen wollte, musste sie andere Mittel verwenden. »Aber finden Sie nicht auch, dass diese Frau viel zu alt für Dr. Cornelius ist?«

Nicht genug damit, dass auch diesmal die erhoffte Reaktion ausblieb, blieb Felicitas Norden mitten auf dem Flur stehen und sah die junge Lernschwester so ernst an, dass der das Herz in die Kniekehlen rutschte.

»Meine liebe Carina!« Fees Ton ließ keine Missverständnisse zu. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten Sie Ihre Chance bei meinem Bruder und waren nicht in der Lage, sie wahrzunehmen«, erklärte sie scharf. »Wenn Sie darüber enttäuscht sind, ist das eine Sache. Eine andere ist es, Ihre Enttäuschung an anderen Menschen auszulassen. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg«, ließ sie keinen Zweifel an ihrer Meinung, und mit jedem Wort wurde die junge Lernschwester kleiner. »Glücklicherweise leben wir in einer Zeit, in der jeder Mensch frei in seinen Entscheidungen ist und lieben kann, wen er für richtig hält. Das ist eine große Errungenschaft, die man nicht genug schätzen kann, finden Sie nicht?« Fee schickte Carina einen eindringlichen Blick.

Die junge Schwester konnte nicht anders, als ihn zu erwidern und beschämt zu nicken.

»So war das nicht gemeint. Tut mir leid«, entschuldigte sie sich zerknirscht.

»Schon gut.« Fee hätte noch viel dazu sagen können, verzichtete aber darauf. Inzwischen hatte sie ihre Pläne geändert. »Ich muss noch schnell bei der Chefin vorbeischauen. Sagen Sie Mario bitte Bescheid, dass ich ein paar Minuten später komme?«

»Klar!«, stimmte Carina zu und machte sich nach einem kurzen Gruß auf den Weg in die Pädiatrie.

Wenn Felicitas aber gedacht hatte, die junge Lernschwester ein für alle Mal in ihre Schranken verwiesen zu haben, so täuschte sie sich gewaltig. So leicht wich Carina nicht von einem einmal gefassten Entschluss ab und nahm sich vor, ihren Joker Janni Norden auszuspielen. Der jüngste Sohn der Familie Norden schuldete ihr einen Gefallen, den sie jetzt einlösen würde. Und sie hatte auch schon eine Idee, was er für sie tun sollte.

*

Von all diesen Gedanken ahnte Felicitas Norden nichts, als sie ein paar Minuten später in Jenny Behnischs Vorzimmer trat.

»Guten Morgen, Andrea!«, begrüßte sie die Assistentin der Klinikchefin, die gerade Kaffee aus einer Glaskanne in eine Thermoskanne umfüllte.

»Den wünsche ich Ihnen auch«, gab Andrea Sander nicht halb so munter wie sonst zurück und stellte die Kanne zurück in die Maschine. »Eine Tasse Kaffee, bevor Sie sich in die Höhle des Löwen wagen? Ganz frisch.«

»Nein, danke«, lehnte Fee ab. »Aber wenn Sie wollen, übernehme ich gern den Service für Sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie nach dem Tablett, das die aufmerksame Assistentin bereits vorbereitet hatte.

Zucker und Milch fehlten ebenso wenig wie frisches Gebäck aus der Bäckerei Bärwald, die inzwischen für die Backwaren in der Chefetage der Klinik zuständig war.

»Aber das müssen Sie nicht!«, rief Andrea ihr leise nach. »Die Chefin hat heute wirklich ausnehmend miserable Laune.«

»Vielleicht hab ich was, was sie aufmuntern kann«, bemerkte Fee hoffnungsvoll und trat auf Jennys Tür zu.

»Ich wünsche einen wunderschönen guten Mor …« Mitten im Satz hielt sie inne.

Das Wort war ihr im Hals steckengeblieben, als sie ihre langjährige Freundin und Kollegin sah. Jennys Anblick übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.

In sich zusammen gesunken saß die sonst so dynamische Klinikchefin am Tisch. Sie war ungewöhnlich blass, und ihre Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Durch die streng zurückgekämmten Haare wirkte ihr Gesicht spitz, als sie den Kopf hob und Felicitas ansah.

»Freut mich, wenn der Morgen für dich schön ist«, begrüßte sie die Freundin düster und lehnte sich zurück.

Sofort musste Fee an Romans Besuch vom vergangenen Abend denken, und ihr wurde kalt und heiß zugleich. Hatte er seine Drohung schneller als angenommen wahr gemacht?

»Stimmt was nicht?«, fragte sie scheinheilig und stellte das Tablett auf den niedrigen Tisch in der Besucherecke.

Während sie zwei Tassen Kaffee einschenkte, war sie bedacht darauf, das leise Zittern ihrer Hände vor der Freundin zu verbergen.

Jenny antwortete nicht sofort. Sie seufzte, dann gab sie sich einen Ruck und stand auf, um sich zu Fee zu gesellen.

»Im Augenblick scheint das Schicksal nicht auf meiner Seite zu sein.« Einen Moment überlegte sie, ob sie Fee von der Begegnung mit ihrer Cousine Nicole Ziegler erzählen sollte. Da sie aber mit Kritik rechnen musste, verzichtete sie lieber darauf, Fee in ihre Familiengeheimnisse einzuweihen. »Ich war doch gestern mit Roman zum Essen verabredet«, erzählte sie lieber von ihren Beziehungsproblemen. »Dummerweise kam es, wie es kommen musste, und ein Notfall rief mich in die Klinik. Als ich irgendwann nachts nach Hause kam, war ein Anruf auf dem Anrufbeantworter. Roman stellt mir ein Ultimatum. Kannst du dir das vorstellen?«, schützte Jenny Empörung vor.

Um Zeit zu gewinnen, mischte Fee ihren Kaffee mit Milch und Zucker und rührte sorgfältig um. Dabei überlegte sie, ob sie der Freundin vom Besuch ihres Lebensgefährten berichten sollten.

»Wenn ich sehe, wie viel du arbeitest und wie wenig Zeit ihr miteinander verbringt, kann ich ihn eigentlich ganz gut verstehen«, entschied auch sie, ihr Geheimnis für sich zu behalten. »Mal abgesehen davon, dass du wirklich alles andere als gut aussiehst und eine Auszeit brauchen könntest.«

Eine düsterte Wolke verfinsterte die Miene der Klinikchefin. Sie wusste, dass Fee recht hatte. Und doch konnte sie ihr eigenes Versagen nicht eingestehen.

»Ehrlich gesagt hatte ich mir von dir mehr Verständnis erwartet«, flüchtete sich Jenny lieber in einen Vorwurf. »Wenn jemand weiß, wie anstrengend unser Beruf ist, dann bist doch du das. Immerhin hast du jahrelang unter Daniels häufiger Abwesenheit und ständiger Abrufbarkeit gelitten. Wieso fällst du mir jetzt in den Rücken? Hast du eure schweren Zeiten schon vergessen?«, fauchte sie so schroff, wie Felicitas sie selten erlebt hatte.

Doch die kluge Ärztin machte nicht umsonst eine Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sofort ahnte sie, dass mehr hinter Jennys Ärger stecken musste, als sie zugeben wollte.

»Nein, das habe ich nicht vergessen«, erwiderte sie überraschend sanft und wunderte sich selbst über die Ruhe, die sie plötzlich fühlte. »Aber Daniel und ich haben nie unsere Ehe, unsere Liebe aus den Augen verloren. Selbst in den turbulentesten Zeiten haben wir uns darum bemüht, wenigstens ein paar intensive Stunden zusammen zu verbringen. Einen Tag zu zweit in den Bergen, ein Wochenende in einem schönen Hotel, weitab von Arbeit und Stress.« Felicitas setzte ein Lächeln auf und griff in die Tasche, um den Hotelgutschein hervor zu holen. »Vielleicht solltet ihr mal dasselbe …«

»Soll ich mich jetzt auch noch an den Computer setzen und ein Hotel suchen?«, fuhr Jenny Behnisch ärgerlich dazwischen.

Lächelnd schüttelte Fee den Kopf.

»Die Hotelfrage ist bereits geklärt!« Sie war stolz auf sich, dass sie so ruhig blieb.

Mit einer federleichten Bewegung legte sie den Gutschein auf den Tisch zwischen sich und Jenny.

Argwöhnisch, als handle es sich um eine Briefbombe, betrachtete die Klinikchefin den Umschlag.

»Was ist das?«

»Ein Hotelgutschein«, erwiderte die Ärztin bereitwillig. »Daniel hat ihn von einer Patientin bekommen. Wir selbst haben im Augenblick keine Verwendung dafür und dachten uns, diese Gelegenheit könntest du mit Roman wahrnehmen.«

Tiefes Schweigen erfüllte das Büro der Klinikchefin, während sie über dieses Angebot nachdachte. Auf Andrea Sanders Schreibtisch klingelte das Telefon, Schritte eilten auf dem Flur vorbei. Sonst war nichts zu hören.

»Vielleicht ist das wirklich keine schlechte Idee«, rang sich Jenny schließlich zu einer Antwort durch.

Erfreut bemerkte Fee das feine Lächeln, das dabei um den Mund der Freundin spielte.

»Das heißt, ihr fahrt? Schon dieses Wochenende?«

»Hoppla, du hast es aber ganz schön eilig, mich aus der Klinik abzuziehen«, lachte Jenny belustigt auf und wirkte zum ersten Mal an diesem Tag etwas weniger gestresst und angespannt. »Spielst du etwa mit dem Gedanken einer feindlichen Übernahme?«

»Gott bewahre!« Jetzt lachte auch Fee. »Mir reicht eine Praxis. Zusätzlich auch noch eine Klinik … Das halten Dan und ich dann doch nicht aus.« Sie sah, dass Jenny Behnisch Anstalten machte aufzustehen und erhob sich ebenfalls.

Spontan umarmte Jenny ihre Freundin.

»Es tut mir leid, dass ich vorhin so unfreundlich war. Aber im Augenblick wächst mir mal wieder alles über den Kopf. Manchmal frage ich mich, wie ich all dem hier gerecht werden soll«, murmelte sie zerknirscht. »Manchmal denke ich, ich sollte mich nur auf die Klinik konzentrieren und diese ganzen zwischenmenschlichen Beziehungen ad acta legen. Die machen mein Leben nur noch komplizierter, als es ohnehin schon ist.«

Als Fee das hörte, schüttelte sie entschieden den Kopf.

»Das ist genau der falsche Weg!«, erwiderte sie voller Überzeugung. »Roman hat dich zu einem anderen Menschen gemacht. Seit du mit ihm zusammen bist, bist du weicher, emotionaler, vielleicht sogar empathischer«, erklärte sie, auch auf die Gefahr hin, sich erneut in die Nesseln zu setzen. »Du solltest seine Wichtigkeit für dich und dein Leben nicht unterschätzen.« Sie schob Jenny ein Stück von sich und nickte ihr aufmunternd zu.

Dann wurde es Zeit, sich zu verabschieden, und Fee machte sich endlich auf den Weg in die Pädiatrie, wo sie bereits sehnsüchtig von Mario erwartet wurde. Er wollte seiner Schwester unbedingt von seinem vielversprechenden Abend mit Marianne Hasselt erzählen.

Inzwischen zog Jenny den Hotelgutschein aus dem Umschlag und las ihn aufmerksam durch. Ein Hotelaufenthalt war die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Roman zu besänftigen, war die eine, ihrer Cousine Nicole aus dem Weg zu gehen, eine andere.

»Eigentlich ist der Tag doch nicht so schrecklich, wie er begonnen hat«, murmelte Jenny erleichtert vor sich hin und bat endlich ihre Assistentin ins Zimmer, um mit ihr die anstehenden Termine zu besprechen.

*

»Du suchst einen Namen für dein Café?«, hakte Felix Norden nach und nahm sich noch einen Löffel von dem Pichelsteiner Eintopf, den Lenni an diesem Freitagabend serviert hatte. Danach griff er in den Korb, um eine Scheibe von dem saftigen Bauernbrot zu nehmen, das Tatjana aus der Bäckerei mitgebracht hatte. »Was hältst du von ›Zum Fresssack‹? Oder ›Wilde Gelüste‹ finde ich auch nicht schlecht.«

Einen Moment lang schien Tatjana nicht zu wissen, ob sie lachen oder weinen sollte. Dann prustete sie los.

»Ich fürchte, du verwechselst da was«, klärte sie Felix endlich immer noch kichernd auf und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Es handelt sich hier um eine seriöse Bäckerei mit angeschlossenem Café und nicht um einen Sexshop. Deshalb scheidet leider auch ›Brot und Spiele‹ aus«, wandte sie sich an Dési, die diesen Vorschlag zuvor gemacht hatte und nun unbekümmert mit den Schultern zuckte.

»Und was ist mit ›Breakfast Club‹?«, machte auch Janni einen Vorschlag. »Das fände ich total cool.«

Während Tatjana über diese Idee nachdachte, schob sie einen Löffel Gemüseeintopf in den Mund. Felix und sie waren die einzigen, die es sich noch schmecken ließen. Um noch Platz zu lassen für Lennis köstliche Nachspeise hatten alle anderen bereits die Segel gestrichen.

»Ich weiß nicht«, lehnte sie schließlich auch diesen Vorschlag ab. »Erstens gibt es sicher Kunden, die kein Englisch sprechen, und die möchte ich nicht ausgrenzen«, begründete sie ihre Entscheidung. »Und zweitens gibt es bei uns ja auch nachmittags noch leckere Sachen und nicht nur zum Frühstück.«

»Klingt logisch«, gab Anneka der Freundin ihres Bruders recht, die ihr inzwischen fast zu einer älteren Schwester geworden war. »Hmmm, was könnte denn noch gehen?«

So ging das fröhliche Rätselraten weiter, an dem sich alle Familienmitglieder eifrig beteiligten. Alle, bis auf einen.

»Was ist denn mit dir los, Danny?«, erkundigte sich Fee schließlich bei ihrem ältesten Sohn, der nachdenklich am Tisch saß und mit den Gedanken weit fort schien.

»Nichts, alles in bester Ordnung«, wich der junge Arzt aus.

Aber seiner Mutter konnte er nichts vormachen.

»Schon klar. Deshalb bist du auch so lustig und unbeschwert heute und glänzt durch einfallsreiche Namensvorschläge«, scherzte sie, um ihn ein bisschen aufzumuntern.

Tatsächlich huschte ein belustigtes Lächeln über Dannys Gesicht. Doch das mochte auch daran liegen, dass Lenni mit der Nachspeise – heiße Äpfel mit Streusel und Vanilleeis – hereingekommen war.

»Ich warte nur, bis ihr euch alle verausgabt habt«, prophezeite er, ehe er wieder ernst wurde. »Aber Spaß beiseite. Ich habe gerade über Jennys Cousine nachgedacht und über ihre Verletzungen«, gab er bereitwillig Auskunft. »Die Operation ist zwar gut gegangen. Aber als ich Frau Ziegler heute besucht habe, hat sie keinen so guten Eindruck gemacht.«

Fee, die sich inzwischen eine Portion vom nach Zimt und Zucker duftenden Nachtisch hatte reichen lassen, blickte verwundert auf.

»Wie bitte? Jennys Cousine?«, fragte sie und sah Daniel verwundert an. »Wusstest du, dass sie Cousinen und Cousins hat?«

»Nein. Davon höre ich zum ersten Mal«, wunderte sich auch Daniel und wandte sich mit fragendem Blick an Danny.

»Tatjana und ich haben doch gestern Abend einen Unfall beobachtet und die Frau in die Klinik bringen lassen«, klärte der junge Mann seine Familie auf.

»Und diese Frau soll ausgerechnet Jennys Cousine sein?«, fragte Felicitas, die unwillkürlich an ihre morgendliche Begegnung mit der Klinikchefin denken musste. »Seltsam, dass sie nichts davon erzählt hat.«

»Vielleicht ist sie zu sehr mit ihren Problemen wegen Roman beschäftigt«, gab Daniel zu bedenken und leckte genüsslich einen Klecks Vanilleeis von seinem Löffel.

»Schon möglich«, räumte Fee wenig überzeugt ein und wandte sich wieder an ihren Sohn. »Von wem hast du erfahren, wer die Frau ist?«

»Von Schwester Elena. Sie war mit im OP«, gab Danny gern Auskunft. »Übrigens wollte Nicole Ziegler auf keinen Fall in der Behnisch-Klinik behandelt werden. Trotz ihrer schweren Verletzungen hat sie immer wieder verlangt, woandershin gebracht zu werden. Ist das nicht komisch?«, stellte er eine berechtigte Frage und steckte einen Löffel Streuseläpfel in den Mund. Gleich darauf wurden seine Augen rund wie Untertassen. »Oh …hilfe …heiß!«, keuchte er und schnell schob ihm Tatjana eine halbe Kugel Vanilleeis hinterher.

»Das kommt davon, weil du immer so ungeduldig bist«, schalt sie ihren Freund gut gelaunt, während sich Dannys Miene sichtlich entspannte. »Was glaubst du, warum Lenni Eis dazu serviert?«

»Weil’s gut schmeckt!«, mischte sich Felix frech grinsend ein und nahm sich noch eine Portion.

Unterdessen hatte sich Daniel Norden seine eigenen Gedanken zu Jennys seltsamem Benehmen gemacht, das er so gar nicht an ihr kannte.

»Hast du Jenny heute den Hotelgutschein gegeben?«, erkundigte er sich bei seiner Frau.

»Hab ich. Anfangs schien sie nicht so begeistert. Aber je länger sie darüber nachgedacht hat, umso zufriedener wirkte sie«, berichtete Fee von ihrem Gespräch mit der sichtlich angeschlagenen Freundin. »Ich denke, dass sie unsere Einladung annehmen wird.«

»Das ist eine gute Nachricht.« Daniel nickte zufrieden. »Wahrscheinlich ist sie im Augenblick einfach hoffnungslos überfordert. Das Auftauchen ihrer Cousine hat möglicherweise dazu beigetragen. Wenn sie mal ein bisschen Abstand von der Klinik hat, sieht sie bestimmt klarer und wird uns erzählen, was es mit dieser Sache auf sich hat.«

»Ein Hotelaufenthalt? Na, das sind ja schönen Aussichten!«, bemerkte Danny beiläufig, als Tatjana ihn aufgeregt am Arm packte.

»Das ist es!«, rief sie und strahlte ihn aus ihren dunkelblauen Augen begeistert an. »Mein Café soll ›Schöne Aussichten‹ heißen!«

Die ganze Familie Norden saß am Tisch und tauschte verblüffte Blicke über diesen schlichten und doch vielversprechenden Namen.

»Schöne Aussichten … Das klingt tatsächlich nach mehr!« Es war Daniel Norden, der diese Idee als Erster lobte.

»Das kann ja auch vieles sein«, lachte Tatjana, und ihre Gedanken überschlugen sich. »Der Ausblick in die Vitrinen voll leckerer Kuchen, Torten und Backwaren.«

»Das Warten auf den Genuss ist auch eine schöne Aussicht«, ergänzte Fee.

»Ich finde den Ausblick auf den Englischen Garten auch nicht schlecht«, erinnerte Felix grinsend an den berühmten Park, der unweit der Bäckerei Bärwald lag. »Besonders im Sommer, wenn die Mädels kurze Röcke anhaben.«

»Schöne Aussichten im wahrsten Sinne des Wortes«, lachte auch Noah, Annekas Freund, belustigt auf und musste sich einen gestrengen Blick seiner Freundin gefallen lassen.

Unterdessen sonnte sich Danny in seinem Erfolg.

»Hab ich’s nicht gesagt, dass ich warte, bis euch die Ideen ausgehen?«, fragte er und lachte zufrieden in die Runde, als sich Tatjana zu ihm hinüber beugte und ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange gab, um ihm für die Inspiration zu danken, die er nicht nur in Namensangelegenheiten für sie war.

*

»Gartenhotel Alpenblick!« Jenny Behnischs Stimme vibrierte vor Begeisterung. Sie stand auf dem Balkon des Hotelzimmers und betrachtete den traumhaft schön angelegten, parkähnlichen Garten, der sich zu ihren Füßen ausbreitete. Obwohl der Herbst längst Einzug gehalten hatte, leuchteten farbenfrohe Blüten in den akkurat angelegten Beeten. Dazwischen schmiegten sich kurzgeschorene Rasenflächen. Das Wasser des rechteckig eingefassten Naturschwimmbeckens lag still da, und die Gräser, die am Rand wogten, spiegelten sich auf der glatten, dunklen Oberfläche. »Die Bezeichnung ›Garten‹ ist ja wohl eine glatte Untertreibung.«

»Und das alles vor diesem Panorama.« Versöhnt mit seinem Schicksal stand Roman hinter seiner Lebensgefährtin. Er hatte die Arme um Jennys Schultern gelegt und betrachtete über ihren Kopf hinweg das spektakuläre Panorama der Zillertaler Alpen. »Kaum zu glauben, dass wir nur knapp eineinhalb Stunden von zu Hause entfernt sind.«

»Und doch weit genug weg, um zu einem Notfall in die Klinik zu fahren«, erwiderte Jenny und drehte sich zu ihrem Lebensgefährten um. Ein lange vermisster, zärtlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht und ließ ihre Züge weicher, weiblicher wirken, während sie ihn innig musterte. »Es tut mir leid, dass ich dich in letzter Zeit vernachlässigt habe. Und natürlich ist mir bewusst, wie schwer es für einen Nicht-Mediziner sein muss, mein Leben zu verstehen. Aber ich will in Zukunft alles dafür tun, damit wir mehr Zeit füreinander haben. Du sollst spüren, wie wichtig du mir bist.« Diese Entschuldigung fiel der Klinikchefin alles andere als leicht.

Das wusste Roman und honorierte ihre Einsicht mit einem liebevollen Lächeln.

»Du musst gar nicht alles dafür tun. Ein bisschen hin und wieder würde mir vollkommen genügen«, raunte er ihr zu, als er sich zu ihr hinab beugte, um sie innig zu küssen.

»Seit wann bist du so bescheiden?«, erkundigte sich Jenny und lachte leise an seinen Lippen.

Hingerissen von ihrem Charme und ihrem völlig veränderten Wesen fernab der Klinik fühlte sich Roman wie auf Wolke sieben. Hand in Hand verließen sie das Hotelzimmer, um das geschmackvoll eingerichtete Haus zu erkunden.

»Dieser Stilmix gefällt mir ausnehmend gut«, stellte Jenny fest, als sie das Restaurant betraten, in dem das Abendessen serviert wurde.

Ein altmodischer Kronleuchter und orientalische Teppiche nahmen den schnörkellosen Tischen und Stühlen im kubistischen Stil die Strenge. Das Ambiente fand sogar Gnade vor den kritischen Augen des Architekten.

»Trotzdem wirkt alles wie aus einem Guss«, lobte er anerkennend. »Das hier ist wirklich ein Ort, an dem man sich wohlfühlen kann.«

»Vor allen Dingen mit einem Mann wie dir!« Zufrieden hatte Jenny die neugierigen Blicke der weiblichen Gäste bemerkt, die Roman folgten.

»Für meine Ausstrahlung bist einzig und allein du zuständig«, raunte er seiner Lebensgefährtin zu, als ein aufmerksamer Ober herbei eilte.

Er brachte das Paar an seinen Tisch und fragte nach seinen Wünschen.

»Ich finde, ein Glas Champagner ist dem Anlass durchaus angemessen«, schlug Roman vor und erntete Jennys Zustimmung.

»Wenn ich gewusst hätte, wie gut sich so ein Kurzurlaub anfühlt, hätte ich diesen Vorschlag schon eher gemacht«, gestand sie, als sie wieder allein waren.

»Lieber spät als nie!«, gab Roman verliebt zurück und wollte nach Jennys Händen greifen, als es wieder geschah. »Dein Telefon!«, seufzte er, als er das verräterische Klingeln aus ihrer Handtasche hörte.

Vor Verlegenheit schoss Jenny das Blut in die Wangen.

»Ich wollte es noch ausschalten. Aber dann bist du in diesem sagenhaften Anzug aufgetaucht, und plötzlich hatte ich alles andere im Sinn nur nicht das Handy«, lächelte sie unschuldig.

Roman erwiderte ihr Lächeln und nahm ihre Hände.

»Ich würde ja gern wissen, an was genau du gedacht hast«, sagte er leise. »Erzählst du es mir, wenn du telefoniert hast?«

»Oh, ich hab nicht vor ranzugehen«, beeilte sich Jenny zu versichern.

Zu gut erinnerte sie sich an Romans Ärger, als sie ihn beim Griechen sitzen gelassen hatte. Das sollte nicht noch einmal passieren.

Zu ihrem Erstaunen runzelte ihr Lebensgefährte die Stirn. Nicht nur sie hatte sich vorgenommen, etwas zu ändern. Auch er hatte inzwischen nachgedacht.

»Aber wenn es etwas Wichtiges ist«, wandte er ein.

Doch die Klinikchefin blieb dabei.

»Nein. Du und ich, wir sind jetzt wichtiger«, erklärte sie mit Nachdruck und atmete auf, als das Klingeln endlich verstummte. »Es gibt keinen Notfall, den die Kollegen nicht selbst behandeln könnten«, versicherte sie noch, als der Klingelton ihres Mobiltelefons erneut ertönte.

Nur mit Mühe konnte Roman ein Seufzen unterdrücken. Er ließ Jennys Hände los und lehnte sich zurück.

»Bitte geh ran. Sonst haben wir nie Ruhe.«

Jenny zögerte noch immer.

»Also schön. Aber ich werde auf keinen Fall zurückfahren. Egal, was passiert ist«, versprach sie noch, als sie den Apparat hervorholte und das Gespräch annahm.

Gleich darauf veränderten sich ihre Gesichtszüge. Als sie das kurze Telefonat beendete, war sie leichenblass.

»Was ist?«, fragte Roman alarmiert.

Jenny wirkte so verstört, wie er sie selten gesehen hatte.

»Meine Cousine. Sie hatte eine Lungenembolie. Mathias Weigand hat sich zuerst an Daniel gewandt. In meiner Abwesenheit ist er mein Stellvertreter. Er hat übernommen, konnte aber nicht länger mit einer OP warten. Offenbar ist es mehr als ernst, denn er lässt mir ausrichten, dass ich kommen soll.«

Roman zögerte keine Sekunde. Diesmal dachte er weder an Champagner noch ans Essen. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

»Gehen wir!«

*

Jenny Behnisch erwachte erst wieder aus ihrer Erstarrung, als Roman den Wagen vor der Notaufnahme der Klinik parkte. Ohne ein Wort des Dankes zu verlieren oder ihm noch weiter Beachtung zu schenken, stürzte sie aus dem Wagen und eilte in das hell erleuchtete Gebäude.

Sie erreichte den Operationssaal gerade in dem Moment, als die Ärzte ihn verließen. Die Strapazen der vergangenen Stunden stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Als Daniel Norden seine langjährige Freundin und Kollegin sah, zog er nur eine Augenbraue hoch.

Jenny bemerkte es nicht. Zu groß war die Sorge um Nicoles Leben.

»Und?«, fragte sie atemlos und sah Daniel dabei zu, wie er sich erschöpft mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn wischte.

»Wir mussten die Arterie drei Mal wieder aufmachen«, seufzte er. »Ein Mal mussten wir Frau Ziegler reanimieren.«

»Aber sie kommt durch, oder?« Jennys Stimme zitterte.

Es kam selten vor, dass die Klinikchefin ihre Emotionen in ihrem beruflichen Umfeld zeigte.

Daniel wusste das. Es war ein Zeichen dafür, welch wichtige Rolle die bisher unbekannte Cousine im Leben seiner langjährigen Freundin spielen musste. Trotzdem konnte er keine Entwarnung geben.

»Ich weiß es nicht«, gestand er offen. »Ihr Kreislauf ist ziemlich instabil, und wer weiß, ob er nicht wieder zusammenbricht.« Von hinten trat Schwester Elena an ihn heran und reichte ihm wortlos eine Flasche Mineralwasser. Dankend nahm Daniel die Erfrischung an. Sie zischte, als er den Deckel aufdrehte. »Mein Gott, was für eine Schlacht!«, seufzte er erschöpft und hob die Flasche an die Lippen.

Mitfühlend legte Jenny die Hand auf seine Schulter. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir für deine Mühe danken soll«, rang sie sich ein paar Worte ab. »Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich jetzt zu Nicole. Ich muss sie unbedingt sehen.«

Daniel Norden hatte nichts da­gegen, und so betrat die Klinikchefin wenig später die Intensivstation. Sie fand Nicole im hintersten Zimmer, das sie mit einem weiteren Patie­nten teilte. Das unaufhörliche Schnaufen, Piepen und Stampfen der lebenserhaltenden Maschinen war beängstigend und beruhigend zugleich. Leise ließ sich Jenny von einem Intensivpfleger über den Stand der Dinge informieren. Dann zog sie sich einen Stuhl ans Bett – dorthin, wo sie die Pflegearbeiten nicht behinderte – und betrachtete Nicoles Gesicht, das auch nach all den Jahren nichts von seiner Vertrautheit verloren hatte.

*

»Hier steckst du!« Es war Romans weiche Stimme, die die Klinikchefin aus ihrer Versunkenheit weckte. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn aus großen Augen an. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt heimfahre. Wir sehen uns morgen.« Er wollte sich über Jenny beugen und ihr einen Abschiedskuss auf die Stirn hauchen, als sie eine unerwartete Bitte aussprach.

»Bitte bleib noch ein bisschen bei mir.«

Im ersten Moment reagierte Roman nicht. Dann sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um und entdeckte einen Hocker, den er neben Jennys Stuhl zog.

»Warum hast du mir nie erzählt, dass du eine Cousine hast?«, fragte er, doch Jenny hob abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf.

Zuerst musste sie etwas anderes loswerden.

»Ich … ich wollte dir sagen, dass ich diesen Abend mit dir …« Sie hielt inne, als fielen ihr diese Worte unendlich schwer. »Ich habe diesen Abend mit dir sehr genossen und wäre sehr gern mit dir in diesem Hotel geblieben.«

Ein Lächeln huschte über Romans Gesicht. Aus Erfahrung wusste er, dass sie ihr Herz nicht gerade auf der Zunge trug, und schätzte ihre Worte daher umso mehr.

»Ich auch«, erwiderte er erfreut.

Doch Jennys Gedanken waren längst weiter geeilt, und ihr Blick hing wieder an Nicoles blassem Gesicht.

»Diese Frau hier … meine Cousine … Du willst wissen, warum ich dir nie von ihr erzählt habe?«

Roman schluckte. Etwas in Jennys Stimme besorgte ihn.

»Nur, wenn du darüber sprechen willst«, wollte er ihr die Chance geben, es sich noch einmal zu überlegen.

Doch Jenny hatte nicht länger die Kraft zu schweigen.

»Nicole und ich … wir haben seit fast 25 Jahren kein Wort mehr miteinander geredet. Gestern wäre die Gelegenheit dazu gewesen, und ich hab es wieder mal verpatzt.«

Als Roman Kürschner seine Lebensgefährtin so traurig sah, wurde sein Herz schwer. Er ahnte, welche unendlichen Qualen sie litt, und wusste doch, dass er ihr nicht helfen konnte.

»Ach Jen …«, murmelte er und legte den Arm um ihre Schultern.

Ihr Blick hing unverwandt an Nicoles Gesicht.

»Was soll ich tun, wenn sie stirbt?«, fragte sie.

Als Roman keine Antwort gab, ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken. Selten zuvor in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Und doch wusste Jenny, dass sie auch in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde.

*

Nicht nur Jenny und Roman schliefen nicht. Auch Marianne und Mario fielen erst in den frühen Morgenstunden in einen kurzen Schlaf, aus dem der Wecker sie viel zu früh wieder aufschreckte.

»Ich fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht!«, stöhnte Marianne und zog die Bettdecke über den Kopf.

Im Gegensatz zu ihr war Mario schon wieder hellwach. Er beugte sich über sie, zog die Decke wieder weg und betrachtete sie kritisch aus halb geöffneten Augen.

»Dafür siehst du aber noch ganz passabel aus«, fällte er schließlich grinsend ein Urteil und küsste ihre schlafwarme, weiche Wange.

»Danke für die Blumen«, konnte sich auch Marianne ein Lächeln nicht verkneifen und schlang die Arme um Marios Nacken. »Du weißt schon, was für ein Opfer ich für dich bringe. Normalerweise kann ich samstags wenigstens ein bisschen länger schlafen. Und Tobias muss ich auch nicht wecken.«

»Noch länger? Aber es ist doch schon zehn nach sechs«, klärte Mario Cornelius die Konditorin übermütig auf. Die leidenschaftliche Liebesnacht war nicht ohne Wirkung auf seine Stimmung geblieben, und er strahlte von einem Ohr zum anderen. »Aber falls es dich tröstet: ich hab noch eine gute halbe Stunde Zeit, um deine körperliche, geistige und seelische Verfassung zu überprüfen«, scherzte er und schob seine Hand unter ihre Bettdecke.

Marianne ließ sich diese Aufforderung nur zu gern gefallen und überließ sich erneut seinen Zärtlichkeiten.

»Und? Wie sieht es aus? Kannst du mich in dieser Verfassung bedenkenlos zur Arbeit schicken?«, fragte sie verliebt, als sie sich endlich aus der innigen Umarmung lösten.

Eine dunkle Strähne klebte an Mariannes verschwitzter Wange, und Mario hob die Hand, um sie zärtlich fort zu schieben.

»Eigentlich kann ich dich unter gar keinen Umständen auf die Menschheit loslassen. Aber ich fürchte, ich kann es nicht verhindern, weil ich selbst bald in der Klinik sein muss.«

»Und wenn ich meinen Plan recht im Kopf habe, warten mindestens sechs Bestellungen …«

»Pssst!« Mario legte den Zeigefinger auf Mariannes volle Lippen und hinderte sie so am Weitersprechen. »Noch sind wir hier, weit weg von Alltag und Pflichten«, erinnerte er sie weich. »Und ich wünschte mir, es könnte immer so bleiben. Wo wir gerade beim Thema sind … Was hast du heute Abend vor? Ich zähle schon jetzt die Stunden bis zum Wiedersehen.«

Er wollte sie wieder in seine Arme schließen, als Marianne unvermittelt ein Stück von ihm wegrückte. Ihr kritischer Blick ruhte auf seinem verwunderten Gesicht.

»Ich bin mit einer Freundin verabredet. Mal abgesehen davon, dass mir das alles ehrlich gesagt ein bisschen zu schnell geht«, entgegnete sie schroffer als beabsichtigt.

Mario Cornelius hatte das Gefühl, in Eiswasser getaucht zu werden.

»Wie meinst du das? Willst du mich denn nicht sehen?«, fragte er und machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. »Ich dachte, du freust dich, wenn wir am Wochenende so viel wie möglich zusammen sein können.«

Wie Mario so neben ihr lag, den Kopf in die Hand gestützt, und sie betroffen musterte, tat Marianne ihre Reaktion schon wieder leid. Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie sich plötzlich eingeengt fühlte. Mario schien genau der Mann zu sein, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wohl wie lange nicht, geliebt, verstanden und geborgen. Und trotzdem schrillten sämtliche inneren Alarmglocken, als er den Wunsch äußerte, sie in ein paar Stunden schon wiederzusehen.

»Es ist einfach so, dass ich noch ein eigenes Leben neben meinem Beruf habe. Meinen Sohn, Freunde, einen Haushalt, der gemacht werden muss«, zählte sie einen Grund nach dem anderen auf.

Mario hatte sich auf den Rücken gelegt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

»Was willst du mir damit sagen?«, fragte er barsch. »Dass du eigentlich keine Zeit für eine Beziehung hast?«

Seine Uneinsichtigkeit reizte Marianne.

»Weißt du was: Vielleicht bin ich doch zu alt für dich«, wusste sie auf einmal, woher ihre Angst rührte. »Vielleicht kommst du nicht zurecht mit einer eigenständigen Frau, die weiß, wer sie ist und was sie will. So ein junges Ding wie diese Carina ist da sicherlich noch flexibler«, fügte sie bissig hinzu und ärgerte sich sofort über sich selbst.

Ruckartig setzte sich Mario im Bett auf und starrte auf Marianne hinunter.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragte er ungläubig, als er endlich verstand, um was es eigentlich ging. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf dieses junge Mädel? Oder hast du Angst, dich auf mich einzulassen, weil ich jünger bin als du? Weil ich dich wegen einer Jüngeren verlassen könnte?« Mit diesen Vermutungen traf er unvermutet den Nagel auf den Kopf.

Marianne biss sich auf die Lippe.

»Daran liegt’s wahrscheinlich«, gab sie kleinlaut zu. Dabei kannte sie sich nicht wieder. Durch den viel zu frühen Tod ihres Mannes vor einiger Zeit war sie sehr selbständig geworden und kam mit ihrem Leben gut zurecht. Umso mehr wunderte sie sich jetzt vor ihrer Angst, wieder allein zu sein. »Mein Herz hat eben erst verkraftet, eine große Liebe verloren zu haben. Oft hält es das nicht mehr aus«, gestand sie leise und wagte es nicht, Mario anzusehen. »Nicht, dass ich jetzt schon von großer Liebe sprechen könnte. Da­zu kennen wir uns ja noch viel zu wenig. Aber überhaupt dieses Wagnis einzugehen …« Hilflos hielt sie inne und stellte erleichtert fest, dass ein zärtliches Lächeln um Marios Lippen spielte.

»Liebe birgt immer das Risiko, verletzt zu werden.«

»Ich weiß«, erwiderte Marianne. »Aber ich weiß nicht, ob das Risiko mit dir nicht ungleich höher ist als mit einem älteren Mann«, gestand sie offen.

»Wir wär’s damit, mir eine Chance zu geben?«, bot Mario mangels einer anderen Idee an und zwinkerte ihr schelmisch zu. »Das tue ich umgekehrt ja auch. Und ich könnte auch die Angst haben, dass du mich wegen eines älteren, reiferen Mannes verlässt.«

Unvermittelt musste Marianne lachen. Dieser Gedanke erschien ihr geradezu absurd, doch das sagte sie Mario nicht.

»Wenn du mir verrätst, was du dir von mir und unserer Beziehung erhoffst, kann ich ja mal drüber nachdenken«, bat sie stattdessen.

Ihr gereizter Ton war verschwunden und Mario fürs Erste beruhigt. Schon ärgerte er sich fast darüber, so schnell vorgeprescht zu sein und sie damit unter Druck gesetzt zu haben. Die jahrelange vergebliche Suche nach einer passenden Frau hatte ihn mürbe und überempfindlich und womöglich ein wenig ungeduldig gemacht.

»Ich wünsche mir, endlich irgendwo anzukommen«, gestand er nach kurzem Zögern offen. »Weißt du, als ich jung war, dachte ich, dass es einfach ist, eine Frau zu finden. Ich war kein Kind von Traurigkeit und habe nicht viel ausgelassen. Nur glücklich bin ich dabei nicht geworden.«

»Ich weiß, ich kenne dieses Gefühl«, gestand Marianne und musste wieder an ihren Mann denken. »Nach dem Tod von Tobias‘ Vater habe ich einige Männer getroffen. Ich hatte das Alleinsein satt und sehnte mich nach einer Schulter zum Anlehnen«, öffnete auch sie Mario ihr Herz. »Dummerweise musste ich feststellen, dass sich meine Ansprüche geändert haben. Dass ich nicht mehr bereit bin, alles in Kauf zu nehmen, nur um nicht allein zu sein. Inzwischen grenzt es für mich an ein Wunder, einen Menschen auf meiner Wellenlänge zu finden. Und mich auch noch in ihn verlieben zu können.«

Während Mario schweigend gelauscht hatte, wurde das Lächeln auf seinem Gesicht tiefer.

»Dann bedeutet das wohl, dass ich ein echter Glückspilz bin«, zog er den einzig möglichen Schluss aus ihren Worten.

»Oder ich«, lächelte Marianne, froh darüber, dass sich die Verstimmung in Wohlgefallen aufgelöst hatte. »Trotzdem würde ich es gern langsam angehen lassen. In Ruhe wachsen lassen, was wachsen soll«, kehrte sie zum Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück.

»Ich werde sehen, was ich tun kann!«, versprach Mario, als ein energisches Klopfen an der Schlafzimmertür der himmlischen Ruhe ein Ende bereitete.

»Wenn ihr vor der Arbeit noch Frühstück haben wollt, solltet ihr langsam aufstehen, ihr Schlafmützen«, rief Mariannes Sohn Tobias mit deutlichem Lachen in der Stimme. Nie zuvor hatte er seine Mutter an eine Mahlzeit erinnern müssen, und besonders das gemeinsame Frühstück war ihr heilig. »Oder soll ich euch eine Entschuldigung für die Arbeit schreiben? Ich bin ja jetzt volljährig.«

»Nicht nötig, danke!«, grinste Mario und schob Marianne nach einem letzten Kuss bedauernd von sich.

Spätestens jetzt wusste er, dass eine Beziehung mit einer reifen Frau anders war als die mit einem jungen Mädchen, das noch ganz am Anfang ihres Lebens stand. Doch er wollte diese Herausforderung annehmen. Nach diesem Gespräch mehr denn je.

*

Als die Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch an diesem Morgen die Augen öffnete, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Statt in ihrem weichen Doppelbett lag sie auf einer schmalen Pritsche. Durch die Spalten in den Jalousien fiel helles Tageslicht in das kleine Zimmer und malte Streifen auf den Linoleumboden. Gähnend setzte sie sich auf die Bettkante und rieb sich die Augen.

»Wie um alles in der Welt bin ich nur hierher gekommen?«, fragte sie sich, als sie das Ruhezimmer begutachtete, das die Ärzte immer während ihrer Nachtschichten nutzten. Erst als sie sich auf den Weg gemacht hatte, kehrte nach und nach die Erinnerung zu ihr zurück.

Irgendwann in der vergangenen Nacht hatte Roman sie gebeten, mit ihm nach Hause zu fahren. Doch Jenny hätte seine Nähe nicht ertragen, nicht in dieser angespannten Situation. Unter einem Vorwand hatte sie ihren Lebensgefährten allein heim geschickt und war so lange an Nicoles Bett sitzen geblieben, bis sie sich vor Erschöpfung nicht mehr auf dem Stuhl halten konnte. Das Geräusch von Schritten riss Jenny aus ihren Gedanken.

»Ah, guten Morgen, Chefin«, grüßte Schwester Elena munter, als sie an Jenny vorbei über den Flur hastete. Einen Moment lang blieb sie stehen. »Ausgeschlafen?« Ihr besorgter Blick ruhte auf dem ungewöhnlich angespannten Gesicht der Chefin.

»Wie fühlt sich das an?«, fragte Jenny ironisch zurück, und ihre Mitarbeiterin lächelte pflichtschuldig. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Sie sind bestimmt auf dem Weg zu Frau Ziegler. Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein Frühstück auf die Intensivstation.«

»Können Sie Gedanken lesen?«, fragte die Klinikchefin. »Oder sind Sie einfach nur ein Engel?«

»Weder noch. Sie sehen einfach so aus, als ob Sie eine Stärkung dringend nötig haben.«

Elena zwinkerte der Chefin zu und machte sich auf den Weg, um ihr Versprechen einzulösen, nichtahnend, wie recht sie mit ihrer Einschätzung hatte.

Nicoles Auftauchen in der Klinik, die Wunden der Vergangenheit, die aufgerissen worden waren, ihr desolater Zustand … All das machte Jenny Behnisch mehr zu schaffen, als ihr lieb war. Ihre Nerven lagen blank, als sie die Intensivstation betrat, und am liebsten wäre sie schreiend davon gelaufen, als sie sah, wer vor Nicoles Zimmer bereits auf sie wartete.

Roman hielt eine Tüte in den Händen, mit der er lächelnd durch die Luft wedelte.

»Frühstück für die müde Ärztin!«, verkündete er sichtlich stolz über seine Idee. »Mir scheint, dass es mir diesmal gelungen ist, früher als du aufzustehen.«

Doch Jenny konnte weder lachen noch sich freuen. Ablenkung war das letzte, was sie im Augenblick brauchte.

»Danke, aber Schwester Elena bringt mir gleich ein Tablett«, lehnte sie Romans Einladung unfreundlich ab.

Die Miene des Architekten erstarrte, und er ließ den Arm sinken. Jenny wusste, dass sie ihn vor den Kopf gestoßen hatten. Doch sie konnte es nicht ändern, und kein Wort der Entschuldigung kam über ihre Lippen.

»Schön.« Roman erinnerte sich an seinen Vorsatz, nicht zu streng mit seiner Lebensgefährtin zu sein. »Dann frühstücke ich eben mit Daniel und Fee. Sie haben uns eingeladen. Vielleicht hast du ja Lust, später zu uns zu stoßen?«

»Ich glaube nicht.« Wie um sich zu schützen, verschränkte Jenny die Arme vor dem Oberkörper. »Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich auch nützlich machen und ein paar Sachen abarbeiten. Mein Schreibtisch bricht demnächst zusammen.« Im Gegensatz zu Roman schien sie jeden guten Vorsatz vergessen zu haben.

Der Architekt antwortete nicht sofort auf diesen neuerlichen Korb.

»Ich weiß, dass dich die Geschichte mit deiner Cousine ziemlich mitnimmt, und möchte dich auf keinen Fall zu irgendwas drängen«, machte er einen letzten Versuch, sie zur Vernunft zu bringen. »Aber denkst du nicht, dass du ein bisschen Erholung bitter nötig hast?«

»Vielen Dank für den Hinweis!« Jenny brachte es nicht fertig, Roman in die Augen zu sehen. »Aber ich glaube, ich weiß selbst am besten, was ich brauche.« In diesem Moment hasste sie sich selbst für ihre Hartherzigkeit. Und doch konnte sie es nicht ändern. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst. Ich möchte endlich nach Nicole sehen.« Mit diesen Worten ließ sie Roman stehen und ging an ihm vorbei ins Zimmer ihrer Cousine.

Einen Moment lang starrte er ihr nach und fragte sich, ob er verletzt, enttäuscht, traurig oder wütend sein sollte. Schließlich entschied er sich für alle vier Möglichkeiten auf einmal und verließ die Intensivstation, ohne sich noch einmal umzudrehen.

*

Unterdessen trat die Klinikchefin ans Bett ihrer Cousine. Mit weit geöffneten Augen lag Nicole da und starrte sie an.

»Hey, du bist ja wach«, begrüßte Jenny sie betont munter. »Wie fühlst du dich?«

Doch Nicole dachte nicht daran, das freundliche Lächeln zu erwidern.

»Zumindest scheine ich überlebt zu haben«, antwortete sie und musterte ihre Cousine abschätzend. »War das dein Mann?«

Jenny gefiel diese Frage nicht.

»Mein Lebensgefährte«, erwiderte sie knapp und konzentrierte sich auf die Aufzeichnungen des Apparates, der neben Nicoles Bett stand und unaufhörlich Daten speicherte.

»Dachte ich mir. Dein Tonfall kam mir gleich so bekannt vor.«

»Eigentlich sind deine Werte ganz gut«, beschloss Jenny, diese Bemerkung zu ignorieren, und drehte am Knopf des Tropfs, um die Flüssigkeitsmenge zu regulieren. »Ich denke, wir können dich heute auf die normale Station verlegen.«

Doch Nicole dachte nicht daran, sich vom Thema ablenken zu lassen.

»Findest du es eigentlich richtig, wie du mit ihm umspringst?«

Allmählich verlor Jenny die Geduld.

»Ich glaube nicht, dass dich das was angeht«, fauchte sie und machte Anstalten, das Zimmer wieder zu verlassen, als ihre Cousine sie unvermittelt an der Hand packte.

»Er scheint ein ziemlicher Dummkopf zu sein, wenn er sich diese Behandlung gefallen lässt«, zischte sie, und Jenny fühlte, wie sich ihr Magen vor Ärger zusammen zog.

Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen.

»Roman ist kein Dummkopf. Ganz im Gegenteil. Er weiß, dass ich einen anstrengenden Beruf habe.«

»Das ist noch lange kein Grund, ihn fertig zu machen«, konterte Nicole erbarmungslos. »Aber offenbar kannst du nicht anders. Das musste auch schon Uritz erfahren.«

Als sie den Namen ihrer Jugendliebe hörte, zuckte Jenny unwillkürlich zusammen, und schlagartig erinnerte sie sich wieder an die Frage, die sie Nicole gestellt und auf die sie keine Antwort bekommen hatte.

»Was ist denn jetzt mit Uritz und dir? Seid ihr noch zusammen?«

Nicole antwortete nicht sofort. Ihr Blick glitt an Jenny vorbei aus dem Fenster. Mit einem Mal war alle Härte aus ihrer Miene verschwunden und hatte einer tiefen Trauer Platz gemacht.

»Wir waren es bis zum bitteren Ende«, sagte sie schließlich.

»Was heißt das?« Eine eiskalte Hand hatte nach Jennys Herz gegriffen und erbarmungslos zugepackt. »Sag schon! Was ist mit Uritz?« So viele Jahre hatte sie nicht mehr an den jungen Mann von damals gedacht, hatte sich noch nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern können. Und nun stand es plötzlich vor ihrem geistigen Auge, so klar, als wäre sie ihm tags zuvor zum letzten Mal begegnet.

Mit der Fassung ringend wartete Jenny auf eine Antwort.

»Uritz ist vorgestern vor drei Jahren gestorben. Deshalb hab ich am Straßenrand wahrscheinlich auch nicht so aufgepasst wie sonst«, berichtete Nicole endlich mit tonloser Stimme. »Er hat sich immer Vorwürfe gemacht, dass wir beide wegen ihm keinen Kontakt mehr hatten. Das hat ihn sehr mitgenommen.« In Andenken an den geliebten Mann huschte ein Lächeln über Nicoles Gesicht. Dann kehrten ihre Augen wieder zurück zu Jenny, und ihr Ausdruck wurde erneut hart und kalt. »Aber dich hat das natürlich nicht interessiert. Du bist zuerst nach Afrika abgehauen, um Entwicklungshilfe zu leisten. Später hast du dann diesen Klinikchef geheiratet und deine Familie aus deiner Erinnerung gestrichen. Wie es uns mit dieser Geschichte ergangen ist, hat dich wahrscheinlich keine Sekunde lang interessiert.«

Diese Anschuldigungen waren fast mehr, als Jenny verkraftete.

»Entschuldige mal, was erwartest du eigentlich von mir? Du warst doch diejenige, die mir Uritz damals ohne mit der Wimper zu zucken ausgespannt hat«, beschuldigte sie ihre Cousine mit gepresster Stimme. Zum Glück waren sie allein im Zimmer. Wenn Jenny ihr Gesicht nicht verlieren wollte, durfte kein Mitarbeiter etwas von dieser Auseinandersetzung erfahren. »Warum hast du mir das angetan? Du bist schuld, dass ich ihn verloren habe.«

Am liebsten hätte sich Nicole im Bett aufgesetzt, um dieses Gespräch wenigstens halbwegs auf Augenhöhe führen zu können. In ihrer derzeitigen Lage musste sie sich jedoch mit einem bitteren Lachen begnügen.

»Das ist deine persönliche Version der Geschichte, an die du unbedingt glauben musst. Sonst müsstest du dir nämlich eingestehen, wie es wirklich war«, sagte sie Jenny auf den Kopf zu.

»So einen ausgemachten Blödsinn habe ich lange nicht gehört.« Die Klinikchefin probierte ein belustigtes Lachen, doch zu ihrem großen Ärger entkam ihr nur ein zorniges Schnauben.

Sie hatte längst genug von diesem Gespräch und wollte sich auf den Weg in ihr Büro machen. Doch noch immer hielt ihre Cousine sie am Arm fest. Wenn Jenny ihr nicht wehtun wollte, musste sie bleiben. Und sich im Gegenzug Wahrheiten anhören, die schmerzten wie Peitschenhiebe.

»Ja, da staunst du, was?«, fragte Nicole hämisch. Doch die Apparate zeigten, dass sie keinesfalls so unbeteiligt war, wie sie vorgab. »Aber es kommt noch besser, und es ist mir egal, ob du es hören willst oder nicht. Früher dachte ich, wir könnten das zusammen friedlich an einem Tisch besprechen. Nachdem du der Wahrheit aber immer ausgewichen bist, sage ich es dir eben jetzt: Es war nicht ich, die Uritz verführt hat.«

Schlagartig wich alle Farbe aus Jennys Gesicht. Sie schluckte schwer.

»Sondern?«

In diesem Moment bekam Nicole Mitleid mit ihrer Cousine. Es war offensichtlich, wie sehr Jenny unter diesen Erinnerungen litt. Doch sie wusste auch, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.

»Nach einem Streit mit dir ist Uritz völlig aufgelöst zu mir gekommen. Er hat es nicht mehr ertragen, wie du mit ihm umgesprungen bist. Genauso, wie du es jetzt mit deinem Lebensgefährten tust.«

»Das ist nicht wahr!«, versuchte Jenny, sich ein letztes Mal gegen die unabänderlichen Tatsachen zu wehren.

Nicole seufzte und fuhr dann weicher fort.

»Es ist wahr. Aber wenn du glaubst, dass es ein gutes Gefühl war, sich als Lückenbüßer zu fühlen, dann irrst du dich.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie den Kopf schüttelte. »Noch bei der Hochzeit hab ich mich gefragt, ob er nicht die ganze Zeit an dich denkt.« Kraftlos ließ sie Jennys Arm los und zog die Hand zurück.

Diesen Moment nutzte die Klinikchefin zur Flucht. Keine Sekunde länger hätte sie es in diesem Zimmer, mit diesen Anschuldigungen ausgehalten.

»Das ist nicht wahr!«, stöhnte Jenny und wandte sich zum Gehen.

Um ein Haar hätte sie Schwester Elena umgerannt, die in diesem Moment mit dem Frühstück hereinkam. Jenny stutze kurz, ehe sie an der verdutzten Mitarbeiterin vorbei aus dem Zimmer flüchtete.

»Chefin, Ihr Frühstück!«, rief Elena ihr noch nach.

Aber Jenny Behnisch antwortete nicht. Sie konnte nicht. Denn dann hätte jeder das Zittern in ihrer Stimme bemerkt.

*

»Roman! Wie schön, dass du unserer Einladung gefolgt bist!« Freudig begrüßte Fee Norden den Architekten und umarmte ihn. Dabei warf sie einen Blick über seine Schulter. »Aber wo hast du denn Jenny gelassen?«

»Sie hat es vorgezogen, in der Klinik zu bleiben«, erwiderte Roman und reichte Felicitas die Tüte mit den Brötchen, die er bereits am frühen Morgen in Tatjanas Bäckerei erstanden hatte.

»Aber heute ist Samstag«, bemerkte Fee, während sie ihren Gast ins Esszimmer führte und ihm einen Platz am üppig gedeckten Tisch anbot. »Normalerweise arbeitet sie doch am Wochenende nicht.«

»Mal abgesehen davon, dass ihr doch eigentlich im Gartenhotel Alpenblick wärt.« Auch Dr. Norden hatte den Gast begrüßt und schenkte ihm Kaffee ein. »Dafür hatte sie doch auch Zeit.«

Roman dankte Daniel und rührte in der Tasse, in die er zuvor Milch und Zucker gegeben hatte. Erst als er einen Schluck getrunken hatte, antwortete er:

»Das dachte ich eigentlich auch. Deshalb wollte ich sie gleich heute früh aus der Klinik holen und mit zu euch bringen.« Die Enttäuschung ließ seine Stimme bitter klingen, und er seufzte tief. »Sie hat rundweg abgelehnt mit der Begründung, dass ihr Schreibtisch demnächst zusammenbrechen würde.«

Fee und Daniel tauschten betroffene Blicke.

»Was ist nur plötzlich in sie gefahren?«, fragte die Ärztin.

Sie wusste, dass Jenny ein ausgesprochen unabhängiger, wenn nicht gar beziehungsscheuer Mensch war.

Ihre Ehe mit Dieter Behnisch war weniger von liebevoller Nähe denn von der Begeisterung für die gemeinsame Arbeit geprägt gewesen, sodass diese Eigenart in diesen Jahren in den Hintergrund getreten war. Nach Dieters Tod hatte sie lange Jahre allein gearbeitet und gelebt, bis schließlich Roman Kürschner in ihr Leben getreten war. Bis jetzt hatte Fee an den Sieg der Liebe über Jennys Angst vor Nähe geglaubt. Doch nach und nach wurde klar, dass es nur Romans geduldiger, zurückhaltender Art zu verdanken war, dass sie nicht längst die Flucht ergriffen hatte.

»Was ist zwischen euch geschehen, dass sie plötzlich so abweisend ist?«, schien Daniel dieselben Gedanken wie seine Frau gehabt zu haben.

Ratlos zuckte Roman mit den Schultern.

»Ich bin mir nicht sicher. Irgendwann habe ich festgestellt, dass Jenny kaum noch Zeit für uns hat. Meine Bitte, uns und unsere Beziehung doch wichtiger zu nehmen, hat sie offenbar völlig in den falschen Hals bekommen und sich noch mehr zurückgezogen.« Roman saß am Tisch und starrte blicklos auf seinen leeren Teller. »Und seit ihre Cousine aufgetaucht ist, ist es ganz aus. Heute in der Klinik hat sie mich abgekanzelt wie einen Schuljungen.«

Fee hatte eines von Tatjanas knusprigen Croissants in der Mitte auseinander gebrochen und eine Hälfte mit Butter und Marmelade bestrichen. Doch das Thema war so brisant, dass sie ganz vergaß zu essen.

»Ich hatte so gehofft, dass ihr gemeinsam in das Hotel zurückfahrt und den Rest des Wochenendes dort verbringt.«

Roman schnitt eine Grimasse.

»Stell dir vor, das hatte ich auch im Sinn.« Er seufzte und hob die Tasse wieder an die Lippen. Der heiße Kaffee wirkte belebend und gab ihm wenigstens ein bisschen neue Energie. Die brauchte er dringend, um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen. »Ehrlich gesagt bin ich gekommen, um mich von euch zu verabschieden. Ich werde eine Weile allein verreisen, um darüber nachzudenken, wie es mit Jen und mir weitergehen soll. Ob es überhaupt weitergehen soll.«

Während Fee und Daniel sich noch betroffen ansahen, leerte er seine Tasse und stand auf.

»O Roman, gibt es irgendwas, was wir tun können?«, rief Felicitas und eilte ihm nach, als er das Esszimmer mit gesenktem Kopf verlassen wollte.

An der Tür angekommen, blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.

»Wenn ich das wüsste, hätte ich euch längst darum gebeten«, gestand er offen. »Aber ich glaube, ich muss selbst herausfinden, ob ich so weiterleben kann und will.« Er legte die Hand kurz auf Fees Arm und nickte Daniel, der noch am Tisch saß, dankbar zu.

Dann wandte er sich endgültig ab. Als die Haustür mit einem leisen Klacken hinter ihm ins Schloss fiel, wischte sich Fee eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann kehrte sie an den Frühstückstisch zurück. Sie setzte sich, griff nach Daniels Hand und drückte sie fest. Um nichts auf der Welt hätte diese Hand, die sie schon so viele Jahre lang hielt und stützte, losgelassen, und sie verstand Jenny nicht, die offenbar nicht wusste, welch kostbares Gut sie gedankenlos fortwarf.

*

»Ich wünsche den Damen einen herrlichen Resttag!« Niemand anderer als Mario Cornelius wirbelte am frühen Montagnachmittag durch den Aufenthaltsraum, in dem sich Lernschwester Carina gerade mit einer Kollegin eine kleine Pause gönnte. Verdutzt blickten die beiden von ihren Kaffeetassen und Kuchentellern auf und sahen dem Kinderarzt dabei zu, wie er eine Aster aus dem bunten Herbststrauß in der Vase zupfte, die auf dem Tisch stand. »Und machen Sie nicht so lange. Arbeit ist nicht alles im Leben!« Er zwinkerte den beiden zu und verschwand dann so schnell wieder, wie er gekommen war.

»Was ist denn mit dem Chef heute los?«, fragte Schwester Tamara verdutzt. »Hat er im Lotto gewonnen?«

Obwohl sie schon mehr als ein Jahr an der Behnisch-Klinik arbeitete, hatte sie Mario noch nie so ausgelassen gesehen.

Im Gegensatz zu ihrer Kollegin wusste Carina genau Bescheid, woher die gute Laune des attraktiven Arztes rührte.

»Er ist verliebt!«, erklärte sie düster und leerte ihre Tasse in einem Zug.

Tamara, der der heiße Flirt zwischen den beiden nicht entgangen war, sah verwundert zu Carina hinüber.

»In dich? Ist mir da was entgangen?«

Ein grimmiges Lächeln huschte über das sonst so hübsche Gesicht der jungen Lernschwester. Sie wusste, dass sie sich den Weg zu Marios Herzen mit ihren Spielchen selbst verbaut hatte. Trotzdem beschloss sie in diesem Augenblick, den bereits geschmiedeten Plan in die Tat umzusetzen. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass der Zeitpunkt günstig war. Vorausgesetzt natürlich, Tamara spielte mit.

»Nein, im Augenblick nicht in mich«, erklärte sie und stand auf, um ihre Kaffeetasse zur Spüle zu bringen. »Aber das wird sich demnächst ändern«, verkündete sie mit einem siegessicheren Lächeln, das keine Fragen offen ließ. »Dazu brauch ich allerdings deine Hilfe.«

»Meine?« Verwundert sah Tamara ihre junge Kollegin an. »Was könnte ich da tun?«

Carina kehrte an den Tisch zurück und stützte sich neben Tamara auf. Sie beugte sich vor und musterte ihre Kollegin mit dem süßesten Lächeln, das sie auf Lager hatte.

»Kannst du heute meine letzte Stunde übernehmen?«, fragte sie schmelzend.

Doch es schien nichts zu nützen, denn bedauernd schüttelte Tamara den Kopf. »Tut mir leid, aber heute geht’s nicht. Ich hab meiner Mutter versprochen, mit ihr zum Einkaufen zu fahren.«

Augenblicklich zog Carina eine Schnute.

»Ach, komm schon, das könnt ihr doch auch noch eine Stunde später machen. Außerdem hab ich gesehen, dass du ab morgen Früh- und ich Spätdienst hab. Ich komme früher zum Dienst, damit du eher gehen kannst«, bot sie in ihrer Verzweiflung an.

Tamaras Augen wurden schmal vor Argwohn. Was führte Carina im Schilde, das so wichtig war, dass sie freiwillig Überstunden schob?

»Bist du sicher?«

»Klar!« Die junge Lernschwester strahlte ihre Kollegin an, und die Sommersprossen leuchteten dabei so lustig auf ihrer Stupsnase, dass Tamara diesem verlockenden Angebot nicht länger widerstehen konnte.

»Also gut! Aber sag ja nichts Frau Dr. Norden. Sonst bekommen wir beide Ärger«, warnte sie ihre junge Kollegin noch.

Carina versprach es hoch und heilig, umarmte Tamara so stürmisch, dass der fast die Luft wegblieb, und machte sich auf den Weg.

»Mist, ist das kalt!«, schimpfte sie wenig später, als sie vom Fahrrad stieg und es gegen einen Gartenzaun unweit von Janni Nordens Schule lehnte. Während sie auf der Straße auf und ab ging und auf das Ende des Unterrichts wartete, blies sie in die Hände, die vom kalten Fahrtwind steif und unbeweglich geworden waren. »Ich hätte doch Handschuhe und nicht nur die Mütze mitnehmen sollen.« Während sie den Eingang der Schule nicht aus den Augen ließ, zupfte sie an der weißen Pudelmütze, unter der ihre krausen Haare frech hervor sprangen. Endlich ertönte der ersehnte Gong, und bald darauf strömten Unmengen an Schülern aus dem Gebäude. Hilflos flog Carinas Blick hin und her, und als sie sich schon fragte, ob Jan Norden nicht noch länger Unterricht hatte, tauchte er endlich im Gedränge auf. »Na endlich. Der trödelt ja noch schlimmer als ich früher«, murmelte sie und platzierte sich am Treppenabsatz.

Janni war umringt von einer Gruppe Mitschülern, die eifrig miteinander redeten und diskutierten. Als er die junge Lernschwester an der Treppe bemerkte, stutzte er. Er beugte sich zu dem jungen Mann neben sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Gleich darauf sah Jannis Freund ebenfalls zu Carina hinüber. Lachend stieß er den Arztsohn in die Seite. Der machte eine abwehrende Handbewegung und schnitt eine Grimasse, ehe er sich verabschiedete und auf Carina zukam.

»Bin ich dir peinlich, oder was?«, ließ sie durchklingen, dass sie Zeugin der kleinen Szene geworden war.

»Na ja, ehrlich gesagt bist du mir schon ein bisschen zu alt«, erwiderte er und schnitt eine Grimasse. »Außerdem bist du hinter meinem Onkel her.« Seite an Seite wanderten sie den Weg hinunter.

»Stimmt auffallend. Deshalb bin ich hier«, machte Carina kein Geheimnis aus ihrem Vorhaben. »Du schuldest mir noch was«, erinnerte sie den Arztsohn an sein Versprechen.

Und auch Jan wusste, worauf die Lernschwester hinaus wollte. Vor ein paar Wochen hatte er sie in der Klinik umgerannt, frisch sterilisierte Gerätschaften waren über den Boden geschlittert. Als Wiedergutmachung hatte er Carina einen Gefallen versprochen, den sie jetzt offenbar einlösen wollte. Dabei hatte er so sehr darauf gehofft, seinem Schicksal zu entgehen.

»Ich mach aber nichts, wofür ich Ärger bekomme«, warnte er sie im Vorfeld und betrachtete mit großen Augen das lila Fahrrad, vor dem Carina stehen geblieben war. »Ist das deins?«, fragte er ungläubig und konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen.

»Was dagegen?«, fragte die Lernschwester gereizt zurück.

»Es ist ein bisschen …«, Janni suchte nach einem passenden Wort für das sehr mädchenhafte Gefährt, das er Carina nicht zugetraut hatte, »kindisch.«

»Schon mal was von Toleranz gehört?« Ihrem Tonfall war anzuhören, dass sie ihm am liebsten noch ganz andere Sachen an den Kopf geworfen hätte.

Da sie aber auf Janni angewiesen war, musste sie sich zusammenreißen.

»Hör mal, wir werden uns jetzt nicht wegen meines Fahrrads streiten«, sagte Carina versöhnlich und wollte sich bei ihm unterhaken.

Doch der junge Mann erkannte ihr Vorhaben und trat vorsorglich einen Schritt zur Seite, sodass Carinas Arm ins Leere fiel.

»Dann sag, was du von mir willst«, verlangte er energisch, ehe sie wieder schimpfen konnte.

Eine eisige Böe zerrte an Kleidern und Haaren, und unwillkürlich zog Carina den Kopf ein.

»Es ist ganz einfach«, erklärte sie schnell, um nicht länger als unbedingt nötig in der Kälte stehen zu müssen. »Sag deinem Onkel, dass du dich nächste Woche Mittwoch um 18 Uhr mit ihm in diesem Café treffen willst. Mehr nicht. Alles andere kannst du mir überlassen.« Sie zog einen Zettel hervor, auf dem sie einen Namen und eine Adresse notiert hatte.

Janni nahm den Zettel und warf einen Blick darauf.

»Bäckerei Bärwald?« Um ein Haar hätte er laut heraus geprustet. Es kostete ihn einige Mühe, ernst zu bleiben.

Aber Carina war ohnehin so aufgeregt, dass sie nichts bemerkte.

»Das ist eine Bäckerei mit Café. Dort wird gerade umgebaut, und sie haben momentan nur ein paar Tische.«

»Warum soll ich mich ausgerechnet da mit Mario treffen?«, stellte Jan eine berechtigte Frage. Offenbar hatte die junge Schwester keine Ahnung, in welcher Beziehung die Geschäftsführerin Tatjana zur Familie Norden stand. Und Janni hütete sich, Carina darüber aufzuklären. »Wenn sie umbauen, ist das ja sicher alles andere als gemütlich.«

»Erstens wirst nicht du, sondern ich hingehen. Und zweitens ist es gut, dass es nicht gemütlich ist, weil Mario und ich dann so gut wie allein sein werden. Ich muss nämlich in Ruhe mit ihm reden.«

»Und warum tust du das nicht in der Klinik?« Allmählich begann auch der Arztsohn zu frieren. Während er Carina forschend musterte, steckte er die Hände tief in die Hosentaschen und wippte auf den Fußsohlen vor und zurück. »Da siehst du ihn doch jeden Tag.«

»Weil er nicht mehr mit mir reden will, du Held!«, fauchte Carina ungeduldig. »Deshalb brauche ich dich. Denk dir irgendwas aus, warum du ihn dort treffen musst.«

»Nichts leichter als das«, entfuhr es Janni. Jetzt musste er doch grinsen. Doch er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als Carina die Wahrheit zu sagen. »Dann also nächsten Mittwoch um sechs Uhr abends.« Er zerknüllte den Zettel, zielte und warf ihn in den Abfalleimer, der neben Carinas Fahrrad an einem Laternenpfahl angebracht war.

Entgeistert sah sie ihm dabei zu.

»Weißt du die Adresse auswendig?«, fragte sie argwöhnisch.

»Das lass mal meine Sorge sein«, erwiderte er diplomatisch, zwinkerte ihr verschwörerisch zu und drehte sich um, um endlich den Heimweg anzutreten.

Er fühlte Carinas Blicke im Rücken und freute sich schon jetzt diebisch auf diesen Spaß. Denn dass er heimlicher Beobachter dieser Szene sein würde, das war schon jetzt sonnenklar.

*

»Afrika, Wiege der Menschheit!«, seufzte Roman Kürschner, als er wieder afrikanischen Boden betrat.

Zuletzt war er mit Jenny hier gewesen. Es war ihre erste und bislang einzige gemeinsame Reise gewesen, und er erinnerte sich lebhaft an ihre vor Glück und Liebe strahlenden Augen, als er ihr diesen Sehnsuchtsort gezeigt hatte. Seither waren nur ein paar Jahre vergangen. Und doch fühlten sie sich an wie ein ganzes Leben.

Er trat aus dem Flughafen und lauschte auf das Gewirr fremder Stimmen in einer Sprache, die er nur bruchstückhaft verstand, hörte das Lachen und Diskutieren der Menschen. Seine Augen wanderten die palmengesäumten, staubigen Straßen hinunter. Tief sog er die fremdartigen, aromatischen Gerüche ein. Als er zwei Männer bemerkte, die lauthals miteinander stritten, musste er wieder an Jenny denken.

»Wiege der Menschheit?«, hatte sie damals ungläubig gefragt. »In diesem Fall könnte man etwas mehr Würde von den Bewohnern erwarten.«

Jahrelang hatte Roman nicht mehr an diese Worte gedacht und musste lachen. Aber es war kein glückliches, unbeschwertes Lachen wie damals.

»Taxi? Taxi?« Die Frage eines dunkelhäutigen Mannes riss ihn aus seinen Betrachtungen.

Roman nickte, nannte den Namen des Hotels und verhandelte in perfektem Französisch den Fahrpreis. Als sie handelseinig geworden waren, ließ er sich auf die staubigen Polster des Rücksitzes fallen. Um nicht wehmütig zu werden, fing er ein Gespräch an.

»Kennen Sie das berühmte Aquarell von August Macke? Das ist ein…«

Durch den Rückspiegel hindurch traf ihn der fast strafende Blick des Taxifahrers.

»… ein deutscher Maler. Er hat von 1887 bis 1918 gelebt. Im Jahr 1914 hat er mit zwei Freunden die berühmte Reise in unser schönes Land unternommen und viele schöne Bilder gemalt.«

»Ich dachte, dass diese Reise hier kaum bekannt ist«, machte Roman keinen Hehl aus seiner Verwunderung.

Im Rückspiegel sah er, wie ein Lachen die Augen seines Chauffeurs kräuselte.

»Mein Vater war Lehrer und hat uns Kindern alles beigebracht, was er wusste.«

»Ihr Vater ist ein guter Mann«, lobte Roman aus tiefstem Herzen.

Während ihm sein Fahrer von seiner Familie erzählte, sah er aus dem Seitenfenster und erinnerte sich wieder an Jennys Begeisterung über die schönen Farben, das helle Weiß der Häuser, das Blau der Fenster- und Türrahmen, die grünen Palmen vor der Kulisse des türkisfarbenen Meeres. Sie passierten denselben Souk, einen orientalischen Markt, den er damals auch mit Jen gesehen hatte. Noch immer diskutierten die Händler mit ihren Kunden über die Qualität der Waren und feilschten um Preise, als wäre seither kein Tag vergangen. Dabei war doch inzwischen eine ganze Welt eingestürzt und hatte seine Liebe unter ihren Trümmern begraben.

»Wir sind da, mein Herr!«, riss der Fahrer ihn schließlich aus seinen Gedanken.

Wie aus einem Traum erwacht tauchte Roman wieder an die Oberfläche der Wirklichkeit. Er bedankte sich bei dem netten Mann und wandte sich dann dem flachen, strahlend weißen Komplex aus bunt zusammengewürfelten Gebäuden zu, mit den obligatorischen blauen Fensterrahmen und einer atemberaubenden Kulisse aus Palmen und Meer. Doch diesmal musste er die Hotelhalle allein betreten, versanken nur seine Füße in den dicken, flauschigen Teppichen.

»Guten Tag, Herr Kürschner«, begrüßte ihn der Herr an der Rezeption, der ihn offenbar schon erwartet hatte. »Ihr Zimmer ist schon fertig. Wenn Sie nur noch kurz diese Formulare hier ausfüllen wollen.« Er schob ihm ein Blatt Papier über den Tresen aus Marmor.

Roman stellte den Koffer neben sich ab und erwiderte mechanisch das freundliche Lächeln. Als er mit Jenny hier gewesen war, hatten sie ihre Liebe gefeiert. Nun war er zurückgekommen, um sich von ihr zu verabschieden.

*

»Hast du schon mal was von einem Asternkavalier gehört?« Marianne Hasselt hatte gerade eine kunstvoll dekorierte Torte nach vorn gebracht, um sie für die Auslieferung fertig zu machen. Spezielle Kartons sorgten dafür, dass den vergänglichen Kunstwerken kein Leid geschah und die Konditorin war eben dabei gewesen, das Schmuckstück mit Tatjanas Hilfe in die Schachtel zu bugsieren, als Mario mit einer Aster im Mund vor dem Schaufenster der Bäckerei aufgetaucht war.

Trotz ihrer Sehbehinderung hatte Tatjana einen Schatten bemerkt und ahnte sofort, zu wem er gehörte.

»Ich kenne einen Rosenkavalier«, lachte sie belustigt auf. »Aber Mario ist ja immer für eine Überraschung gut. Dieses Talent muss übrigens in der Familie liegen. Daran solltest du dich besser mal gewöhnen«, erinnerte sie sich nur zu gern an die verrückten Ideen, mit denen Danny immer mal wieder aufwartete. »Fangen spielen im Regen, nachts barfuß durch den Park laufen, auf Bäume klettern und Kirschen klauen … Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.«

Den lächelnden Blick auf Mario geheftet, der immer noch draußen vor dem Schaufenster stand und Faxen machte, lachte Marianne auf.

»Und ich dachte, dass ich albern bin.«

»Deshalb bist du hier ja auch genau am richtigen Fleck«, erwiderte Tatjana warm und umarmte ihre Kollegin. Erst vor kurzem hatte die alleinrziehende Mutter in der Bäckerei angefangen und war schon jetzt nicht von hier mehr wegzudenken. »Was glaubst du, was wir erst für einen Spaß haben werden, wenn der Umbau abgeschlossen ist.«

»Das ist ja bald so weit.« Noch immer konnte sich Marianne nicht satt sehen an der silberfarbenen Decke, den rustikalen Holzmöbeln und dem dunklen Boden. »Wenn ich erst fertig bin mit meiner Deko werde ich hier einziehen«, scherzte sie gut gelaunt.

»Und unsere Kunden noch dazu. Danny hat schon Angst, dass ich dann gar nicht mehr heimkomme«, berichtete Tatjana von den Sorgen ihres Freundes. »Aber apropos heimkommen … Warum kommt Mario denn nicht endlich rein? Will er Wurzeln schlagen da draußen?«

»Vielleicht traut er sich nicht«, mutmaßte Marianne und erinnerte sich an die kurze Verstimmung am vergangenen Wochenende.

Diese Vermutung brachte Tatjana zum Lachen.

»Mario und sich nicht trauen?«, prustete sie ungläubig heraus. »Das sind ja ganz neue Züge an unserem Chefarzt. Daran bist mit Sicherheit du schuld. Scheinbar kitzelst du ganz neue Eigenschaften aus ihm heraus.«

»Sollte das nicht in jeder Beziehung so sein?«, fragte Marianne versonnen und klappte vorsichtig den Deckel der Kuchenschachtel zu. »Eine gegenseitig Inspiration? Gegenteil und Ergänzung zugleich?«

Tatjana musterte ihre Mitarbeiterin nachdenklich.

»Du bist ja eine richtige Philosophin«, bemerkte sie anerkennend. »Trotzdem solltest du deinen Verehrer endlich aus seiner unsicheren Lage befreien.«

Marianne warf einen Blick durchs Schaufenster.

»Ich glaube, das tut er gerade selbst.«

Tatsächlich klingelte gleich darauf das kleine Glöckchen über der Tür und kündigte den Besucher an. Dieses Relikt war das Einzige, was an die Zeit vor dem Umbau erinnerte. Alles andere erstrahlte in neuem Gewand.

»Schönen guten Tag, die Damen!«, begrüßte Mario Cornelius die beiden und machte eine artige Verbeugung. Dann sah er ratlos auf die Blüte in seiner Hand. »Dummerweise hab ich nur eine Blume.«

»Keine Sorge«, lachte Tatjana unbekümmert auf. »Ich hab selbst einen Asternkavalier daheim. Du kannst die Blume getrost deiner Flamme überreichen.«

Das ließ sich Mario nicht zwei Mal sagen und wurde von Marianne mit einer Tasse Kaffee in dem fast fertig renovieren Café belohnt. Nachdem er Platz genommen hatte, sah er sich bewundernd um.

»Roman hat sich ja auch schon um die Klinik verdient gemacht und einige längst fällige Umbauten geplant und angestoßen«, bemerkte er, während er den Blick schweifen ließ. »Aber das hier ist mit Sicherheit sein Glanzstück.«

»Apropos Roman«, griff Marianne diesen Namen dankbar auf. »Hast du in den letzten Tagen was von ihm gehört? Tatjana hat mehrfach versucht, ihn zu erreichen. Vergeblich. Er geht nicht ans Telefon und ruft auch nicht zurück. Das sieht ihm gar nicht ähnlich.«

Ratlos zuckte Mario Cornelius mit den Schultern. Hin und wieder traf er den Architekten in der Klinik und manchmal auch im Hause der Familie Norden.

»Ich hab nur von Jenny gehört, dass sie ein Wochenende mit ihm in einem Hotel in Österreich verbringen wollte. Daraus ist dann aber nichts geworden.«

Marianne trank einen Schluck Kaffee.

»Na ja, er wird schon wieder auftauchen. Zum Glück konnte Tatjana das Problem mit einem der Handwerker selbst lösen.«

»Sehr schön.« So kannte und schätzte Mario die junge Bäckerin. Im Augenblick lag sein Interesse allerdings ganz bei der aparten Frau, die neben ihm saß. »Dummerweise hab ich auch ein Problem. Aber ich fürchte, dass ich das nicht lösen kann.«

»Ach ja?« Überrascht legte Marianne den Kopf schief. Nach allem, was sie von und über Mario erfahren hatte, war er sehr lösungsorientiert, und sie kannte ihn noch nicht gut genug, um zu wissen, wann er sich einen Spaß mit ihr erlaubte. »Wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann?«

Mit betont ernster Miene wiegte Mario Cornelius den Kopf.

»Es geht um eine wunderschöne Frau, die ich wahnsinnig gern zum Essen einladen würde …«, begann er zögernd.

Im Bruchteil einer Sekunde stand Marianne wieder das Bild der hübschen Lernschwester vor Augen. Glücklicherweise setzte gleichzeitig ihr Verstand ein, und sie lächelte.

»Und wo ist das Problem?«

Mario rührte in seinem Kaffee und gab vor, intensiv darüber nachzudenken.

»Ich glaube, diese besondere Frau fühlt sich leicht bedrängt. Das möchte ich natürlich nicht. Aber wie soll ich sie sonst einladen?«

In diesem Augenblick wusste Marianne, dass Mario nur sie meinen konnte.

»Du könntest dir eine Überraschung ausdenken«, spielte sie das Spiel belustigt mit. »Warum schickst du nicht eine Torte als Einladung? Sowas hab ich schon gemacht. Das ist sehr gut angekommen. Willst du Fotos sehen?« Schon machte sie Anstalten aufzustehen, als Mario sie am Arm zurückhielt.

»Das ist eine sehr gute Idee«, lobte er, und seine Augen funkelten spitzbübisch. »Aber auf Dauer ziemlich teuer.«

Marianne lachte.

»Stimmt. Das Geld investierst du besser in ein schönes Essen.« Allmählich wurde sie ungeduldig. »Aber warum fragst du deine Angebetete nicht einfach? Vielleicht hat diese Frau ja inzwischen eingesehen, dass sie überreagiert hat«, gab sie Mario einen wichtigen Hinweis, der ihn sichtlich überraschte.

»Damit würde meine Bewunderung für sie ins Grenzenlose steigen«, entfuhr es ihm und schon konnte Marianne wieder lachen. Lachend sah ihm dabei zu, wie er seine Tasse leerte, und sie lächelte immer noch, als er aufstand. Als er sich aber von ihr verabschiedete, ohne eine Einladung auszusprechen, verging ihr das Lachen Allmählich.

»Ich muss dringend noch ein paar Sachen erledigen«, erklärte Mario unbeschwert und wünschte ihr einen entspannten restlichen Arbeitstag.

Wie vom Donner gerührt saß Marianne Hasselt am Tisch und starrte ihm nach, lauschte auf das hektische Klingeln des Glöckchens über der Tür. War es möglich, dass der begehrenswerte Arzt doch Carina gemeint hatte?

*

»Ach, Chefin, gut, dass ich Sie hier treffe.« Andrea Sanders’ Stimme klang über den Klinikflur. »Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«

Jenny blieb stehen und drehte sich um. Sie sah ihrer Assistentin dabei zu, wie sie – ein Klemmbrett unter dem Arm – mit eiligen Schritten auf sie zukam.

»Was gibt’s denn so Dringendes?« Unwillkürlich begann ihr Herz schneller zu schlagen. Vielleich hatte Andrea ja eine Nachricht von Roman.

Seit Tagen war ihr Lebensgefährte wie vom Erdboden verschwunden. Zunächst hatte sich Jenny keine Gedanken darüber gemacht. Als sich Roman aber auch nach zwei Tagen nicht bei ihr gemeldet hatte, hatte sie endlich schweren Herzens den Hörer in die Hand genommen. Doch bis jetzt war es nur sein Anrufbeantworter, der die Telefonat entgegen nahm und Jenny wurde allmählich nervös.

Inzwischen machte Andrea vor ihrer Chefin halt.

»Ich muss ein paar dringende Sachen mit Ihnen absprechen.« Sie warf einen hektischen Blick auf die Uhr. »In einer Stunde kommt der Redakteur des wissenschaftlichen Magazins zum Interview. Der Fotograf, der ihn begleitet, möchte vorher ein paar Bilder machen. Wäre das für Sie in Ordnung? Und wegen dem Jubiläum der Stiftung »Ein Bild für Mama« brauche ich noch Infos, wie viele Gäste Sie erwarten. Das Catering muss gebucht werden …« Als Andrea die Miene der Klinikchefin sah, hielt sie erschrocken inne. »Stimmt was nicht? Geht es Ihnen nicht gut?«

Tatsächlich war Jenny Behnisch von einem plötzlichen Schwindel ergriffen worden. Sie streckte die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen.

»Alles gut. Ich fürchte, ich hab heute Morgen vergessen zu frühstücken.« Jenny kämpfte noch immer mit dem Schwindel, als Danny Norden des Wegs kam.

An diesem Morgen hatte er den Besuch in der Klinik übernommen und war wie zuvor Andrea auf der Suche nach Jenny gewesen.

»Ah, Jenny, gut, dass ich dich treffe. Die Nachuntersuchung für deine Cousine findet in einer Viertelstunde statt. Du musst bitte gleich …«

Dieser kleine Hinweis brachte das Fass schließlich und endlich zum Überlaufen.

»Ich muss gar nichts!«, brauste die Klinikchefin ungehalten auf. »Ich bestimme selbst, was ich wann zu tun habe. Und schaut mich nicht so vorwurfsvoll an! Ich bin auch nur ein Mensch!« Mit diesen Worten stieß sie sich von der Wand ab, machte auf dem Absatz kehrt und eilte mit entschiedenen Schritten davon.

Verdutzt starrten ihr Andrea und Danny nach.

»Au weia!«, bemerkte der junge Arzt und wiegte besorgt den Kopf, als sie um die Ecke verschwand.

»Das kannst du laut sagen«, stimmte die Assistentin zu. Mehr gab es zu diesem Auftritt nicht zu sagen, und unverrichteter Dinge kehrte sie in ihr Büro zurück.

*

Inzwischen hatte Jenny Behnisch das Zimmer ihrer Cousine Nicole erreicht. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie diesen Weg eingeschlagen hatte. Überwältigt von ihren Gefühlen stand sie schwer atmend vor der Tür. Ihre Hand lag schon auf der Klinke, doch sie zögerte noch. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, mit dem sie über alles sprechen konnte. Aber wollte sie das?

Ehe Jennys Verstand eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, trat sie ein. Nicole saß halb aufrecht im Bett, den neugierigen Blick auf die Tür geheftet.

»Jenny!« Ein Leuchten erhellte ihr Gesicht, als sich ihre Cousine einen Stuhl ans Bett zog und sich setzte. »Du hast aber auch schon mal besser ausgesehen.«

»Danke für die Blumen!« Die Klinikchefin zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ehrlich gesagt ging es mir auch schon mal besser.«

Nicole setzte sich bequem zurecht und legte den Kopf ein wenig schief. Sie erkannte die Not im Gesicht ihrer Cousine.

»Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir?«, fragte sie unerwartet weich.

»Was soll schon los sein?«, wollte sich Jenny der Wahrheit erneut entziehen, besann sich dann aber eines Besseren. Sie seufzte tief, ehe sie sagte: »Ich habe seit Sonntag nichts von Roman gehört. Allmählich mache ich mir Sorgen.«

»Du machst Witze!« Nicole lachte ungläubig. »Wenn sich Uritz länger als einen Tag nicht bei mir gemeldet hat, bin ich fast verrückt geworden vor Sorge. Und umgekehrt.«

»Wir haben eine andere Art Beziehung«, wollte sich Jenny herausreden, aber davon wollte Nicole nichts wissen.

»Wovor hast du eigentlich Angst? Ich meine, so gemein, wie du zu deinem Lebensgefährten warst, ist man nicht ohne Grund. Hast du Panik? Weil er mehr Nähe und Liebe will als du?«, fragte sie forschend.

Sie griff nach dem Glas Früchtetee, das auf dem Nachttisch stand. Während sie trank, ließ sie ihre Cousine nicht aus den Augen.

»Ich … Ich weiß auch nicht. Eigentlich will ich ihn nicht verlieren«, gestand Jenny zögernd und wagte es kaum, Nicole ins Gesicht zu sehen.

Die konnte nur den Kopf schütteln über so viel Unvermögen.

»Dann frage ich mich wirklich, warum du ihn so behandelst. Warum machst du denselben Fehler immer wieder? Bei allen Menschen, die du liebst?«

»Das mit Uritz war etwas ganz anderes als meine Beziehung zu Roman«, redete sich Jenny heraus.

Doch Nicole dachte nicht daran, diese Ausrede gelten zu lassen.

»Unsinn! Es ist genau dasselbe wie damals«, behauptete sie energisch und verrenkte sich nach der Thermoskanne, die zu weit weg stand.

Jenny bemerkte die Bemühungen ihrer Cousine und eilte ihr zu Hilfe. Fürsorglich schenkte sie Tee nach und stellte die Kanne in Reichweite. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich wieder und starrte nachdenklich vor sich hin.

Dafür hatte Nicole umso mehr zu sagen. »Der Mann liebt dich, und du behandelst ihn wie ein Stück Dreck. Wenn dir jemand zu nahe kommt, gehen bei dir die Jalousien runter«, erklärte sie erbarmungslos.

»Nicole, bitte!«, setzte sich Jenny zur Wehr.

Doch ihre Stimme war matt, und sie starrte betroffen zu Boden.

»Weil es gefährlich ist, jemandem zu zeigen, dass man etwas für ihn empfindet, nicht wahr?«, fuhr Nicole fort. »Weil man dann verwundbar wird, etwas zu verlieren hat. Also verschaffst du dir durch solche Gemeinheiten immer wieder Abstand. Und wenn es sein musst, fliehst du zur Not auch schon mal nach Afrika.« Sie musterte Jenny abschätzend. »Der weiße Kittel und die schöne Klinik stehen dir gut, Frau Doktor. Fühlst du dich wenigstens damit sicher?«

Der Spott in ihrer Stimme tat Jenny weh.

»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte sie gequält. »Was hast du von diesem Gespräch?«

Auf diese Frage antwortete Nicole Ziegler nicht sofort. Auch sie war erschöpft von dieser Unterhaltung. Doch es musste sein, war schon so viele Jahre überfällig.

»Weil ich etwas gutmachen will, auch wenn ich weiß, dass du mit Uritz nie glücklich geworden wärst. Ich wünsche mir, dass auch du endlich eine Liebe erleben kannst. Dass du endlich den Mut findest, dieses Risiko einzugehen. Weil das vielleicht die letzte Gelegenheit ist. Wenn du sie vorüberziehen lässt, wirst du es vielleicht für den Rest deines Lebens bereuen.« Unvermittelt schwammen Nicoles Augen in Tränen. Gleichzeitig ballte sie die Hände auf der Bettdecke zu Fäusten. »Verdammt noch mal, Jenny. Liebst du diesen Mann? Dann zeig es ihm doch endlich.«

Als Klinikchefin war Jenny Behnisch es nicht gewohnt, dass in so einem Ton Klartext mit ihr gesprochen wurde. Sie hatte schwer zu kauen an Nicoles Worten, wusste aber gleichzeitig, dass sie einer gewissen Wahrheit nicht entbehrten. Endlich fand sie den Mut, den Kopf zu heben und ihrer Cousine in die Augen zu sehen.

»Und wie stellst du dir das vor?«, fragte sie schroff. »Roman ist spurlos verschwunden. Und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, ihn zu suchen.«

Doch auch darauf hatte Nicole eine Antwort.

»An deiner Stelle würde ich dort anfangen, wo ihr zusammen am glücklichsten ward.«

*

Glücklicherweise musste Marianne Hasselt an diesem Nachmittag keine Torte mehr dekorieren.

»Andernfalls könnte ich nicht dafür garantieren, dass ich die Sahnerosetten statt mit Marienkäfern mit Totenköpfen garniere«, schimpfte sie, während sie eine Tortenschachtel nach der anderen zur Auslieferung in den Wagen packte.

»Hui, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, wunderte sich Tatjana über die plötzlich so schlechte Laune ihrer Mitarbeiterin. »Oder sollte ich lieber fragen, welcher Asternkavalier?« Obwohl sie gehört hatte, dass Mario die Bäckerei mit beschwingten Schritten verlassen hatte, kam kaum ein anderer Schluss in Frage. Irgendetwas an Marios Verhalten hatte Marianne zutiefst verstört. Das spürte Tatjana mit der ihr eigenen Sensibilität, die sie ihrer Sehbehinderung verdankte. »Sag, was hat er getan?«, fragte sie Marianne und packte sie am Arm, um sie festzuhalten.

»Ach … der ist doch auch nicht besser als alle anderen Männer!«, schimpfte die Konditorin. »Erzählt mir, dass er keine Frauen mag, die Spielchen spielen, und tut es selbst.« In knappen Worten berichtete sie von der Unterhaltung, die sie mit dem Kinderarzt geführt hatte, und fast sofort hatte Tatjana Mitleid mit Marianne. Sie wusste selbst um die Qualen junger Liebe, erinnerte sich noch gut an ihre eigene Unsicherheit, als sie frisch in Danny Norden verliebt gewesen war. Jedes Wort, jeden Satz hatte sie damals seziert und auf seine Bedeutung untersucht.

»Fast immer bin ich daneben gelegen mit meinen Vermutungen, und alles war ganz anders, als ich dachte«, wollte sie Marianne beruhigen.

Die ließ Schultern und Kopf hängen und starrte blicklos auf die schöne, alte Vitrine, die inzwischen den Verkaufsraum zierte.

»Ich weiß ja selbst nicht, warum ich so unsicher bin«, gestand sie zerknirscht ein. »Stell dir vor: Ich bin sogar eifersüchtig auf eine blutjunge Lernschwester. Ist das noch zu fassen? Manchmal frage ich mich, ob ich es nicht lieber lassen und allein mit Tobias bleiben sollte.«

»Wenn ihr euch erst besser kennengelernt habt, kommt deine Sicherheit von selbst wieder«, erwiderte Tatjana und küsste Marianne zum Abschied rechts und links auf die Wange.

Es wurde Zeit, die Torten auszuliefern, eine Beschäftigung, die die Konditorin zumindest für einige Zeit auf andere Gedanken brachte.

Doch kaum hatte sich die letzte Tür eines Kunden vor ihr geschlossen, zog sie schon wieder das Handy aus der Tasche und starrte auf das Display.

»Nichts. Kein Sterbenswörtchen von Mario«, stellte sie deprimiert fest und verfluchte gleichzeitig die modernen Kommunikationsmittel, die immer und überall Kontakt ermöglichten und das Leben von Liebenden damit nicht unbedingt leichter machten.

Übellaunig fuhr sie nach Hause und begrüßte ihren Sohn entsprechend unfreundlich.

»Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass wir ein Schuhregal haben?«, fauchte sie. »Und direkt daneben ist übrigens die Garderobe.« Sie bückte sich nach der Sweat­jacke auf dem Boden und warf sie Tobias zu, der sie geschickt auffing. Seine Miene sprach Bände.

»Mann, ich hasse es, wenn du erst mal meckerst, wenn du heimkommst«, beschwerte er sich lautstark. »Dabei hast du gar keinen Grund dazu.«

Marianne, die schon seine Turnschuhe in den Händen hielt, um sie der Jacke folgen zu lassen, hielt in der Bewegung inne.

»Wie meinst du das?«, fragte sie argwöhnisch, und Tobias wusste, dass er gewonnen hatte.

»Na, ich hab dir Blumen besorgt. Weil du eine so liebe Mama bist«, antwortete er und deutete auf den Strauß tiefroter Rosen, die in einer Vase auf dem Tisch standen.

Sofort wusste Marianne, dass er gelogen hatte. Doch diesmal konnte sie ihrem Sohn nicht böse sein. Im Nu verflog ihre schlechte Laune, und wie auf Wolken schwebte sie hinüber zum Tisch. Sie entdeckte die Karte im Strauß und las die Zeilen, die Mario der Blumenverkäuferin diktiert hatte.

Tobias beobachtete seine Mutter dabei.

»O Mist«, entfuhr es ihm.

Die Karte hatte er übersehen, und in Erwartung eines neuerlichen Donnerwetters hielt er die Luft an.

Wie groß war seine Erleichterung, als sich seine Mutter mit einem engelsgleichen Lächeln zu ihm umdrehte.

»Die Rosen sind ja schon fantastisch … Aber dass du mich auch noch zum Essen einlädst …« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick brach sie gleichzeitig mit Tobias in amüsiertes Gelächter aus.

Alle Wolken waren verschwunden, und Mariannes Himmel hing wieder voller Geigen, als sie ihren Sohn umarmte und küsste und dann ins Bad ging, um sich auf ihre Verabredung mit Dr. Mario Cornelius vorzubereiten. An diesem Abend und auch in Zukunft sollte er nur noch die schöne, starke Marianne zu Gesicht bekommen. Das nahm sich die Konditorin in diesem Augenblick fest vor.

*

Nur zwei Tage nach Roman stand Dr. Jenny Behnisch ohne es zu ahnen an derselben Stelle vor dem Flughafen wie ihr Lebensgefährte. Auch ihre Augen wurden geblendet vom gleißenden Licht der afrikanischen Sonne. Als ihr Blick die staubigen, palmengesäumten Straßen hinunter wanderte, ihre Lunge die warme Luft voll fremder Gerüche einsog, wusste sie, warum Roman dieses Land so sehr liebte.

»Wie oft hat er mich gebeten, mit ihm hierher zurückzukehren?«, murmelte sie leise vor sich hin. »Aber ich hatte nie Zeit. Immer gab es Wichtigeres. Was für ein fataler Fehler.«

»Madame?« Der Fahrer eines Taxis war ausgestiegen und musterte die fremde Frau interessiert.

In perfektem Französisch erklärte Jenny Behnisch, welches Ziel sie hatte, und saß wenig später auf dem staubigen Rücksitz des Taxis, das sie hoffentlich zu Roman bringen würde. Nach dem Gespräch mit Nicole hatte sie einer inneren Eingebung folgend die Koffer gepackt und einen Flug gebucht. Und nun war sie hier und konnte nur hoffen, sich nicht geirrt zu haben.

Jenny war so in Gedanken versunken, dass sie die märchenhafte Umgebung nicht bemerkte und auch das Meer übersah, das in leuchtendem Türkis zwischen Häusern und Palmen aufblitzte.

Erst die sanfte Stimme ihres Chauffeurs weckte sie aus ihren Gedanken und Erinnerungen.

»Wir sind da, Madame!«

»Vielen Dank.« Jenny gab ein großzügiges Trinkgeld und wandte sich dann dem weitläufigen, strahlend weißen Gebäuden zu. Glückliche Erinnerungen überschwemmten sie wie ungestüme Wellen einen Sandstrand. Als sie die Lobby betrat, versanken ihre Füße im dicken Teppich. Der Herr an der Rezeption hob den Kopf. Trotz der Jahre, die inzwischen vergangen waren, hatte er Jenny nicht vergessen. Er erkannte sie sofort, und ein herzliches Lächeln – oder war es erleichtert? – glitt über sein Gesicht.

»Frau Behnisch, wie gut, dass Sie hier sind!«, rief er und eilte ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. »Herr Kürschner ist in der Bar am Pool. Seit er gekommen ist, sitzt er stundenlang dort und starrt hinaus aufs Meer. Er isst und trinkt kaum und lacht überhaupt nicht. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn.«

Jenny fühlte, wie sich ihr Herz vor Liebe zu Roman zusammenzog. Die Angst, die sich hineinmischen wollte, verdrängte sie tapfer. Es war höchste Zeit, sich mutig der Herausforderung zu stellen.

»Keine Sorge, jetzt bin ich ja hier!«, schützte sie Selbstsicherheit vor und überließ dem Rezeptionisten ihr Gepäck.

Ihre Kehle war trocken, und ihre Knie waren weich, als sie langsam durch die Tür hinaus auf die herrliche Terrasse trat. In helles Sonnenlicht getaucht lag der Pool da und sie musste nach ihrer Sonnenbrille suchen, um die Augen zu schützen. Kein Mensch war hier draußen,, und schon wollte sich Jenny enttäuscht abwenden, als sie die einsame Gestalt entdeckte, die an der Ecke der Bar auf einem Hocker saß und reglos aufs Meer hinaus starrte. Sie ging auf den Mann zu, und wenn möglich, schlug ihr Herz noch schneller.

»Roman!«, sprach sie ihn leise an.

Trotzdem zuckte er erschrocken zusammen, ehe er sich langsam umdrehte.

»Was machst du hier?« Seine Stimme war rau und seine Miene verriet nicht, ob er sich freute oder immer noch wütend war.

»Ich …« Verlegen nahm Jenny die Brille wieder ab und senkte den Kopf. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Ich habe alles falsch gemacht, was ich nur falsch machen konnte.«

Ohne ein Wort zu sagen, wandte sich Roman wieder ab und blickte wieder hinaus aufs glitzernde Meer.

Nervös trat Jenny von einem Bein auf das andere.

»O Mann, es ist tausend Mal leichter, eine Prothese in ein Herz einzupflanzen als sich zu entschuldigen«, schimpfte sie, ärgerlich über ihr eigenes Unvermögen.

Sie war so sehr mit sich und ihren Gefühlen beschäftigt, dass sie das Lächeln nicht bemerkte, das um Romans Lippen zuckte.

»Also schön!«, fuhr sie endlich fort, nachdem sie einen großen Schluck Wasser aus seinem Glas genommen hatte. »Ich bin nicht sehr geschickt in zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Das hat mir auch meine Cousine Nicole gesagt. Darüber zu reden fällt mir auch nicht leicht.« Unwillig schüttelte sie den Kopf. Ihre Worte waren hölzern und ungelenk. Dabei konnte sie stundenlang mitreißend über ein medizinisches Problem referieren. »Aber ich glaube, du hast ein Recht darauf zu erfahren, wie es in mir aussieht«, seufzte sie.

Roman hob den Kopf und sah sie an. Das Lachen war wieder aus seinem Gesicht verschwunden, und jetzt wirkte er fast wütend.

»Schon gut. Du musst dir keine Mühe geben. Offenbar habe ich zu viel in unsere Beziehung hinein interpretiert. Allerdings verstehe ich nicht, dass du nicht von Anfang an mit offenen Karten gespielt hast.«

Diese Aussage schockierte Jenny.

»Aber ich genieße die Zeit, die wir zusammen verbringen, wirklich sehr«, beteuerte sie. »Es ist nur so … ich weiß auch nicht, warum … Aber ich habe Angst vor meinen Gefühlen. Je länger ich mit dir zusammen bin, umso intensiver werden sie. Deshalb bin ich in letzter Zeit immer mehr auf der Flucht.« Wie die einflussreiche Klinikchefin vor ihm stand und ihm hilflos wie ein unerfahrenes Mädchen ihr Herz öffnete, konnte Roman ihr nicht länger böse sein.

»Das ist ja sehr schmeichelhaft für mich«, erklärte er und rutschte langsam vom Barhocker. Als er vor Jenny stand, musste sie zu ihm aufschauen, so groß war er. »Aber wie stellst du dir unsere Beziehung dann in Zukunft vor? So wie jetzt kann ich nicht weitermachen. Ich brauche mehr Verbindlichkeit. Mehr Sicherheit. Mehr Zuneigung und Wärme.«

»Ich weiß, und ich werde mit deiner Hilfe daran arbeiten. Natürlich nur, wenn du noch willst.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Aber ich muss dich warnen: Ich werde sicher nie die anschmiegsame Frau sein, die sich jeder Mann wünscht.«

»Mir reicht es schon, wenn ich weiß, dass ich dir wichtig bin«, erwiderte Roman heiser und kämpfte mit sich. All die Tage und Nächte hatte er sich nach ihr gesehnt, danach, sie in den Armen zu halten, ihre tröstende Wärme zu spüren. In diesem Moment waren all seine Vorsätze, sich nicht wieder auf sie einzulassen, dahin. Sein Widerstand war gebrochen, und er schloss Jenny in seine Arme und hob ihr Kinn, um sie zu küssen. Ein unheilvolles Geräusch hielt ihn davon ab. »Dein Handy!«, bemerkte er unwillig und schob sie ein Stück von sich.

Doch Jenny lachte nur unbekümmert.

»Oh, ich habe vergessen, es auszuschalten.« Kopfschüttelnd zog sie es aus der Tasche. Ohne einen Blick auf das Display zu werfen, drehte sie sich Richtung Pool um, holte aus und schleuderte den Apparat fort.

Fassungslos beobachtete Roman, wie er durch die Luft flog, mit leisem Klatschen auf der Wasseroberfläche aufkam und gurgelnd versank.

»Aber …«, wollte er ansetzen, als er Jennys weiche Lippen auf den seinen spürte.

Ihr Kuss war so leidenschaftlich, dass er alles andere darüber vergaß. Und auch Jenny dachte nur kurz an das zweite Telefon, das wohlverwahrt in ihrem Koffer lag. Nur Daniel und Fee wussten die Nummer und hatten versprochen, sich nur im äußersten Notfall zu melden. Doch Jenny wusste so gut wie ihre liebsten Freunde, dass in diesem Moment nichts so wichtig war wie Roman. Und genau das würde sie ihm in den kommenden Tagen beweisen.

Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 8 – Arztroman

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