Читать книгу Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

Оглавление

»Aus der Bahn! Hier kommt Janni Highspeed«, schallte eine Jungenstimme durch den Garten der Nordens. Gleich darauf schoss der jüngste Sohn der Familie um die Ecke.

Danny Norden hatte gerade noch Gelegenheit, seine sehbehinderte Freundin Tatjana am Arm zu packen und sie beide mit einem beherzten Sprung in eines von Fees Blumenbeeten zu retten.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, rief er seinem Bruder nach, der sein Gefährt schließlich am Ende des Gartenwegs mit einer geschickten Drehung zum Stehen brachte.

»Wieso denn? Ich hab doch extra gerufen!« Der junge Mann zeigte keinerlei Verständnis für die Aufregung.

Und auch Tatjana lachte, als sie aus dem Beet zurück auf den Gartenweg stieg.

»Du vergisst, dass wir längst nicht mehr so jung und gelenkig sind wie du. Das heißt, ich vielleicht schon noch«, verbesserte sie sich frech und sah Danny vielsagend an. »Aber dein Bruder wird langsam ein gesetzter Herr.« Bevor sich Danny für diese Einschätzung der Sachlage rächen konnte, bückte sich Tatjana schnell. Diese Gelegenheit nutzte sie gleich, um den im Beet entstandenen Schaden zu begutachten und um die Sträucher wieder aufzurichten.

»Gesetzter Herr?«, schnaubte Danny empört und marschierte auf Janni zu, der Helm, Knie- und Ellenbogenschützer trug. »Was ist das überhaupt für ein Ding, mit dem du deine Umwelt da in Lebensgefahr bringst?« Er begutachtete das Sportgerät von allen Seiten. Es sah aus wie ein Skateboard, war aber viel länger und hatte größere Rollen.

»Ein Longboard«, erwiderte Janni mit stolzgeschwellter Brust. »Hab ich von Opi bekommen. Fürs gute Zeugnis.«

»Mam und Dad erlauben so was?« Ungläubig schüttelte Danny den Kopf.

»Klar, warum denn nicht? Sport ist gesund!«

»Ich finde, Sport ist Mord«, erklärte Tatjana, die inzwischen auch herangekommen war. »Nicht für viel Geld würde ich mich freiwillig auf so ein Teil stellen.«

Das war die Gelegenheit für Danny, seiner Freundin zu beweisen, dass er noch lange kein gesetzter Herr war.

»Traust dich nicht, was?«, fragte er grinsend von oben herab und stellte das Board in Fahrtrichtung.

»Was hast du vor?« Tatjanas Augen wurden rund und groß.

»Ich werde dir zeigen, was dein ›gesetzter Herr‹ noch alles auf dem Kasten hat!«, triumphierte Danny. »Schließlich war ich früher mal Skateboard-Meister in unserer Straße!« Er stellte den linken Fuß auf das Board und schob mit dem rechten kräftig an. Lautlos glitt es über den Gartenweg. »Ha, da sagst du nichts mehr, was?«, rief Danny. Geschickt hielt er das Gleichgewicht und fuhr elegant um die Kurve, um die sein Bruder eben gekommen war.

»Der kann das ja echt noch!«, bemerkte Janni ein wenig missmutig.

Als jüngster Bruder hatte er es manchmal nicht so leicht, sich gegen die Größeren durchzusetzen, und auch diesmal schien er wieder im Schatten zu stehen, bis ein lautes Poltern, gefolgt von einem Schmerzensschrei, durch den sommerlichen Garten hallte.

»Von wegen ›der kann das noch‹!«, schimpfte Tatjana düster und eilte los, gefolgt von Janni, der sich mehr Sorgen um sein schönes Geschenk denn um die Gesundheit seines ältesten Bruders machte.

»Solange der noch so laut fluchen kann, geht’s ihm nicht richtig schlecht«, kommentierte er die unflätigen Schimpftiraden, die Danny ausstieß.

Flankiert von seinen Eltern saß der junge Arzt auf dem Boden und starrte auf seine rechte Handfläche, die von dem Sturz arg in Mitleidenschaft gezogen worden war.

»Das kommt davon, wenn ältere Männer versuchen, es den Jungen gleichzutun«, bemerkte Daniel augenzwinkernd, nachdem er die Wunde begutachtet hatte.

»So was Ähnliches hab ich auch schon gesagt«, kicherte Tatjana, nachdem sie Daniel und Fee mit einem Kuss auf die Wange begrüßt hatte. Dann kniete sie neben ihrem Freund nieder.

»Wie ist das denn passiert?«, fragte sie zärtlich und ohne Spott in der Stimme, wofür Danny ihr wirklich dankbar war.

»Das blöde Board ist an so einer Kante im Boden hängen geblieben«, brummte er missmutig.

»Das Board kann ja wohl gar nichts dafür«, schimpfte Janni. Er nahm sein Longboard gründlich unter die Lupe und untersuchte es von oben bis unten. »Glück gehabt«, stellte er endlich erleichtert fest. »Nichts passiert.«

»Im Gegensatz zu mir.« Danny hatte sich inzwischen wieder hochgerappelt und zog die blutende Hand zurück, die sein Vater in Augenschein genommen hatte.

»Komm mit rein. Das müssen wir reinigen, desinfizieren und verbinden. Sonst fängst du dir noch eine Infektion ein.«

Danny sah seine Freundin von der Seite an. Der Stachel saß tief, und der Sturz kratzte an seiner männlichen Ehre. Deshalb wollte er wenigstens jetzt nicht wehleidig sein.

»Mach dir keine Umstände. Ich wasch das schnell ab, und dann passt es schon«, winkte er wider jede Vernunft ab und ging an seinen Eltern vorbei in Richtung Terrasse.

»Komm schon!«, versuchte Tatjana, auf ihren störrischen Freund einzuwirken. »Warum lässt du deinen Vater das nicht kurz ansehen?«

»Halb so wild!«, wiederholte Danny noch einmal, diesmal schon energischer, und verschwand im Haus.

Als er wenig später zurückkam, ließ er sich demonstrativ in einen Stuhl fallen. Fast sofort verstummte das Gespräch zwischen Daniel, Fee und Tatjana, und alle sahen ihn fragend an.

»Was denn?«, fragte er sichtlich genervt. »Können wir jetzt endlich Kaffee trinken? Wenn ihr keine Lust habt, dann fang ich eben schon mal allein an.« Er nahm sich einen der Teller vom liebevoll gedeckten Tisch und schnitt sich ein großes Stück von Lennis berühmtem Nusskuchen ab. Fast im selben Moment kreischte Janni auf. Er hatte noch eine Runde mit dem Long­board gedreht und sprang geschickt ab, als er sah, was sein Bruder vorhatte. Keine dreißig Sekunden später saß er neben Danny am Tisch und betrachtete voller Vorfreude das große Kuchenstück, das er für sich in Sicherheit gebracht hatte.

Kopfschüttelnd betrachtete Felicitas ihre beiden Söhne.

»Man könnte meinen, dass das Essen bei uns immer knapp ist.«

»Das glaube ich nicht«, erklärte Tatjana. Bis jetzt hatte sie sich vornehm zurückgehalten. Doch nun siegte auch bei ihr die Anziehungskraft von Lennis köstlicher Küche. »Bei euch schmeckt es einfach zu gut.« Und ehe es sich Daniel und Fee versahen, saß auch Tatjana neben Janni und Danny am Tisch und streckte die Hand nach dem Messer aus, um sich ein Stück Nusskuchen zu sichern.

Lachend folgte das Ehepaar Norden der Freundin ihres Sohnes und setzte sich schließlich mit an den Tisch. Schon bald gesellten sich auch die anderen Kinder der Nordens zu ihnen, und die Luft war erfüllt von munterem Plaudern und Lachen bis tief in den sommerlich-warmen Abend hinein. Dannys Wunde war längst vergessen. Und obwohl sie pulsierte und schmerzte, ignorierte er sie wohlweislich. Für Schmerzen und Krankheit war an diesem schönen Sonntagabend einfach kein Platz.

*

»Wer hat da angerufen?« Die neunzehnjährige Olivia Schamel saß auf der abgeschabten Couch in der Wohnung ihres Freundes. Dort lebte sie seit dem Tod ihrer Großmutter vor einem Jahr. Die Schule hatte sie abgebrochen, als sie Thorsten kennengelernt hatte, und arbeitete seither als Bedienung in einem Café in der Stadt. An diesem Montag hatte sie frei und starrte in den Fernseher. Nebenbei leckte sie einen Löffel ab, den sie vorher in ein Glas mit Schokoladencreme getaucht hatte.

»Ach, das war der Anwalt, der neulich schon mal angerufen hat«, erwiderte Thorsten beiläufig. Viel mehr interessierte er sich für den Zustand der Wohnung. »Warum hast du eigentlich schon wieder nicht aufgeräumt? Du hast es doch versprochen.«

»Hör mal, ich hab einen einzigen freien Tag in der Woche. Den will ich nicht unbedingt auch noch mit Putzen verbringen«, erklärte Olivia, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Außerdem teilen wir uns die Miete. Das bedeutet, dass wir auch die Arbeit teilen. Was wollte dieser Anwalt?«

Ärgerlich stand Thorsten in der kleinen Wohnküche. Die Hände in den Hosentaschen hatte er zu Fäusten geballt. Wie sooft in letzter Zeit ärgerte er sich über seine Freundin. So hatte er sich das Zusammenleben wahrlich nicht vorgestellt. Es war nicht halb so bequem wie gedacht.

»Christine ist vor ein paar Tagen gestorben«, erklärte er lapidar. Auf dem Weg zum Kühlschrank schob er mit dem Fuß einen leeren Karton zur Seite.

Olivia fühlte, wie etwas in ihr zu Eis gefror. War es ihr Herz? Einige Minuten bewegte sie sich nicht und starrte blicklos auf die flimmernde Mattscheibe.

»Und das sagst du mir erst jetzt?«, fragte sie endlich. Noch deutete nichts auf den Wutanfall hin, der gleich ausbrechen würde.

Thorsten zuckte mit den Schultern und öffnete den Kühlschrank, um eine Dose Cola herauszuholen.

»Ich hab’s vergessen.« Die Dose zischte, als er den Verschluss aufriss.

In diesem Augenblick war es um Olivias Beherrschung geschehen.

»Du hast vergessen, mir zu sagen, dass meine Mutter gestorben ist?«, rief sie so wütend, wie Thorsten sie noch nie zuvor erlebt hatte. Gleichzeitig sprang sie auf und riss das Glas Schokoladencreme mit sich. Klirrend fiel es auf den Steinboden und zersprang dort in tausend Scherben. Doch Olivia achtete gar nicht darauf. Sie lief auf Thorsten zu und packte ihn so heftig am Hemdkragen, dass die Cola aus der Dose schäumte und spritzte.

»Bist du verrückt geworden?«, rief er empört. »Das ist ein nagelneues Hemd. Die Flecken gehen nicht mehr raus.«

Doch Olivia hörte seine Worte nicht.

»Du hast vergessen, mir zu sagen, dass meine Mutter gestorben ist?«, wiederholte sie drohend. Ihre grünen Augen schossen funkelnde Blitze.

»Reg dich ab!«, setzte sich Thorsten verwirrt zur Wehr. Mit einem Geschirrtuch wischte er an den Flecken auf seinem Hemd herum und machte die Bescherung damit nur noch schlimmer. »Sie hat sich dein Leben lang nicht um dich gekümmert. Du hast doch selbst immer gesagt, dass sie dir gestohlen bleiben kann.« Es war offensichtlich, dass er das wirklich geglaubt hatte.

Am ganzen Körper zitternd stand Olivia da und atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen.

»Vielleicht hab ich das gesagt. Aber sie war trotzdem meine Mutter«, fauchte sie.

Sie sah Thorsten dabei zu, wie er die Cola ansetzte und trank. Draußen toste der lebhafte Verkehr vorbei. Manchmal stellte sich Olivia vor, es wäre das Meer, das vor dem heruntergekommenen Wohnhaus rauschte. Eine schöne Vorstellung, die sie oft getröstet hatte.

»Tief in mir drin habe ich doch irgendwie immer gehofft, dass sie sich eines Tages bei mir meldet«, gestand sie schließlich leise. Trotz des sommerlichen Windhauchs, der die fadenscheinigen Vorhänge leicht bauschte, schlug sie fröstelnd die Arme vor den schmalen Oberkörper. »Und jetzt ist sie tot.« Das sagte sie mehr zu sich selbst als zu Thorsten.

Der nippte an seiner Dose und wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.

»Der Anwalt meinte, dass Christine ein Haus in München hatte. Er hat mir die Adresse aufgeschrieben.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung des alten Küchenbuffets, wo er den Zettel hingelegt hatte. »Irgendwer muss sich um ihre Sachen kümmern …«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als das Leben plötzlich wieder in Olivias erstarrten Körper zurückkehrte. Als hätte sie ihn nicht gehört, machte sie auf dem Absatz kehrt und lief durch das Wohnzimmer hinüber ins Schlafzimmer.

Thorsten starrte ihr ungläubig nach. Er hörte, wie sie Schranktüren aufriss und wieder zuschlug, Schubladen öffnete und wieder schloss. Irgendwann ging er hinüber und sah, wie sie wahllos Sachen in einen Koffer warf.

»Was hast du vor?«, fragte er erstaunt.

»Ich gehe nach München«, gab Olivia zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen. Sie warf den Deckel des übervollen Koffers zu und setzte sich darauf, um die Schlösser einschnappen zu lassen.

»Wie lange willst du wegbleiben?« Thorsten lachte abfällig. »Du hast ja Zeug für mindestens drei Monate dabei«, sagte er zu ihr, als sie das schwere Gepäck an ihm vorbei aus dem Zimmer schleppte. Auf die Idee, ihr zu helfen, kam er erst gar nicht.

»Wirklich?«, fragte Olivia schnippisch zurück. Sie machte im Flur Halt und begutachtete forschend den Inhalt des Schuhschranks. Dann entschied sie sich für ein Paar Flip Flops, Ballerinas und Winterstiefel und steckte sie in eine Umhängetasche. Ihre Turnschuhe trug sie bereits an den nackten Füßen. »Du glaubst, das reicht nur für drei Monate? Na ja, dann muss ich mir eben irgendwann noch was kaufen«, rief sie ihm durch die geöffneten Türen zu.

Langsam ging Thorsten ein Licht auf. Er folgte seiner Freundin in den Flur. Aus dem Regal hatte sie ihren Ordner mit ihren Unterlagen herausgesucht. Sie hängte die Tasche mit den Schuhen über die Schulter, klemmte den Ordner unter den Arm, nahm den Koffer in die eine Hand und griff mit der anderen nach den Autoschlüsseln.

»Du verlässt mich?«, fragte Thorsten ungläubig.

In der offenen Tür drehte sich Olivia noch einmal zu ihm um. Ein letztes Mal schenkte sie ihm ihr strahlendes Lächeln, in das er sich damals zuerst verliebt hatte. Doch diesmal war es nicht echt.

»Richtig geraten. Einen Menschen, der vergisst, mir zu sagen, dass meine Mutter gestorben ist, kann ich nicht brauchen. Mal abgesehen davon, dass ich eh schon lange gehen wollte. Ich hab nur noch auf einen passenden Moment gewartet. Mach’s gut!« Damit verließ sie endgültig die schäbige kleine Wohnung und marschierte hinunter zu dem alten Wagen, den ihre Großmutter ihr neben etwas Bargeld hinterlassen hatte.

»Tu mir einen Gefallen und mach jetzt nicht schlapp, altes Mädchen«, bat sie ihr Auto.

Diese Bitte war nicht ganz unbegründet. Der Wagen war in die Jahre gekommen und bedurfte dringender Reparaturen. Thorsten hatte ihn immer nur notdürftig repariert, damit er sich wieder vom Fleck bewegte. Doch für die dringend benötigten Ersatzteile fehlte das Geld.

»Komm schon, Olle!«, sprach Olivia mit dem Auto wie mit einem lebendigen Wesen. Sie hatte das Gepäck im Kofferraum verstaut und saß hinter dem Steuer. Zum Glück hatte ihre geliebte Oma noch darauf bestanden, dass ihre einzige Enkelin den Führerschein machte. Ein Wunsch, der sich spätestens jetzt bezahlt machte. »Los, spring an!«, forderte Olivia den betagten Wagen nach einigen erfolglosen Versuchen noch einmal auf und drehte entschlossen den Zündschlüssel herum. Und tatsächlich: Diesmal heulte der alte Motor auf, und ächzend und knirschend setzte sich das Gefährt in dem Moment in Bewegung, als Thorsten – er beobachtete das Geschehen vom Balkon aus – einen spöttischen Kommentar hinunterrufen wollte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Freundin nachzusehen, die in dem ruckenden, zuckenden Wagen für immer davonfuhr.

*

»Oje, der Chef ganz in Schwarz!«, stellte Wendy betroffen fest, als sie an diesem Montagmorgen aus dem Fenster der Praxis hinaus auf die Straße blickte.

»Ist ein Patient gestorben?«, wunderte sich ihre Kollegin Janine Merck. »Ich hab gar nichts mitbekommen.«

»Hoffentlich kein überraschender Trauerfall in der Familie«, tat Wendy ihre Hoffnung kund. Obwohl sie ein gutes Verhältnis zur Familie Norden pflegte, konnte man ja nie wissen.

Wie jeden Morgen waren die beiden Assistentinnen von Dr. Daniel Norden senior und Danny Norden junior schon zeitig in der Praxis, um die Vorbereitungen für den Tag zu treffen. Dazu gehörte auch, Kaffee zu kochen. Der aromatische Duft zog durch die Räume, als Daniel Norden hereinkam.

»Guten Morgen, die Damen!«, begrüßte er seine Mitarbeiterinnen gut gelaunt, und insgeheim atmete Wendy auf. Er war ganz offensichtlich guter Dinge, sodass sie ihn ohne Scheu auf die für die warme Jahreszeit ungewöhnliche Kleiderwahl ansprach.

»Es ist tatsächlich eine Patientin gestorben. Allerdings war sie schon lange nicht mehr hier. Christine Javier war schon seit einiger Zeit schwer krank und in einem Pflegeheim untergebracht.« Nun huschte doch ein Schatten über sein Gesicht. »Tragischer Fall. Sie war erst knapp fünfzig.«

»Christine Javier?« An diesen Namen erinnerte sich Wendy genau. »Ist das nicht diese bekannte französische Schriftstellerin?« Vor Jahren hatte sie ihre Bücher verschlungen.

»Sie war Deutsche und lebte seit vielen Jahren in München«, klärte Daniel Norden seine Mitarbeiterin über ihren Irrtum auf. Inzwischen hatte er das viel zu warme Sacko an den Haken gehängt und nahm dankend den Kaffee, den seine Assistentin Janine ihm reichte. Sie selbst begnügte sich mit einer Tasse Tee, was Daniel mit Sorge registrierte. »Haben Sie immer noch diese Magenprobleme?«, erkundigte er sich mit gerunzelter Stirn.

Seit Wochen ging das schon so. Zunächst hatte Dr. Norden an eine Schwangerschaft gedacht, was sich glücklicherweise nicht bestätigt hatte. Janines Lebensumstände waren im Augenblick zu kompliziert, als dass sie sich aufrichtig über Nachwuchs gefreut hätte. Seit Monaten führte die ehemalige Krankenschwester eine Fernbeziehung mit ihrem Verlobten. Bei einem tragischen Autounfall in Deutschland war Lorenz Herweg jedoch schwer verletzt worden und erholte sich inzwischen auf der Insel der Hoffnung. Sooft es ging, besuchte seine mädchenhaft schmale Verlobte ihn, was ihrer ohnehin angeschlagenen Gesundheit nicht zuträglich war. Janine selbst schob die Übelkeit auf den ständigen privaten Stress. Doch langsam konnte und wollte Daniel diesem Argument keinen Glauben mehr schenken.

»Keine faulen Ausreden!«, warnte er sie, als sie schon wieder eine der üblichen Beschwichtigungen auf den Lippen hatte.

Betreten senkte Janine den Kopf.

»Na ja, viel besser ist es ehrlich gesagt nicht geworden.«

Am Tresen stehend nippte Daniel an seinem Kaffee. Eine unwillige Falte stand auf seiner Stirn, als er seine Assistentin besorgt musterte.

»Das dauert jetzt aber schon ganz schön lange«, erklärte er kritisch. »Für meinen Geschmack viel zu lange. Was halten Sie davon, wenn wir uns die Sache bei allernächster Gelegenheit mal genauer ansehen?«

Janine kaute auf der Unterlippe und dachte nach.

»Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass Lorenz von dem Ergebnis nichts erfährt«, bat sie leise und sichtlich ängstlich.

»Das ist ganz allein Ihre Entscheidung«, lächelte Dr. Norden beruhigend, ehe er sich zu seinem Sohn Danny umdrehte, der eben die Praxis betreten hatte.

»Ah, da ist ja mein Mitstreiter!«, begrüßte er ihn lächelnd. Doch Dannys trübe Miene zeugte nicht eben von guter Laune. »Ist dir an diesem schönen Morgen schon eine Laus über die Leber gelaufen, oder warum ziehst du so ein Gesicht?« Sein kritischer Blick streifte die verbundene Hand. »Gibt es ein Problem?«

Danny, der nicht zugeben wollte, dass die Wunde an der Handfläche immer noch schmerzte und pulsierte, schüttelte den Kopf und rang sich ein Lächeln ab.

»Du kennst doch mein Verhältnis zum frühen Morgen«, erfand er schnell eine fadenscheinige Ausrede.

»Und du kennst das Sprichwort: Der frühe Vogel fängt den Wurm«, konterte Dr. Norden schlagfertig.

Angeekelt verzog Danny den Mund.

»Danke, statt Würmern bevorzuge ich morgens Wendys hervorragenden Kaffee.«

»Es ist Janines hervorragender Kaffee«, korrigierte Wendy diesen Irrtum schnell. »Und nichts für ungut, Chef, aber zu Dannys heutiger Situation passt ›Morgenstund hat Gold im Mund‹ viel besser.« Mit spitzbübischer Miene griff sie nach der Patientenkarte, die ganz oben auf dem Stapel lag und reichte sie Danny. »Herr Gold kommt gleich. Er hat heute schon frühmorgens angerufen, weil er eine schlaflose Nacht hinter sich hat.«

»Das auch noch!«, stöhnte Danny auf und machte sich auf den Weg in sein Sprechzimmer, ehe weitere Hiobsbotschaften auf ihn einprasseln konnten.

Lächelnd sah Daniel seinem Sohn nach, wie er missmutig den Flur hinunterstapfte. Er konnte Danny verstehen. Patrick Gold war ein Hypochonder, wie er im Buche steht, und kam fast jede Woche mit einer neuen eingebildeten Krankheit in die Praxis. Doch selbst ein so anstrengender Patient war noch besser als eine Beerdigung am Vormittag, stellte Daniel insgeheim fest, bevor auch er sich in sein Zimmer zurückzog, um zu arbeiten, bis es Zeit zum Aufbruch wurde.

*

Auch wenn der Besuch von Patrick Gold wie erwartet verlief, brachte er für Danny doch wenigstens die erhoffte Ablenkung von seinen eigenen Schmerzen. Die verletzte rechte Hand in einen frischen Verband gewickelt, saß er am Schreibtisch und hörte geduldig den Erklärungen seines Patienten zu.

»Ich weiß ja, dass ich Senk-Spreiz-Füße habe. Und mein rechtes Bein ist fast zwei Zentimeter kürzer als das linke«, berichtete Herr Gold in dem ihm eigenen, immer ein wenig selbstmitleidigen Tonfall. »Das haben mehrere Orthopäden unabhängig voneinander festgestellt.« Mit entrüsteter Miene beugte er sich vor und winkte Danny zu sich. »Alle sagten sie, dass das harmlos ist«, raunte er ihm verschwörerisch zu. »Aber gestern Abend ist etwas geschehen, was sie Lügen straft.«

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Danny mit höflichem Interesse, das seinen Patienten anspornte.

»Ich bin also mit meinen angeblich harmlosen Senk-Spreiz-Füßen ins Bad gegangen. Und da ist es plötzlich passiert!« Patricks babyblaue Augen wurden kreisrund. »Mein Fuß hat sich angefühlt, als ob ich in einen Igel getreten wäre. Es war ein entsetzlicher Schmerz!«

»Ganz bestimmt laufen in Ihrem Bad keine Igel herum«, bemerkte Danny immer noch lächelnd.

»Natürlich nicht.« Energisch schüttelte Patrick Gold den Kopf. »Ich habe meinen Fuß sofort gründlich untersucht. Stellen Sie sich vor: Da war nichts. Kein Splitter, keine Wunde, nur eine Beule.«

»Interessant. Darf ich mir die Sache mal ansehen?«, fragte Danny und wollte sich mit den Händen auf der Lehne abstützen, um aufzustehen, als ein scharfer Schmerz durch seine rechte Hand fuhr. Über Patricks Bericht hatte er seine eigene Verletzung ganz vergessen. Er unterdrückte ein Stöhnen und sank auf den Stuhl zurück. Das war auch gut so, denn sein Patient war noch nicht fertig mit seinem Bericht.

»Ich hab dann sofort meinen Laptop geholt und mal nachgesehen, was das sein kann«, fuhr der junge Mann Ende zwanzig mit gewichtiger Miene fort. »Also habe ich ›Schwellung Fußsohle‹ eingegeben und bin auf einen Eintrag gestoßen, der alle möglichen Ursachen genannt hat, angefangen von Entzündungen der Achilles-Sehne oder der Schleimbeutel über einen Ermüdungsbruch des Fersenbeins bis hin zu Knochenzysten und Tumoren«, zählte der besorgte Mann ein Schreckgespenst nach dem anderen auf. »Sie können sich vorstellen, wie sehr ich erschrocken bin.«

»Wenn ich mir die Sache mal ansehen dürfte, könnte ich Ihnen …«, machte Danny einen weiteren Versuch, seinen Patienten ins Behandlungszimmer zu komplimentieren.

Doch diesmal hörte Patrick Gold ihn gar nicht. Fasziniert von seinen Rechercheergebnissen fuhr er fort.

»Eine Schleimbeutelentzündung habe ich sofort ausgeschlossen.« Allein das Wort war so eklig, dass Patrick Gold damit nichts zu tun haben wollte. »Ein Ermüdungsbruch kam auch nicht infrage. Aber als ich mich näher mit den Tumoren beschäftigt habe, ist etwas ganz Merkwürdiges passiert. Meine Beule fing plötzlich an zu pochen und wurde schlagartig dicker.« Während Patrick Gold erzählte, machte sich nach und nach Panik in seinem Gesicht breit. »Eine Frau schrieb in einem Bericht, dass es bei ihr genauso anfing wie bei mir. Sie hatte Muskelkrebs.« Plötzlich schwammen seine Auge in Tränen. »Bitte, Herr Norden, Sie müssen mir helfen. Ich will noch nicht sterben.«

Hätte Danny diesen Patienten nicht so gut gekannt, hätte er sich an dieser Stelle ernsthafte Sorgen gemacht. So aber lächelte er nur beschwichtigend und stand auf. Diesmal achtete er darauf, sich nicht mit der rechten Hand abzustützen, und bat Herrn Gold hinüber ins Behandlungszimmer.

»Bitte kommen Sie. Ich werde mir das jetzt mal genauer ansehen.«

Tatsächlich folgte der Patient ihm willig. Er setzte sich auf die Liege, zog die Strümpfe aus und hielt Danny den Fuß hin. Die Untersuchung dauerte nur wenige Minuten. Dann konnte Danny Norden ihm die erlösende Botschaft überbringen.

»Bei Ihrer Verletzung handelt es sich um ein geplatztes Blutgefäß. Das kann schon mal passieren.«

»Ein geplatztes Blutgefäß?«, wiederholte Patrick Gold ungläubig und wirkte fast enttäuscht. »Das ist alles? Sind Sie sicher.«

»Ganz sicher.« Danny verzog kurz das Gesicht, als er den Latexhandschuh von der verletzten Hand streifte. »Sie können unbesorgt sein.«

Doch das schien der Patient ganz und gar nicht zu wollen.

»Aber wie passiert so was denn? Ich meine, das muss doch irgendwelche Gründe haben.«

Die gab es nicht. Doch aus Erfahrung wusste Danny Norden, dass sein Patient erst zufrieden sein würde, wenn er ihm eine plausible Begründung gegeben hatte. So berichtete er etwas über Zellerneuerung und geschwächte Blutgefäße und erreichte schließlich sein Ziel: Patrick Gold war überzeugt.

»Wenn das so ist, dann bin ich ja schon mal beruhigt. Bekomme ich denn jetzt noch einen Verband? Bestimmt muss ich mich ein paar Wochen lang schonen, nicht wahr?«

Auch das war nicht der Fall. Trotzdem tat Danny ihm den Gefallen und rief Wendy, die einen fachmännischen Verband anlegte. Eine Viertelstunde später humpelte der junge Mann aus der Arztpraxis und war wieder einmal zufrieden.

»So, jetzt kann der arme Herr Gold ein paar Wochen ruhig schlafen, bevor die Angst wiederkommt«, erklärte Wendy mitfühlend, als sie zu Janine an den Tresen zurückkehrte.

»Der Ärmste! Selbst wenn es nur eingebildete Krankheiten sind, leidet er bestimmt genauso wie im Ernstfall.«

Dieser Einschätzung konnte Wendy nur zustimmen.

»Deshalb geben wir auch bei diesen Patienten unser Bestes. Wer weiß, vielleicht sind sie ja einsam und allein und bekommen auf diese Weise wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit«, mutmaßte sie, während sie Laborberichte aus der Klinik zu den entsprechenden Patientenkarten sortierte.

Zu gern hätte sich Janine noch länger über dieses Thema unterhalten. Sie kannte das Gefühl der Einsamkeit selbst gut genug aus ihrer Zeit, bevor sie in der Praxis Dr. Norden angefangen und Lorenz Herweg dort kennengelernt hatte. Doch wie immer herrschte reger Betrieb und erinnerte sie daran, dass diese Zeiten ein für alle Mal der Vergangenheit angehörten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen bat sie den nächsten Patienten in Danny Nordens Zimmer.

*

Auch für Olivia Schamel war Einsamkeit nicht nur ein leeres Wort. Obwohl sich ihre Großmutter zeit ihres Lebens liebevoll um ihre einzige Enkelin gekümmert hatte, hatte Olivia ihre Mutter schmerzlich vermisst. Und jetzt war es zu spät. Darüber dachte sie auf ihrer langen Fahrt nach München nach, und die eine oder andere Träne rann über ihre schmale Wange.

Doch schließlich erreichte sie die Stadtgrenze und verfuhr sich prompt im dichten Gewirr der unbekannten Straßen.

»Schrottkarre!« Am späten Vormittag stand Olivia ratlos vor ihrem Wagen, der ausgerechnet vor der Praxis Dr. Norden seinen Geist aufgegeben hatte. Sie versetzte ihm einen wütenden Tritt. »Wie stellst du dir das vor? Wie soll ich von hier weiterkommen?«, fragte sie verzweifelt und sah sich in dem ruhigen Wohnviertel um. Weit und breit war keine Menschenseele auf der Straße zu sehen. Bis auf einen. Und der machte nicht gerade einen wohlgesonnenen Eindruck, als er mit düsterer Miene einen Gartenweg hinunter auf sie zumarschiert kam.

»Entschuldige, aber hier kannst du nicht parken«, erklärte Danny Norden ganz gegen seine sonstige Natur unfreundlich. Der Vormittag war der wahre Horror gewesen, was nicht nur an Patrick Gold gelegen hatte.

Nachdem die Wunde an der Hand nicht aufhören wollte zu pulsieren, hatte Danny den Verband abgewickelt. Die Schwellung, die zum Vorschein gekommen war, sah nicht gut aus, und er hatte beschlossen, zumindest über die Mittagszeit keinen Verband mehr anzulegen.

»Das ist ein Privatparkplatz.« Er deutete auf das Namensschild, das am Straßenrand stand und den Stellplatz als Dr. Nordens Eigentum auswies.

»Kann schon sein«, erwiderte Olivia genauso unfreundlich. »Vielleicht kannst du das auch meinem Wagen erklären. Er rührt sich nicht mehr vom Fleck.«

Kritisch begutachtete Danny das sichtlich in die Jahre gekommene Gefährt.

»Kein Wunder, wie der aussieht!«, bemerkte er dann ärgerlich. »Hat dieser rollende Schrotthaufen überhaupt noch TÜV?«

»Darüber zerbrech dir mal nicht deinen grimmigen Kopf«, fuhr Olivia den jungen Arzt an. »Hilf mir lieber mal, die Karre wieder flottzumachen. Dann bist du mich auch sofort wieder los«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Antipathie.

Inzwischen hatte Danny nicht nur Gelegenheit gehabt, das Auto zu inspizieren, sondern auch die junge Besitzerin.

Mit ihren rotblonden Haaren, den grünen Augen und dem vollen Schmollmund war Olivia eine ungewöhnliche, aber nicht minder aparte Erscheinung. Aus diesem Grund und auch deshalb, weil sie aus ihrer Abneigung keinen Hehl machte, beschloss er, freundlicher zu sein.

»Dann wollen wir mal sehen, wo der Hase im Pfeffer liegt«, erklärte er. »Machst du mal die Motorhaube auf?«

Während Olivia um den Wagen herumging, beäugte sie ihn kritisch.

»Du siehst nicht aus wie jemand, der sich mit Autos auskennt«, bemerkte sie abfällig.

»Mit den neuen Modellen eher weniger«, gab Danny zu und hob mit einem Ruck die rostige Motorhaube hoch. »Aber von komplizierter Elektronik hat dieses museumsreife Stück ja noch nichts gehört. Das krieg ich auch noch hin«, grinste er frech. Bedacht darauf, die verletzte Hand nicht zu sehr zu belasten, stützte er sich auf der Karosserie auf und beugte sich vor, um einen Blick in den Motorraum zu werfen. Er ruckelte hier an einem Kabel und zog dort an einem Stecker, fand jedoch nichts Verdächtiges. »Wann hast du denn zuletzt den Ölstand kontrolliert?«, fragte er, um seine Ahnungslosigkeit zu überspielen.

»Keine Ahnung«, erklärte Olivia. Sie stand inzwischen neben Danny und äugte ihm über die Schulter. Seine Miene war freundlicher geworden, und insgeheim hatte sie festgestellt, dass er durchaus sympathisch wirkte. »Solche Sachen hat mein Freund immer erledigt.«

»Dann weißt du wahrscheinlich auch nicht, wo der Ölmessstab steckt?«, mutmaßte Danny.

Olivia, die vor dem attraktiven jungen Mann nicht dumm dastehen wollte, griff an seinem Arm vorbei in den Motorraum. Dabei stieß sie an die Stütze, die die Haube hielt.

»Vorsicht!«, rief sie noch erschrocken und zog sich blitzschnell zurück.

Auch Danny zuckte zurück. Doch es war zu spät.

»Aaaahhh, meine Hand!« Er schrie auf vor Schmerz, als die altersschwache rostige Motorhaube mit aller Wucht ausgerechnet auf seine verletzte Hand krachte.

»Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!«, jammerte Olivia. Vor Schreck war sie kreidebleich geworden und zog und zerrte an der schweren Haube. Schließlich gelang es ihr, sie so weit anzuheben, dass Danny die Hand herausziehen konnte.

»Na toll, das hast du ja wirklich gut hingekriegt!«, schimpfte er, während er den roten Striemen und die Abschürfungen anstarrte, die sich über den Handrücken ­zogen. »Wenn ich Pech habe, ist der Mittelhandknochen gebrochen. Dann kann ich in den nächsten Wochen nicht arbeiten.«

»Es tut mir wirklich leid. Das wollte ich nicht«, versicherte Olivia weinerlich und wollte nach seiner Hand greifen, um das Malheur aus der Nähe zu betrachten.

Ärgerlich machte Danny einen Schritt zurück.

»Finger weg. Du hast schon genug Ärger gemacht«, wütete er weiter. Vor Schmerz standen ihm Tränen in den Augen, und er starrte noch auf die verletzte Hand, als der Wagen seines Vaters um die Ecke bog.

Daniel hielt neben den beiden jungen Leuten und begrüßte sie zu Olivias Erleichterung freundlich.

»Nanu, was ist denn hier los?«, fragte er dann.

»Dieses ungeschickte Frauenzimmer hat mir die Motorhaube auf die Hand geknallt«, machte Danny seiner Ärger ungeniert Luft. Mit jedem Wort wurde Olivia noch kleiner, fühlte sie sich noch schuldiger.

»Das wollte ich nicht! Ehrlich«, versicherte sie noch einmal in Daniels Richtung. »Ich hab’s mit meinem Wagen gerade noch bis zu Ihrem Parkplatz geschafft. Und jetzt macht er keinen Mucks mehr. Das tut mir wirklich leid. Alles«, versicherte sie hilflos. Mit ihrem geblümten kurzen Kleid und den bloßen Füßen in den Turnschuhen wirkte sie wie ein Mädchen, sodass Daniel kurz Zweifel hatte, ob sie überhaupt schon Auto fahren durfte.

»Das mit dem Parkplatz ist halb so schlimm«, erklärte er schnell, um sie wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Er sah Danny an, der sich immer noch die Hand hielt und leise vor sich hin fluchte. Eine Entscheidung musste her. Die traf Daniel wie immer schnell und unbürokratisch. »Ich denke, ich bringe meinen Sohn schnell in die Klinik. Die Hand muss geröntgt werden, um einen Bruch auszuschließen«, erklärte er so besonnen, dass sich auch Olivia langsam wieder beruhigte. »Sie können inzwischen in der Praxis warten. Wenn ich mich nicht irre, gibt es gerade Mittagessen. Meine beiden Assistentinnen teilen sicher gern mit Ihnen. Die beiden sind erstklassige Köchinnen und bringen immer allerlei Köstlichkeiten mit.« Während er sprach, winkte er Danny zu sich in den Wagen.

Mit einem verächtlichen Blick ging er an Olivia vorbei und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

»Das ist wirklich freundlich von Ihnen. Aber ich will keine Umstände machen«, gab die junge Frau völlig eingeschüchtert zurück.

»Mach kein Theater und geh schon rein!«, fuhr Danny sie böse an. »Du kannst ja schlecht auf der Straße warten, bis wir wieder da sind«, erklärte Danny so unfreundlich, dass Daniel einschreiten musste.

»Ich glaube kaum, dass die junge Frau das mit Absicht getan hat«, erklärte er seinem erwachsenen Sohn streng. »Deshalb kannst du ruhig ein bisschen freundlicher sein. Schließlich passieren dir auch Sachen, die du nicht wolltest«, spielte er auf den Sturz vom vergangenen Tag an.

Unwillig presste Danny die Lippen aufeinander.

»Schon gut«, murmelte er dann und zwang sich ein schmales Lächeln auf die Lippen. »Tut mir leid.«

Olivia seufzte erleichtert auf und reichte Dr. Norden durch das geöffnete Fenster die Hand.

»Mein Name ist übrigens Olivia Schamel. Ich warte dann drinnen auf Sie.«

Ehe Dr. Norden noch etwas sagen konnte, drehte sie sich schnell um und lief leichtfüßig den Gartenweg hinauf in Richtung Praxis. Ihr leichtes geblümtes Kleid umwehte ihre Beine und tanzte mit ihren Schritten auf und ab.

»So ein Zufall aber auch«, murmelte Daniel und schüttelte ungläubig den Kopf. Ohne sich weiter zu erklären, ließ er den Motor an und fuhr los. Und Danny fragte auch nicht. Er war zu sehr mit seiner Hand und den Schmerzen beschäftigt.

*

»Und mit dieser Hand hast du heute schon Patienten behandelt?« Dr. Jenny Behnisch höchstpersönlich nahm sich des Sohnes ihres Freundes an, während Daniel Norden die günstige Gelegenheit nutzte, um ein paar Patienten zu besuchen. Ungläubig starrte sie auf die Wunde in der Handfläche, die gefährlich rot und angeschwollen war.

»Die ist erst in den letzten zwanzig Minuten so dick geworden«, bemerkte Danny missmutig. »Das kommt bestimmt davon, dass mir dieses Gör die Motorhaube auf die Hand geknallt hat.« Er drehte die Hand um und zeigte Jenny die blutunterlaufene Quetschung. »Hoffentlich gibt das keine Infektion.« Wenn er an den Rost und Schmutz dachte, der mit Sicherheit in die Schürfwunden geraten war, wurde ihm ganz anders.

Behutsam hielt Jenny Behnisch seine Hand und betrachtete sie von allen Seiten.

»Beweg doch mal bitte die Finger.«

Danny versuchte es, doch der Versuch scheiterte kläglich. Jenny lachte.

»So könnte ich auch keinen Finger krumm machen. Lass doch mal locker.« Sie fasste nach seinem Handgelenk und drehte es hin und her.

Danny stöhnte auf vor Schmerz, und Jenny wurde ernst. Sie griff nach einem Kugelschreiber und fuhr damit an der Innenseite von Dannys Fingern entlang.

»Spürst du das?«

»Klar«, gab er zurück, als sich die Tür öffnete und Daniel schwungvoll hereinkam.

»Na, seid ihr schon fertig?«

Mit sorgenvoller Miene drehte sich Jenny auf ihrem Hocker zu ihm um.

»Sieht alles nicht so gut aus.«

»Ist was gebrochen?«, fragte Daniel erschrocken. Damit hatte er ganz offensichtlich nicht gerechnet.

»Das wissen wir noch nicht. Dazu brauchen wir noch ein Röntgenbild. Und ein Blutbild wegen der Entzündungsparameter.«

»Ich bringe ihn in die Radiologie.«

Auf Dr. Nordens Stirn stand eine tiefe Falte, während er seinen Sohn in die Radiologie begleitete.

»Ich hätte gestern doch lieber einen Blick auf deine Verletzung werfen sollen«, konnte er sich nicht länger zurückhalten, verhaltene Kritik an der Unbesonnenheit seines Sohnes zu üben.

Doch Danny schnaubte nur unwillig.

»Das war diese blöde Motorhaube«, schob er die ganze Schuld auf Olivias Missgeschick.

Diese Bemerkung erinnerte Daniel an etwas.

»Das Leben geht wirklich manchmal seltsame Wege.«

»Hä?« Danny schickte seinem Vater einen verwunderten Seitenblick. »Wie meinst du das denn wieder?«

Ein trauriges Lächeln huschte über Daniels Gesicht.

»Ich war doch heute auf dieser Beerdigung. Ich bin mir nicht sicher. Aber ich fürchte, dass es Olivias Mutter war, die wir zu Grabe getragen haben.« Er drückte auf einen Knopf an der Wand, und wie von Zauberhand öffnete sich die Tür zur Radiologie.

»Moment mal, diese Schriftstellerin hieß doch Javier«, warf Danny ein, während er seinem Vater durch die Tür folgte. Sie begrüßten eine Schwester, die sie schon erwartete, und gingen zu dritt weiter den Flur hinab. »Olivia heißt doch Schemel mit Nachnamen. Oder so ähnlich.«

»Schamel!«, korrigierte Daniel Norden seinen Sohn. Er hatte den Namen der jungen Frau noch sehr wohl im Kopf. »Javier ist auch nur ein Künstlername. Christines echter Name war ebenfalls Schamel. Und der ist ja nun nicht so häufig.«

»Wenn es wirklich ihre Mutter war, wäre Olivia doch auf ihre Beerdigung gegangen«, wollte Danny jedoch nicht an diesen Zufall glauben.

Inzwischen waren sie an ihrem Ziel angelangt. Er dankte der Schwester mit einem freundlichen Nicken und betrat das Büro der Radiologin. An dieser Stelle fand das Gespräch zwischen Vater und Sohn ein vorläufiges Ende.

Doch auch Daniel Norden hatte sich vorgenommen, Olivia auf den Zahn zu fühlen. Er ahnte nicht, dass die Dinge noch eine dramatische Wende nehmen würden, bevor er endlich in die Praxis zurückkehren konnte.

»Da seid ihr ja wieder«, begrüßte Jenny Behnisch ihren Patienten eine halbe Stunde später sichtlich ungeduldig. »Ich hab auf euch gewartet. Das Labor ist schon da.«

»Schneller ging’s leider nicht«, gab Danny zurück und hielt ihr die CD mit den Röntgenbildern hin. »Du brauchst sie nicht anzusehen. Die Mühe kannst du dir sparen.«

Ein erleichtertes Lächeln huschte über Jennys angespanntes Gesicht.

»Nichts gebrochen?«

»Nein. Dafür habe ich das Gefühl, dass die Hand immer dicker wird«, gestand Danny zähneknirschend. »Kein Wunder, wenn ständig jemand darauf herumdrückt.« Die vielen Untersuchungen hatten weder seiner Stimmung noch seinem Gesundheitszustand gutgetan.

»Zeig noch mal her!«, bat sie ihn, und folgsam setzte sich der junge Arzt vor die Klinikchefin auf einen Stuhl.

Sie rollte mit dem Hocker heran.

»Die Schwellung hat wirklich zugenommen.« Sie zog den Kugelschreiber aus ihrer Brusttasche und fuhr damit erneut über die Finger. »Spürst du das?«

Missmutig schüttelte Danny den Kopf.

»Alles taub«, musste er widerwillig zugeben.

Jenny seufzte und rollte hinüber zu dem kleinen Tisch, auf dem die Ergebnisse des Labors lagen. Sicherheitshalber warf sie noch einmal einen Blick darauf.

»Die Entzündungsparameter sind leicht erhöht, aber nicht besorgniserreg…« Sie hielt verdutzt inne, als Danny ihr das Blatt aus der Hand nahm.

»Darf ich mal sehen?«

Jenny und Daniel tauschten vielsagende Blicke.

»Bitte, du kannst die Diagnose auch gern selbst stellen, wenn du möchtest«, sagte Jenny Behnisch scharf.

Diese Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht.

»Tut mir leid. Ich wollte deine Kompetenz nicht anzweifeln. Aber der Motor …, die Quetschung …«, stammelte er verlegen.

»Das Labor ist nicht dramatisch«, wiederholte Jenny und lächelte ihn versöhnlich an. »Trotzdem möchte ich sicherheitshalber eine Antibiose machen. Es sieht ganz danach aus, als ob du Gelegenheit hast, den Klinikbetrieb mal einem intensiven Test zu unterziehen.«

Danny verstand sofort, was sie ihm damit sagen wollte.

»Ich soll hierbleiben?«, fragte er entgeistert.

Jenny und Daniel nickten gleichzeitig. Um ja kein Risiko einzugehen, hätte er seiner langjährigen Freundin denselben Vorschlag gemacht.

»Sicherheitshalber«, stimmte Dr. Norden zu. »Schließlich ist ein Arzt mit einer Hand nicht wirklich was wert.«

Danny sah seinen Vater an und wusste, dass er keine Chance hatte. So gab er sich seufzend geschlagen und bezog zehn Minuten später mit frisch verbundenem und geschienten Arm ein hübsches Einzelzimmer in der Behnisch-Klinik.

*

Als Dr. Norden in die Praxis zurückkehrte, saß Olivia in der kleinen Küche und unterhielt sich angeregt mit Janine Merck. Wie der Arzt angekündigt hatte, war der Tisch reich gedeckt gewesen. Als Daniel hereinkam, wischte sie eben mit einem Stück Weißbrot den letzten Rest einer leckeren Soße vom Teller.

»Wo ist denn Ihr Sohn abgeblieben?«, fragte sie ebenso verwundert wie ängstlich, als sie Danny nirgendwo entdecken konnte.

»Er musste vorsichtshalber in der Klinik bleiben.«

Vor Schreck verschluckte sich Olivia an dem Stückchen Brot und hustete, bis ihr die Tränen kamen. Janine sprang auf und holte ihr ein Glas Wasser, das sie keuchend in kleinen Schlucken trank.

»Wegen mir?«, krächzte sie endlich.

»Keine Sorge.« Beschwichtigend schüttelte Daniel den Kopf. »Eigentlich bin ich Ihnen für das kleine Malheur mit der Motorhaube sogar dankbar.« Er berichtete von Dannys Sturz am vergangenen Abend. »Ohne den Unfall mit der Motorhaube hätte er sich niemals behandeln lassen.«

»Ich bin trotzdem nicht stolz darauf.« Sichtlich zerknirscht betrachtete Olivia die Blumen auf ihrem Kleid. »Kann ich ihn denn in der Klinik besuchen?«

»Damit warten Sie lieber, bis sich seine Laune etwas gebessert hat. Womöglich reißt er Ihnen sonst den Kopf ab. Und das wäre wirklich schade.«

Mit diesem Kompliment brachte Dr. Norden seinen jungen Gast zum Lachen. Schon fühlte sich Olivia ein bisschen besser.

»Sie sind sehr freundlich zu mir. Obwohl es auch meine Schuld ist, dass Ihr Mitarbeiter jetzt ausfällt und Sie alle Arbeit allein machen müssen.« Der ansehnliche Stapel Patientenkarten auf dem Tresen war Olivias Aufmerksamkeit nicht entgangen.

»Außerdem haben Sie meinen Parkplatz mit Beschlag belegt«, scherzte Daniel und zwinkerte ihr zu.

»Ich werde das Auto abholen lassen, sobald ich das Haus meiner Mutter gefunden habe«, versprach Olivia schnell, und augenblicklich wurde Daniels Herz schwer. Wusste die junge Frau, dass ihre Mutter nicht mehr am Leben war? Er warf einen Blick auf die Uhr. Bis der erste Patient zur Nachmittagssprechstunde kam, war noch etwas Zeit.

»Wenn Sie wollen, bringe ich Sie hin.« Auf keinen Fall wollte er sie ihrem Schicksal überlassen.

»Oh nein, bitte nicht«, lehnte Olivia Schamel zu seiner Überraschung bescheiden ab. »Ich hab Ihnen sowieso schon so viele Umstände gemacht. Es reicht vollkommen, wenn Sie mir ein Taxi rufen.«

»Nichts da!«, sprach Dr. Norden ein Machtwort und erhob sich. »Wenn Sie bereit sind, können wir aufbrechen.«

Ein Leben lang hatte sich Olivia nach einem fürsorglichen Vater wie Daniel gesehnt. Sicher, ihre Großmutter hatte ihr Bestes gegeben. Und obwohl sie inzwischen erwachsen war, war da ein großes Loch in Olivias Seele, das sich nach elterlicher Liebe und Schutz sehnte wie nach nichts sonst auf der Welt. Deshalb nahm sie das Angebot schließlich an.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, murmelte sie, als sie sich neben Daniel auf dem Beifahrersitz anschnallte. Er hatte ihr geholfen, das spärliche Gepäck umzuladen, und startete den Motor. »Seit meine Großmutter gestorben ist, war kein Mensch mehr so freundlich zu mir.« Schon wieder drängten sich die Tränen in Olivias grüne Augen. »Seitdem habe ich noch mehr gehofft, dass sich meine Mutter bei mir meldet, mich vielleicht doch sehen will. Und jetzt ist sie auch tot.« Eine Träne trat über die Ufer und rollte langsam über ihre schmale Wange zum Kinn. Dort hing sie eine Weile. Als Daniel über eine Bodenwelle fuhr, tropfte sie auf das dünne T-Shirt.

Obwohl er tiefes Mitgefühl für die Lage seiner jungen Mitfahrerin hegte, fiel Daniel Norden ein Stein vom Herzen. Er hatte gefürchtet, Olivia vom Tod ihrer Mutter erzählen zu müssen. Zumindest das blieb ihm erspart. In seine Gedanken hinein fuhr die unglückliche junge Frau fort.

»Stellen Sie sich vor: Mein Freund hat vergessen, mir zu sagen, dass meine Mutter gestorben ist. Als ich es erfahren habe, bin ich sofort losgefahren«, erzählte Olivia einfach weiter. Es tat ihr gut, sich mit jemandem zu unterhalten und sich den Kummer von der Seele zu reden. In letzter Zeit hatte sie nicht viel Ansprache gehabt. »Vielleicht habe ich ja Glück und komme wenigstens noch rechtzeitig zur Beerdigung.«

Daniel warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, setzte den Blinker und biss sich dabei auf die Lippe.

»Ich kannte deine Mutter, Olivia«, ging er unwillkürlich zum vertrauten ›Du‹ über.

Olivias Augen wurden groß und rund vor Staunen.

»Wirklich?«, fragte sie hoffnungsvoll und begann vor Aufregung, unruhig auf dem Sitz herumzurutschen.

»Sie nannte sich Christine Javier. Deshalb wusste Danny nicht sofort, um wen es geht.«

»Das war ihr Pseudonym. Meine Mutter war Schriftstellerin«, nickte Olivia. All das wusste sie. Und verstand umso weniger, warum sich Christine nie bei ihr gemeldet hatte. »Sogar ziemlich erfolgreich. Woher kannten Sie sie?«

»Sie war viele Jahre lang meine Patientin, ehe sie in ein Pflegeheim ziehen musste. Die Beerdigung war heute Vormittag.«

»Oh!« Olivia starrte angestrengt geradeaus durch die Windschutzscheibe. Sie betrachtete die schmucken Einfamilienhäuser links und rechts der Straße, die gepflegte Allee, durch die sie fuhren. »Dann bin ich also zu spät gekommen.«

Daniel Norden seufzte bekümmert. Sie waren an ihrem Ziel angekommen. Er parkte den Wagen auf dem Seitenstreifen und sah Olivia bedauernd an.

»Es tut mir leid.« Er meinte es ernst, und die junge Frau nickte unter Tränen.

»Ich wollte wirklich kommen. Obwohl ich eigentlich total wütend auf Mama bin.« Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie dieses Kosewort in den Mund. »Wissen Sie, warum sie sich nie bei mir gemeldet hat? Warum sie mich nicht wollte?« Olivia wirkte wie ein verzweifeltes kleines Mädchen.

Daniel konnte nicht anders und streckte die Hand nach ihr aus. Zärtlich streichelte er ihr über die Wange.

»Christine hat dich sehr geliebt. Ich erinnere mich gut an ihre lebhaften Erzählungen. Wenn sie bei mir war, hat sie immer von dir berichtet, hat erzählt, was deine Großmutter über dich geschrieben hat. Ich hatte fast den Eindruck, dass du bei deiner Mutter lebst, so lebendig und begeistert hat sie gesprochen.«

Doch die Worte des Arztes vermochten Olivia nicht zu trösten.

»Wenn es wahr ist, was Sie sagen, warum hat sie sich dann nie bei mir gemeldet?«, schluchzte die junge Frau verzweifelt. Daniel beugte sich vor. Er öffnete das Handschuhfach und suchte und fand eine Packung Taschentücher, die er Olivia in die Hand drückte.

»Christine war eine sehr stolze Frau. Ich könnte mir vorstellen, dass sie nicht wollte, dass du sie so siehst. So krank, unfähig, ihr Leben in den Griff zu bekommen.«

Während sie über die Worte des Arztes nachdachte, trocknete sich Olivia die Tränen.

»Woran ist sie gestorben?«, fragte sie schließlich heiser.

»Weltschmerz, Depressionen und Trauer darüber, dass ihr Leben anders verlief, als sie es sich wünschte?«, konnte Daniel nur Mutmaßungen anstellen. »Christine war nicht nur stolz, sondern auch sehr sensibel.«

Olivia nickte und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um ihr aufgewühltes Inneres, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen.

»Schon komisch, dass das Schicksal mich ausgerechnet zu Ihnen geschickt hat«, murmelte sie versonnen und betrachtete das Haus zu ihrer linken.

Es war das Haus ihrer Mutter, das Olivia zu ihrer neuen Heimat auserkoren hatte. Ein wenig enttäuscht stellte sie fest, dass der Garten ungepflegt und verwildert war. Und auch das Häuschen schien nicht im besten Zustand zu sein und wirkte ein wenig schäbig im Vergleich zu seinen edlen Nachbarn. Fast wie ein Schandfleck in der noblen Gegend.

»Du bist jederzeit bei uns zu Hause willkommen«, versprach Daniel fast feierlich. Wenn er seine Patienten nicht warten lassen wollte, wurde es langsam Zeit, in die Praxis zurückzukehren. »Wenn du Fragen hast, Hilfe brauchst oder einfach Sehnsucht nach Familie und Gesellschaft hast, dann ruf an oder komm vorbei.« Er zog die Brieftasche hervor und reichte Olivia eine Visitenkarte. »Unter dieser Nummer kannst du mich jederzeit erreichen.«

»Vielen Dank.« Fast zärtlich streichelte sie mit dem Daumen über die geschwungenen Buchstaben, ehe sie das Kärtchen sorgfältig in ihrer bunten Umhängetasche verstaute. »Ich werde mich auf jeden Fall melden. Schon wegen des Wagens.«

»Mach dir darüber mal keine Sorgen. Den bekommen wir schon wieder flott«, versprach Daniel mit so weicher Stimme, dass Olivia fast schon wieder geweint hätte.

»Ihr Sohn liegt in der Behnisch-Klinik, nicht wahr?«, wechselte sie schnell das Thema. Es gab nicht viel, womit sie sich für die Freundlichkeit des netten Arztes revanchieren konnte. Da wollte sie wenigstens Danny in der Klinik besuchen.

»Mach dir mal um Danny keine Sorgen«, schlug Daniel einen heiteren Tonfall an, obwohl er sich durchaus Sorgen machte. Er konnte nur hoffen, dass die Infektion nicht weiter voranschritt. Aber darüber musste er nicht mit Olivia sprechen. Sie hatte im Augenblick Sorgen genug.

Olivia dachte sich ihren Teil und lächelte tapfer.

»In Ordnung. Dann geh ich mal.«

»Soll ich mitkommen?«, erkundigte sich der fürsorgliche Arzt, obwohl die Zeit inzwischen drängte.

»Nein, danke, das schaffe ich schon.« Olivia stieg aus und holte ihr Gepäck. Sie winkte Daniel Norden noch einmal zu und marschierte dann tapfer den Gartenweg hinauf in eine ungewisse Zukunft.

*

Tatjana war zutiefst erschrocken, als sie in der Praxis angerufen und von Dannys Unfall erfahren hatte. Mit wehenden Fahnen hatte sie Frau Bärwalds Bäckerei verlassen – sie arbeitete dort neben ihrem Studium, um sich ein wenig Geld zu verdienen – und war in die Klinik geeilt.

»Was machst du denn für Sachen?«, fragte sie besorgt und fast ein wenig vorwurfsvoll, nachdem sie ihren Freund mit einem Kuss begrüßt hatte. Dannys Arm war inzwischen bandagiert und mit einer Schiene fixiert.

»Ich? Ich?«, schimpfte Danny ungehalten, das Gesicht vor Schmerz verzogen. »Wenn mir diese dumme Pute nicht die Motorhaube auf die Hand geknallt hätte, wäre gar nichts passiert.«

»Na, die Ärzte sehen das aber anders.« Tatjana hatte sich bei Daniel Norden genau über die Einzelheiten informiert.

»Bist du etwa auch gegen mich?«, funkelte Danny seine Freundin wütend an.

Nicht auf den Mund gefallen, hatte Tatjana wie üblich einen entsprechenden Kommentar auf den Lippen. Doch sie war klug und besonnen genug, um ihn sich im letzten Moment zu verkneifen.

»Keiner hier ist gegen dich«, versuchte sie, ihn zu besänftigen, und wackelte mit der Tüte vor seiner Nase herum, die sie noch schnell in der Bäckerei für ihn gepackt hatte. »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.«

Doch Danny war nicht in der Stimmung, sich aufheitern zu lassen.

»Keinen Hunger«, erwiderte er düster und drehte beleidigt den Kopf weg.

»Du meine Güte, man könnte ja meinen, du liegst auf dem Sterbebett«, seufzte Tatjana und zog sich einen Stuhl heran. Sie konnte sich diesen Kommentar erlauben. Mit jungen Jahren hatte sie bei einem Autounfall nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr Augenlicht verloren. Doch sie hatte nicht aufgegeben und sich tapfer zurück ins Leben gekämpft. Die Behinderung hatte ihre übrigen Sinne geschärft, sie zäh und unnachgiebig gegen sich selbst gemacht. Tatjana lebte fast so wie eine Sehende und bediente sogar in Frau Bärwalds kleinem Café. Nach einer Operation hatte sie einen Teil ihrer Sehkraft zurückerhalten. Doch ihre Unnachgiebigkeit gegen die Willkür des Schicksals war geblieben. »Jetzt reiß dich mal zusammen! Das wird schon wieder.«

»Du redest dich leicht!«, brauste Danny kurz auf. Dann sank er matt zurück in die Kissen. Der Schmerz verbrauchte all seine Energie.

Ungerührt saß Tatjana am Bett.

»Das tue ich nicht und das weißt du genau. Ich bin selbst kein unbeschriebenes Blatt.«

»Dann solltest du ja eine ungefähre Ahnung davon haben, wie ich mich fühle. Ein bisschen Empathie wäre wirklich schön.«

»Empathie ist schön und gut.« Langsam wurde Tatjana wütend. Sie hatte den langen Weg nicht auf sich genommen, um sich Vorwürfe machen zu lassen. »Aber wenn du dich nicht zusammenreißt und den sterbenden Schwan gibst, nützt das auch nichts«, entfuhr es ihr im Eifer des Gefechts.

Danny schnaubte verletzt, und fast sofort bereute Tatjana ihre Worte. Beschwichtigend legte sie die Hand auf seinen gesunden Arm.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich sanft. »Eigentlich bin ich gekommen, um dir eine Freude zu machen. Nicht, um mich mit dir zu streiten«, erklärte sie versöhnlich. »Wie lange musst du denn hierbleiben?«, fragte sie, als Danny nicht reagierte.

Mit geschlossenen Augen lag er im Bett und rührte sich nicht.

»Keine Ahnung«, brummte er endlich missmutig. »Morgen früh werden sie ein neues Blutbild machen, und dann sehen wir ja weiter.«

Tatjana nickte. Im selben Moment knurrte ihr Magen laut und vernehmlich. In der Eile hatte sie keine Zeit gehabt, Mittag zu essen, was für ihren Körper eine Art Höchststrafe war. So gut es ging, versuchte sie, ihren Hunger zu unterdrücken. Vielleicht wäre ihr das auch gelungen, hätte da nicht die Tüte mit dem Gebäck gelegen. Der süße Duft ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen und steigerte ihre Qualen ins Unermessliche.

»Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich eine Rosinenschnecke esse?«, fragte sie und griff gleichzeitig nach der Tüte. »Wenn du eh keinen Hunger hast …«

»Toll, jetzt isst du deine Geschenke auch noch selbst auf«, fuhr Danny sie entrüstet an.

Diesmal hatte Tatjana keine Lust mehr, sich provozieren zu lassen. Unbeirrt biss sie in das süße Gebäck und verspeiste es in aller Seelenruhe. Erleichtert spürte sie, wie der Hunger nachließ. Sie klopfte sich die Brösel von der schmalen gelben Sommerhose und stand auf.

»So schaffe ich es wenigstens in die Krankenhauscafeteria, ohne einen Schwächeanfall zu erleiden«, erklärte sie leichthin und beugte sich über ihren Freund, der mit leidender Miene im Bett lag. »Du hast übrigens noch vier süße Teilchen. Das sollte reichen, um genügend Endorphine für bessere Laune auszuschütten.« Damit drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Ach, nur zur Erinnerung: Endorphine sind übrigens Glückshormone.«

»Wo willst du hin?«, rief Danny, der ihre Absicht durchschaut hatte.

»Ich muss was Richtiges essen. Das solltest du auch tun, damit deine Laune besser ist, wenn ich wiederkomme.« Mit diesen Worten schlüpfte sie aus dem Zimmer.

Danny blieb allein zurück. Kaum hatte sich die Tür hinter Tatjana geschlossen, als er es auch schon bedauerte, seine schlechte Laune an ihr ausgelassen zu haben. Doch im Augenblick war es zu spät. Er musste sich gedulden, bis sie freiwillig zu ihm zurückkam. Dass das dauern konnte, wusste er aus Erfahrung. In der Zwischenzeit hatte er bereits mehrfach Bekanntschaft mit Tatjana Bohdes Stolz gemacht.

*

Nachdem Daniel Norden weggefahren war, blieb Olivia eine ganze Weile vor dem Haus stehen und betrachtete es sinnend. Sie bemerkte die schiefen Fensterläden, sah die Farbe, die von der Haustür abblätterte. Schon von außen erinnerte sie das ganze Haus an den trostlosen Ort, dem sie gerade den Rücken gekehrt hatte. Das Schlimmste aber war, dass es wirkte, als lebte dort jemand. Nach und nach verließ sie der Mut. Da sie aber nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte, gab sie sich schließlich einen Ruck und klingelte.

Eine ganze Weile geschah nichts, und schon überlegte Olivia, ob sie einfach versuchen sollte, irgendwie ins Haus zu kommen, als es drinnen verdächtig rumpelte. Ein unfeiner Fluch folgte, und schließlich wurde die Tür geöffnet.

Entgeistert starrte sie den unrasierten Mann im Bademantel an, der ebenso neugierig zurückstarrte. Er sah aus, als hätte er sich tagelang nicht aus dem Bett bewegt. Trotzdem lagen seine Augen in dunklen Höhlen.

»Dachte ich mir, dass du irgendwann hier auftauchst«, sagte der Mann rau und kratzte sich verlegen am Bauch. »Tut mir leid wegen deiner Mutter. Du siehst ihr ziemlich ähnlich.«

»Schön! Und wer bist du?«, fragte Olivia unbeeindruckt zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden vorzufinden, und schon gar nicht einen, der sie offenbar kannte. Dementsprechend enttäuscht war sie und funkelte den Fremden wütend an.

»Ich bin Paul, ein Freund von Christine. Hab sie gepflegt, bis sie vor ein paar Jahren ins Heim musste. Aber auch da hab ich sie regelmäßig besucht.« Während er das erzählte, winkte er Olivia durch das Erdgeschoss des kleinen Hauses direkt in die Küche.

»Hier sieht’s ja nett aus«, bemerkte sie ironisch und sah sich ungläubig in dem Chaos um, das sie überall empfing.

Paul folgte ihrem Blick und grinste schief.

»Tja, danke, ich geb mir auch alle Mühe.«

Olivia schnaubte und sah hinaus auf das verwilderte Grün vor dem Küchenfenster, das erholsam war im Vergleich zu den schmutzigen Schränken und den Zwiebeln, die in von der Decke hängenden Körben lagen und die grünen Triebe verzweifelt in alle Richtungen streckten.

Als Olivia Pauls forschenden Blick auf sich ruhen fühlte, drehte sie sich wieder zu ihm um.

»Ich nehme an, du weißt, was mit dem Haus ist«, bemerkte er.

»Keine Ahnung.«

»Dann lass mich das mal klarstellen.« Paul ließ sie nicht aus den Augen. Er machte einen Schritt auf sie zu, und instinktiv wich sie zurück, bis sie die Kühlschranktür im Rücken spürte. »Das Haus …, ich wohne hier, wie gesagt, schon eine ganze Weile. Deine Mutter war seit Jahren nicht hier. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich gewünscht, dass es uns beiden gehören soll.«

Ungläubig schnappte Olivia nach Luft. Mit einem Schlag zerfielen ihre schönsten Träume zu Staub.

»Wie bitte?« Um Pauls stechendem Blick zu entkommen, schlüpfte sie an ihm vorbei und setzte ihre Wanderung durch das Erdgeschoss fort.

Sie verließ die Küche und schlenderte hinüber ins Wohnzimmer. Überall lag Müll herum, der Boden hatte schon lange keinen Staubsauger, und die Möbel auch schon bessere Tage gesehen. Einzig die Regale an den Wänden waren tadellos in Ordnung und wirkten wie Eindringlinge in diesem Durcheinander. Rücken neben Rücken standen die Bücher ordentlich in Reih und Glied, und Olivia trat heran, um eines davon herauszuziehen.

Paul war ihr gefolgt. Mit verschränkten Armen lehnte er im Türrahmen.

»Warum hat sie das getan?«, fragte Olivia und blätterte in dem Buch.

»Na ja, Christine dachte eben, du hättest kein Interesse, hier zu wohnen«, erwiderte Paul und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Bademanteltasche. Er wollte sie gerade anzünden, als ihn Olivias scharfer Blick traf.

»Im Haus wird nicht geraucht«, wies sie ihn so entschieden zurecht, dass ihm die Zigarette vor Schreck aus dem Mund fiel. »Im Übrigen lag meine Mutter schon immer gern falsch.« Olivia ärgerte sich, dass ihre Stimme ihre Bitterkeit verriet. Während sich Paul nach der Zigarette bückte, steckte sie das Buch zurück ins Regal und holte ein anderes heraus.

Doch Paul hatte sie durchschaut.

»Olivia, ich werde vielleicht nicht hier drin rauchen. Aber ausziehen werde ich bestimmt nicht!«, erklärte er mit Nachdruck. »Das hier ist mein Zuhause. Aber ein Mädchen wie du, das gehört nicht hierher.« Er wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, seufzte er demonstrativ.

»Na schön, ich koch dann mal Kaffee.« Zu Olivias Erleichterung verließ er das Wohnzimmer und kehrte in die Küche zurück. Eine Weile hörte sie ihn rumoren, Wasser rauschte, eine Schranktür fiel zu. »Übrigens habe ich mit deinem Freund telefoniert«, rief Paul ihr irgendwann zu. »Sein Kopf ist offenbar nicht sein bestes Stück, was?«

Olivia wusste längst, dass Thorsten nicht der Klügste war. Trotzdem ärgerte sie sich über diese Bemerkung. Denn auch Paul machte einen alles andere als intelligenten Eindruck, verwahrlost, wie er und das Haus waren.

»Du weißt nichts über mich und mein Leben«, fauchte sie wütend. Schon hatte sie beschlossen, nicht zu bleiben, und wollte das Buch zurück ins Regal stellen, als ihr Blick auf eine handschriftliche Notiz auf dem Vorsatzblatt fiel. Christine, Deine Worte haben eine Saite in mir zum Klingen gebracht. Dafür danke ich dir. In Liebe, Paul. Ungläubig starrte Olivia auf die Buchstaben, bis sie vor ihren Augen zu tanzen begannen.

»Das wird sich ja sicher bald ändern, wenn wir hier eine Wohngemeinschaft haben«, rief ihr Paul ahnungslos zu. Als sie nicht antwortete, tauchte er in der Tür auf. Die Kaffeedose hielt er in der Hand. Olivia starrte ihn an wie eine Erscheinung. Dieser Blick verwirrte ihn. »Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen, Kind«, gestand er verlegen. »Bist groß und hübsch geworden.«

Olivias Herzschlag setzte einen Moment lang aus.

»Du kennst mich?«

Paul lachte rau.

»Natürlich kenne ich dich. Sag bloß, du weißt nicht mehr, dass du bei deiner Mutter gelebt hast?«

Olivia schüttelte den Kopf, und Paul fuhr fort.

»Du warst ungefähr vier Jahre alt, als das mit den Depressionen losging. Christine konnte sich nicht länger um dich kümmern und hat dich deshalb zu deiner Großmutter gebracht. Die ganze Zeit hat sie davon gesprochen, dich irgendwann zurückzuholen. Aber sie ist nie mehr gesund geworden.« Unwillig schnalzte er mit der Zunge. »Erinnerst du dich wirklich nicht?«

»Nein!« Abrupt stellte Olivia das Buch ins Regal zurück. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. »Meine Oma hat mir immer von dem hübschen kleinen Haus erzählt, das meine Mutter für mich herrichten würde.« Ihre Augen funkelten, als sie Paul anstarrte. »Also, wo ist mein Zimmer?«

»Du willst wirklich hierbleiben?« Diesmal war es Paul, der nach Luft schnappte.

»Natürlich werde ich hierbleiben. Und zwar so lange, bis du mich satt hast und freiwillig gehst«, erklärte sie so kämpferisch, dass Paul gar nichts anderes übrig blieb, als ihr das Zimmer ihrer Mutter zu zeigen, in dem er in all den Jahren nichts verändert hatte.

*

»Tatjana, was ist denn mit dir los?« Als Fee Norden die Tür öffnete, erschrak sie über das blasse Gesicht von Dannys Freundin. Spontan streckte sie die Hände nach ihr aus und schloss sie in die Arme. Es dauerte nicht lange, bis Fee spürte, wie sich die junge Frau entspannte.

»Woher weißt du eigentlich immer so genau, was deine Mitmenschen gerade brauchen?«, fragte Tatjana leise, als sie sich sichtlich getröstet aus der Umarmung löste.

»Ganz einfach. Ich bin eine Frau«, lächelte Fee und bat sie ins Haus. »Außerdem kann ich mir vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn Dan mit so einer Verletzung in der Klinik liegen würde.«

»Und mit einer Laune zum Davonlaufen«, ergänzte Tatjana düster und legte die Tüte mit den frischen Brötchen, die sie fürs Abendessen aus der Bäckerei mitgebracht hatte, auf die Theke in der Küche.

Die Beziehung zu Danny hatte ihr nicht nur einen liebevollen Freund, sondern auch das Familienleben beschert, das sie seit dem Tod ihrer Mutter so schmerzlich vermisst hatte. Wann immer sich die Gelegenheit bot, schaute das junge Paar wenigstens auf einen Sprung bei Daniel und Fee vorbei. Diese Angewohnheit behielt Tatjana auch bei, als Danny in der Klinik lag.

»So schlimm?«, erkundigte sich Felicitas besorgt. Sie hatte einen Brotkorb aus dem Schrank geholt und füllte ihn mit dem duftenden Gebäck. »Bevor ich nach Hause gegangen bin, hab ich auch noch kurz bei ihm vorbeigeschaut. Da hat er sich vornehm zurückgehalten.«

»Dann hat er sich vielleicht schon bei mir ausgetobt.«

Als Fee an Tatjana vorbeiging, um die Brötchen ins Esszimmer zu bringen, streichelte sie ihr sanft über die Wange.

»Wahrscheinlich machte er sich Vorwürfe, dass er diese Verletzung an der Hand nicht ernster genommen hat.«

»Aber deshalb muss er seine schlechte Laune doch noch lange nicht an mir auslassen. Ich kann ja nichts dafür«, beschwerte sich Tatjana und griff nach Wasserflasche und Gläsern und folgte Fee. »Wenn Dan ihm nicht auch noch angeboten hätte, sich die Wunde anzusehen …, aber nein, der Herr weiß ja alles besser.«

»Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall«, erklärte Fee lakonisch und warf einen letzten prüfenden Blick auf den liebevoll gedeckten Tisch. »So, ich glaube, wir haben alles. Hoffentlich hast du viel Hunger mitgebracht. Lenni hat ein neues Rezept ausprobiert und scheint sich in der Menge geirrt zu haben. Der Topf mit kaltem Gemüseragout reicht für eine ganze Kompanie.«

»Das trifft sich gut. Ich hab Hunger wie ein Bär.«

»Na, wenigstens schlägt dir Dannys Laune nicht auf den Magen«, lächelte Fee zufrieden, als eilige Schritte auf der Treppe zu hören waren.

»Tatti!«, gellte ein freudiger Schrei durch den Flur, und gleich darauf fand sich Tatjana in einer stürmischen Umarmung wieder, die sie fast ins Schwanken brachte.

»Hey, kleine Piratenbraut!«, lachte sie übers ganze Gesicht, als sie Dési gebührend begrüßt hatte. »Die Frage, wie’s dir geht, erübrigt sich offenbar.«

»Besser als Danny wahrscheinlich. Warst du bei ihm? Weißt du, wie es ihm geht? Kommt er bald wieder aus der Klinik?«, bestürmte Dési die junge Frau mit Fragen nach ihrem Bruder, die Tatjana so gut es ging beantwortete.

In der Zwischenzeit kam auch Daniel Norden von der Praxis nach Hause.

»Gute Stimmung?«, fragte er.

Als Fee den Schlüssel im Schloss gehört hatte, war sie ihm entgegengeeilt, und er küsste sie zärtlich.

»Natürlich machen sich alle Sorgen um Danny«, antwortete sie, während er sie in seinen Armen hielt.

Sie sah zu ihm auf und strich ihm eine störrische Strähne aus der Stirn. In seinen Augen suchte sie nach einer Antwort auf ihre stumme Frage.

»Wir müssen den morgigen Tag abwarten«, wusste Daniel sofort, auf was die besorgte Mutter in ihr wartete. »Erst dann wissen wir mehr. Hast du ihn denn nicht besucht?«, wunderte er sich.

»Das schon. Und Tatjana auch. Offenbar hatte er furchtbar schlechte Laune, die er an ihr ausgelassen hat«, berichtete Felicitas voller Mitgefühl für die Freundin ihres Sohnes. Obwohl es nicht oft vorgekommen war, wusste sie aus eigener Erfahrung, wie schlimm so eine Verstimmung zwischen zwei Liebenden war, wie sehr beide Beteiligten unter den unausgesprochenen Missverständnissen litten.

Missbilligend schüttelte Daniel den Kopf.

»Wahrscheinlich ärgert er sich über sich selbst, dass er gestern so leichtsinnig gehandelt hat.«

»Das war auch meine Vermutung.«

Daniel bedachte seine Frau mit einem innigen Blick.

»Alles andere hätte mich überrascht«, lächelte er. Er wollte sich wieder über sie beugen, um sie noch einmal zu küssen, als er von diesem Plan abgehalten wurde.

»Man sollte meinen, dass ihr aus dem Alter raus seid, wo man in dunklen Ecken heimlich rumknutscht.« Frech grinsend stand Felix im Flur.

»Nur kein Neid, mein Lieber.« Demonstrativ beugte sich Daniel über seine Frau und setzte seinen Plan in die Tat um. »Abgesehen davon würde es an ein Wunder grenzen, in diesem Irrenhaus eine dunkle heimelige Ecke zu finden, in der man ungestört rumknutschen kann. Deshalb müssen wir es eben hier machen«, erklärte er dann lächelnd.

»Bitte, nur zu«, gab Felix gönnerhaft zurück. »Wenn ihr von Luft und Liebe allein leben könnt«, fügte er vielsagend hinzu und drehte sich um, um ins Esszimmer zurückzukehren.

Ungläubig starrte Felicitas ihrem Zweitältesten nach.

»Moment mal!«, rief sie entgeistert. Sie löste sich aus Daniels Umarmung und lief Felix nach. »Soll das heißen, dass der Gemüseeintopf schon alle ist? Aber euer Vater hatte doch noch nicht …«

Auf halbem Weg drehte sich Felix um und lachte seine Mutter strahlend an.

»Reingefallen!« Er freute sich diebisch über seine gelungene Flunkerei. »Wir haben hin und her überlegt, wie wir euch endlich an den Tisch locken können. Mein Plan ist aufgegangen!« Wie ein Sieger streckte er die Faust in die Luft, und gleich darauf saß die Familie Norden endlich versammelt am Abendbrottisch und ließ sich Lennis köstlichen mediterranen Eintopf schmecken.

*

»Und dieses Mädchen hat ihm wirklich die Motorhaube auf die Hand geworfen?«, erkundigte sich Janni wenig später sensationslüstern.

Wie fast jeden Abend waren die Geschichten von Daniel auch heute wieder höchst willkommen. Dass sein eigener Bruder diesmal auch noch eine Hauptrolle spielte, machte die Sache nur interessanter.

»Mensch, hör doch zu! Das hat Dad doch gerade in epischer Breite erzählt!«, tadelte Dési ihren Zwillingsbruder.

Nachdem die Familie ausgiebig über den Gesundheitszustand des Bruders gesprochen hatte, interessierte sich Felix eher für den praktischen Aspekt der Geschichte.

»Und was passiert jetzt mit dem Wagen?«, fragte er und nahm noch eines von Tatjanas leckeren Olivenbrötchen, um auch noch den letzten Rest der köstlichen Sauce vom Teller zu wischen. »Was ist das überhaupt für ein Gefährt?«

»So genau hab ich mir das Ding nicht angesehen«, gestand Daniel. »Ich fürchte nur, dass wir ihn abschleppen lassen müssen, sonst gibt es Ärger mit der Polizei. In diesem Zustand kann er unmöglich vor der Praxis stehen bleiben. Mal abgesehen davon, dass mir die alte Karre womöglich noch die Patienten vertreibt.«

»Wäre doch praktisch, jetzt, da Danny nicht mitarbeiten kann«, platzte Janni heraus und sorgte damit für allgemeine Heiterkeit.

»Warte mal mit dem Abschleppen. Eric aus meiner Klasse schraubt gern an alten Autos herum«, bot Felix an. »Ich werd ihn gleich nachher mal fragen, ob er ihn sich morgen Nachmittag ansehen kann.«

Dieser Vorschlag fand Daniels Zustimmung, zumal er der einsamen, unglücklichen Olivia gern helfen wollte. Wenig später drehte sich das muntere Gespräch am Tisch um alte und neue Autos, und selbst Dési tat ihre Meinung kund, dass ihr zukünftiger Ehemann nur mit einem Hybridwagen Chancen hätte.

Nur eine war an diesem Abend auffallend schweigsam. Und das war Tatjana. Aufgrund ihrer eingeschränkten Sehkraft besaß sie selbst keinen Führerschein und konnte nichts zu diesem Thema beisteuern. Abgesehen davon war sie mit den Gedanken bei ihrem schlecht gelaunten Freund. Sie machte sich Sorgen um Danny und konnte nur hoffen, dass er bald wieder der Alte sein würde.

*

Danny Norden hatte gerade sein Frühstück beendet, als es zaghaft an seiner Tür klopfte. Missmutig hob er den Kopf, um zu sehen, wer ihn besuchen kam. Außer Tatjana oder seinen Eltern kam um diese Uhrzeit ohnehin niemand infrage, und er machte sich erst gar nicht die Mühe, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Die quälenden Schmerzen hatte ihn die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen. Er machte sich große Sorgen, die er weder vor seiner Freundin noch vor seinen Eltern verbergen musste.

»Herein!«, rief er denn auch unfreundlich.

»Störe ich?«, fragte Olivia mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen.

Genervt verdrehte Danny die Augen.

»Super! Du hast mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt«, stöhnte er.

»Deshalb bin ich ja hier«, ließ sich Olivia nicht abschrecken und schloss die Tür hinter sich.

Unbeeindruckt trat sie an sein Bett und betrachtete eingehend den geschienten Arm. Ihre Augen wanderten von dem Zugang auf seinem gesunden Handrücken dem durchsichtigen Schlauch zum Beutel mit den Medikamenten hinauf. »Wie geht’s dir?«

»Schlecht! Die Schmerzen sind unerträglich«, nahm Danny kein Blatt vor den Mund.

»Ich hab mir mal die Hand in der Haustür eingequetscht. Das hat schon höllisch wehgetan«, erzählte Olivia mitfühlend. »Aber diese Schmerzen waren bestimmt ein Klacks gegen das, was du ertragen musst.«

Mit so viel Mitgefühl hatte Danny Norden nicht gerechnet. Vor ein paar Minuten war er noch wild entschlossen gewesen, Olivia hochkant rauszuwerfen oder sie wenigstens wüst zu beschimpfen. Doch mit ihren gefühlvollen Worten nahm sie ihm allen Wind aus den Segeln.

»Na ja, es geht schon. Ich hab ein paar Schmerzmittel bekommen, und nachher schaut die Visite vorbei. Dann erfahre ich, wie es weitergeht«, berichtete er bereitwillig.

»Mal abgesehen davon, dass es mir echt leidtut, finde ich das alles hier voll interessant.« Olivia stand neben seinem Bett und blickte mit leuchtenden Augen auf ihn hinab.

»Was findest du interessant?«, fragte Danny sichtlich amüsiert zurück.

»Na, alles hier!« Olivia breitete die Arme aus und sah sich um. »Krankenhäuser, Ärzte. Stell dir doch mal das ganze Wissen vor, das hier versammelt ist. Die Möglichkeiten, Menschen von ihren schweren Krankheiten zu heilen. Dieser Gedanke fasziniert mich, spätestens seit meine Oma so krank geworden ist. Ich hätte ihr so gern geholfen.«

Ihre rötlichen Haare fielen ihr in die Stirn, und mit einer lässigen Bewegung steckte sie sie hinters Ohr. An diesem Tag trug Olivia ein enges T-Shirt und knappe Shorts, die ihre schlanken Beine wirkungsvoll zur Geltung brachten. Eine bunte Umhängetasche baumelte von ihrer Schulter. »Na ja, für dich klingt das wahrscheinlich alles blöd«, seufzte sie plötzlich ernüchtert. »Hoffentlich musst du nicht allzu lange hierbleiben.« Olivia kramte in der Tasche und zog schließlich ein Buch heraus, das sie Danny hinhielt. Offenbar war es ihr ein bisschen peinlich, denn ihre Wangen färbten sich zartrosa, was sie noch hübscher aussehen ließ. »Hier, ich hab dir was mitgebracht. Zum Zeitvertreib.« Danny streckte die Hand danach aus und studierte den Titel.

»Hungriges Herz«, las er laut und ein wenig spöttisch vor.

»Ist von meiner Mutter. Der Titel klingt ein bisschen kitschig, ich weiß«, erklärte Olivia hastig. »Ist es aber gar nicht. Ich hab’s heute Nacht gelesen.«

»In einer Nacht?«, staunte Danny. Lesen gehörte ja nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

»Es geht um junge Menschen, die auf der Suche nach ihrem Platz im Leben sind. Ich fand es toll. Sehr aktuell.«

»Na, ich hoffe doch, dass ich meinen Platz gefunden habe«, bemerkte Danny trocken.

»Das weiß man nie so genau.«

»Trotzdem danke.« Danny lächelte unsicher. Er wusste nicht, ob und was Olivia ihm damit sagen wollte.

»Gern geschehen.« Auf der Suche nach einem Gesprächsthema senkte sie den Blick und wippte verlegen auf den Schuhsohlen vor und zurück.

»Was hast du eigentlich hier in München vor?«, half Danny ihr schließlich aus der Bredouille. Insgeheim stellte er überrascht fest, dass ihm Olivias Besuch gefiel. Zumindest lenkte er ihn vorübergehend von seinen Schmerzen, seinem Ärger auf sich selbst und seinen Sorgen ab.

»Oh, ich werde das Haus meiner Mutter in Ordnung bringen. Und dann brauche ich einen Job. Zumindest so lange, bis ich weiß, ob ich was geerbt habe. Hast du zufällig eine Ahnung, wo ich arbeiten kann? Ein Restaurant, eine Kneipe, irgendwas?«

Diese Frage irritierte Danny.

»Gehst du nicht mehr zur Schule?«

»Seit dem Tod meiner Großmutter nicht mehr. Ich brauchte ja Geld.« Olivia zuckte mit den Schultern. »Aber Schule war eh nie was für mich.«

Beide waren so vertieft in ihr Gespräch, dass sie das Klopfen überhört hatten. Sie bemerkten auch nicht, dass Tatjana eintrat und wie angewurzelt an der Tür stehen blieb.

»Und Bedienen schon?«, fragte Danny herausfordernd. Doch Olivia nahm seine Provokation gar nicht zur Kenntnis.

»Na, das muss doch auch jemand machen. Du willst in einem Restaurant ja was zu essen serviert bekommen und in einer Kneipe ein Bier. Das ist eine ehrliche Arbeit.«

»Wenn man sie mit Leidenschaft macht, dann mag das ja sein«, warf Danny ein. »Aber eigentlich würdest du doch lieber Ärztin werden, oder?«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

Olivia lachte verlegen.

»Schon möglich. Aber wie gesagt, ich war nie eine Leuchte in der Schule. Aber jetzt muss ich los.« Plötzlich schien sie es eilig zu haben. »Es war nett, mit dir geplaudert zu haben.«

»Das fand ich auch«, gab Danny warm zurück. »Tut mir leid, dass ich gestern so sauer auf dich war. Dabei ist es ziemlich wahrscheinlich meine eigene Schuld, dass ich hier gelandet bin.«

»Schon gut.« Olivia winkte ihm lächelnd und drehte sich um, um zur Tür zu gehen. Als sie Tatjana bemerkte, die immer noch reglos dort stand, erschrak sie.

»Tut mir leid, ich wollte nicht stören«, erklärte Danny Nordens Freundin scharf.

»Tatjana, du bist ja schon hier! Ich hatte noch gar nicht mit dir gerechnet.« Obwohl sich Danny keiner Schuld bewusst war, hatte er plötzlich ein schlechtes Gewissen.

»Sonst hättest du dich wohl nicht so herablassend über den Beruf der Bedienung geäußert, was?« Tatjana machte keinen Hehl daraus, dass sie vor Zorn brodelte.

Genervt verdrehte Danny die Augen.

»Du meine Güte, was ist denn jetzt schon wieder los mit dir? Du bist doch in erster Linie Studentin und jobbst nur nebenher als Bedienung«, versuchte er, die Wogen zu glätten.

Dummerweise wählte er genau die falschen Worte. Als Frau erkannte Olivia das sofort und schlüpfte unbemerkt von den beiden schnell aus dem Zimmer. Ärger hatte sie in letzter Zeit selbst genug gehabt, als dass sie diesen Streit miterleben musste.

»Ach, und was, wenn ich hauptberuflich als Bedienung arbeiten würde?«, fauchte Tatjana zornig. »Dann wäre ich nicht gut genug für den feinen Arzt?«

»Das ist doch Blödsinn«, widersprach Danny halbherzig. Mit einem Schlag waren die Schmerzen und die schlechte Laune wieder da, und er starrte missmutig vor sich hin. »Bist du gekommen, um mir eine Szene zu machen? Falls du es vergessen haben solltest: Ich bin krank und habe im Augenblick andere Sorgen als ein Eifersuchtsdrama.«

»Ach ja, und welche denn?« Tatjana kannte sich selbst nicht wieder. Das war eigentlich nicht ihre Art. Doch im Augenblick konnte sie nicht anders. Dannys sanfte Stimme, mit der er zu Olivia gesprochen hatte, klang ihr noch im Ohr. Sie erinnerte sich noch an sein Lächeln, mit dem er die junge, attraktive Frau angesehen hatte, die noch dazu Ärztin werden wollte. Eine Leidenschaft, die sie, Tatjana, nicht teilte. Nie teilen würde.

»Komm schon, das interessiert dich doch nicht wirklich«, gab Danny trotzig zurück. Auch er hatte keine Lust mehr auf dieses Gespräch. Obwohl er wusste, dass diese Reaktion so falsch wie nur möglich war, sagte er: »Mir wär’s lieber, du würdest mich jetzt allein lassen. Die Visite kommt gleich.«

Bei diesen Worten erstarrte etwas in Tatjana. Das Lächeln, das sie sich auf die Lippen zwang, war kalt wie Eis.

»Oh, schon gut. Ich habe verstanden.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

*

Als Chefin der renommierten Behnisch-Klinik hatte Jenny immer viel zu tun und hastete meist mit wehendem Kittel über einen der weitläufigen Klinikflure. An diesem Morgen hatte sie es besonders eilig.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, begrüßte sie die Kollegen, die schon um den Besprechungstisch herumstanden und eifrig die Untersuchungsergebnisse diskutierten. Selbstverständlich war auch Daniel Norden unter ihnen. Seine Miene verriet nichts Gutes. »Was gibt es Neues im Fall Danny Norden?«, erkundigte sie sich gleich darauf.

»Die Infektion hat sich weiter ausgebreitet«, berichtete der Kollege Dr. Gerlach. »Die Beweglichkeit der Hand ist stark eingeschränkt.«

Jenny schickte Daniel einen mitfühlenden Blick.

»Haben wir ein neues Blutbild?«

»Das hat der Kollege schon heute Nacht angeordnet«, bestätigte Max Gerlach und reichte seiner Chefin die Unterlagen. Jenny Behnisch studierte sie eingehend.

»Die Entzündungsparameter sind weitergestiegen«, seufzte sie schließlich. »Mein Anfangsverdacht hat sich bestätigt. Die Infektion hat sich ausgedehnt.«

»Operation!« Dr. Norden wusste sofort, was das für seinen Sohn bedeutete. Jenny nickte und lächelte ihm aufmunternd zu. »Das ist die sicherste Möglichkeit, um die Sache in den Griff zu bekommen.«

Die Ärzte tauschten wissende Blicke.

»Wer sagt es ihm?«, erkundigte sich Dr. Gerlach in der ihm eigenen praktischen Art.

»Ich natürlich«, erklärte Daniel Norden sich sofort bereit, erhielt aber unerwarteten Widerspruch.

»Kommt überhaupt nicht infrage! Wir sind ein Team und werden auch als Team auftreten und unsere Entscheidung mitteilen«, erklärte Dr. Behnisch energisch und erhob sich auch sofort, um ihren Worten den entsprechenden Nachdruck zu verleihen. Sie verließ ihr Büro, und Daniel, Dr. Gerlach und die anderen Kollegen folgten ihr.

*

Jenny Behnischs Entscheidung sollte sich als sehr weise herausstellen. Nach dem Streit mit seiner Freundin war Danny Nordens Laune auf einen neuen Tiefpunkt gesunken. Abgesehen davon schmerzte die Wunde inzwischen fast unerträglich, und die Hitze, die sich in seinem Körper ausbreitete, war kein gutes Zeichen. All das wusste Danny natürlich, und er starrte die Ärzteschaft düster an.

»Was haben Sie vor?« Ihm schwante nichts Gutes, als die Kollegen sein Bett mit ernsten Gesichtern umringten.

Ganz besorgter Vater holte Daniel Norden tief Luft und trat einen Schritt vor, ehe Jenny ihn zurückhalten konnte.

»Es gibt leider keine guten Neuigkeiten.« In aller Kürze, aber so ausführlich wie nötig, erklärte er, wie der Beschluss der Ärzte zustande gekommen war. »Deshalb ist eine Operation unumgänglich«, schloss er seinen Bericht.

Während Daniels Erklärung hatte sich Jenny dezent im Hintergrund gehalten. Als sich Dannys Augen vor Schreck weiteten, trat sie an die andere Seite des Bettes.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Das ist wirklich keine große Sache«, versuchte sie, ihn etwas positiver zu stimmen. »Aufmachen, entlasten, spülen, säubern. Mehr wird nicht nötig sein. Das hast du alles selbst schon gemacht.«

Es war offensichtlich, dass Danny ihr nicht glaubte. Mit Leichenbittermiene lag er im Bett und sah sie forschend an.

»Glaubst du, dass meine Hand ernsthaft in Gefahr ist?«

Es entging ihm nicht, dass Jennys Blick schnell zu Daniel huschte.

»Ich denke nicht«, sagte sie dann.

»Es gibt keinen Grund, etwas zu dramatisieren«, tat auch Dr. Gerlach seine Meinung kund. »Und jetzt machen wir Sie für die OP fertig«, sprach er schließlich ein Machtwort.

*

Vom Krankenhaus fuhr Olivia direkt zurück ins Haus ihrer Mutter und machte sich an die Arbeit. Christines Zimmer hatte sie am Abend vorher schon inspiziert, hatte die Schachteln mit Briefen und Fotos unter dem Bett entdeckt, aber nicht den Mut gehabt, sie zu öffnen.

»Noch nicht«, hatte sie gemurmelt und einen sauberen Überwurf über die frisch bezogene Bettdecke gebreitet.

An diesem Morgen machte sie sich nun daran, das Erdgeschoss in Ordnung zu bringen. Sie sammelte den Müll ein und steckte ihn in große Tüten, die sie in der Abstellkammer gefunden hatte. Sie staubsaugte, wischte die Böden und füllte Eimer mit Wasser, um die Küchenschränke innen und außen abzuwaschen. Am späten Vormittag erwachte Paul endgültig von dem Lärm, den sie unweigerlich dabei machte. Im Bademantel kam er in die Küche und entdeckte Olivia, die kopfüber im Kühlschrank steckte.

»Du steckst im falschen Gerät«, murmelte er missmutig und griff an ihrem Kopf vorbei nach einer Packung Orangensaft. Am liebsten wäre er wieder allein gewesen.

»Was?« Erschrocken über diese unerwartete Störung richtete sie sich auf und starrte ihren Mitbewohner feindselig an.

»Wenn dein Selbstmordversuch erfolgreich sein soll, musst du den Kopf in den Backofen stecken.« Paul grinste spöttisch und sah dabei zu, wie sich der goldgelbe Saft mit dem Rest Rotwein mischte, den er in einer alten Flasche gefunden hatte.

»Dummerweise ist das hier kein Gasherd«, konterte Olivia schlagfertig. Die Hände in die schmalen Hüften gestützt, funkelte sie Paul wütend an. »Mal abgesehen davon gibst du ein reizendes Bild ab.«

»Ich wünsche dir auch einen wunderschönen guten Morgen«, grinste Paul unbeeindruckt und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du heute nicht zur Schule gehst?«, fragte er dann und setzte sich auf einen der beiden Stühle am Küchentisch.

»Nein, ich hab vor dem Abi aufgehört.«

Paul durchbohrte Olivia mit Blicken.

»Wenn deine Mutter das wüsste …« Unwillig schüttelte er den Kopf mit den kurz geschorenen Haaren, in denen silberne Fäden schimmerten. »Willst du damit also sagen, dass du nichts tust? Keine Schule, keine Arbeit, nichts?«

»Du doch offenbar auch nicht.« Olivia war wild entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen. »Bekanntlich gesellt sich Gleich und Gleich ja gern.« Ihr angewiderter Blick ruhte auf dem Inhalt seines Glases. »Was trinkst du da überhaupt?«

»Orangensaft mit Rotwein. Frühstück für starke Männer.«

»Eher für Versager!«, schnaubte sie. Wenn sie nur unfreundlich genug war, würde er vielleicht einsehen, dass seine Zeit in diesem Haus abgelaufen war.

Doch Olivia hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Paul knallte das Glas auf den Tisch, dass das orangefarbene Gemisch überschwappte. Sein unrasiertes Gesicht verfärbte sich krebsrot, und er sprang auf und kam drohend auf sie zu.

»Jetzt hab ich langsam genug von deinen Frechheiten, Fräulein«, schimpfte er und schüttelte drohend die Faust vor ihrem Gesicht. »Ob’s dir passt oder nicht, ich bin der Älteste hier im Haus und kann ja wohl etwas Respekt erwarten.«

In der Zwischenzeit hatte sich Olivia von ihrem Schrecken erholt.

»Respekt wofür denn?«, fragte sie abfällig. »Ich bin immerhin auf Jobsuche. Und du? Was bist du außer ein gnadenloser Versager?«

Nicht mehr viel und es wäre um Pauls Beherrschung geschehen gewesen. Am ganzen Körper zitternd stand er vor Olivia und schrie: »Ich bin Oberstudienrat! Hast du das gehört? Ein Oberstudienrat. Ich hab in meinem Leben immerhin schon was geleistet. Aber du hast ja noch nicht mal Abitur. Leiste du erst mal deinen Beitrag! Dann können wir weiterreden.« Einen Moment lang dachte Olivia, er würde zuschlagen. Doch dann wandte sich Paul plötzlich ab, lief aus der Küche und polterte die Treppe hinauf.

Auch Olivia war aufgewühlt wie lange nicht. Ihre Hände bebten, als sie sich wieder nach ihrem Putzeimer bückte. Sie fischte den Putzlappen aus dem Wasser und machte mit ihrer Arbeit weiter. Ein paar Minuten später hörte sie, wie die Haustür krachend ins Schloss fiel. Zum ersten Mal war sie allein in ihrem Haus und atmete erleichtert auf.

*

An diesem Vormittag arbeitete Tatjana wie eine Besessene. Obwohl sie auch sonst nicht langsam war, waren die Gäste in Frau Bärwalds kleinem Café nie schneller bedient worden. Die Kundschaft der Bäckerei wurde prompt bedient, und wenn es nichts zu tun gab, lehnte Tatjana nicht wie sonst am Tresen und trank Kaffee mit ihrer Chefin, sondern putzte hektisch die Scheiben der Auslage, bis sie glänzten und strahlten wie nie zuvor.

Eine ganze Weile beobachtete Hannelore Bärwald die Aktivitäten ihrer zuverlässigen Aushilfskraft mit wachsender Skepsis. Dann traf sie eine Entscheidung.

»Aber was machen Sie denn, Frau Bärwald?«, fragte Tatjana irritiert, als ihre Chefin kurz entschlossen den Schlüssel herumdrehte und das ›Bin gleich wieder da‹-Schild ins Fenster hängte.

»Ich sperre zu.«

»Aber warum denn?«

Hannelore Bärwald drehte sich zu Tatjana um und lächelte sie an.

»Weil du mir jetzt erzählst, was mit dir los ist«, verlangte sie und zog Tatjana mit sich an einen der Tische. Dort drückte sie sie auf einen Stuhl, ging zurück zur Kaffeemaschine und kehrte schließlich mit einem Tablett mit Kuchen und Kaffee an den Tisch zurück. »Also, was ist passiert?«, verlangte sie zu erfahren.

Hilflos saß die Studentin vor ihrem Teller und knetete die schmalen Hände im Schoß. Frau Bärwald genoss den ganzen Respekt ihrer jungen Mitarbeiterin. Schließlich war sie es gewesen, die der damals noch blinden Tatjana all ihr Vertrauen geschenkt und ihr den Job im Café gegeben hatte. Seither verband die beiden Frauen trotz aller Unterschiede eine innige Freundschaft.

»Ich war heute Morgen in der Klinik und wollte Danny besuchen«, begann Tatjana schließlich stockend zu erzählen. »Wenn ich gewusst hätte, dass er schon um diese Uhrzeit Besuch hat, hätte ich es gelassen. So aber hab ich blöderweise ein Gespräch zwischen ihm und der jungen Frau mitbekommen, die ihm die Hand in der Motorhaube eingeklemmt hat.«

»Na, so ganz unfreiwillig kann das ja nicht gewesen sein«, sagte Frau Bärwald ihr schmunzelnd auf den Kopf zu. »Ich meine, dass du das Gespräch mit angehört hast.«

»Stimmt schon. Ich hätte wieder gehen können«, räumte Tatjana zerknirscht ein. »Aber irgendwie ging es nicht. Ich war wie paralysiert«, gestand sie kleinlaut. »Dieses Mädchen interessiert sich für Medizin, und Danny hat versucht, sie zu überreden, das Abitur nachzumachen und Medizin zu studieren.«

»Er ist selbst Arzt und weiß vermutlich, wie interessant dieser Beruf ist.« Hannelore Bärwald verstand Tatjanas Bedenken nicht. »Was ist daran verkehrt?«

»Ach, ich weiß auch nicht.« Um ihren nervösen Händen etwas zu tun zu geben, griff Tatjana nach dem kleinen Löffel, der neben ihrer Tasse lag. Sie gab Zucker in den Kaffee und rührte gedankenverloren um. »Es ist nur so ein vager Eindruck …, ein Gedanke, der mir schon öfter in den Sinn gekommen ist …«, versuchte sie, das einzufangen, was sie bewegte. »Was, wenn ich Danny nicht genüge? Immerhin teile ich seine Leidenschaft für Medizin nicht und kann mich über dieses Thema kaum mit ihm unterhalten.«

»Na und?« Ungerührt zuckte Frau Bärwald mit den Schultern. »Er interessiert sich ja auch nicht für Orientalistik, oder?«

»Das ist was anderes«, wiedersprach Tatjana und wusste gleichzeitig, dass das Unsinn war.

Hannelore Bärwald griff nach ihrer Gabel und stach ein Stück vom Bienenstich ab. Sie schob es in den Mund und schloss genüsslich die Augen, als die süße Buttercreme auf ihrer Zunge schmolz.

»Es geht um etwas anderes, nicht wahr?«, setzte sie das Gespräch dann fort. Sie war eine einfache Frau und hatte vielleicht gerade deshalb einen klaren Blick auf die Dinge.

Verwundert legte Tatjana den kleinen Löffel zur Seite und dachte nach.

»Es geht vielleicht auch darum, dass ich Angst habe, Danny eines Tages nicht mehr zu genügen«, räumte sie endlich leise ein. Dieser Gedanke bekümmerte sie so sehr, dass er ihr sogar den Appetit auf Süßes verdarb. »Eines Tages wird er sich nach einer Frau sehnen, die ihm mehr bieten kann als ich.«

»Hat er schon jemals was in der Richtung gesagt?«, hakte Frau Bärwald irritiert nach.

»Das nicht. Aber ich spüre es.« Das hatte Tatjana an diesem Morgen in der Tat getan. Sie hatte sich vorgestellt, wie Danny mit der jungen Olivia lernte, wie er neben ihr saß und ihr die Anatomie einer menschlichen Hand erklärte, den Aufbau und die Lage der inneren Organe. Sie hatte die beiden vor sich gesehen, wie sie fachsimpelten und sich über einen medizinischen Scherz amüsierten, den Tatjana nicht verstand. Diese Angst war nicht unbegründet, waren doch Fee und Daniel Norden das beste Beispiel dafür, wie sehr das gemeinsame berufliche Interesse ein Paar verbinden konnte. »Es liegt nicht daran, dass ich eifersüchtig bin oder so«, kam sie Hannelore Bärwalds nächster Frage zuvor. »Aber glauben Sie nicht, dass sich Danny eines Tages auch so eine Partnerschaft wünscht, wie seine Eltern sie haben? Eine Partnerin wie seine Mutter, mit der er jederzeit über medizinische Probleme sprechen kann?«, sprach sie die bange Frage aus, die sie schon in der Vergangenheit hin und wieder beschäftigt hatte.

»Das kann natürlich schon sein«, musste Frau Bärwald widerwillig zugeben. Auch sie hatte das Ehepaar Norden inzwischen kennengelernt und war zutiefst beeindruckt von der Harmonie und dem stummen Einverständnis, das die beiden ausstrahlten. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie noch sagen konnte.

»Sehen Sie!« Tatjana fühlte sich durch das Schweigen ihrer Chefin bestätigt und holte tief Luft.

Ihre starke Persönlichkeit wurzelte in ihrer Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das hatte sie ihr Handicap gelehrt. Auch wenn es schwer sein würde, ohne Danny zu leben, so würde sie ihm trotzdem jede Freiheit lassen. Tatjana hätte es nicht ertragen, wenn er aus Mitleid bei ihr blieb. Es zerriss sie fast, wenn sie an Trennung dachte. Aber die Liebe war ein kostbares Geschenk, das man nicht einsperren konnte und durfte. »Lasse los, was du liebst«, zitierte sie den chinesischen Gelehrten Konfuzius sinnend. »Kehrt es zu dir zurück, dann gehört es dir.«

Ein Klopfen an der Scheibe riss die beiden Frauen aus ihren Gedanken. Ein Kunde hatte beide Hände links und rechts neben das Gesicht gelegt und lugte sichtlich hungrig in die Bäckerei.

»Ich mache wieder auf«, beschloss Tatjana und lächelte Frau Bärwald tapfer an. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und war im Reinen mit sich, als sie ihrer Chefin dankbar zunickte und dann ging, um den Schlüssel herumzudrehen und das Schild abzunehmen.

*

Die Überwachungsgeräte, an die Danny Norden während des Eingriffs angeschlossen war, piepten leise. Dannys Zustand war besorgniserregend gewesen, und die Anästhesistin überwachte peinlich genau sämtliche Werte, während Jenny Behnisch höchstpersönlich das Skalpell führte.

»Die Infektion hat auf den Unterarm übergegriffen«, seufzte sie und zeigte Daniel Norden die entsprechende Stelle. »Wir müssen den Schnitt bis hierher erweitern.«

Eine besorgte Falte stand auf Daniels Stirn.

»Ist es so schlimm?«

»Das Gewebe ist bereits nekrotisch.« Beherzt setzte Jenny den Schnitt und wandte sich dann an Dr. Gerlach. »Wir brauchen unbedingt heute noch den mikrobiologischen Befund. Am besten, Sie rufen selbst im Labor an.«

»Wird gemacht«, nickte Max Gerlach. Er assistierte Jenny Behnisch und war hochkonzentriert. »Abstrich!«, befahl er der Schwester, die gleich darauf eine Kollegin mit der Probe ins Labor schickte.

Fee, die nervös vor dem OP auf und ab ging, lief sofort auf sie zu. Seit einiger Zeit machte sie eine Facharztausbildung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und absolvierte im Rahmen dieser Ausbildung ein einjähriges Praktikum in der Pädiatrie der Behnisch-Klinik. Selbstverständlich hatte Daniel Norden seine besorgte Frau von dem bevorstehenden Eingriff informiert, und nun wartete sie händeringend auf Neuigkeiten.

»Wie geht es meinem Sohn?«, fragte sie die Schwester aufgeregt.

»Da müssen Sie bitte auf Frau Dr. Behnisch warten«, bekam sie eine wenig befriedigende Antwort.

So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich noch länger zu gedulden, bis Jenny endlich gefolgt von Daniel und Max Gerlach den Operationssaal verließ.

»Dan, Gott sei Dank«, seufzte sie und lief auf ihren Mann zu, dem die Anspannung noch ins ernste Gesicht geschrieben stand. »Wie geht es Danny?«

»Die Operation ist gut verlaufen«, konnte Dr. Norden seine Frau glücklicherweise beruhigen. »Allerdings musste Jenny mehr Gewebe entfernen als erwartet.«

»Und was bedeutet das? Wird die Hand steif bleiben?« Fee kannte die größte Sorge ihres Sohnes.

»Das kann man jetzt noch nicht so genau sagen«, seufzte Daniel bekümmert. »Im Augenblick bleibt uns nichts anderes übrig, als den Heilungsprozess abzuwarten.«

Als erfahrene Arztehefrau und selbst Ärztin wusste Felicitas, dass ihr Mann recht hatte, und quälte ihn nicht weiter mit Fragen, die ohnehin niemand beantworten konnte.

»Gut. Dann werde ich mal wieder an die Arbeit gehen.«

»Das ist das Beste, was du im Augenblick tun kannst, mein Liebling«, erwiderte Daniel rau. »Danny wird sicher noch eine Weile schlafen. Sagst du Tatjana Bescheid, dass wir operiert haben?«

»Natürlich«, versprach Fee. Sie küsste ihren Mann zum Abschied auf die Wange und machte sich dann in Gedanken versunken auf den Weg in die Pädiatrie. Wie immer war Arbeit ein probates Mittel, um sich vom Grübeln abzuhalten und die Zeit vergehen zu lassen, bis es Neuigkeiten gab.

*

Als Tatjana von dem überraschenden Eingriff erfuhr, eilte sie trotz ihres Entschlusses sofort in die Klinik. Danny war allein, als sie kam, und schlief noch. Sie setzte sich an sein Bett und betrachtete eingehend das geliebte Gesicht, dachte an die glücklichen Zeiten, die sie gemeinsam erlebt hatten. Das Herz wurde ihr schwer, wenn sie daran dachte, dass das alles vielleicht bald der Vergangenheit angehören würde. Und doch gab es keinen anderen Ausweg aus dieser vertrackten Situation als den, den sie gefunden hatte.

Das Buch, das sie auf dem Nachttisch fand, bestärkte sie in ihrem Beschluss.

»Hungriges Herz«, murmelte sie betroffen und bemerkte das Lesezeichen, das Danny zwischen die Seiten gelegt hatte. In nur wenigen Stunden hatte er fast ein Drittel gelesen. »Das passt so gar nicht zu ihm. Mir hat er immer gesagt, dass er Lesen langweilig findet. Aber vielleicht hat er es bisher nur noch nicht für sich entdeckt«, seufzte Tatjana mit bekümmertem Blick auf den Einband. »Vielleicht schlummert da noch viel mehr in ihm, und er braucht eine andere Frau, die all die verborgenen Talente wecken kann.«

Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so dagesessen und nachgedacht hatte, als Danny langsam unruhig wurde. Er blinzelte ins helle Licht und erkannte schließlich seine Freundin.

»Tatjana«, krächzte er, heiser, weil er während der Operation beatmet worden war. »Wie ist es gelaufen?«

Sie haderte kurz mit sich, beschloss dann aber, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Schwieriger als erwartet«, gestand sie. »Dein Vater war bei der Operation dabei. Er meinte, die erste Verletzung hätte eine wesentliche Rolle gespielt, dass sich das alles so entwickelt hat«, erklärte sie ihrem Freund das, was sie zuvor im Gespräch mit Daniel Norden erfahren hatte.

Seufzend versuchte Danny, sich ein wenig umzudrehen. Der dick verbundene Arm mit der Fixatur war ihm dabei im Weg.

»Ich hätte das alles ernster nehmen sollen«, ging er hart mit sich selbst in die Kritik.

»Das hättest du«, musste Tatjana leider bestätigen und legte tröstend die Hand auf seinen gesunden Arm.

Er stöhnte und schloss die Augen.

»Wenn ich Pech habe, kann ich meinen Beruf an den Nagel hängen.«

»Jetzt warte doch erst mal den Heilungsprozess ab«, versuchte Tatjana, ihn zu beruhigen.

Doch davon wollte Danny nichts hören.

»Wenn ich nicht mehr praktizieren kann, dann war alles umsonst. Dann hat mein Leben keinen Sinn mehr«, erklärte er verzweifelt und wütend.

»Es gibt doch auch ein Leben neben der Medizin.« Tatjana wählte ihre Worte mit Bedacht. »Weißt du, ich hab auch mal gedacht, dass die Welt untergeht, wenn ich nicht mehr sehen kann. Eine Weile dachte ich sogar, dass ich überhaupt nichts mehr tun kann. Das war ein riesiger Irrtum, wie sich irgendwann zum Glück herausgestellt hat.« Tatsächlich hatte Tatjana Fähigkeiten und Talente an sich entdeckt, die sie als Sehende niemals wahrgenommen hätte. Davon berichtete sie ihm mit leiser Stimme.

Doch der junge Arzt wollte sich nicht trösten lassen. Am liebsten hätte er sich in seinem Weltschmerz vergraben. Er wollte nicht mutig und tapfer und optimistisch sein.

»Aber ich bin nicht du!«, herrschte er Tatjana ungehalten an. »Ein Leben ohne Medizin ist nicht lebenswert für mich. Schon klar, dass du das nicht verstehen kannst.«

Gefangen in seinem eigenen Leid bemerkte er nicht, wie sehr er sie mit seinen Worten verletzte.

Eigentlich hatte Tatjana ihm noch nichts von ihrem Beschluss sagen wollen. Sie hatte sich vorgenommen, damit zu warten, bis er wieder gesund genug war und an etwas anderes denken konnte. Doch dieser Vorsatz löste sich in diesem Augenblick in ihrer grenzenlosen Enttäuschung auf.

»Es tut mir leid, dass du das so siehst. Aber vielleicht hast du ja recht und ich bin wirklich nicht die richtige Frau für dich«, sagte sie leise und mit gesenktem Kopf. »Vielleicht brauchst du so eine Frau, wie dein Vater sie in deiner Mutter gefunden hat. Eine, die deine Leidenschaft für Medizin teilt und dich tatkräftig unterstützen kann. Das geht bei mir leider schon wegen meiner Behinderung nicht.« Tatjana seufzte tief und stand auf, während Danny noch versuchte zu verstehen, was sie ihm damit sagen wollte.

»Was redest du denn da?«, fragte er sichtlich verwirrt und plötzlich lammfromm. »Du bist die Frau, mit der ich zusammenleben möchte. Und zwar am liebsten, bis ich alt und grau bin«, versicherte er. »Wenn du das allerdings anders siehst …«

»So hab ich das nicht gemeint«, unterbrach Tatjana ihn an dieser Stelle forsch. »Ich wollte nur, dass du weißt, dass du nicht aus Mitleid mit mir zusammenbleiben musst. Wenn du festgestellt hast, dass du eine Frau brauchst, mit der du deine Leidenschaft für deinen Beruf teilen kannst, werde ich dich nicht zurückhalten.«

»Ach, das ist ja interessant.« Vor Überraschung stand Danny der Mund offen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Tatjana auf so eine Idee kam. Krampfhaft suchte er nach Worten, mit denen er sie von ihrem Irrtum überzeugen konnte. Doch er war noch zu geschwächt von der Operation, als dass ihm etwas eingefallen wäre. So tat er das Einfachste, was ihm in dieser vertrackten Situation einfiel: Er schützte Müdigkeit vor und schloss die Augen. Gleichwohl wusste er, dass es zu diesem Thema zu gegebener Zeit noch jede Menge zu sagen gab.

*

Felix Norden machte sein Versprechen wahr und bat seinen Freund Eric, sich um Olivias Wagen zu kümmern. Der sagte sofort zu und verschwand schon am nächsten Nachmittag tief im Motorraum.

»Na bitte, schnurrt wie ein Kätzchen, das gute Stück«, stellte er zufrieden fest, als er sein Werk zwei Stunden später vollendet hatte.

»Du kennst dich echt gut aus«, erklärte Felix bewundernd. Wie bei einer Operation hatte er Eric assistiert und ihm die verlangten Werkzeuge gereicht.

»Nur bei diesen alten Dingern«, gab sich der junge Mann bescheiden, während er aufräumte und das Werkzeug mit ölverschmierten Fingern in den entsprechenden Koffern verstaute. »Die neuen Autos stecken voller Elektronik und sind so verbaut, dass man meistens noch nicht mal mehr eine Birne selbst wechseln kann.« Zufrieden klappte er den Deckel des Werkzeugkoffers zu und sah Felix herausfordernd an. »Wie wär’s mit ’ner kleinen Spritztour?«, fragte er unternehmungslustig.

Da Eric auf jegliche Bezahlung verzichtete, war Felix natürlich einverstanden. Er sagte seinem Vater schnell Bescheid – Daniel war inzwischen von der Klinik in die Praxis zurückgekehrt – und dann machten sich die beiden auf den Weg. Ihr erstes Ziel war das neue Zuhause von Olivia.

»Du hast die alte Karre tatsächlich wieder hingekriegt?«, freute sie sich, und ihre Augen hingen voller Bewunderung an Eric.

»Halb so wild«, winkte der sichtlich verlegen ab. Olivia war noch viel schöner, als er es aus Felix’ Berichten geschlossen hatte, und sofort hatte er einen Plan. »Da muss natürlich noch jede Menge gemacht werden. Wenn du willst, erledige ich das für dich«, bot er großzügig an, während er ihr die Beifahrertür aufhielt.

Felix, dem nicht entging, was sich zwischen den beiden abspielte, verzog sich grinsend freiwillig auf die Rückbank.

»Das wäre wirklich super von dir«, lächelte Olivia und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

»Abgemacht! Und jetzt zeigen wir dir mal ein bisschen was von deiner Wahlheimat«, versprach Eric und ließ den Motor an. Begleitet von munterem Plaudern ging die Fahrt zuerst durch die Innenstadt, vorbei an Friedensengel und Deutschem Museum, Bayerischem Landtag und Olympiastadion. Unter Felix’ fachkundigen Erklärungen lichteten sich schließlich die Häuserreihen und gaben bald den Blick frei auf das herrliche Voralpenland mit seinen Wiesen, Wäldern und Feldern. Im Hintergrund leuchteten die Berge im Abendrot.

»Sieht so aus, als würden sie brennen«, stellte Olivia zutiefst beeindruckt fest. So etwas Schönes hatte sie bisher noch nicht gesehen.

»Deshalb heißt dieses Phänomen ja auch Alpenglühen«, erklärte Felix bereitwillig. Seit sie die Stadt verlassen hatten, gab es nicht mehr viel zu erklären, und die drei schwiegen andächtig. Die herrliche Landschaft, die sanft geschwungenen, satt grünen Wiesen sprachen für sich. »Aber jetzt sollten wir langsam umkehren«, stellte Felix schließlich mit einem Blick auf die Uhr fest. »Sonst machen sich Mam und Dad noch Sorgen. Das können sie im Augenblick nicht brauchen.«

»Wie geht es denn deinem Bruder?«, erkundigte sich Olivia. Obwohl sie inzwischen wusste, dass sie unschuldig war an der Infektion, hatte sie trotzdem ein schlechtes Gewissen.

»Ach, Unkraut vergeht nicht«, bemerkte Felix leichthin, um die Sorgen zu überspielen, die auch er sich machte. »Der wird schon wieder.«

»Ein Glück!« Nur zu gern ließ sich Olivia beruhigen und lehnte sich im Sitz zurück.

Der Tag war lang und anstrengend gewesen, und alle drei hingen ihren eigenen Gedanken nach. Nachdem Eric zunächst Felix nach Hause gebracht hatte, verabschiedete er sich vor der Wohnung seiner Eltern von Olivia mit dem Versprechen, sie schon bald in ihrem Haus zu besuchen. Lange sah er ihr nach, ein glückliches Lächeln auf den Lippen, bis die Rücklichter in der Dämmerung verschwunden waren.

*

Auch Olivia hing ihren sehr angenehmen Gedanken nach, als sie durch die fremde Stadt fuhr und den Wagen schließlich vor dem Haus ihrer Mutter parkte. Sie hatte den Motor noch nicht abgestellt, als die Haustür aufgerissen wurde.

»Bist du noch ganz bei Trost!«, dröhnte eine zornige Stimme durch den Garten.

Zu Tode erschrocken starrte Olivia hinüber zum Haus und erkannte in der Dämmerung eine Gestalt, die auf sie zueilte.

»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt, Fräulein?«, polterte Paul weiter, als er um den Wagen herumeilte und Olivia vom Fahrersitz zerrte.

»Hey, hey, hey, was soll denn das?«, rief sie verwirrt. Zu erschrocken, um sich zur Wehr zu setzen, ließ sie sich von ihrem Mitbewohner ins Haus ziehen.

Keuchend warf Paul die Tür hinter ihr ins Schloss und starrte sie aus rot geränderten Augen wutentbrannt an.

»Raus mit der Sprache! Wo warst du?«, wiederholte er seine Frage mit bebender Stimme.

Langsam erholte sich Olivia von ihrem Schrecken. Sie strich die Bluse glatt und zupfte in aller Ruhe den Rock gerade, ehe sie aufreizend ruhig sagte: »Tja, tut mir leid, dass du dich zu früh gefreut hast. Jetzt bin ich wieder hier.«

Paul zitterte noch immer, als er vor ihr stand. Einen Augenblick fürchtete Olivia, er würde sie schlagen. Doch dann wandte er sich plötzlich ab und begann, vor ihr hin und her zu wandern.

»Ein Glück, dass du wieder da bist«, brummte er endlich und brachte es nicht über sich, ihr in die Augen zu sehen. »Ich wundere mich ja selbst. Aber ich hab mir Sorgen gemacht.«

Um ein Haar hätte Olivia laut aufgelacht. Dieser Mann und Sorgen? Doch der Ausdruck in seinem Gesicht hielt sie davon ab, und so biss sie sich verlegen auf die volle Unterlippe. Plötzlich wurde ihr Herz schwer. Auf der ganzen Welt gab es niemanden, der sich Sorgen um sie machte. Außer diesem Mann, den sie nicht ausstehen konnte.

»Ich dachte, du bist froh, wenn du mich wieder los bist«, sagte sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme zitterte.

»Dachte ich auch«, gab Paul zurück. »Muss wohl an Christine liegen. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, auf dich aufzupassen, falls du hier aufkreuzen solltest.«

Olivias Augen wurden rund vor Staunen.

»Das hat sie gesagt?«, fragte sie ungläubig.

Paul beendete seinen rastlosen Marsch und ging in die Küche, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Überall strahlte ihm duftende Sauberkeit entgegen. Doch zu einem Lob konnte er sich nicht durchringen.

Olivia kümmerte das nicht. Sie lief hinter ihm her, um mehr über ihre Mutter zu erfahren.

»Warum?«

»Warum was?« Mit der Flasche in der Hand drehte sich Paul wieder zu ihr um.

»Warum hat sie das gesagt?«

»Weil du, verdammt noch mal, ihre Tochter bist und du ihr nicht halb so egal warst, wie du denkst«, schimpfte Paul und spülte seinen Unmut mit einem großen Schluck Bier hinunter. Erst jetzt bemerkte Olivia die Aufschrift auf der Flasche.

»Alkoholfrei?«, entfuhr es ihr ungläubig.

»Sei bloß still«, warnte Paul sie und ließ sie in der Küche stehen. Eine Weile hörte Olivia, wie er im Wohnzimmer herumkramte, und wollte schon in ihr Zimmer gehen, als er schließlich doch zurückkehrte.

»Da! Lies das!«, verlangte er und hielt ihr ein Blatt Papier hin. »Du kannst doch lesen, oder?«

Ärgerlich riss Olivia ihm das Blatt aus der Hand und überflog es. Als sie die Augen wieder hob, stand Panik darin geschrieben.

»Du hast mich auf dem Gymnasium angemeldet?« Kraftlos sank sie auf einen der Küchenstühle, auf die sie die geblümten Kissen gelegt hatte, die sie in einem Schrank gefunden hatte.

Paul lachte, zum ersten Mal seit Langem zufrieden mit sich und der Welt.

»Toll, nicht? Wir bleiben nur auf Erden, um zu wachsen. Das hat schon Robert Browning gewusst.« Er trank einen Schluck Bier, ehe er die Flasche verächtlich musterte. »Gut ist was anderes.«

Olivia hatte inzwischen nachgedacht.

»Soll das etwa eine Entschuldigung dafür sein, dass du so fies zu mir warst?«, fragte sie argwöhnisch und streckte die Hand aus, um eine Gartenblume in der Vase zurechtzurücken.

»Denk, was du willst«, winkte Paul lässig ab und gesellte sich zu ihr an den Tisch. Die gelungene Überraschung stimmte ihn versöhnlich. »So hübsch wie jetzt war es hier seit Jahren nicht.«

Olivia hörte ihn nicht. Sie starrte auf die Anmeldung fürs Gymnasium.

»Zum letzten Mal war ich vor über einem Jahr auf der Schule«, murmelte sie und warf den Kopf in den Nacken. Trotzig warf sie das Blatt auf den Tisch und starrte Paul herausfordernd an. »Ich geh da nicht hin.«

Damit hatte Paul nicht gerechnet. Er knallte die Flasche auf den Tisch und starrte Olivia ungläubig an.

»Und ob du da hingehen wirst! Weißt du eigentlich, was ich alles auf mich genommen hab deswegen? Meine alten Kollegen getroffen, mich zum Gespött gemacht.«

»Ich hab dich nicht darum gebeten«, fauchte Olivia. Es war die Angst, die sie so hilflos machte. »Komm schon, was willst du dafür von mir? Soll ich woanders wohnen?«

Paul antwortete nicht sofort. Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, schloss die Augen und schien über eine Antwort nachzudenken. Als er sie wieder öffnete, hatte sich etwas geändert.

»Weißt du, deine Mutter hat dir deinen Namen vielleicht nicht umsonst gegeben. Der Zweig des Ölbaums ist ein Symbol für Frieden und Liebe«, erklärte er heiser. »Außerdem hast du mich an etwas erinnert. An meine Zeit als Oberstudienrat, als ich junge, hoffnungsvolle Menschen in deinem Alter unterrichtet habe …« An dieser Stelle brach er ab.

Olivia sah die Tränen in seinen Augen glitzern. Sie wollte es nicht, aber sie rührten trotzdem an ihr Herz.

»Warum hast du aufgehört damit?«, fragte sie leise.

Doch Paul schüttelte nur den Kopf. Er hob die Flasche an seine Lippen und leerte sie in einem letzten, großen Zug.

»Morgen wird früh aufgestanden. Wir haben noch viel zu tun, bis du nächste Woche mit der Schule anfängst«, beschloss er und erhob sich. Dabei klang er so entschieden, dass Olivia gar nicht daran dachte, ihm zu widersprechen. Mechanisch stand sie auf, sagte gute Nacht und ging in ihr Zimmer.

*

Nichts ahnend, welches Drama sich zwischen ihrem Sohn und seiner Freundin abgespielt hatte, kam Felicitas Norden am nächsten Morgen zu Danny.

Von ihrem Mann hatte sie erfahren, dass die Operation gut verlaufen war. Und auch die Nachtschwester, bei der sie vorher gewesen war, hatte Entwarnung gegeben. Das Fieber des vergangenen Abends war auf einen Normalwert gesunken. So dachte Fee an nichts Böses, als sie das Krankenzimmer gut gelaunt und bewaffnet mit einem Fresspaket von Lenni betrat.

»Guten Morgen, mein Lieber. Wie geht es dir denn?«, begrüßte sie ihren Ältesten strahlend.

»Geht schon«, kam die überraschend übellaunige Antwort.

Fee stutzte und trat ans Bett. Mit der äußeren Fixatur sah Dannys Arm aus wie aus einem Science-Fiction-Film.

»Hey, das klingt aber gar nicht gut.« Ganz besorgte Mutter beugte sich Felicitas über ihren Sohn. »Hast du Schmerzen?«

»Nein.«

»Kreislaufprobleme?« So etwas geschah häufiger nach Operationen. Doch auch das verneinte Danny.

»Die Narkose hab ich gut vertragen.«

»Machst du dir immer noch Sorgen, dass der Arm steif bleiben könnte?«, forschte Fee weiter nach der Ursache für seine schlechte Laune. »Jenny meinte, dass die Gefahr nicht sehr groß ist. Es ist ein gutes Zeichen, dass das Fieber abgeklungen ist …«

»Mam, bitte, ich weiß das alles selbst«, fiel Danny ihr ungeduldig ins Wort.

Erschrocken biss sich Felicitas auf die Lippe. Auf keinen Fall wollte sie eine geschwätzige, aufdringliche Frau werden, wie es bei manchen Menschen geschah, wenn sie älter wurden.

»Tut mir leid. Ich wollte dir nicht auf die Nerven gehen«, entschuldigte sie sich pflichtschuldig.

Als er seine Mutter so geknickt sah, war es Danny, der ein schlechtes Gewissen bekam.

»Tut mir leid, Mam, dass ich so schlecht drauf bin«, entschuldigte er sich geknickt. »Es liegt nicht an dir. Ich freu mich sehr, dass du gekommen bist. Wirklich.« Seine Stimme klang eigentümlich. Genauso hatte er immer als kleiner Junge geklungen, wenn er etwas auf dem Herzen hatte.

Fee überlegte nicht lange. Sie setzte sich auf die Bettkante und lächelte ihn aufmunternd an.

»Vielleicht sagst du mir einfach, wo dich der Schuh drückt. Was meinst du?«, forderte sie ihn direkt auf und musste plötzlich an Tatjanas gedrückte Stimmung neulich denken. »Hängt es mit Tatjana zusammen?«

Danny wich ihrem Blick aus und schluckte.

»Kann schon sein«, gab er zögernd zu.

»Ich will wirklich nicht aufdringlich sein, und wenn du nicht reden willst, musst du es nicht tun«, erklärte Felicitas vorsorglich.

»Ach, vielleicht tut es ganz gut, mal mit jemandem zu reden«, seufzte Danny endlich. »Mit einer klugen Frau zum Beispiel«, schickte er ein Kompliment hinterher, das Fee erröten ließ.

»Du alter Schwerenöter«, lachte sie verlegen. »Von deinem Charme hast du zumindest noch nichts verloren. Das ist ein gutes Zeichen.«

»Ich weiß nicht. Bei Tatjana scheint er zumindest nicht mehr zu ziehen«, erwiderte Danny so bekümmert, dass Fee erschrak.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Sie hat mir gestern Abend nach der Operation eröffnet, dass ich sie jederzeit verlassen kann, wenn mir der Sinn danach steht. Dass sie mich nicht zurückhalten wird. Und das tut echt weh. Ich brauch sie nämlich«, gestand Danny heiser, und Fee wusste sofort, wie verletzt ihr ältester Sohn war.

Glücklicherweise kannte sie Tatjana gut genug, um zu wissen, dass diese Worte – wenn sie sie denn überhaupt so gesagt hatte – nicht so gemeint waren.

»Nun mal langsam«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Das wird sie ja nicht aus heiterem Himmel gesagt haben und schon gar nicht nach der Operation. Irgendwas muss doch zwischen euch vorgefallen sein«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

Zerknirscht gab Danny den Wortlaut wieder, so gut er sich noch daran erinnern konnte.

»Warum denkt Tatjana auf einmal, dass sie nicht gut genug für mich ist? Ich bin doch ganz froh, wenn ich auch mal was anderes zu hören und zu sehen bekomme als immer nur Krankheiten und Medizin. Wenn ich eine Frau wollte, mit der ich Tag und Nacht fachsimpeln kann, dann hätte ich mir schon früher eine gesucht«, ereiferte er sich. »Und warum kämpft sie nicht um uns? Das bedeutet doch nur, dass ich ihr nicht wirklich wichtig bin.« Diese leidenschaftliche Rede hatte ihn so sehr angestrengt, dass feine Schweißperlen auf seiner Stirn standen. Er atmete heftig.

»Beruhige dich und denk zur Abwechslung mal mit deinem klugen Köpfchen und nicht mit deinem stolzen Herzen«, befahl Fee ihm ungerührt. Auf dem Nachttisch hatte sie das Buch von Olivias Mutter entdeckt. »War Olivia etwa hier?«, erkundigte sie sich.

»Ja«, erwiderte Danny gedehnt und sichtlich genervt. Er wollte jetzt nicht über Olivia sprechen. »Gestern früh. Sie hat mir erzählt, dass sie sich für Medizin interessiert, will aber nicht zur Schule gehen. Stattdessen sucht sie nach einem Job als Bedienung. Ist das nicht wahnsinnig dumm?«, fragte er seine Mutter.

Felicitas hatte aufmerksam zugehört.

»Sag mal, hat Tatjana dieses Gespräch mitgehört?«, zählte sie Eins und Eins zusammen.

Danny zuckte mit den Schultern.

»Einen Teil. Ich weiß nicht, wie lange sie in der Tür stand. Ich hab sie nicht bemerkt.«

»Na, dann ist mir alles klar.« Unwillig schnalzte Felicitas mit der Zunge. »Wahrscheinlich hast du mit der üblichen Begeisterung auf Olivia eingeredet. Das muss Tatjana in den falschen Hals bekommen haben.«

Darüber musste Danny zuerst nachdenken. Doch wie er es drehte und wendete: Er konnte sie nicht verstehen.

»Aber warum spricht sie mich nicht klipp und klar darauf an?«, fragte er unwillig.

Fee seufzte. Jetzt war es an ihr, ungeduldig zu werden.

»Danny, Tatjana ist eine sehr besondere Frau, trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung selbstbewusst, ehrlich und kompromisslos. Sie hat dich freigegeben, damit du dich entscheiden kannst. Zugegeben, der Moment ist etwas unglücklich gewählt. Aber sie wird ihre Gründe gehabt haben.«

»Aber ich will doch gar nicht frei sein. Ich will keine andere Frau als Tatjana«, beharrte Danny eigensinnig.

»Schön.« Felicitas lachte und stand auf. Es wurde Zeit für sie, an die Arbeit zu gehen, ehe Mario einen Suchtrupp nach ihr ausschicken würde. »Dann haben wir das ja geklärt.« Einen Moment blieb sie noch am Bett ihres Sohnes stehen. »Das, was Tatjana für dich getan hat, ist die größtmögliche Liebeserklärung. Sie will dich nicht verlieren. Aber wenn du mit einer anderen glücklicher wärst als mit ihr, würde sie dir nicht im Weg stehen.« Bei diesem Gedanken wurde es Felicitas ganz warm ums Herz. Hin und wieder hatte sie gedacht, dass die jungen Leute es mit der Liebe nicht so ernst nahmen. In diesem Augenblick wurde sie vom Gegenteil überzeugt und war zutiefst dankbar dafür. »Das ist Liebe, Dannylein. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.« Sie beugte sich über ihren Sohn, um ihm einen mütterlichen Kuss auf die Wange zu drücken.

Bevor sie Gelegenheit hatte, sich zu verabschieden, hatte Danny aber noch etwas auf dem Herzen.

»Sag mal, Mam, könntest du mir einen Gefallen tun?«, fragte er fast kleinlaut. »Könntest du mit Tatjana reden und ihr sagen, dass …«

»Das könnte dir so passen!«, lachte Fee unbekümmert. »Nachdem du unsere gute Erziehung genossen hast, bin ich mir ganz sicher, dass du das selbst hinbekommst.« Die Hand schon auf der Türklinke, zwinkerte sie Danny noch einmal zu. Dann musste sie wirklich gehen.

*

»Ach, du meine Güte!« Entsetzt starrte Wendy aus dem Fenster der Praxis Dr. Norden hinaus auf die Parkplätze am Straßenrand. »Dabei hab ich mich gestern so gefreut, dass der Schandfleck endlich weg ist.«

»Was ist los?« Obwohl Janine immer noch von dieser seltsamen Übelkeit geplagt wurde, biss sie tapfer die Zähne zusammen. Auf keinen Fall sollte ihre Umwelt bemerken, wie sehr sie in Wahrheit litt. Sie trat neben ihre Freundin und Kollegin ans Fenster und schob den Vorhang beiseite, um besser sehen zu können. »Ah, Olivia Schamel!«, stellte sie dann fest, als die junge Frau mit schwungvollen Schritten den Gartenweg hinunterging. Ihr kurzer Rock schwang ­lustig im Takt ihrer Schritte, und ihr rötlich-blonder Pferdeschwanz wippte auf und ab. »Hat sie einen Termin?«

»Nicht, dass ich wüsste«, bemerkte Wendy und ging an den Computer, um sicherzugehen. »Nein, hat sie nicht. Aber der Chef ist ja glücklicherweise schon da.«

»Bleibt nur zu hoffen, dass der Wagen später auch wieder anspringt«, sprach Janine das aus, was Wendy dachte, als sich die Tür auch schon öffnete und Olivia hereinkam.

»Keine Sorge«, ließ sie nach einer freundlichen Begrüßung durchblicken, dass sie die letzten Worte aufgeschnappt hat. »Ich hab jetzt einen privaten Servicemann, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite steht.«

»Ach, der junge Mann, der gestern mit Felix hier war.« Wendy wusste sofort, von wem die Rede war.

Olivia nickte und errötete zart, und unwillkürlich dachte Wendy an ihre eigene unbeschwerte Zeit der Jugend zurück, als die Liebe noch leicht und wie ein Spiel gewesen war.

»Du bist sicher gekommen, um mit Dr. Norden zu sprechen«, sagte Janine der Besucherin auf den Kopf zu.

»Ich weiß, dass ich keinen Termin hab. Aber es wäre toll, wenn ich ein paar Minuten mit ihm sprechen könnte. Es dauert wirklich nicht lange.« Dabei lächelte Olivia so süß und mädchenhaft, dass weder Janine noch Wendy etwas dagegen einzuwenden hatte.

»Du hast Glück. Der erste Patient verspätet sich offenbar. Wenn er den Termin nicht sogar ganz vergessen hat.« Janine stand auf und brachte Olivia höchstpersönlich zu Daniel Norden.

»Olivia!« Ein freudiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als die junge Frau eintrat. »Setz dich doch. Ich hab heut schon an dich gedacht.«

»Wahrscheinlich, weil Sie Ihr Auto wieder auf Ihrem eigenen Parkplatz parken konnten«, sagte Olivia ihm keck auf den Kopf zu, und Daniel gab ihr lachend recht. Diese unerschrockene junge Frau gefiel ihm. Zum Glück schien sie lebenstüchtiger zu sein, als ihre Mutter es gewesen war.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte er, nachdem er ihr Kaffee angeboten hatte.

Olivia antwortete nicht sofort. Das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb, und einen Moment starrte sie nachdenklich auf ihre Hände. Dann hob sie den Blick und sah Dr. Norden fest an.

»Sie kannten doch meine Mutter.«

»Das ist richtig. Christine war eine sehr feinsinnige, kluge und schöne Frau. Auf eine Art bist du ihr sehr ähnlich.«

»Auf eine Art?«, hakte Olivia nach und legte den Kopf schief.

»Ich glaube – oder vielmehr hoffe ich –, dass du lebenstüchtiger bist als sie. Sie kam mit dem Leben, seinen ganz normalen Herausforderungen, nicht zurecht. Diesen Eindruck machst du glücklicherweise ganz und gar nicht auf mich.«

»Das wird sich noch zeigen«, erwiderte Olivia düster. »Paul hat mich auf dem Gymnasium angemeldet. Nächste Woche geht es los. Das schaffe ich nie und nimmer.«

»Paul?«, hakte Daniel Norden irritiert nach. »Ach, du meinst wohl Paul Hübner, den ehemaligen Oberstudienrat«, ging ihm dann ein Licht auf. »Deine Mutter hat viel von ihm erzählt. In den letzten Jahren ihres Lebens war er ihr Anker. Er war der einzige ihrer Freunde, der sie nicht im Stich gelassen hat.«

»Ach, wirklich?« Jetzt war es an Olivia, verwundert zu sein. »Das hätte ich nicht gedacht. Er wirkt ganz anders.« Einen Moment lang dachte sie über Paul nach. Dann schüttelte sie energisch den Kopf, als wollte sie die Gedanken an ihn daraus vertreiben. »Na ja, eigentlich bin ich nicht gekommen, um über Paul zu sprechen. Ich wollte Sie fragen, ob meine Mutter irgendwann mal was von meinem Vater gesagt hat.« Solange ihre Mutter und damit die Hoffnung gelebt hatte, Christine doch noch einmal selbst zu begegnen, hatte sich Olivia nicht für ihren Vater interessiert. Doch jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Wenn sie Paul und seine Pläne ein für alle Mal loswerden wollte, musste sie ihren Vater finden. Koste es, was es wolle. »Vielleicht hat Christine ja mal einen Namen erwähnt …, irgendwas?« Ihr hoffnungsvoller Blick hing an Daniel Nordens Gesicht, und es tat ihm jetzt schon weh, sie enttäuschen zu müssen. Christine Javier hatte ständig von ihrer Tochter gesprochen und ihren Freund Paul in den Himmel gelobt. Doch über den Vater ihres einzigen Kindes hatte sie nie ein Wort verloren.

»Tut mir leid.« Bedauernd schüttelte er den Kopf, als er sich plötzlich an etwas erinnerte. »Aber ich weiß, dass deine Mutter Tagebuch geschrieben hat. Die Therapeuten haben ihr das empfohlen, und sie hat jedes Mal darüber gelacht. Das tue ich, seit ich ein Teenager bin!, hat sie mir ab und zu gesagt. Leider hat ihr das Schreiben nicht geholfen. Aber vielleicht findest du in ihrem Haus etwas …«

Dr. Norden hatte noch nicht ausgesprochen, als Olivia wie von der Tarantel gebissen aufsprang. Plötzlich war ihr etwas eingefallen, was sie über der Aufregung angesichts des geplanten Schulbesuchs völlig vergessen hatte. Ehe er es sich versah, lief sie um den Schreibtisch herum, legte die Hände links und rechts auf seine Wangen und küsste ihn mitten auf den Mund.

»Vielen Dank, Sie sind ein Schatz!« Und ehe Daniel Gelegenheit hatte nachzufragen, war Olivia auch schon aus seinem Behandlungszimmer verschwunden.

*

Noch ehe sich Dr. Norden von seiner Verwirrung erholt hatte, kündigte Janine die erste Patientin des Tages an.

»Frau Berger ist heute Morgen zusammengebrochen«, informierte sie ihren Chef knapp über die wichtigsten Dinge. »Offenbar leidet sie schon seit einer Weile unter Kreislaufproblemen.« Daniel nickte und wandte sich dem Wartezimmer zu, aus dem ihm das junge Paar schon entgegenkam.

»Vielen Dank, dass Sie sich gleich Zeit für uns nehmen.« Der Mann, der die leichenblasse Frau am Arm führte, wirkte besorgt.

»Das ist doch selbstverständlich«, versicherte Daniel und trat auf die andere Seite, um Teresa zusätzlich zu stützen. »Mal abgesehen davon, dass mich mein erster Patient heute ohnehin versetzt hat. Kommen Sie, wir gehen gleich ins Behandlungszimmer.« Er deutete auf eine Tür, die links neben der zu seinem Sprechzimmer lag. »Da ist eine Liege, auf die Sie sich legen können.«

Er schickte Teresa einen besorgten Blick. Ohnehin sehr zart gebaut, hatte sie seit dem Unfalltod ihrer Eltern im vergangenen Jahr deutlich an Gewicht verloren. Das lag auch daran, dass sie sich neben ihrem Studium der Tiermedizin seither um ihren 16-jährigen Bruder Anian kümmerte, der mit ihr auf dem alten Bauernhof etwas außerhalb der Stadt lebte.

»Danke, aber es geht schon besser«, erklärte Teresa und sah ihren Freund fast vorwurfsvoll an. »Ich wäre ja gar nicht hergekommen. Aber Marco hat darauf bestanden.«

»Weil dir in letzter Zeit öfter schwindlig ist«, verteidigte er seinen Entschluss energisch.

Der fürsorgliche, tatkräftige Mann gefiel Dr. Norden. Er war genau der Partner, den Teresa in dieser schwierigen Situation brauchte.

»Ein Glück, dass Sie so einen klugen Mann an Ihrer Seite haben«, machte er denn auch keinen Hehl aus seiner Meinung.

Marco dankte ihm mit einem warmen Blick für die Unterstützung und half Teresa auf die Behandlungsliege.

»Sie können dort drüben Platz nehmen«, bat Daniel Norden. Er setzte sich auf einen Hocker und rollte zu Teresa, zählte ihren Puls und maß den Blutdruck. Die Werte lagen alle außerhalb der Norm. Doch das allein gab noch keinen Anlass zu großer Sorge. »Erzählen Sie mir von Ihren Kreislaufproblemen«, bat er um genauere Informationen, um sich ein Bild machen zu können. »Haben Sie viel Stress?«

»Vor ein paar Monaten dachte ich, dass ich alles ganz gut im Griff habe. Aber in letzter Zeit ist Anian ganz schön störrisch«, gab Teresa bereitwillig Auskunft.

»Kein Wunder. Der Bengel steckt mitten in der Pubertät, ist frech und aufsässig«, mischte sich Marco in das Gespräch ein. »Dabei tut Tess alles für ihn. Man könnte meinen, dass er dafür dankbar sein sollte. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall.« Der Unmut über das Verhalten des Teenagers stand Marco ins Gesicht geschrieben.

Teresa sah Daniel vielsagend an und zog missbilligend eine Augenbraue hoch.

»Für ihn ist es eben auch nicht leicht, seit Mama und Papa nicht mehr da sind«, nahm sie ihren viele Jahre jüngeren Bruder in Schutz. »Marco versteht das nicht. Die beiden kommen immer weniger miteinander klar.«

Daniel Norden, der dieses Problem verstand, aber im Augenblick keine Lösung dafür parat hatte, konzentrierte sich auf den medizinischen Aspekt.

»Dieses Spannungsfeld erzeugt natürlich schon Stress. Das Studium und die Arbeit mit dem großen Haus tun wahrscheinlich ein Übriges.«

»Hast du dem Doc schon von dem entzündeten Nagelbett erzählt?«, erkundigte sich Marco von seinem Platz am Fußende der Liege.

Unwillig verzog Teresa das Gesicht.

»Das ist doch nicht der Rede wert«, winkte sie ab.

Doch Dr. Norden sah die Sache anders.

»Darf ich mal sehen?«, bat er, und zähneknirschend setzte sich Teresa auf und schlüpfte aus dem Clog.

»Du liebe Zeit, der ist ja ganz schwarz«, entfuhr es ihm, und Teresa lachte trotz ihrer Beschwerden auf.

»Keine Angst, das ist nur Zugsalbe. Die hab ich in einem Schrank gefunden und dachte, das kann nicht schaden.«

»Hmmm, das sieht ziemlich schmerzhaft aus«, stellte Daniel fest und betrachtete den angeschwollenen großen Zeh. Behutsam nahm er den Fuß in die Hand. »Seit wann …«

»Aua!« Schon bei der kleinsten Berührung stöhnte Teresa auf.

»So schlimm?« Daniel runzelte die Stirn. »Ein Wunder, dass Sie überhaupt einen Schuh anziehen können.«

»Ehrlich gesagt komme ich nur in diese Clogs rein.«

»Und mir hast du gesagt, sie sind so bequem«, bemerkte Marco tadelnd.

»Na ja, stimmt ja irgendwie auch.« Teresa lächelte peinlich berührt. Normalerweise gehörte Lügen nicht zu ihren Angewohnheiten. »Ich wollte einfach nicht, dass du dir noch mehr Sorgen machst als sowieso schon«, lächelte sie ihren Freund um Verzeihung bittend an.

Inzwischen hatte Daniel Norden Gelegenheit gehabt, sich über die weitere Vorgehensweise Gedanken zu machen.

»Ich weiß zwar nicht, ob und wie Ihre Kreislaufschwäche mit der Entzündung zusammenhängt. Auf jeden Fall würde ich aber zu einem Klinikaufenthalt raten. Die Wunde am Fuß muss revidiert und dem Grund für den instabilen Kreislauf nachgegangen werden«, traf er eine Entscheidung, die Teresa sichtlich erschreckte.

»In die Klinik?«, fragte sie tonlos.

»Ein Kreislaufzusammenbruch kann immer einen ernsten Hintergrund haben«, erklärte Daniel und ging zum Telefon.

»Aber ich kann nicht in die Klinik. Was soll denn dann aus Anian werden? Er kann unmöglich allein zu Hause bleiben.«

»Wenn es sich nur um ein paar Tage handelt, kann ich ja sehen, dass ich kurzfristig Urlaub bekomme«, machte Marco sofort einen Vorschlag.

Daniel lächelte ihm dankbar zu. Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, machte ihm Teresas Zustand große Sorgen. Abgesehen von der Infektion war sie viel zu dünn und musste dringend aufgepäppelt werden. Sonst würde sie die Belastungen nicht mehr lange aushalten.

»Sehen Sie, es findet sich für alles eine Lösung«, erklärte der Arzt und hob den Hörer. »Und wenn alle Stricke reißen, kommt Ihr Bruder eben für eine Weile zu uns. In unserem Taubenschlag ist immer jemand da, der sich um Anian kümmern kann.« Und ihm nebenbei ein paar Flausen auszutreiben!, ging es ihm durch den Sinn, bevor er die Nummer der Behnisch-Klinik wählte und einen Wagen für Teresa Berger bestellte.

*

»Ah, da bist du ja wieder!«, begrüßte Paul seine Mitbewohnerin, als Olivia die Tür aufsperrte und mit entschlossenen Schritten an ihm vorbei in die Küche marschierte. »Ich hab schon auf dich gewartet. Es wird höchste Zeit für den Unterricht.«

»Geht nicht. Ich hab was zu tun«, erklärte Olivia resolut und stellte die Tüten und Taschen mit den Einkäufen auf dem Tisch ab. »Mach dich lieber mal nützlich, und räum den Kühlschrank ein«, befahl sie noch, als sie die Küche verließ und in ihr Zimmer ging.

»Hey, bin ich dein Angestellter, oder was?«

»Auf jeden Fall nicht mein Erziehungsberechtigter«, gab Olivia unfreundlich zurück und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Ohne Umwege ging sie auf das Bett ihrer Mutter zu und setzte sich davor auf den Boden. Sie hob den Überwurf und zog die Schachtel hervor, die sie völlig vergessen hatte. Ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging schnell, als sie den Deckel abnahm. Wie Daniel Norden vermutet hatte, fanden sich unter Fototaschen und Briefen ein Stapel Tagebücher.

Eine Weile starrte Olivia darauf und haderte mit sich. Wollte sie wirklich wissen, was in diesen Büchern stand? Und was, wenn ihre Hoffnungen enttäuscht wurden?

Während sich Olivia in ihrem Zimmer verbarrikadierte, stand Paul ratlos in der Küche und sah die Tüten und Taschen an. Während er darüber nachdachte, was das Mädchen wohl in diesem Augenblick machte, räumte er gedankenverloren die Lebensmittel ein, die sie eingekauft hatte. Er war so versunken in seine Arbeit, dass er nicht hörte, wie das Telefon klingelte.

»Geht mal jemand an das verdammte Telefon!« Erst Olivias tränenerstickte, wütende Stimme riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Am liebsten wäre er sofort zu ihr gegangen. Da ihre Stimme aber nichts Gutes verhieß, ging er lieber an den Apparat.

»Ja, bitte …, ja …, am Apparat … Wirklich? Ist das Ihr Ernst? Kommende Woche gleich?« Paul zögerte, als er in den Augenwinkeln einen Schatten bemerkte. Er wandte den Kopf und sah Olivia. Ihre Augen waren gerötet von Tränen. Und sie starrte ihn unverwandt an. »Ja, natürlich kann ich«, erklärte er mechanisch in den Hörer. »Ich werde pünktlich sein. Sie können sich auf mich verlassen.« Ohne Olivia aus den Augen zu lassen, legte Paul auf. Sie starrte unverwandt zurück, sagte aber kein Wort. »Das war die Schule«, fühlte Paul sich auf unerklärliche Art und Weise zu einer Erklärung verpflichtet. »Ein Lehrer ist überraschend ausgefallen, für länger. Ich kann nächste Woche anfangen.« Verlegen rieb er sich die Nase. »Hab zugesagt. Wegen dir, ich muss ja schließlich ein Vorbild sein.« Pauls Lächeln war schief.

»Warum hast du überhaupt aufgehört?«, fragte Olivia, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie lächelte nicht zurück, und Paul seufzte.

»Das ist eine lange, sehr traurige Geschichte. Ich glaub kaum, dass dich das interessiert.«

»Das sollte sie aber wahrscheinlich.« Olivia schluckte, und Paul sah, wie sie mit der Beherrschung kämpfte. Das Buch in ihrer Hand zitterte wie ein Blatt im Wind.

»Ich versteh nicht …, ich meine …«, stammelte er hilflos. Dieses Mädchen machte ihn noch verrückt. Sie nahm ihm alle Souveränität, ließ ihn dastehen wie einen Idioten.

»Na ja, man hat sich doch für seine Familie zu interessieren, oder?«, gab sie ihm aber keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. »Zumindest ist es das, was ich von meiner Großmutter gelernt und was ich von meiner Mutter erwartet habe.«

Paul verstand immer weniger.

»Du sprichst in Rätseln«, gestand er offen.

In diesem Moment verlor Olivia die Beherrschung.

»Oh Mann, wer von uns ist denn der schlaue Oberlehrer?«, schrie sie ihn außer sich vor hilflosem Zorn an. »Wer hat denn eine Eins in Mathe und will mir unbedingt was beibringen? Dann müsstest du doch längst ausgerechnet haben, dass ich deine Tochter bin.«

Als die Wahrheit ausgesprochen war, schien plötzlich alle Energie aus Olivia gewichen zu sein. Auf einmal sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das mit hängenden Schultern vor seinem Vater stand und auf eine Umarmung wartete.

Doch Paul war zu keiner Reaktion fähig. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, mit einem Schlag war seine mühsam hergestellte Ordnung ein einziges Chaos.

»Was sagst du da?«, fragte er ungläubig.

»Seit wann bist du auch noch schwerhörig?«

Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort. Jeder versuchte für sich selbst zu fassen, was eben geschehen war.

»Du bist meine Tochter«, wiederholte Paul irgendwann mechanisch. Erst nach und nach sickerte die Bedeutung dieser ungeheuerlichen Worte in sein Bewusstsein. »Meine Tochter. Ich habe eine Tochter.« Das ungläubige Staunen, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete, brachte Olivia voll­ends aus dem Konzept. Mit einem Mal verpuffte ihre Wut, und zurück blieb eine riesige Ratlosigkeit.

»Ich hab nie verstanden, warum Mama wollte, dass ich hierher in das Haus komme«, erklärte sie schließlich leise und schluckte an den Tränen, die ihr in die Augen stiegen. »Aber jetzt ist die Sache klar. Sie wollte, dass wir uns kennenlernen. Du bist mein Vater.«

»Olivia, du musst mir glauben, das hab ich nicht gewusst. Es war eine Nacht, eine einzige Nacht«, beteuerte Paul. »Danach habe ich deine Mutter aus den Augen verloren. Erst nach diesem Unfall fiel mir ein Buch von Christine in die Hände, und ich kehrte zu euch zurück. Als Freund«, stöhnte er auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Sie hat mir nie gesagt, wer du bist, was sie für mich empfand.«

»Welcher Unfall?«, fragte Olivia gnadenlos weiter. Sie musste die ganze Wahrheit wissen. Jetzt. Sofort.

Tränen quollen durch Pauls Hände, und er schüttelte den Kopf. Trotzdem antwortete er.

»Meine Frau und ich hatten einen Streit. Sie saß am Steuer und war so wütend auf mich, dass sie nicht aufpasste«, gestand er mit gebrochener Stimme. Es fiel ihm nicht leicht. Aber auch er wusste, dass es sein musste. »Sie war sofort tot, während ich überlebt habe. Danach war nichts mehr wie vorher.«

Die Stille, die sich danach im Zimmer ausbreitete, war erdrückend. Weder Olivia noch Paul wussten, wie es jetzt weitergehen sollte. Für diese Situation hatte Christine ihnen kein Drehbuch hinterlassen. Jetzt waren Vater und Tochter auf sich allein gestellt.

Es war Olivia, die schließlich eine Entscheidung traf. Sie drehte sich um und wollte das Wohnzimmer verlassen.

»Geh nicht!«, hörte sie Pauls Stimme in ihrem Rücken.

»Es ist zu spät.«

»Nein, das ist es nicht.« Mit wenigen großen Schritten war er hinter ihr. Behutsam fasste er sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. Pauls Blick zeugte von der Entscheidung, die er getroffen hatte. »Ganz im Gegenteil.« Überrascht stellte er fest, dass seine Stimme entschlossen und sicher war. »Das Leben hat uns eine neue Chance gegeben. Die sollten wir nutzen. Ich will es. Du auch?«

Aus tränenblinden Augen stand Olivia vor ihrem Vater. Sie war wütend, glücklich, traurig, euphorisch, alles auf einmal. Doch statt Paul all das entgegenzuschleudern, stürzte sie sich in seine Arme und genoss das unglaubliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Das Waisenkind hatte wieder ein Zuhause und endlich den Vater, nach dem es sich so lange gesehnt hatte.

*

Obwohl Felicitas ihrem Sohn die Hilfe verweigert hatte, brachte sie es schließlich doch nicht übers Herz und fuhr zu Tatjana in die Bäckerei. Sie hatte Glück und traf sie allein an.

»Fee, das ist ja eine Überraschung!« Die junge Frau begrüßte die Mutter ihres Freundes mit einer innigen Umarmung. »Was kann ich für dich tun?«

»Erstens kannst du mir eine Tasse von eurem köstlichen Kaffee kochen. Und zweitens kannst du mir zuhören«, erwiderte Fee und legte die Handtasche auf den Tresen. Sie musste die Chance nutzen, solange sie noch allein waren.

Bei diesen Worten wurde Tatjanas Herz schwer.

»Gut«, stimmte sie mit belegter Stimme zu und machte sich daran, Fees ersten Wunsch zu erfüllen.

»Weißt du eigentlich, dass du meinen ältesten Sohn gerade furchtbar überforderst?«, fragte Felicitas, als Tatjana die Tasse vor sie hinstellte.

»Ich? Danny? Womit denn?«, fragte die junge Frau ungläubig und bewies Fee damit, dass sie goldrichtig mit ihrer Vermutung lag. Das junge Paar hatte sich in ein fürchterliches Missverständnis verrannt und redete ganz offensichtlich aneinander vorbei.

»Danny weiß, zu wem er gehört und mit wem er zusammen sein will. Er hat nicht den Hauch einer Ahnung, warum du ihm seine Freiheit anbietest.«

»Aber …«, wollte Tatjana einwerfen, als Fee lächelnd die Hand hob. Sie war noch nicht fertig.

»Dein Großmut in allen Ehren, meine Süße. Aber manchmal ist etwas weniger durchaus mehr. Wenn Danny gehen wollte, dann würde er das mit Sicherheit tun. Die Tür würde ich ihm aber nicht vorher schon aufhalten«, packte sie ihren Rat in ein paar muntere Worte. Die Botschaft kam trotzdem an.

Zerknirscht biss sich Tatjana auf die Unterlippe.

»Du hast ja recht«, gestand sie kleinlaut. »Ich konnte nur den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihm irgendwann vielleicht nicht mehr genüge. Dass er sich eine Frau wünscht, mit der er fachsimpeln kann. So eine wie du.«

In diesem Augenblick brach Fee in schallendes Gelächter aus.

»Ich glaube, Danny ist ganz froh, meinen mütterlichen Klauen endlich entkommen zu sein.« Immer noch lachend schüttelte sie den Kopf, und Tatjana konnte nicht anders, als in ihr Lachen einzustimmen. Die düsteren Wolken an ihrem Himmel hatten sich verzogen, und die Welt war wieder bunt und schön. Und plötzlich wusste Tatjana, dass sie keine Sekunde länger in der Bäckerei bleiben konnte.

»Du hast doch so vielfältige Talente!«, sagte sie zu Fee und lief nach hinten, um ihre Tasche zu holen.

Felicitas, die keine Ahnung hatte, was passierte, zuckte ratlos mit den Schultern.

»Na ja …«

»Sicher hast du auch Verkaufserfahrung.« Tatjana kehrte aus dem kleinen Hinterzimmer in den Verkaufsraum zurück und grinste schief. »Frau Bärwald ist in zehn Minuten wieder da. Wie ich dich kenne, hast du die ganze Bäckerei bis dahin an einen Millionär verkauft!« Sie drückte Fee einen Kuss auf die Wange, lächelte den Kunden, der eben die Bäckerei betreten hatte, strahlend an und lief auch schon aus dem Geschäft, um sich auf dem schnellsten Weg in die Klinik zu begeben. Fee dagegen nahm noch schnell das Telefonat an, das auf ihrem Mobiltelefon eingegangen war. Es war ihr Mann Daniel, der ihr atemlos verkündete, dass in den kommenden Tagen ein Sechzehnjähriger bei ihnen wohnen würde.

»Kannst du bitte Lenni Bescheid sagen, dass sie alles vorbereitet? Ich kann sie im Augenblick nicht erreichen.«

»Natürlich, mein Schatz. Aber zuerst verkaufe ich eine Bäckerei.« Fee lächelte ihren Kunden an, der sofort einen Schreck bekam und am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Allein sein Hunger hinderte ihn daran.

*

Ohne anzuklopfen, stürmte Tatjana ein halbe Stunde später in Dannys Krankenzimmer. Und blieb wie angewurzelt stehen. Danny war nicht allein. Wieder einmal war Olivia bei ihm. Sie saß auf der Bettkante, und ihre Wangen glühten förmlich, als ihr Kopf herumfuhr.

Einem ersten Impuls folgend wollte sich Tatjana sofort umdrehen und fliehen. Doch Dannys Stimme hielt sie zurück.

»Tatjana! Endlich! Komm her, ich will dir jemanden vorstellen.«

Einen Augenblick haderte Tatjana mit sich. Dann schluckte sie die dumme Eifersucht hinunter, lächelte freundlich und ging auf die beiden zu.

»Du bist Olivia, nicht wahr?«, fragte sie und streckte der vermeintlichen Konkurrentin die Hand hin.

»Und du Tatjana«, wusste die sofort, mit wem sie es zu tun hatte. »Danny hat mir die ganze Zeit von dir vorgeschwärmt. Ich war gerade dabei, Komplexe zu kriegen«, kicherte Olivia vergnügt. »Dabei bist du ja ein richtiger Mensch. Oder hast du die Engelsflügel unterm T-Shirt versteckt?«

Tatjana verdrehte die Augen.

»Ich hab dir doch schon x-mal gesagt, dass du den Leuten keine Märchen über mich erzählen sollst«, tadelte sie Danny sanft. »Die Teufelshörner habe ich nur abgefeilt.« Doch die offensichtliche Freude und Liebe, die aus ihren Augen blitzte, verriet sie.

»Das würde ich nie tun«, versprach Danny hoch und heilig. Der Schrecken, den Tatjana ihm mit ihrem Angebot eingejagt hatte, saß tief, sodass er sich keinen Scherz mit ihr erlauben wollte. Sie sollte ihm glauben, dass er sie wollte. Sie und nur sie allein.

Olivia war sensibel genug, um zu wissen, dass die beiden allein sein wollten.

»Gut, dass du da bist«, sagte sie munter zu Tatjana. »Ich muss nämlich jetzt los. Für den Unterricht nächste Woche pauken.« Sie schickte einen Stoßseufzer in den Himmel. »Mein Vater ist echt gnadenlos. Am liebsten würde er mir den Jahresstoff in eine einzige Woche packen. Kein Maß und kein Ziel, dieser Mann.« Sie schüttelte den Kopf, doch es war nicht zu übersehen, wie stolz und glücklich sie war.

»Du wirst ihn schon um den kleinen Finger wickeln«, versprach Danny, dankte Olivia für den Besuch und sah ihr fast ungeduldig nach. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als er auch schon die Arme nach Tatjana ausstreckte.

Sie zögerte nicht und kam seiner stummen Aufforderung nach. Dabei fiel ihr Blick auf die frisch verbundene Hand.

»Nanu, du bist ja dein Frankenstein-Gestell los«, bemerkte sie erleichtert.

»Ja, und stell dir vor: Die Hand wird wieder ganz gesund werden. Ein paar Wochen, dann kann ich wieder praktizieren. Der Familiengründung steht also nichts mehr im Weg.« Er zwinkerte ihr vergnügt zu und legte die Arme um ihre schmale Hüfte, um sie an sich zu ziehen.

»Darüber muss ich erst mal gründlich nachdenken«, kicherte Tatjana übermütig, als sie sich über ihn beugte und sein geliebtes Gesicht mit Blicken streichelte. Endlich war die Fremdheit der letzten Tage verschwunden und der alten Vertrautheit gewichen. Alles war wieder, wie es sein musste. »Dieser Denk-Prozess wird vermutlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen«, warnte sie ihn vorsichtshalber schon mal vor.

»Solange du nicht überlegen musst, ob du mir genügst, bin ich mit allem einverstanden«, raunte Danny ihr ins Ohr.

»Ich liebe dich«, flüsterte Tatjana statt einer Antwort.

»Und ich dich erst«, gab er unendlich erleichtert zurück.

Dr. Norden (ab 600) Jubiläumsbox 3 – Arztroman

Подняться наверх