Читать книгу Sophienlust Box 15 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

Оглавление

Der Morgen des Tages, an dem Dr. Anja Karsten, die Ärztin der Kinder von Sophienlust, Dr. Stefan Frey heiraten soll, war strahlend und voller Sonne.

Im Garten ihres künftigen Heimes, des Doktorhauses in Wildmoos, spielte Stefans fünfjährige Tochter Felicitas mit ihrem Hund. Sie hatte ihn Stoffel genannt.

»Komm, Stoffel, komm!«, rief sie dem Hund übermütig zu, sodass der braun-weiß-gefleckte Spaniel ihr auf Schritt und Tritt folgte. Dann sang das hübsche Kind: »Heute heiraten wir, heute heiraten wir«, und klatschte erfreut in die Händchen.

Elise Karsten, eine Tante von Anja, beobachtete Felicitas schmunzelnd. »Aber du heiratest doch nicht, Filzchen. Dein Papi heiratet«, korrigierte sie. Schon seit einigen Tagen wohnte sie mit Dr. Stefan Frey und seiner Tochter in dem Haus, in das nach der Hochzeit auch ihre Nichte Anja einziehen sollte.

Felicitas blieb stehen und schaute die Tante mit ihren großen graublauen Augen an, die so hübsch mit ihrem braungelockten Haar kontrastierten. »Aber wenn mein Papi Tante Anja heiratet, dann heirate ich sie doch auch. Sie wird doch dann meine Mutter. Endlich wird sie für immer meine Mutti.«

Aus den Augen des Kindes leuchtete eine solche Freude, dass Elise Karsten die Kleine gerührt an sich zog. »Aber sie ist doch schon jetzt wie eine Mutti zu dir«, meinte sie. »Du nennst sie doch auch schon Mutti.«

Felicitas nickte ernst. »Sie ist die liebste Mutti von der ganzen Welt. So eine Mutti haben wir uns immer gewünscht, Papi und ich.« Über das Gesicht der Kleinen huschte nun ein Schatten. »Aber dann hat Papi mich ganz allein gelassen«, murmelte sie.

»Denk nicht mehr daran«, sagte Elise Karsten tröstend. Sie ahnte, dass die Erinnerung an die furchtbare Zeit nur ganz allmählich aus dem Gedächtnis des Kindes schwinden würde –?an die Zeit, in der Felicitas in Sophienlust aufgetaucht war. Ihr Vater hatte sie damals zur Adoption freigegeben. Wenn ihre Nichte Anja sich des Kindes nicht angenommen hätte … Die ältere Frau seufzte. Wer weiß, wie es dem Kind dann gegangen wäre.

Aber nicht nur um das Kind hatte sich die junge Ärztin in aufopfernder Weise bemüht, nein, auch um den verbitterten, gelähmten Mann hatte sie sich gekümmert. Und das, obwohl Stefan sie anfangs brutal zurückgewiesen hatte.

Doch heute würde er mit genau derselben Anja vor den Traualtar treten. Elise Karsten musste lächeln. Wie seltsam die Wege des Schicksals doch oft waren …

Als sich hinter ihr eine Tür öffnete, wandte sie sich um. Im gleichen Moment flog Felicitas ihrem Vater an den Hals. »Papi! Papi, wann heiraten wir nun endlich?«

Der große, schlanke Mann mit dem dunklen, leicht melierten Haar und den grauen Augen presste sein Töchterchen zärtlich an sich. Prüfend betrachtete Elise Karsten sein sympathisches Gesicht in der frühen Morgensonne. Außer den beiden Linien am Kinn, die sich etwas tiefer eingegraben hatten, deutete nichts mehr darauf hin, dass er einmal als verbitterter, gelähmter Mann am Leben hatte verzweifeln wollen. Aber Anja hatte ihn mit der ihr eigenen Energie nach Kopenhagen zu einem Spezialisten gebracht. Von dort war er erst vor wenigen Tagen geheilt zurückgekommen.

Seine Bewegungen waren wieder völlig normal, als er Felicitas jetzt auf den Arm hob. »Heute, heute um zehn Uhr heiraten wir, Filzchen.«

»Und dann bleibt unsere Mutti für immer bei uns?«, vergewisserte sich das Kind. Wieder und wieder wollte es die Bestätigung hören.

»Ja, dann bleiben wir alle drei beisammen und trennen uns nie mehr«, versprach der glückliche Vater feierlich. Seine Liebe zu Anja war an jeder Geste und an jedem Wort zu erkennen. Er wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. An seine erste Frau Diana, die ihn nach seinem Unfall leichtfertig verlassen und später Selbstmord begangen hatte. Diese verzweifelte Zeit war vorüber –?dank Anja, der schönen, jungen Ärztin von Sophienlust.

»Wann kommt Mutti?«, wollte Felicitas nun auch noch wissen.

»In einer Stunde holen wir sie ab«, versprach Stefan feierlich und setzte Felicitas zurück auf den Boden. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt erst einmal gemeinsam frühstücken? Oder hast du keinen Hunger?«

»Wie ein Wolf!«, stöhnte Felicitas.

»Na, dann komm!« Er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zurück ins Haus, in dem sich die frühere Praxis Dr. Wolframs befand. Anja und Stefan hatten sie nun gemeinsam übernommen. Das heißt, sie hatten beschlossen, sie zu übernehmen. Ihre wirkliche gemeinsame Arbeit würde erst nach der Hochzeit beginnen.

»Wird sich Mutti weiter um die Kinder in Sophienlust kümmern?«, hörte Stefan seine Tochter fragen.

»Aber ja«, bestätigte er.

»Ganz allein, oder hilfst du ihr, Papi?«

»Nein, das will sie ganz allein machen«, erklärte Stefan. Er wusste, dass Anja sehr stolz darauf war, »ihre Kinder«, wie sie sie nannte, allein zu behandeln. Die Praxis würden sie jedoch gemeinsam übernehmen. Er freute sich unsagbar auf die Arbeit und auf die Zukunft zu zweit. Doch ein Blick auf sein Töchterchen veranlasste ihn, seine Gedanken zu revidieren. Erst zu dritt würde ihr Glück vollkommen sein. Anja hatte ihn oft genug daran erinnert.

Anja! Seine Lippen formten ihren Namen. Allein der Gedanke an sie vermochte ihn schon glücklich zu machen. Sie hatte so vieles für ihn getan, aber ihr schönstes Geschenk für ihn war ihre Liebe. Die zärtliche, fürsorgliche Liebe für Felicitas und ihn.

»Dürfen wirklich alle Kinder von Sophienlust dabeisein, wenn wir Mutti in der Kirche heiraten?«, fragte Felicitas aufgeregt.

Stefan strich seiner Tochter schmunzelnd übers Haar. »Ja, Filzchen, sie werden alle bei uns sein. Ist das nicht schön?« Erst durch Anja wusste er wieder, wie viel Freude und Glück ein Kind schenken konnte.

»Es ist ganz furchtbar aufregend, Papi«, seufzte Felicitas und presste die Händchen vor die Brust.

Nach dem Frühstück wurde es Zeit aufzubrechen. Stefan ging schnell nach oben, um sich fertig anzuziehen. Filzchen trug bereits ihr weißes Spitzenkleidchen. Sie musterte sich jetzt sehr kritisch und ernst vor dem großen Spiegel im Korridor. Der Spaniel stand daneben und wartete andächtig auf ein Wort von ihr.

»Gefalle ich dir, Stoffel?«, wandte sie sich an den Hund.

Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und gab einen leisen Winselton von sich.

»Also, ich gefalle dir«, entschied Felicitas. »Dann gefalle ich Mutti bestimmt auch.« Es war für sie ungeheuer wichtig, dass Anja zufrieden mit ihr war.

*

»Ich bin entsetzlich nervös, Mutti!« Unruhig lief Nick hin und her und zählte schon zum fünften Mal die Kinder. »Es sind alle da!«

»Ich weiß«, meinte Denise ruhig. »Du bestätigst es mir bereits zum dritten Mal.« Sie war mit ihrer Familie nach Sophienlust gekommen, um selbst die Abfahrt der Kinder zur Kirche zu überwachen.

»Hoffentlich kommen wir nicht zu spät«, sagte Nick aufgeregt. »Wann findet denn die Trauung statt?«

»Genau um zehn Uhr«, antwortete Pünktchen, die auf einmal neben ihm stand. »Aber sie würden bestimmt nicht mit der Zeremonie anfangen, bevor wir da sind.«

Schmunzelnd verfolgte Denise diese Unterhaltung. Sie zeigte ihr, wie sehr sich die Kinder mit »ihrer Frau Doktor« verbunden fühlten. Aber dieses innige Verhältnis beruhte auf Gegenseitigkeit. Anja Karsten hatte es sich von ganzem Herzen gewünscht, alle Kinder von Sophienlust bei ihrer Hochzeit dabeizuhaben. Dabei ging es ihr nicht einmal um eine große pomphafte Hochzeit. Sie wollte nur all die Menschen, die ihr so nahe standen und so viel bedeuteten, an ihrem schönsten Tag in ihrer Nähe wissen. Diesem Wunsch war Denise von Herzen gern nachgekommen, denn sie schätzte Dr. Anja Karsten als Mensch und als Ärztin ganz außerordentlich.

Als die Busse vorfuhren, begannen die Kinder einzusteigen. Dabei zählte Nick sie zum letzten Mal. Als seine Rechnung stimmte, stieg er aufatmend hinter Pünktchen als Letzter ein.

Denise und Alexander folgten den Bussen im Personenwagen. Erschrocken zuckte Denise zusammen, als plötzlich Nicks ganzer Oberkörper aus einem Busfenster herausragte.

Sofort tastete Alexander nach der Hand seiner Frau und beruhigte sie. »Er hat nur Andreas Wagen vor dem ersten Bus entdeckt«, erklärte er Nicks ungewöhnliches Manöver.

Die Trauung fand in der Dorfkirche von Wildmoos statt. So hatten Anja und Stefan es sich gewünscht. Es entsprach ihrem Wunsch nach einer schlichten, aber stimmugsvollen Feier.

Da der Ort sehr klein und Dr. Anja Karsten auch für die Dorfbewohner eine Persönlichkeit war, hatten sich nicht nur die Kinder und Bewohner von Sophienlust, sondern auch der größte Teil der Dorfbewohner vor der Kirche eingefunden, um als Gratulanten oder Zuschauer an der Hochzeit teilzunehmen.

Anja Karsten und Stefan Frey waren bereits da, als die Kinder von Sophienlust und die Familien von Schoenecker und von Lehn vor der Kirche eintrafen. Vorübergehend entstand ein verwirrendes Durcheinander. Von der Feierlichkeit der Stunde erfüllt, wollte jedes einzelne Kind der geliebten Frau Doktor und deren Bräutigam gratulieren, wobei besonders die Kleineren vor Aufregung fast kein Wort hervorbrachten.

Doch die junge Ärztin hatte Verständnis für das Lampenfieber ihrer Schützlinge. Sie dankte allen mit der gleichen Herzlichkeit, sodass jeder Bub und jedes Mädchen das Gefühl hatte, Anja Karsten habe auf diesen speziellen Glückwunsch besonderen Wert gelegt. Sie trug das mattschimmernde blonde Haar in einer kunstvollen Hochfrisur. Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten in ernster Feierlichkeit.

Da Anja Karsten von den Kindern geradezu belagert war, gelang es Denise und ihrem Mann erst nach einigen Minuten, zu ihr durchzudringen und sie zu begrüßen. Ihr Glückwunsch fiel besonders innig aus.

Die Ärztin dankte ihr in schlichten Worten. Die kleine Felicitas aber stand neben ihr und strahlte, als sei das alles ihr Verdienst. Wenn sie zu ihrer schönen Mutti aufblickte, dann war sie besonders stolz. Sie ist so wunderschön wie eine Märchenprinzessin, dachte sie. Und alle, alle haben sie lieb. Am meisten aber Papi und ich.

Verstohlen schob Felicitas ihre Finger unter die Hand des Vaters. »Wann heiraten wir denn nun, Papi?«, fragte sie flüsternd.

Lächelnd strich Stefan ihr über das seidige braune Haar. Er allein wusste, wie sehr sich das Kind nach Mutterliebe gesehnt hatte. Doch plötzlich hielt er in Gedanken inne. Wusste wirklich nur er selbst es? Ein Blick in die ernsten Augen seiner Braut überzeugte ihn vom Gegenteil. Anja wusste es besser als er. Mit ihrer unendlichen Liebe und ihrem Verständnis hatte sie ihm und seiner Tochter den Weg in eine glückliche Zukunft gewiesen. Ihr verdankte er alles.

Als die nahe Turmuhr zehnmal schlug, schreckte er aus seinen Gedanken auf. »Jetzt wird geheiratet!«, rief Felicitas erleichtert aus.

Die Kinder von Sophienlust hatten sich schon feierlich hinter dem Brautpaar aufgestellt. Anja und Stefan schauten sich an. Als sie in ihren Blicken ihre Gefühle bestätigt fanden, betraten sie Arm in Arm die Dorfkirche.

Es wurde eine schlichte, aber sehr feierliche Trauung. In vielen Kinderaugen blinkten vor Rührung Tränen, als Anja und Stefan sich das Jawort gaben.

Es war so still in der kleinen, aber mit Menschen gefüllten Kirche, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Deshalb hörte fast jeder das erleichterte Aufatmen der kleinen Felicitas, als Stefan seiner Frau den Goldreif an den Finger schob. Zwei dicke runde Tränen kullerten dem Mädchen über die geröteten Wangen. Mit leuchtenden Augen schaute Felicitas zu Anja auf. Jetzt kann sie mir niemand mehr nehmen, dachte sie.

Das Hochzeitsmahl wurde auf Sophienlust eingenommen. Denise hatte eine große Tafel im Park aufstellen und feierlich schmücken lassen. In dem kühlen Schatten der großen alten Bäume nahmen die Hochzeitsgäste Platz.

Bevor das Mahl begann, hielt Stefan Frey eine kurze Ansprache. Mit einfachen, aber zu Herzen gehenden Worten wandte er sich an Denise und ihre Familie sowie an alle Bewohner von Sophienlust. Er bedankte sich für alles, was sie für ihn und seine Tochter getan hatten. Aber die letzten und wärmsten Worte des Dankes galten seiner Frau Anja. Jeder der Anwesenden fand das richtig. Denn in ihrer Erinnerung tauchte noch einmal der Tag auf, an dem der kleine Wastl die kleine Felicitas nach Sophienlust gebracht hatte.

Auch in Anjas und Stefans Gedanken tauchte die Vergangenheit wie ein Blitzlicht auf, als sie mit allen anderen die Gläser hoben, um auf ihr Glück anzustoßen.

Nach dem Mittagsmahl, das einem Fürstenhof alle Ehre gemacht hätte, erhoben sich die kleineren Kinder, um im Park zu spielen. Ihnen fehlte noch die Geduld, stundenlang am Tisch auszuharren.

Um die Kleinen nicht ohne Aufsicht zu lassen, standen auch einige ältere Kinder, unter ihnen Nick, auf. Nur die Erwachsenen blieben beieinander sitzen. Sie sprachen über die Zukunft, die sich nun strahlend vor dem glücklichen Paar ausbreitete.

Nick hatte sich etwas ausgedacht, auf dessen Ausführung die gesamte Kinderschar von Sophienlust gespannt wartete. Einem alten Brauch folgend, wollte er gemeinsam mit seiner Schwester Andrea und seinem Bruder Sascha die Braut entführen. Andreas Mann Hans-Joachim war eingeweiht, sollte aber an der Tafel bei den anderen Gästen sitzen bleiben, um sie abzulenken.

Auch das Brautpaar war natürlich eingeweiht, um keine unnötigen Spannungen aufkommen zu lassen. Nur eines wusste der Bräutigam nicht, wohin der Entführertrupp, dem außer den drei Geschwistern die Hälfte aller Kinder angehörte, die Braut bringen würde. Stefan, dem Nicks Idee ganz besonders gefallen hatte, überlegte bereits während des Essens, an welchen Plätzen er seine Frau suchen würde.

Für den Fall, dass er den Ort des Versteckens nicht finden würde, war Dr. Hans-Joachim von Lehn beauftragt, dem Bräutigam einen Tip zu geben.

»Wann ist es denn nun endlich so weit, Nick?«, überfielen die Eingweihten den Jungen, als er im Park zu ihnen stieß. Sie fieberten dem Moment buchstäblich entgegen.

Nick hob beruhigend die Hände. »Nicht so hastig! Wir müssen den richtigen Moment abpassen. Auf keinen Fall darf der Bräutigam sehen, dass wir mit unserer Frau Doktor verschwinden.«

»Das ist richtig«, bestätigte Pünktchen und stellte sich demonstrativ neben Nick. Um nichts in der Welt hätte sie es sich nehmen lassen, zu seinem Trupp zu gehören.

»Du bist dafür verantwortlich, dass wir es sofort erfahren, wenn Dr. Frey die Hochzeitstafel für einen Moment verlässt«, sagte Nick zu Pünktchen.

Sie nickte mit geröteten Wangen. Dass Nick ihr eine Schlüsselposition zugeteilt hatte, bedeutete für sie eine besondere Auszeichnung.

Während die Kinder noch wie ein Verschwörerring diskutierten, trat Sascha zu ihnen. Er hatte sich absichtlich im Hintergrund gehalten und Nick die Planung und Leitung der Entführung überlassen. »Läuft alles planmäßig?«, wandte er sich jetzt an seinen jüngeren Bruder.

Nick schaute mit wichtiger Miene auf seine Armbanduhr. »Unser Zeitplan läuft präzise ab. In einer Viertelstunde wird der Bräutigam ins Haus gehen. Dann gibt Pünktchen uns ein Zeichen, und wir holen mit Andrea die Braut.«

Bewundernd blickten die kleineren Kinder zu Nick auf. Für sie war das ganze ein noch nie dagewesenes Abenteuer. Das Schönste daran war jedoch, dass sie persönlich mitmachen durften.

Auch Sascha stellte sich ganz unter das Kommando von Nick. Deshalb wartete er auch, bis sein jüngerer Bruder ihm den Auftrag erteilte, den Wagen zu holen und darin mit laufendem Motor vor dem Haus zu warten. Denise hatte zu diesem Zweck ihren eigenen Wagen zur Verfügung gestellt.

»Jetzt ist es soweit, Sascha. Wenn alles glattgeht, benötigen wir in fünf Minuten ihren Wagen.«

»In Ordnung, Nick!« In fast militärischem Gehorsam nahm Sascha den Auftrag entgegen und verschwand. Er spielte ein bisschen Theater, doch die ganze Sache mache ihm genauso viel Spaß wie den Kindern.

Sogar die Erwachsenen an der Hochzeitstafel, die ja fast alle irgendwie eingeweiht waren, konnten sich der Spannung nicht ganz entziehen. »Dieses kleine Zwischenspiel ist so ganz nach dem Geschmack unseres Sohnes«, flüsterte Alexander seiner Frau schmunzelnd ins Ohr.

Denise hatte gerade noch Zeit zu nicken, dann fesselten die Geschehnisse an der Hochzeitstafel ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Stefan Frey presste verstohlen die Hand seiner Frau und erhob sich dann augenzwinkernd. Mit einem Schmunzeln um die Lippen, das er zu verbergen versuchte, verließ er die Hochzeitstafel und ging ins Haus.

Kaum war er verschwunden, erhob sich Andrea. Sie hielt den Zeigefinger an ihren Mund, hauchte einen Kuss darauf und presste ihn auf Hans-Joachims Lippen. Im gleichen Moment stieß Pünktchen einen schrillen Pfiff aus. Das war für Nick das Zeichen, in Aktion zu treten. Gemeinsam mit Pünktchen und einem Teil der Kinder trat er zu der Hochzeitstafel, wo Andrea der Braut inzwischen vorgeschlagen hatte, an einem Spiel der Kinder teilzunehmen.

Anja wurde von den Kindern umringt. Unter den lächelnden Blicken der Erwachsenen gelangten diese mit ihr bis vor das Haus. Dort stand bereits Sascha mit dem Wagen, in dem Nick mit der entführten Braut und Pünktchen auf dem Rücksitz Platz nahm. Zwei weitere Kinder drängten sich neben Sascha auf den Beifahrersitz. Da aber auch der Rest der kleinen Schar bei der Entführung unbedingt dabei sein sollte, holte Andrea schnell den Wagen ihres Mannes und lud die Kinder ein.

»Ich bin ganz aufgeregt«, stotterte der kleine Fabian, als er neben Andrea auf den Beifahrersitz kletterte.

Schmunzelnd startete Andrea den Motor und folgte Sascha.

Er fuhr in Richtung Wildmoos. Nur einige wenige, zu denen natürlich Nick und Andrea gehörten, kannten das Ziel der Entführung. Es war Anjas neues Heim, das Doktorhaus in Wildmoos.

Anja hatte ihre Tante, Elise Karsten, schon vor der Hochzeit informiert, sodass die Kinder nun mit Schokolade und Kuchen und Süßigkeiten bewirtet wurden.

Aufgeregt redeten sie an dem gedeckten Tisch im Garten durcheinander. Ständig lief eines der Kinder zum Gartentor, um zu sehen, ob der Bräutigam bereits käme.

»Und wenn er uns nicht findet?«, fragte Pünktchen plötzlich erschrocken.

Jeder wusste, dass sie Stefan Frey meinte.

»Er findet uns bestimmt«, versicherte Nick, sodass sich die Kleinen wieder beruhigt all den süßen Sachen auf dem Tisch zuwandten.

Nach dem Kakao spielten Anja und Andrea mit den Kindern, bis eines der Kinder vom Gartentor auf Alarm schlug. »Sie kommen! Sie kommen!«

»Sollen wir uns verstecken, Nick?«, rief Pünktchen erregt und kam in den hinteren Teil des Gartens gelaufen.

Doch Nick winkte großzügig ab. »Wenn sie hierhergefunden haben, dann müssen wir uns ergeben.«

Da lief die ganze Kinderschar mit lautem Geschrei und Gejohle zur Gartentür.

Stefan hatte die übrigen Kinder mitgebracht und führte Felicitas an der Hand. Mit Bonbons und Pralinen löste er seine Braut aus.

»Das war die aufregendste Hochzeit, die ich jemals erlebt habe«, erklärte Pünktchen aus tiefster Überzeugung.

»Hast du das gehört, Mutti?«, rief Felicitas und strahlte übers ganze Gesicht. »Unsere Hochzeit war die schönste und spannendste!«

Auf beiden Seiten herrschte Freude und Zufriedenheit, als Andrea und Sascha schließlich auf die Rückkehr der Kinder nach Sophienlust bestanden. Anja drückte Felicitas noch einmal die Hand und begleitete dann die ganze Schar zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter bis zu den beiden Autos.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«, rief Felicitas und winkte, bis die beiden Autos am Ende der Dorfstraße ihrer Sicht entschwanden. »Uff«, schnaufte sie. »War das schön, Mutti! Aber jetzt bin ich richtig müde geworden.«

Da nahm Anja ihr Kind auf den Arm und trug es ins Haus. Selig lächelnd schmiegte Filzchen ihr Gesicht an die Wange der Mutter. Eine warme Welle des Glücks durchströmte Anja, getragen von dem Bewusstsein, dass dieses süße kleine Mädchen endgültig ihr Kind geworden war.

Gemeinsam mit Stefan brachte sie Filzchen zu Bett.

»Gute Nacht, Mutti, gute Nacht, Papi«, murmelte die Kleine schon schlaftrunken. Dann fielen ihr die Augen zu.

In der Abenddämmerung ihres Hochzeitstages saßen Anja und Stefan später allein im Garten vor ihrem Haus. Das Bewusstsein, dass eine gemeinsame Zukunft vor ihnen lag, ließ sie ihr Glück erst richtig begreifen. Erst als die Schatten länger und die Luft kühler wurde, nahm Stefan seine schöne Frau auf den Arm und trug sie über die Schwelle des Hauses hinauf in das gemeinsame Schlafzimmer. Sie sank in seine Arme, und ihre Lippen fanden sich in einem sehnsüchtigen Kuss.

*

Zwei Tage nach Anjas Hochzeit mit Stefan Frey meldete eine junge Fremdsprachenkorrespondentin telefonisch ihren Besuch bei Denise an. Sie hieß Corinna Saller und war Witwe. Das erwähnte sie bereits am Telefon.

Denise wusste nicht, mit welchem Anliegen sich die junge Witwe an sie wenden wollte, doch sie erklärte sich sofort bereit, Corinna Saller zu empfangen.

Corinna sah nicht aus wie sechsundzwanzig. Ihre schlanke, sportliche Figur ließ sie wie achtzehn erscheinen. Sie begrüßte Denise mit höflicher Bescheidenheit.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Frau Saller«, bat Denise und wunderte sich insgeheim über die stille Melancholie, die auf Corinna Sallers schönem Gesicht lag. Welches Schicksal mochte dieser so bescheiden wirkenden jungen Frau widerfahren sein? Mit der ihr eigenen Menschenkenntnis erfasste Denise sofort, dass Corinna Saller sich ihrer äußeren Reize nicht bewusst war.

»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Frau von Schoenecker, dass ich Sie einfach mit einem Anliegen überfalle«, entschuldigte sich die Besucherin.

Denise lächelte gewinnend. »Ich freue mich darüber, Frau Saller. Denn es ist der Sinn und Zweck von Sophienlust, zu helfen. Darf ich Sie nun bitten, mir zu sagen, wie wir Ihnen helfen können?«

Damit war es Denise gelungen, der jungen Frau das Sprechen zu erleichtern. Ein wenig aufgeschlossener berichtete Corinna nun von ihrem Töchterchen Bärbel, mit dem sie seit dem Tod ihres Mannes allein lebte. »Fred ist bei einer Bergtour in den Dolomiten abgestürzt«, fügte sie leise hinzu.

Denise hörte aus der kurzen Einleitung zweierlei heraus. Dass Corinna ihren Mann sehr geliebt haben musste und dass ihr die kleine Bärbel sehr viel bedeutete.

»Bisher habe ich mich nie von Bärbel getrennt«, fuhr Corinna fort. »Erst in den letzten Wochen ist in mir der Plan eines Urlaubs in den Dolomiten gereift. Da ich mit diesem Urlaub mehrere große Bergtouren verbinden will, kann ich Bärbel nicht mitnehmen.«

Denise nickte verständnisvoll. Es war ihr nun klar, mit welchem Anliegen Corinna Saller gekommen war. Sie hatte sich innerlich bereits entschieden, der jungen Frau zu helfen. Doch vorher wollte sie noch etwas mehr über sie erfahren. »Aus Ihren Worten schließe ich, dass Sie eine routinierte Bergsteigerin sind, Frau Saller«, meinte Denise.

Corinna nickte lebhaft. »Mein Mann und ich verbrachten unseren Urlaub jedes Jahr in den Bergen. Seine letzte große Tour unternahm er allein. Dabei ist er dann abgestürzt.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern abgesunken. Sie senkte den Kopf.

Denise wollte noch etwas fragen. Doch Corinna hatte diese Frage durch ihr Verhalten eigentlich schon beantwortet. Denise war fast sicher, dass es Corinna Saller zu dem Platz zog, an dem ihr Mann tödlich verunglückt war. Als Corinna jetzt aufschaute und eine Frage stellen wollte, kam Denise ihr zuvor. »Ich bin gern bereit, Ihre kleine Bärbel für die Dauer Ihres Urlaubes in Sophienlust aufzunehmen«, erklärte sie freundlich und sah, dass die junge Frau erleichtert aufatmete.

»Oh, ich bin Ihnen ja so dankbar. Ich habe sonst niemanden, bei dem ich Bärbel unterbringen könnte.«

»Ich kann Ihre Situation verstehen«, meinte Denise verhalten, wobei ihre Gedanken zurück zu der Zeit wanderten, da auch sie einmal ganz allein mit ihrem Sohn Dominik gewesen war. »Bringen Sie die kleine Bärbel ruhig zu uns. Sie wird bei den anderen Kindern schnell Anschluss finden und sich wohlfühlen.« Zugleich fragte sie sich besorgt, ob die junge Frau vorhabe, allein in den Dolomiten herumzuklettern.

»Ich werde nicht allein in die Dolomiten fahren«, sagte Corinna da, als habe sie Denises Gedanken erraten. »Der beste Freund meines Mannes wird mich begleiten.«

»Das beruhigt mich etwas«, entgegnete Denise lächelnd. »Ich hatte schon befürchtet, Sie wollten ganz allein irgendwelche schwierigen Bergtouren unternehmen.«

»O nein, das wäre viel zu gefährlich«, erwiderte Corinna lebhaft und schilderte Denise, welche Gefahren in den Bergen lauern konnten. Aber nicht nur die Gefahren beschrieb sie, sondern auch die seltsame und beeindruckende Schönheit dieses stolzen Bergriesen. Jedes einzelne Wort verriet dabei, wie sehr sie diese Welt liebte.

Auf eigenartige Weise beeindruckt, verabschiedete sich Denise schließlich von Corinna. Die beiden Frauen hatten vereinbart, dass Corinna ihre vierjährige Tochter bereits in zwei Tagen nach Sophienlust bringen sollte.

Denise begleitete Corinna bis zu ihrem kleinen Personenwagen. Dabei wurde sie von Nick beobachtet. Wer kann die fremde Frau sein?, fragte sich der Junge. Er kannte sie nicht. Neugierig lief er zu seiner Mutter, sobald sie allein war. »Du bist ja so nachdenklich, Mutti?«, begann er diplomatisch.

Denise schmunzelte. »Sag mir doch lieber gleich, dass du wissen möchtest, wer die Dame war.«

Nick atmete erleichtert auf. »Ja, Mutti, das möchte ich gern wissen. Bringt sie uns ein Kind?«

»Ja, ihre kleine Tochter Bärbel. Sie wird vier Wochen bei uns bleiben. So lange wird Frau Saller in Urlaub fahren, und zwar zum Bergsteigen in die Dolomiten.«

»Ach so«, meinte Nick. »Ich wollte gerade sagen, dass es ein bisschen komisch ist, wenn eine Mutter in Urlaub fährt und ihr Kind nicht mitnimmt.«

Denise, die die eigenartigen Ansichten ihres Sohnes in dieser Hinsicht kannte, verteidigte Corinna. »Wenn sie zum Bergsteigen geht, kann sie ihre vierjährige Tochter wirklich nicht mitnehmen.«

»Na ja, das ist auch das Einzige, was sie entschuldigt.«

»Aber, Nick«, wunderte sich Denise. »Seit wann bist du gar so streng?«

»Weil die armen Kinder immer die Leidtragenden sind«, schimpfte er. »Da streiten sich die Eltern, gehen auseinander oder lassen sich scheiden. Und wer leidet darunter? Die Kinder!«

»Das war ja eine richtige kleine Moralpredigt, die du mir da gehalten hast, Nick!« Es sollte scherzhaft klingen, doch Denises Augen blieben ernst dabei. »Ich glaube jedoch, dass der Fall von Frau Saller ein wenig anders liegt«, fuhr sie fort. »Sie hat ihr Töchterchen sehr lieb und sich nur schwer entschlossen, die kleine Bärbel vier Wochen allein zu lassen. Aber ihr Mann ist beim Bergsteigen in den Dolomiten abgestürzt. Darunter leidet sie heute noch, und deshalb zieht es sie wahrscheinlich wieder dorthin.«

Nick war bereits vernünftig genug, um derartige seelische Konflikte zu verstehen. Denn Denise hatte es sich schon lange zur Gewohnheit gemacht, ganz offen mit ihrem Sohn über alles zu sprechen.

*

Zwei Tage später fuhr ein Personenwagen mit einem etwa zweiunddreißigjährigen Mann, einer jungen Frau und einem Kind in den Hof von Sophienlust ein.

Nick, der sich an diesem Vormittag absichtlich im Haus aufhielt, benachrichtigte schnell seine Mutti. »Sie ist da, Mutti!«

Denise war so in ihre Post vertieft, dass sie einen Moment lang nicht wusste, wovon Nick sprach.

»Ich meine die kleine Bärbel«, erklärte Nick ungeduldig.

»Ach ja!« Denise erhob sich rasch und ging zur Haustür, um Corinna Saller zu empfangen.

Corinna war bereits ausgestiegen und kam nun an der Seite eines sehr sportlich und zuverlässig wirkenden Mannes auf das Haus zu. An der Hand führte sie ein hübsches kleines Mädchen mit langen blonden Locken.

Denise begrüßte die junge Frau herzlich und wandte sich dann sofort an das Mädchen.

»Du bist also die Bärbel. Es wird dir bestimmt bei uns gefallen.« Sie reichte dem kleinen Mädchen lächelnd die Hand, das auch tatsächlich für einen Moment seine Schüchternheit vergaß und zurücklächelte.

Seltsam blass war das niedliche Gesichtchen. Denise nahm sich vor, Corinna zu fragen, ob die Kleine immer so angegriffen aussah. Doch vorerst wandte sie sich an den begleitenden Herrn, den Corinna als Jochen Rauscher vorstellte. Er war Denise auf Anhieb sympathisch, sodass sie ihn dementsprechend begrüßte.

Im gleichen Moment trat Nick zu ihnen. Denise stellte ihren Sohn vor. Artig verbeugte er sich zuerst vor Corinna und dann vor Jochen Rauscher. Mit dem ihm eigenen Charme wandte er sich danach an die kleine Bärbel, die ihm auch sofort zutraulich ihr Händchen entgegenstreckte.

Denise sah, dass Corinna Saller dieses Zutrauen ihres Kindes mit freudiger Überraschung registrierte. Ein anerkennender, zugleich aber auch dankbarer Blick der jungen Frau traf Nick.

»Darf ich Bärbel mit zu den anderen Kindern nehmen?«, fragte der Junge.

Denise und Corinna Saller nickten fast gleichzeitig. Sie verstanden, dass Nick dem Mädchen damit den Abschied erleichtern wollte.

Ein wenig besorgt wandte sich Corinna an ihre Tochter, die Fremden gegenüber sonst immer sehr schüchtern und zurückhaltend war. »Nick wird dich mit zu den anderen Kindern nehmen, Bärbelchen.«

»Und du gehst weg, Mutti?« Bärbels Stimme schwankte. Sie richtete ihre großen braunen Augen fragend auf Corinna.

Dabei fiel Denise wieder die Blässe im Gesicht der Kleinen auf.

»Aber doch nicht für lange«, mischte sich da Nick ein. »Du wirst deine Mutti bald wiedersehen, Bärbel. Inzwischen kannst du hier mit den Kindern und mit den Tieren spielen.« Er lachte das kleine Mädchen an. Zur Überraschung der Erwachsenen nickte Bärbel und lächelte zaghaft zurück.

Um ihrer Tochter den Abschied zu erleichtern, nahm Corinna sie ganz schnell in die Arme, küsste sie zärtlich und schob sie dann vorsichtig Nick entgegen. »Mach’s gut, mein Schatz, Mutti wird dich bald wieder abholen.«

Doch bevor Bärbel mit Nick ging, streckte sie ihre Ärmchen noch nach Jochen Rauscher aus, über dessen Gesicht bei dieser kindlich-zutraulichen Geste ein erfreutes Lächeln glitt. »Auf Wiedersehen, Bärbel.« Er beugte sich zu dem Mädchen herunter und küsste es liebevoll auf beide Wangen.

»So, Bärbel«, sagte Nick und nahm das Kind bei der Hand. »Jetzt gehen wir zu den anderen Kindern. Sie sind auf der Weide bei den Ponys.«

Zwar warf Bärbel noch einen letzten bangen Blick auf die Mutter, doch Nicks Ankündigung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Bärbel ergrifff Nicks Hand und ging mit ihm.

Denise bat Corinna und ihren Begleiter für einen Moment ins Haus. In der Halle vor dem Kamin bat sie die beiden, Platz zu nehmen, und fragte, ob sie eine Erfrischung bringen lassen dürfe.

Doch Corinna und Jochen lehnten ab. Sie wollten sich nicht lange aufhalten, da sie an diesem Tag noch einen weiten Weg vor sich hatten.

Deshalb hielt sich Denise auch nicht lange mit Vorreden auf, sondern fragte Corinna rundheraus, ob Bärbel immer so blass sei.

Sofort stieg Besorgnis in den Augen der jungen Frau auf. »Nein, das ist sie erst seit einigen Tagen, und zwar nicht nur blass, sondern auch seltsam erschöpft. Ich weiß nicht, was mit dem Kind los ist. Normalerweise ist Bärbel sehr lebhaft und hat eine gesunde Gesichtsfarbe. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob es richtig ist, sie gerade jetzt allein zu lassen.«

Denise erkannte den inneren Kampf, dem Corinna ausgesetzt war. Einerseits freute sie sich auf den Urlaub, andererseits hatte sie Gewissensbisse, ihre Tochter allein zurückzulassen. Deshalb versuchte Denise, die junge Frau zu beruhigen. »Bitte, sorgen Sie sich nicht, Frau Saller. Kinder sind oft vorübergehenden Unpäßlichkeiten ausgesetzt, die entweder von einer leichten Erkältung oder auch von Überanstrengungen herrühren können. Aber Bärbel ist bei uns in guten Händen. Wir haben eine tüchtige Krankenschwester und eine Ärztin, die unsere Kinder laufend betreut.«

Das beruhigte Corinna in der Tat. »Ich werde mich trotzdem zwischendurch telefonisch nach Bärbel erkundigen«, erklärte sie.

Denise versicherte ihr, ein besonderes Auge auf Bärbel zu haben. Dann drängte Corinna zum Aufbruch. Sie erhoben sich.

»Wir sind Ihnen zu aufrichtigem Dank verbunden, Frau von Schoenecker. Ohne Ihr großzügiges Entgegenkommen wäre es uns nicht möglich, diesen Urlaub zu verbringen«, gestand Corinna.

Denise wehrte diesen Dank schnell ab und reichte der jungen Frau herzlich die Hand.

»Ich wünsche Ihnen beiden frohe Urlaubstage, ausgefüllt mit interessanten Bergtouren.«

Nach nochmaligen, ehrlichen Dankesworten verließ Corinna an Jochens Seite Sophienlust. Denise stand in der Haustür und blickte dem davonfahrenden Wagen nach. Sie hatte beobachtet, mit welchen Blicken Jochen Rauscher Corinna Saller immer wieder betrachtet hatte. Er muss sie lieben, ging es ihr durch den Kopf. Nur ein Mann, der sehr viel für eine Frau empfindet, hat diesen Ausdruck in den Augen. Ich weiß es aus Erfahrung. Dabei dachte Denise an ihren Mann und wäre am liebsten sofort nach Schoeneich gefahren, um Alexander zu sehen und ein paar Worte mit ihm zu sprechen. Doch sie wollte vorher noch einmal die kleine Bärbel sehen. Das Aussehen des Kindes bereitete ihr doch ein wenig Sorge.

Als ihr bei den Ponyweiden, auf denen die Kinder spielten, Schwester Regine entgegenkam, schilderte Denise ihr ihre Bedenken.

Regine nickte. »Ja, auch mir ist aufgefallen, wie blass das Kind ist. Doch das kann auch von einer vorübergehenden Unpäßlichkeit, einer leichten Erkältung oder dergleichen herrühren. Ich werde die Kleine aber trotzdem im Auge behalten.«

Das beruhigte Denise. »Bitte, tun Sie das, Schwester Regine. Ich fahre jetzt zurück nach Schoeneich.«

Es war Mitte Juli, eine Zeit, in der Alexander sich fast den ganzen Tag auf den Feldern aufhielt. Das bedeutete für Denise mehr Arbeit im Haus. Sie erledigte auch die Post für ihren Mann und übernahm Besorgungen, für die er keine Zeit fand.

Als sie das Haus betrat, war Alexander gerade zum Mittagessen nach Hause gekommen. Er gab seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf den Mund. »Nun, welchen Eindruck haben die Gäste hinterlassen?«

Denise teilte ihm ihre Sorge um die kleine Bärbel mit. Doch auch Alexander versuchte sie mit dem Hinweis zu beruhigen, dass eine vorübergehende Erkältung diesen Zustand hervorgerufen haben könnte.

»Herr Rauscher macht einen absolut zuverlässigen und, nebenbei bemerkt, einen sehr sportlichen Eindruck«, fuhr Denise dann fort.

»Also, mit anderen Worten ein sympathischer Mann, der einen angenehmen Eindruck bei dir hinterlassen hat?«, neckte Alexander seine Frau.

Denise blinzelte ihm schelmisch zu. »Die beiden würden ein schönes Paar abgeben.«

Ein wenig überrascht drehte sich Alexander um. »Meinst du nicht, dass du da ein wenig zu weit gehst? Du kannst die beiden doch nicht miteinander verkuppeln, kaum, dass du sie gesehen hast.« Fast eine Spur von Entrüstung schwang in seiner Stimme mit.

Da musste Denise lachen. »Wäre es denn so absurd, wenn eine junge Witwe den besten Freund ihres verstorbenen Mannes heiratete?«

»Also, Denise!«, rief Alexander aus. »Manchmal geht deine Phantasie wirklich mit dir durch!« Nachsichtig und liebevoll nahm er seine schöne Frau in die Arme.

Doch Denise wiegte den Kopf und beharrte auf ihrer Meinung.

»Das nenne ich sture weibliche Intuition«, seufzte Alexander. Doch dann küsste er seine Frau und hatte Corinna Saller und Jochen Rauscher augenblicklich vergessen.

*

Frau Rennert hatte Bärbel inzwischen zu der dreijährigen Heidi ins Zimmer gelegt. Mit großen Augen blickte sich Bärbel um, als Schwester Regine ihr das Zimmer zeigte. »Gefällt es dir, Bärbel?«, fragte die Kinderschwester.

»Es ist schön. Viel schöner als mein Zimmer zu Hause. Das ist nämlich nur ganz klein.« Mit tastenden Fingerchen strich Bärbel über die schöne buntgeblumte Bettdecke. Dann glitt ihr Blick zu der kleinen Heidi, die auf einem bunten Würfel aus Holz saß. Magst du mich auch?, schien Bärbels Blick zu fragen.

Doch die putzige Heidi war froh, eine fast gleichaltrige Spielkameradin zu bekommen. Sie fasste Bärbel bei der Hand und lachte sie freimütig an. »Soll ich dir unsere Spielsachen zeigen?«

Bärbel nickte begeistert. Ihre blassen Wangen bekamen sogar etwas Farbe. Staunend betrachtete sie die hübschen Puppen und Baukästen, die sich in einem kleinen Wandschränkchen befanden. »Gehören die alle dir?«

Heidi schüttelte fröhlich den Kopf. »Die gehören uns allen. Auch dir.«

Schwester Regine verließ das Zimmer. Sie war nun sicher, dass die beiden Mädchen sich vertragen würden. Bevor sie die Tür schloss, erhaschte sie gerade noch Bärbels überraschten, aber glücklichen Gesichtsausdruck, als Heidi ihr eine schöne große Puppe in den Arm drückte. Ein niedliches kleines Mädchen, fand Schwester Regine. Vielleicht hatte ihr angegriffenes Aussehen wirklich nichts zu bedeuten.

An ihrem ersten Abend auf Sophienlust schlief Bärbel mit der schönen großen Puppe im Arm. Den ganzen Tag war sie mit den anderen Kindern im Park und auf den Ponyweiden herumgelaufen. So viel Neues hatte sie bestaunt, dass sie sofort eingeschlafen war, nachdem Frau Rennert das Licht gelöscht hatte.

Der nächste Tag brachte Bärbel wieder ein neues Erlebnis. Die Kinder wollten zum Baden an den kleinen See gehen. Doch Bärbel hatte keine rechte Lust, mitzukommen. »Kann ich nicht lieber hierbleiben und mit den Puppen spielen?«, erkundigte sie sich schüchtern bei Pünktchen.

»Aber dann bist du ja ganz allein, das ist doch langweilig«, gab Pünktchen zu bedenken.

»Bärbel muss nicht allein sein. Ich bleibe auch hier und spiele mit ihr«, rief die dreijährige Heidi spontan.

Pünktchen zuckte mit den Schultern. »Wenn euch das lieber ist? Ich werde mal Schwester Regine fragen.«

Schwester Regine hatte nichts dagegen einzuwenden. Am liebsten wäre sie selbst ebenfalls dageblieben, um Bärbel unter Kontrolle zu haben, doch sie musste die Kinder beim Baden beaufsichtigen. Frau Rennert erklärte sich jedoch bereit, auf die beiden kleinen Mädchen aufzupassen.

Während die anderen Kinder zum See aufbrachen, schleppten Heidi und Bärbel ihre Puppen auf den Rasen hinter dem Haus und begannen zu spielen. Frau Rennert konnte sie vom geöffneten Fenster aus sehen und achtete darauf, dass sie nicht wegliefen.

Später übernahm Vicky, die nicht mit zum Baden gegangen war, die Aufsicht. Sie setzte sich mit einer Handarbeit zu den beiden kleinen Mädchen und verfolgte lächelnd die Gespräche zwischen der Puppenmutti und der als Kind ausgegebenen Puppe.

Doch plötzlich beschwerte sich Heidi bei ihr.

»Bärbel mag nicht mehr spielen, Vicky. Sie hat sich ins Gras gelegt und schläft einfach.«

Vicky schaute hinüber. Zusammengerollt wie ein Kätzchen lag Bärbel auf der Decke und hatte die Augen geschlossen. Vicky trat zu ihr. Da schlug Bärbel die großen braunen Augen auf. »Ich bin müde«, flüsterte sie.

»Soll ich dich in dein Zimmer bringen?«, schlug Vicky vor.

Doch Bärbel schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht hier schlafen? Nur ein bisschen?«

»Natürlich kannst du das. Komm, leg deinen Kopf auf das Kissen hier. Liegst du gut so?«

Bärbel nickte und schloss wieder die Augen.

Vicky nahm die kleine Heidi bei der Hand und ging mit ihr ins Haus. Dort berichtete sie Frau Rennert von Bärbels ungewöhnlicher Müdigkeit.

»Lass sie ein wenig schlafen«,

sagte die Heimleiterin nachdenklich. »Schwester Regine muss bald zurück sein. Dann soll sie nach ihr sehen. Wenn sich ihr Zustand verschlechtert, muss ich Frau von Schoenecker anrufen.«

Doch Bärbels Zustand verschlechterte sich an diesem Abend nicht mehr. Sie war nur ungewöhnlich müde. Schwester Regine brachte sie noch vor dem Abendessen zu Bett und holte ihr aus der Küche einen Imbiss. Aber als sie damit zurückkam, schlief Bärbel bereits.

Nachdenklich fühlte die Kinderschwester den Puls des Mädchens. Doch er war normal. Auch Bärbels Stirn war nicht heiß. Mit dem Vorsatz, am nächsten Morgen gleich wieder nach ihr zu sehen, ließ Schwester Regine das Kind allein.

*

»Schwester Regine! Schwester Regine!«

Pünktchens Stimme überschlug sich fast. Aufgeregt lief sie den Gang entlang, gefolgt von Vicky.

Schwester Regine kam mit einem Tablett von der anderen Seite des Ganges. Erstaunt schüttelte sie den Kopf. »Warum schreit ihr denn so?«

Sofort wurden Pünktchen und Vicky ein wenig ruhiger. Dazu genügte schon die Gegenwart Schwester Regines.

»Bärbel kann nicht aufstehen«, berichtete Pünktchen.

Vicky fügte hinzu. »Sie hat einen heißen Kopf. Wahrscheinlich hat sie Fieber.«

Also doch, dachte Schwester Regine, und war nun ebenfalls alarmiert. Schnell stellte sie das Tablett ab und eilte zu Bärbels Zimmer.

Mit hochroten Wangen lag die Kleine im Bett. Es war ein seltsamer Kontrast zu der Blässe der vorangegangenen Tage. Als sie die Schwester hereinkommen sah, wollte sie etwas sagen, doch ihre trockenen Lippen brachten keinen Laut hervor.

Schwester Regine erkannte auf den ersten Blick, dass Bärbel sehr hohes Fieber hatte. Trotzdem redete sie beruhigend auf das Kind ein. »Was machst du denn für Sachen, Bärbelchen?« Und ohne dass die Kleine etwas davon merkte, schob sie ihr das Fieberthermometer in die Armhöhle. »Komm, rutsch ein klein wenig tiefer in die Kissen, Bärbel, du liegst ja so schlecht.«

Doch Bärbel schüttelte nur in stummem Schmerz den Kopf. »Ich kann nicht«, hauchte sie. »Mir tut mein Hals so weh, aber hinten.«

Alarmiert horchte Schwester Regine auf Es war ihr schon aufgefallen, dass das Mädchen seltsam verkrampft und steif dalag.

Als sie ihr dann auch noch das Thermometer herauszog und die Messung vierzig Grad anzeigte, sprang die Schwester beängstigt auf. »Ich bin sofort wieder bei dir, Bärbelchen. Bleib solang ruhig liegen.« Sie trat auf den Gang hinaus, wo sich inzwischen noch ein paar andere Kinder zu Vicky und Pünktchen gesellt hatten. Alle Gesichter zeigten Besorgnis.

»Lauft schnell zu Tante Ma und bittet sie, Frau Dr. Frey anzurufen«, bat Schwester Regine. In ihrer Stimme lag ein so drängender, besorgter Ton, dass die Kinder augenblicklich gehorchten, ohne eine Frage zu stellen.

Schwester Regine trat wieder zu Bärbel ins Zimmer. Als Heidi mit hineinschlüpfen wollte, wurde sie von der Schwester vorsichtig, aber bestimmt wieder hinausgeschoben.

Diese Geste zeigte den Kindern, dass Schwester Regine etwas Ernsteres vermutete.

»Ist Bärbel arg krank?«, fragte Heidi mit ganz kleiner Stimme und schaute zu Vicky auf.

Doch Vicky hatte die Frage gar nicht gehört, denn sie verfolgte mit bangen Blicken Pünktchen, die über den Gang flitzte, um Tante Ma zu benachrichtigen.

Instinktiv wurde da die kleine Heidi von der Angst erfasst, die in der Luft lag. Sie begann zu weinen.

In diesem Moment trat Schwester Regine auf den Gang hinaus. »Aber, Heidilein, warum weinst du denn?«, fragte sie.

»Weil die arme Bärbel krank ist«, schluchzte Heidi auf.

»Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen«, tröstete Schwester Regine und blickte in die Runde. »Bärbel hat sich wahrscheinlich nur erkältet und wird in ein paar Tagen wieder mit euch spielen.«

Jeder glaubte ihren Worten, sodass die Kinder sich beruhigt zerstreuten. Nur Pünktchen und Heidi blieben da. Auch Vicky glaubte nicht so ganz an die harmlose Erkältung. Wenn es so war, warum sollte dann sofort Frau Dr. Frey kommen?

Doch schließlich nahm Vicky Pünktchen beim Arm und zog sie mit sich fort.

Nur Heidi wollte unbedingt Bärbel sehen, aber das konnte Schwester Regine leider nicht erlauben. Im Moment war sie die einzige, die wusste, dass Bärbel nicht nur eine Erkältung hatte. Sie vermutete eine weit schlimmere Krankheit, aber die Diagnose würde Frau Dr. Frey stellen. Hoffentlich war ihre Angst grundlos.

»Geh mit den anderen spielen, Heidi. Bärbel schläft jetzt und braucht sehr viel Ruhe.«

Da trottete auch die Kleine endlich davon, doch ihr Blick wanderte immer wieder zurück zu der verschlossenen Zimmertür, hinter der Bärbel lag.

»Komm, Heidi, wir gehen zu den Ponyweiden, um Nick dort zu treffen!« Vicky streckte der Kleinen ihre Hand hin.

Schwester Regine kam gerade dazu, als Frau Rennert zum zweiten Mal Frau Dr. Frey anrief. Beim ersten Anruf hatte sie Anja Frey nicht erreicht. Schwester Regine übernahm den Hörer und schilderte der Ärztin die Anzeichen von Bärbels Krankheit. Wie sie nicht anders erwartet hatte, reagierte Dr. Anja Frey alarmiert. »Ich komme sofort nach Sophienlust«, versprach sie und hängte ein.

Zwanzig Minuten später betrat die Ärztin das Herrenhaus von Sophienlust. Da die Kinder alle zu den Ponyweiden gegangen waren, war keines im Haus, als sie mit äußerst besorgtem Ausdruck durch die Gänge von Sophienlust hastete. Schwester Regine folgte ihr auf dem Fuß.

»Soll ich Frau von Schoenecker benachrichtigen?«, hatte Frau Rennert gefragt.

Doch Dr. Frey hatte den Kopf geschüttelt. »Wir wollen sie nicht unnötig ängstigen. Wenn ich mir Bärbel angesehen habe, ist immer noch Zeit, sie zu informieren.« Dabei dachte sie, hoffentlich trifft das, was ich nach Schwester Regines Schilderung vermute, nicht zu.

Dann waren sie bei Bärbels Zimmer angelangt und traten ein. Mit hochrotem Kopf und schweratmend lag das Kind im Bett. Auch Dr. Anja Frey fiel augenblicklich die seltsame steife Lage auf. Sie blickte Schwester Regine an, ohne ein Wort zu sagen. Aber ihr Blick war Bestätigung genug.

Sie legte die Arzttasche beiseite und setzte sich zu dem Mädchen ans Bett. Erst in diesem Moment schlug Bärbel die Augen auf.

Jetzt war es noch nicht die Ärztin, sondern einfach die Frau, beherrscht von warmen, mütterlichen Gefühlen, die beruhigend auf das Kind einredete.

»Du musst nicht traurig sein, Bärbel«, sagte Anja Frey. »Momentan hast du große Schmerzen, aber das wird bald wieder vorbei sein.« Sie legte ihre kühle Hand auf die heiße Stirn der Kleinen und setzte dann ein Glas mit echtem Himbeersaft, das Schwester Regine gebracht hatte, an die ausgetrockneten Lippen des Kindes.

Erst danach bgann sie die Untersuchung. Sie untersuchte gründlich. Fast eine Stunde lang hielt sie sich allein in Bärbels Zimmer auf. In dieser Zeit erbrach sich das Mädchen zweimal. Dr. Anja Frey wollte es im allerersten Moment des Begreifens nicht wahrhaben und untersuchte das Kind sofort noch einmal genauso gründlich. Doch die Diagnose blieb die gleiche.

Die Ärztin spürte, wie ein unheimliches Zittern durch ihren Körper lief. Es war das Erkennen einer schrecklichen Wahrheit. Das Erbrechen, die Nacken­steife und das hohe Fieber deuteten auf eine der gefährlichsten Krankheiten hin, eine Krankheit, die gefährlich und ansteckend war. Es war Hirnhautentzündung.

Einen Moment schloss Anja Frey erschöpft die Augen. Aber es war keine körperliche Erschöpfung, sondern die Erkenntnis der gefährlichen Situation, in der sich dieses arme Kind befand. Und natürlich ganz Sophienlust.

Sie flößte dem Kind ein schmerzlinderndes Mittel ein, bevor sie das Zimmer verließ. Schwester Regine wartete auf einem Stuhl im Korridor. Sie erschrak, als sie Dr. Freys Gesichtsausdruck sah. »Oh, mein Gott«, murmelte sie unwillkürlich. Aber sie stellte keine Frage.

»Bitte, benachrichtigen Sie sofort Frau von Schoenecker«, bat die Ärztin leise. »Bärbel muss sofort isoliert werden. Niemand darf zu ihr.«

Schwester Regine nahm die Anordnung nickend zur Kenntnis. Dann blickte sie der Ärztin in die Augen. Anja Frey erwiderte diesen Blick sekundenlang. Dann öffnete sie den Mund und sagte wie unter einer Zentnerlast: »Das Kind hat Hirnhautentzündung.«

Sie sah das Erschrecken und auch die Angst auf dem Gesicht der Kinderschwester und drückte sie behutsam zurück auf den Stuhl, auf dem sie eben gesessen hatte. »Ich informiere Frau von Schoenecker selbst. Geben Sie Acht, dass niemand das Zimmer des Kindes betritt.«

Schwester Regine nickte nur. Sie war nicht fähig, einen Ton hervorzubringen. Sie presste ihre Fingernägel in das Fleisch des Handballens, dass er dort dunkelblaue Male hinterließ.

Als Anja Frey die große Halle von Sophienlust betrat, hörte sie vor dem Haus einen Wagen vorfahren. Gleichzeitig trat Frau Rennert ein und berichtete ahnungslos: »Frau von Schoenecker ist soeben gekommen.« Erst dann schaute sie die junge Ärztin genauer an und begriff, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Doch genau wie Schwester Regine wagte sie nicht zu fragen.

»Ich möchte, dass Sie bei dem Gespräch, das ich mit Frau von Schoenecker nun führen werde, anwesend sind«, sagte Frau Dr. Frey zu Frau Rennert.

Die ältere Frau nickte.

Dann betrat Denise ahnungslos die Halle. Doch schon der erste Blick auf die Ärztin sagte ihr, dass etwas passiert sein musste. Ohne eine Frage zu stellen, begrüßte sie Dr. Anja Frey und bat sie sowie Frau Rennert in ihr Büro.

Erst hier, hinter geschlossenen Türen, begann die Ärztin zu sprechen. Sie schilderte Bärbels Zustand und gab erst am Schluss ihrer Beschreibung die furchtbare Diagnose preis.

Dumpfes Schweigen folgte ihrer Erklärung. Denise, die das ganze tragische Ausmaß dieses einen Wortes begriff, hatte sekundenlang das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie presste die Hand auf die Brust und holte tief Luft. »Ich habe zwar nur eine laienhafte Kenntnis von diesen Dingen«, wandte sie sich an Dr. Frey, »aber meines Wissens ist Hirnhautentzündung nicht nur eine sehr gefährliche, sondern auch eine äußerst ansteckende Krankheit?«

Dr. Anja Frey nickte sehr ernst. »Hirnhautentzündung ist mit Lebensgefahr verbunden und verbreitet sich sehr schnell. Es ist eine Infektionskrankheit.«

Wie ein drohendes Schwert schwebten diese Worte im Raum. Sekundenlang war keiner der drei Menschen eines Wortes fähig. »Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen?«, wandte sich Denise schließlich an die Ärztin, womit sie gleichzeitig zu verstehen gab, dass sie die Situation als eine Art Ausnahmezustand betrachtete und Dr. Frey das Kommando übertrug.

Die Ärztin akzeptierte das dankbar. Es war dringend notwendig, dass sie sofort Anweisungen erteilte, um das Verbreiten der Krankheit zu verhindern. »Bärbel muss sofort isoliert werden.«

Diese Maßnahme hatte Denise erwartet. Doch dazu gehörte noch eine andere Entscheidung. Die isolierte Kranke musste gepflegt werden.

Aber auch hier hatte Frau Dr. Frey bereits einen Entschluss gefasst. »Ich werde mich von meiner Familie trennen und in Sophienlust bleiben, um Bärbel zu behandeln und zu pflegen«, sagte sie mit ruhiger Stimme.

Die Beherrschtheit, mit der sie ihre Anweisungen gab, sollte über die Tragweite dieses schweren Entschlusses hinwegtäuschen. Doch Denise ließ sich nicht von Anja Freys äußerer Ruhe täuschen. Sie wusste, was es für die junge Ärztin bedeuten musste, sich von ihrem Ehemann, den sie gerade erst geheiratet hatte, und von Felicitas zu trennen. Ganz abgesehen davon, dass sie auch ihre Praxis, die sie mit ihrem Mann gemeinsam führte, für die Zeit ihres Aufenthaltes in Sophienlust ihm allein überlassen musste.

»Ich nehme an, Sie haben sich diesen Entschluss gründlich überlegt, Frau Dr. Frey«, sagte Denise behutsam. Sie wollte nicht, dass sich die junge Ärztin zu viel zumutete.

Anja Frey verstand die Mahnung. Sie erwiderte schlicht: »Der Fall ist zu ernst und zu gefährlich, als dass ich die Pflege einem anderen überlassen könnte. Meine Familie wird verstehen, dass ich mich in diesem Fall für meine ärztliche Pflicht entscheiden muss. Sie wissen ja, dass eine alte Tante von mir, Elise Karsten, bei uns im Haus lebt. Sie wird die Führung des Haushalts für mich übernehmen. In der Praxis muss mich mein Mann vertreten.«

Denise nickte nur. Der Entschluss der jungen Ärztin war bewundernswert. Da gab es nichts mehr hinzuzufügen.

Um ganz sicherzugehen, dass Bärbel mit niemandem mehr in Berührung kam, sprachen sie nun alle technischen Einzelheiten der Isolierung durch. Jede Maßnahme, die sie treffen mussten, wurde gründlich geprüft.

Fast zwei Stunden lang wurden hinter geschlossenen Türen alle notwendigen Maßnahmen besprochen. Denise hatte zwei Zimmer im Erdgeschoß ausgewählt, in denen sich Frau Dr. Frey für die Dauer der Isolation mit der Kranken aufhalten sollte. Ein großer Raum sollte ihr als Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer dienen, ein Raum als Krankenzimmer für Bärbel. Dann gab es noch einen winzigen Nebenraum, der als Medikamenten- und Behandlungsraum geeignet erschien.

Nachdem diese Einzelheiten feststanden, erhob sich Frau Rennert. »Wenn es Ihnen recht ist, kümmere ich mich jetzt darum, dass die Zimmer hergerichtet werden«, wandte sie sich an Denise und Anja gleichzeitig.

Beide nickten.

Dann ging Frau Rennert, um alles Nötige zu veranlassen.

Denise und Anja blieben allein zurück. »Natürlich wird es sich nicht vermeiden lassen, dass Bärbels Krankheit auf Sophienlust und Schoeneich bekannt wird«, meinte Denise.

»Das wird sich kaum vermeiden lassen«, bestätigte Anja. »Wir können nur versuchen, den Namen der Krankheit vor den jüngeren Kindern zu verbergen. Doch die Isolation allein zeigt ja schon deutlich genug den Grad der Gefährdung.«

Damit waren sie bei der Frage angelangt, die sie beide am meisten ängstigte. Die Ansteckungsgefahr.

»Es ist also ohne weiteres möglich, dass Bärbel in den zwei Tagen bereits andere Kinder angesteckt hat?«, erkundigte sich Denise und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Anja konnte nicht anders, als es bestätigen. »Es ist sogar wahrscheinlich, dass Bärbel die Kinder, mit denen sie in näheren Kontakt gekommen ist, angesteckt hat. Aber es kann einige Tage dauern, bis die Krankheit bei den angesteckten Kindern ausbricht.« Die Ärztin wusste, wie grausam die Wahrheit klang. Doch sie musste Denise von Schoenecker darüber informieren.

Denise spürte, wie die Last der Verantwortung ihre Brust zu sprengen drohte. Aber es war ein Kampf, den sie alle durchstehen mussten. »Leider ist Bärbel mit fast allen Kindern in Berührung gekommen«, sagte sie leise und blickte Dr. Frey an. »Sie wissen ja, wie das ist, wenn Kinder spielen.«

Anja nickte. »Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass Bärbel alle Kinder angesteckt hat. Diesbezüglich glaube ich Sie beruhigen zu können. Meist sind es ein oder zwei Kinder, die besonders anfällig sind. Und wenn wir sehr großes Glück haben, hat Bärbel niemanden angesteckt.«

Glück, dachte Denise, das ist es, worum wir jetzt beten müssen. »Ab wann wollen Sie sich selbst isolieren?«, erkundigte sie sich.

»Noch heute«, erklärte Anja. »Ich muss nur noch mit meinem Mann alles Notwendige besprechen und Verbindung zu den Ärzten des Maibacher Krankenhauses aufnehmen. Ich werde ihre Ratschäge benötigen.«

Damit hatte Denise gerechnet. Sie erklärte sich auch bereit, jeden Botengang und jede Besorgung, die Anjas Mann zu viel wurden, zu übernehmen.

Dann verließ Anja Sophienlust. Sie fuhr nach Hause, um sich von ihrem Mann und ihrem Töchterchen zu verabschieden. Sie wusste, dass es ihr nicht leichtfallen würde, doch ihr Entschluss stand fest.

In der Zwischenzeit überwachte Denise persönlich Bärbels Umlegung in die kleine Isolierstation im Erdgeschoss. Die Nachricht, dass Bärbel schwer krank war und isoliert werden musste, verbreitete sich mit Windeseile. Noch vor dem Mittagessen wussten es sämtliche Kinder und ganz Schoeneich.

Doch zu diesem Zeitpunkt lag das kranke Kind bereits allein in dem großen Zimmer im Erdgeschoss. Schwester Regine wachte streng darüber, dass niemand diese Räume betrat. Auch ihr selbst war es nicht erlaubt, hineinzugehen. Sie hoffte nur, dass Dr. Anja Frey bald zurückkehren würde, da das kranke Kind sonst zu lange ohne Aufsicht blieb.

»Tante Isi, Tante Isi!« Mit tränenerstickter Stimme kam die kleine Heidi vor dem Essen zu Denise gelaufen. »Bärbel ist weg. Die Kinder sagen, sie ist so krank, dass sie ganz allein sein muss. Muss sie jetzt sterben, Tante Isi?«

»Aber nein, Heidilein.« Denise nahm das in Tränen aufgelöste Mädchen auf den Arm. »Ganz bestimmt nicht. Sie braucht nur sehr viel Ruhe. Deswegen ist sie allein.«

Heidi beruhigte sich wieder. Wenn Tante Isi das sagte, dann musste es stimmen.

Viel schwerer war es für Felicitas, einzusehen, dass sie sich für längere Zeit von der geliebten Mutti trennen musste. Sie schluchzte herzzerreißend, und Anja durfte sie nicht einmal in die Arme nehmen, um sie zu trösten.

»Kannst du mich nicht mitnehmen, Mutti?«, bettelte sie wieder und wieder. Der offensichtliche Schmerz des Kindes brach Anja fast das Herz.

Stefan nahm seine Tochter auf den Arm und redete tröstend auf sie ein. »Warum bleibst du nicht hier bei Filzchen und führst die Praxis und lässt mich die kranke Bärbel pflegen?«, schlug er Anja vor.

Ein liebevoller Blick ihrer schönen dunklen Augen traf Stefan für dieses Angebot. Trotzdem lehnte Anja ab. »Nein, Stefan, so weh es mir auch tut, mich von dir und Filzchen trennen zu müssen –?es sind meine Kinder in Sophienlust. Die brauchen mich jetzt. Ich kann nicht anders, ich muss jetzt zu ihnen stehen.«

Stefan nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem hätte er ihr diese schwere Aufgabe gern abgenommen. Aber Anjas Entschluss stand fest. Das erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck.

Mit einem Seufzer, den er zu unterdrücken suchte, wandte er sich an seine kleine Tochter. »Da wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als sehr tapfer zu sein, Filzchen. Wir wollen doch, dass Mutti stolz auf uns ist. Hm?«

Schnüffelnd wischte Felicitas ihre Tränen weg und nickte. Anja aber streckte zitternd die Hand aus und fuhr dem Kind übers Haar. »Nicht traurig sein, Filzchen. Mutti kommt ja bald wieder. Vielleicht dauert es gar nicht so lange.«

*

Corinna Saller blieb stehen und legte die Hand schützend über die Augen. Sie blickte zu einem der steilsten Dolomitengipfel auf. Ihre biegsame, schlanke Figur steckte in Bundhosen, wollenen Kniestrümpfen und einer rot-weiß-karierten Bluse, deren Ärmel sie hochgekrempelt hatte.

»Der Aufstieg zu diesem Gipfel ist einer der schwierigsten und gefährlichsten in der ganzen Bergwelt hier«, sagte Jochen Rauscher neben ihr, betrachtete aber nicht wie Corinna den steil aufragenden Felsen, sondern ihr schönes Profil.

Doch das beachtete Corinna gar nicht. »Würdest du mir bitte einmal den Feldstecher geben?«

Jochen reichte ihr das Fernglas. Dabei berührten seine Finger die weiche, sanft gebräunte Haut ihres Unterarms.

Corinna schien es nicht zu spüren. Sie setzte das Glas an die Augen und tastete damit die imposanten Bergriesen ab. Jochen wusste, was sie suchte. Die Absturzstelle ihres Mannes. Er war auf einem der höchsten Gipfel ums Leben gekommen, obwohl er ein vielbewunderter Bergsteiger gewesen war.

Als Jochen bemerkte, dass Corinna die richtige Stelle noch immer nicht gefunden hatte, nahm er ihre Hand und dirigierte das Fernglas so sanft in den richtigen Blickwinkel.

Während Corinna minutenlang jenen Felsen betrachtete, der ihr Unglück gebracht hatte, ließ Jochen seinen Gedanken freien Lauf. Er vermutete, dass Corinna diesem Bergsteigerurlaub nur deshalb zugestimmt hatte, weil sie die Absturzstelle ihres Mannes aufsuchen wollte. Irgendwie verstand er sie, aber er hoffte auch sehnlichst, dass sie in diesem Urlaub endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen würde. Er fand es nicht richtig, dass eine so schöne junge Frau, die das Leben noch vor sich hatte, Jahr für Jahr der Vergangenheit nachtrauerte.

Endlich setzte Corinna das Glas ab und fuhr sich über die Augen, wie um einen Spuk wegzuwischen. »Ich bin jetzt sehr durstig, Jochen.«

Erfreut nahm er ihr das Fernglas ab. »Aber natürlich, Corinna. Trinken wir irgendwo etwas. Es gibt hier in der Nähe eine reizende Almwirtschaft, wo wir im Freien sitzen können«, schlug er vor.

Corinna nickte und folgte ihm auf dem schmalen Wanderweg, der in dieser Höhe durch sanft ansteigende Wiesen führte. Sie waren nur zehn Minuten gegangen, als der Almgasthof vor ihnen auftauchte. Das Haus selbst war aus stabilem Holz gebaut. Davor standen, teils im Sonnenschein, teils schattig überdacht, Bänke und Tische aus rohem Holz. Das Ganze machte einen soliden, erquickenden Eindruck.

»Das ist genau richtig«, meinte Corinna erfreut.

Jochen wusste, dass sie Almhütten dieser Art besonders liebte. Corinna hatte nichts für Eleganz übrig, dazu war sie viel zu sportlich. Bauerngaststätten und Almhütten gefielen ihr am besten. Komisch, wie gut ich sie kenne, dachte er und spürte ein leises Ziehen in der Brust, wenn er an all die Jahre zurückdachte, da sie für ihn unerreichbar gewesen war. Die Jahre ihrer Ehe mit Fred. Denn obwohl Fred sein Freund und dieses Gefühl für ihn verboten gewesen war, hatte er Corinna schon während ihrer Ehe sehnsüchtig geliebt. Aber Corinna war die Frau seines Freundes und damit für ihn tabu gewesen. Deswegen hatte er ja auch so unsagbar unter dieser verbotenen Liebe gelitten.

Jochen schreckte aus seinen Erinnerungen auf, als die Almwirtin kam und nach ihren Wünschen fragte. »Für mich bitte ein Glas Milch«, bat Corinna. Jochen bestellte sich eine Limonade.

Dann saßen sie in der fast unglaublichen Ruhe, in der nur das Zirpen der Grillen zu hören war, und bestaunten das für sie immer wieder neue Wunder der Berge.

»Es ist wunderschön hier«, flüsterte Corinna. Ihr Blick glitt dabei über die saftigen Wiesen, die erst weiter oben von nacktem Fels abgelöst wurden. Weiter unten weideten ein paar Almkühe mit großen Glocken um den Hals.

Schon von dieser Höhe aus sahen die Häuser unten im Tal wie Spielzeug aus einem Baukasten aus. Fast mit einem glücklichen Ausdruck schloss Corinna sekundenlang die Augen und genoss die Stille und die angenehme Sonnenwärme. Sehnsüchtig und zärtlich betrachtete Jochen ihr Gesicht, das so sportlich gesund und doch so sanft und schön war. Was hatte er sich nicht alles von diesem Bergurlaub erhofft. Würde es ihm aber gelingen, Corinnas Herz zu erobern? Er wusste, dass nur die Schatten der Vergangenheit sie davon abhielten, endgültig zu ihm zu finden. Sie vertrat die altmodische Meinung, sie dürfe ihrem Mann auch im Tod nicht untreu werden. Er hätte ihr am liebsten zugerufen: »Das Leben geht weiter, Corinna!« Doch wie in all den Jahren zuvor fasste er sich in Geduld und wartete.

»Jochen?«, fragte Corinna mit geschlossenen Augen.

»Ja?«

Bevor sie antwortete, blickte sie empor zu dem Gipfel, an dem ihr Mann abgestürzt war. Sie musste sich ihn gut eingeprägt haben, denn sie fand ihn auch ohne Fernglas sofort. »Ich möchte morgen früh zu diesem Gipfel aufsteigen.« Sie blickte ihn fragend an.

Jochen spürte, wie sich sein Inneres ein wenig verkrampfte. Doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. »Selbstverständlich«, entgegnete er. »Wenn du es willst, werden wir morgen diesen Gipfel in Angriff nehmen. Aber er ist sehr schwierig und nicht ohne Gefahr. Doch das weißt du ja.«

»Ja, aber ich möchte trotzdem hinauf und danke dir, dass du mich begleiten willst.« Sie lächelte erleichtert.

»Es wäre glatter Mord, wenn ich dich allein gehen ließe«, sagte er hart, wusste aber, dass seine Worte nicht übertrieben waren. Corinna wusste es auch. Sie waren beide routinierte Bergsteiger und kannten die Gefahren, die in der steinernen, schweigsamen Welt der Dolomiten lauerten.

Nachdem Corinna diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich seltsam erleichtert. Sie sah es einfach als ihre Pflicht an, die Stelle aufzusuchen, an der ihr Mann und der Vater ihres Kindes den Tod gefunden hatte. Sie bildete sich ein, nicht das Recht auf eine neue Zukunft zu haben, bevor sie dem Toten nicht diesen letzten Treuebeweis geliefert hatte.

Jochen trank den Rest seiner Limonade aus und betrachtete dann die Sonne, die sich schon gen Westen neigte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie nicht länger rasten durften. »Wenn wir morgen diesen Dreitausender machen wollen, dann sollten wir versuchen, heute noch bis zum Fuß des Berges zu kommen«, schlug er vor.

Corinna nickte sofort. Jochen hatte recht. Sie würden sonst den Aufstieg an einem Tag nicht schaffen. »Aber wir haben unsere Ausrüstung nicht dabei«, gab sie zu bedenken.

»Daran habe ich schon gedacht.« Er schaute auf den kleinen Rucksack, in dem er nur die notwendigsten Kleinigkeiten mit sich führte. »Wenn wir sofort aufbrechen, können wir den Weg ins Tal zu unserem Wagen und hinauf zum direkten Beginn des Felsens noch heute schaffen.«

Corinna musste zugeben, dass sein Vorschlag sehr gut überlegt war. Würden sie im Tal übernachten, würden sie den ganzen Aufstieg an einem Tag wohl kaum schaffen. Wenn sie aber in einer der Hütten, dort, wo die Almwiesen endeten und der nackte Fels begann, nächtigen, hatten sie die Chance, an einem Tag bis zum Gipfel zu kommen. »Dein Vorschlag ist gut«, lobte sie anerkennend.

»Ich kenne eine Hütte, die für unser Vorhaben sehr günstig liegt. Sie ist von hier aus nicht zu sehen, weil sie von einem Felsvorsprung verborgen wird. Aber der Aufstieg ist so bequem, dass wir ihn leicht heute noch schaffen können.«

»Dann lass uns aufbrechen!« Mit Elan sprang Corinna auf. Sie lief schon voraus, während Jochen bei der Wirtin zahlte.

Wie sicher und behend ihre Füße die richtigen Tritte finden, dachte er, als er Corinna folgte. Es ist geradezu ein Entzücken, sie zu beobachten. Doch ein klein wenig schmerzte ihn ihre plötzliche Fröhlichkeit auch. Denn sie galt nicht ihm, sondern dem Verstorbenen, dessen Todesstelle sie morgen sehen würde. Mit einem kleinen, wehmütigen Seufzer folgte er ihr.

Die beiden legten den Weg ins Tal in einer kürzeren Zeit als vorgesehen zurück. Mit zwei schweren Rucksäcken beladen stiegen sie dann wieder auf. Die Sonne ging bereits unter, als sie die von Jochen bezeichnete Hütte erreichten.

»Das wäre geschafft«, seufzte Corinna erleichtert auf und ließ den Rucksack von ihrem Rücken gleiten.

Jochen nahm beide Gepäckstücke und trug sie in die Hütte. Sie war noch leer. Manchmal kam es vor, dass sich bereits andere Bergsteiger einquartiert hatten. Dann musste man sich gemeinsam arrangieren, so gut es eben ging. Doch hier waren sie allein.

Als Jochen wieder aus der Hütte trat, sah er Corinna unbeweglich dastehen, versunken in den Anblick der untergehenden Sonne. »Ein überwältigendes Bild«, flüsterte sie, als er neben sie trat.

Die Sonne war bereits hinter den hohen Felszacken verschwunden. Ihr Licht aber war noch vorhanden und ließ die schroffen Felsen in einem rotgoldenen Schein erglühen. Es war eine verzauberte Stimmung.

Ohne sich dessen bewusst zu werden, legte Jochen seinen Arm um Corinnas Schulter. Und sie ließ es geschehen.

Als das Leuchten um die Bergkuppe schwächer wurde, gingen sie in die Hütte. Corinna begann das Abendessen vorzubereiten. »Gemütlich ist es hier«, meinte sie, während sie die mitgebrachten Nahrungsmittel auspackte.

Jochen stimmte ihr zu. Nicht jede Hütte ist so sauber und so hübsch eingerichtet.

Obwohl die Einrichtung der Hütte nur aus rohem Holz gezimmert war, strahlte sie doch eine Behaglichkeit aus, die vielen eleganten und modernen Wohnungen fehlte. Die Decke des einzigen großen Raumes war niedrig und bestand ebenfalls aus Balken. Während der vordere Teil als Küche und Wohnzimmer galt, waren in der hinteren Nische des Raumes zwei Stockbetten aufgestellt. Es war das Schema, nach dem alle Berghütten eingerichtet waren.

Schon unzählige Male hatte Corinna in solchen Berghütten übernachtet. Aber das war meistens mit ihrem Mann gewesen. Mit Jochen geschah es zum ersten Mal. Aber keinen Moment lang hätte sie das komisch gefunden. Das war einfach unter Bergsteigern so üblich.

Als das Wasser kochte, legte Corinna eine karierte Leinendecke auf den derben Tisch und holte aus einem kleinen Wandschrank Geschirr und Bestecke. Diese Dinge befanden sich in jeder Hütte zum allgemeinen Gebrauch.

Bald stand eine Platte mit belegten Broten auf dem Tisch. Corinna goß nun frischen Tee auf, während Jochen aus seinem Rucksack eine Flasche Rum holte, von dem in jede Tasse ein paar Spritzer zur Geschmacksaufbesserung kamen.

»Du bist eine großartige Hausfrau«, lobte er sie, während er sich die Brote schmecken ließ.

Corinna musste lachen. »Um ein paar belegte Brote herrichten zu können, braucht man wirklich kein hausfrauliches Können.«

»Sag das nicht«, wehrte er ab. »Du hättest ja auch so wichtige Dinge wie Brot oder Butter im Tal vergessen können. Und der Tee schmeckt großartig.«

»Dafür bin nicht ich verantwortlich, sondern dein Rum«, neckte sie ihn. »Du hast nämlich in die zweite Tasse die doppelte Menge hineingetan.«

»Wirklich?«, tat er erstaunt. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Schwindler! Du hast es absichtlich getan.«

Er ging auf ihren ausgelassenen Ton ein. »Wenn du mich ärgerst, werde ich mich nach dem Essen auf die faule Bärenhaut legen und dir nicht beim Abspülen helfen«, drohte er.

»Das möchte ich mir auch verbitten, dass du mir hilfst. Du würdest ohnehin mehr zerschlagen als abtrocknen.« Sie stand auf und räumte mit ein paar raschen Handgriffen den Tisch ab.

Um sie zu necken, streckte sich Jochen demonstrativ auf der langen Holzbank aus und zündete sich seine Pfeife an. Dann entkorkte er eine Flasche des in dieser Gegend häufig getrunkenen, herben Südtiroler Landweines. Als er dann aufstand, um Corinna wenigstens beim Abtrocknen oder Einräumen zu helfen, war sie bereits fertig. »Du bist aber wirklich flink wie ein Wiesel«, staunte er ehrlich. »Jetzt hast du dir redlich ein Gläschen Wein verdient.« Er holte zwei Tonbecher aus dem Schrank und schenkte ein. Dann stießen sie miteinander an.

Als es draußen allmählich Nacht wurde, zündete Jochen die Petroleumlampe an. Denn elektrisches Licht gab es hier nicht. Der schwache Schein der Lampe zauberte eine heimelige Stimmung in den niedrigen Raum.

Da erhob sich Corinna. »Ich möchte in das nächtliche Tal hinunterblicken«, sagte sie und trat vor die Tür.

Jochen folgte ihr. Tief unten im Tal blinkten die Lichter des kleinen Dörfchens wie Glühwürmchen. Und auf den gegenüberliegenden Berghängen blitzte ab und zu das Licht eines Almgasthofes oder einer Hütte auf.

»Ist das nicht eine zauberhafte Stimmung?« Corinna blickte mit leuchtenden Augen zu Jochen empor.

Er nickte begeistert. Selten hatte er Corinna in einer so heiteren und gelösten Stimmung gesehen. Als sie ein wenig fröstelte, zog er seinen Janker aus und legte ihn ihr um die Schultern. Dabei blieb sein Arm auf ihrer Schulter ruhen. Auch zog er sie noch ein wenig an sich, um sie besser vor dem kühlen Nachtwind zu schützen.

Corinna wehrte sich nicht dagegen. Sie ließ es geschehen und lehnte sich vertrauensvoll wie ein kleines Mädchen an seine Brust.

Jochen spürte, wie sein Herz schneller schlug. Da neigte er seinen Kopf und hauchte einen raschen Kuss in ihr Haar. Sie rührte sich nicht. Hatte sie es bemerkt? Doch als sie sich plötzlich umdrehte und ihm in die Augen blickte, wusste er, dass sie seine Liebkosung gespürt haben musste. Aber sie tadelte ihn nicht. Es schien ihm sogar, als leuchte ihm aus ihren Augen eine wortlose Zustimmung entgegen. Doch die Beleuchtung war zu ungewiss.

Corinna wandte sich nun ab und ging zurück in die Hütte. Jochen folgte ihr ein wenig benommen. Immer, wenn er ihr so nahe war wie eben, stieg ein geradezu unsinniges Verlangen nach ihrer Liebe und ihren Zärtlichkeiten in ihm auf.

Sie saß bereits wieder am Tisch und trank den letzten Schluck Wein aus dem kleinen Tonbecher. Ihr Körper schien entspannt, ihr Mund lächelte ein wenig.

Als Jochen die Flasche zur Hand nahm, um ihren Becher frisch zu füllen, bemerkte er, dass seine Hand zitterte. Auch Corinna sah es. Als er die Weinflasche absetzte, legte sie ihm sekundenlang ihre schlanken Finger auf die Hand. Doch Jochen ergriff ihre Finger und hielt sie fest.

»Wenn du meine Hand festhältst, kann ich nicht trinken«, sagte sie schmunzelnd und entzog ihm ihre Finger. Dann hob sie den Becher. »Auf unsere Bergtour, Jochen.«

Doch er schüttelte schweigend den Kopf. »Auf uns, Corinna?« In seinen Augen stand eine Frage.

Sie blickten sich lange an. Dann wurde Corinna ein wenig ernster und nickte kaum merklich. »Auf uns, Jochen.« Sie trank einen tiefen Schluck. Als sie den Becher wieder absetzte, stand in ihren Augen ein Ausdruck, den er darin noch nie gesehen hatte.

Plötzlich wurde er sich ihrer körperlichen Gegenwart fast schmerzlich bewusst. Er hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen und für immer festgehalten. Weil er das nicht durfte, steigerte sich seine Sehnsucht nach ihr ins Unerträgliche. Wie schön sie war! Diese samtene goldbraune Haut und die großen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern … Normalerweise waren graue Augen nichts Besonderes. Doch Corinnas Augen waren von einer Schönheit und Ausdruckskraft, die ihn immer wieder beeindruckten, sobald er sie anblickte.

Sie erwiderte seinen Blick. »Warum schaust du mich so an?«, hauchte sie.

»Weil du schön bist.« Und weil ich dich liebe, hätte er am liebsten hinzugefügt. Doch er wagte es nicht. Er hatte Angst, diese verzauberte Stimmung zu zerstören.

Aber auch Corinna war in den Bann dieses Zaubers geraten. Wie jede Frau sehnte sie sich nach Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit. Doch sie fragte sich immer wieder, ob das, was sie tat, richtig war. Aber was tat sie eigentlich? War es verboten, mit Jochen hier zu sitzen und ihm in die Augen zu schauen? Doch spätestens in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie mehr tat, als ihm nur in die Augen zu blicken. Sie lockte und rief und flehte mit ihren Blicken um Verständnis und um Zärtlichkeit. Rasch schlug sie die Augen nieder.

Doch Jochen hatte schon zu viel gesehen. »Corinna!« Seine Stimme klang rau und heiß. Er rutschte neben sie und schob seinen Zeigefinger unter ihr Kinn. Dann hob er langsam ihr Gesicht zu sich empor. Da traf ihn das sehnsüchtige Flehen in ihren Augen wie ein körperlicher Schlag. Sie konnte zwar ihren Worten befehlen, nicht aber ihren Augen. Er zog sie an sich, langsam und behutsam und blickte ihr dabei unverwandt in die Augen.

Bewegungslos ließ sie es geschehen. Erst als sie ihm ganz nahe war, schob sie ihre Hände in seinen Nacken. Bei dieser Berührung begann er vor Sehnsucht und Glück zu zittern. Seine Lippen suchten ihren Mund. Es wurde ein heißer, glühender Kuss, der sie in einen Abgrund des Vergessens schleuderte. Die ganze, seit Jahren angestaute Sehnsucht wurde nun endlich frei.

Jochen war sich nicht bewusst, dass er Corinna zwischen seinen Küssen immer wieder seine Liebe beteuerte. »Ich liebe dich! Ich liebe dich so sehr, dass ich sterbe, wenn du nicht bei mir bleibst.«

Als sich die beiden endlich voneinander lösten, schienen aus ihnen zwei andere Menschen geworden zu sein. Corinna hatte die Vergangenheit endlich überwunden. Sie schmiegte sich in Jochens Arme und lehnte ihren Nacken an seine Schulter. Als sie miteinander anstießen, blickten sie sich in die Augen. »Auf unser Glück, Corinna«, flüsterte er – und sie nickte strahlend.

»Ich glaube, ich war sehr dumm«, sagte sie aus ihren Gedanken heraus.

Doch Jochen streichelte beruhigend ihr Haar. »Du hast dich ungerechterweise schuldig gefühlt, Liebste, und dir damit dein eigenes Glück verbaut.«

Mit strahlenden Augen wandte sie sich zu ihm um. »Wie gut du mich verstehst!« Dann fragte sie zögernd: »Du bist also nicht der Meinung, dass ich treulos an Fred handle, wenn ich dich jetzt liebe?« Fast ein wenig ängstlich forschten ihre schönen Augen in seinem Gesicht.

Mit einer überzärtlichen Geste hauchte er ihr einen behutsamen Kuss ins Haar. »Corinna, du kannst doch nicht ewig der Vergangenheit nachlaufen. Einmal musst du sie überwinden. Du und dein Kind, ihr habt ein Recht auf ein neues Glück, auf Geborgenheit und Verständnis.«

»Das klingt so schön«, flüsterte sie. »Ich weiß erst seit dieser Stunde, wie sehr ich mich danach gesehnt habe.« Es war eine ganz andere Corinna, die jetzt aus ihr sprach. Eine aufgeschlossene, zärtliche und warmherzige Frau. Wie ein kleines Mädchen legte sie ihre Wange an seine Brust. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich liebe dich auch, Jochen!« Sie sagte es zum ersten Mal, und es machte ihn selig.

»Heißt das, dass du dich auch für die Zukunft rückhaltlos zu mir bekennst?«, fragte er mit belegter Stimme.

Corinna nickte lächelnd. »Ja, und ich bin glücklich darüber. Mir ist, als hätte jemand eine Zentnerlast von meinen Schultern genommen. Weißt du, ich hielt es einfach für meine Pflicht, meinem Mann ein Leben lang die Treue zu halten.«

»Und du fühlst dich auch verpflichtet, seine Absturzstelle zu besuchen«, fügte Jochen hinzu.

Sie schaute ihn an. »Ja, so ist es.«

»Glaubst du nicht auch, dass Fred wünschen würde, dass ihr glücklich seid, du und Bärbel?« Seine Augen waren jetzt sehr ernst.

Sie dachte einen Moment nach. Dann nickte sie. »Doch, Jochen, das glaube ich jetzt auch. Das Leben geht weiter. Es hat keinen Zweck, die alten Wunden immer wieder aufzureißen.«

Dafür küsste er sie. »Danke, Liebste. Erst jetzt freue ich mich auf unsere gemeinsame Zukunft. Ich verspreche dir, dich glücklich zu machen.«

Jetzt entschloss sich Corinna zu einem Schritt, der ihm bewies, dass es ihr ernst war mit dem, was sie versprochen hatte. Sie schlug ihm von sich aus vor, auf den Aufstieg zur Absturzstelle ihres Mannes zu verzichten.

Jochen war überwältigt vor Dankbarkeit. Sekundenlang konnte er nichts sagen, doch seine Augen dankten ihr mit tausend Zärtlichkeiten. Dann holte er die Karte. Gemeinsam suchten sie nun eine andere Tour für den nächsten Tag aus. Dann hatte Jochen eine Idee. »Darf ich dich um etwas bitten?«, fragte er.

Sie nickte mit einem zärtlichen Blick.

Er ergriff ihre Hände. »Bitte, lass uns morgen wieder hierher zurückkehren. In die Hütte, in der wir uns gefunden haben.« Besorgt ruhten seine Augen auf ihrem Gesicht. Doch der glückliche Ausdruck darin verscheuchte augenblicklich all seine Zweifel.

»Das ist eine Bitte, die ich liebend gern erfülle. Ich wüsste keinen Ort, an den ich lieber zurückkehrte.« Sie betrachtete sein Gesicht, sein dichtes, gewelltes Haar und seine kräftigen Hände. Alles an ihm gefiel ihr, besonders aber seine Zuverlässigkeit und Ruhe. Er war ein Fels, auf den man bauen konnte. Zärtlich zeichnete sie mit dem Finger sein markant geschnittenes Profil nach. Das kräftige Kinn und die etwas gebogene Nase passten zu dem derben Knochenbau seines Körpers. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war er ein Mann, der den Frauen gefiel. Doch Corinna wusste, dass er nie eine andere Frau außer ihr angeschaut hatte. Und dieses Wissen machte sie unendlich glücklich.

*

Die Panik, die nach dem Ausbruch von Bärbels Krankheit auf Sophienlust herrschte, war berechtigt. Das Mädchen hatte noch zwei weitere Kinder angesteckt. Doch bei den übrigen waren zum Glück keinerlei Anzeichen einer Erkrankung zu entdecken.

Angesteckt worden waren die beiden Mädchen, die am meisten mit Bärbel gespielt hatten. Das waren Vicky und die dreijährige Heidi. Letztere hatte das besondere Mitgefühl der Kinder von Sophienlust. Nicht nur, weil sie der Liebling aller war, sondern auch, weil sie die Jüngste war.

Frau Dr. Frey hatte alle Mädchen sofort isolieren lassen. Sie lagen nun in dem großen Zimmer bei Bärbel.

Mit einer gewissen Scheu machten sämtliche Kinder um die Isolierstation einen großen Bogen. Denise und Frau Rennert hatten ihnen eingeschärft, wie gefährlich es sei, mit den Kranken in Berührung zu kommen. Nur durch die vergitterten Fenster des ebenerdigen Zimmers durften die anderen Kinder mit den Kranken sprechen. Doch das war vorerst noch nicht möglich, da die drei Patientinnen das Bett noch nicht verlassen durften.

Bei Bärbel war die Krankheit am stärksten zum Ausbruch gekommen. Anja untersuchte das Kind fast stündlich und registrierte jede noch so kleine Änderung.

Stefan Frey telefonierte jeden Morgen und jeden Abend mit seiner Frau und diskutierte mit ihr das Krankheitsbild der drei Patientinnen. Bei einem dieser Gespräche schlug er ihr wieder vor, sie in der Pflege der Patienten abzulösen. »Ich sorge mich ernstlich um dich, Anja. Du mutest dir zu viel zu. Es kann Wochen dauern, bis du die Kinder aus der Isolierung entlassen kannst.«

»Ich weiß, Stefan«, antwortete Anja. »Es freut mich auch, dass du dir so viel Gedanken machst. Aber schau, es sind nun mal meine Kinder!« Sie betonte das »meine« besonders. »Deshalb fühle ich mich auch allein für sie verantwortlich. Es muss mir gelingen, die drei durchzubringen. Das musst du doch verstehen, wenn schon nicht als mein Mann, dann als Arzt.«

Dr. Stefan Frey schmunzelte. Anja hatte mit so viel Nachdruck gesprochen. Er konnte sie verstehen, aber er war natürlich in Sorge. »Ich sehe, es gelingt mir nicht, dich umzustimmen«, entgegnete er.

»Aber du verstehst mich doch, nicht wahr?«

Fast ängstlich kam Anjas Stimme durch die Leitung. Jetzt war sie ganz die besorgte Ehefrau.

»Ja, Liebling, ich verstehe dich. Versprich mir wenigstens, dir nicht zu viel zuzumuten.«

Anja versprach es. Und dann vernahm sie neben der tiefen Stimme ihres Mannes eine Kinderstimme am anderen Ende der Leitung. »Mutti?«

»Filzchen!« Anja stiegen plötzlich die Tränen in die Augen. Wie lange hatte sie die Kleine schon nicht mehr gesehen?

»Filzchen, wie geht es dir? Erzähl mir ein bisschen, was du den ganzen Tag tust«, bat sie.

»Mutti, es ist so traurig ohne dich. Wann kommst du wieder nach Hause?«

Anja konnte nicht sofort antworten. Da fuhr Felicitas fort: »Darf ich nicht zu dir kommen, Mutti? Papi hat gesagt, das geht nicht. Aber ich will dich doch nur sehen, Mutti.«

Bei der bettelnden Stimme des Kindes fiel Anja ein Ausweg ein. »Sehen darfst du mich ja, Filzchen. Ich werde zum Fenster hinausschauen, wenn du in den Park von Sophienlust kommst. Einverstanden?«

»O ja, Mutti!« Es klang unendlich erleichtert. »Wann darf ich kommen? Heute noch?«

»Komm heute Nachmittag, ja? Ich werde dann hinausschauen. Dann können wir uns ein bisschen unterhalten.«

Felicitas war selig. »Darf Stoffel auch mitkommen, Mutti?« Sie streichelte das glänzende Fell des Spaniels, der neben ihr stand. Als wüsste der Hund, wer da im Hörer war, gab er einen lauten Bellton von sich. »Siehst du, Mutti, er will auch kommen.«

»Bring ihn nur mit«, gestattete Anja.

Während seine kleine Tochter mit Anja sprach, stand Stefan neben dem Telefon und beobachtete sie. Anja hatte ihn und seine Tochter zu glücklichen Menschen gemacht. Jetzt konnte er sich kaum noch vorstellen, wie verzweifelt und unglücklich er noch vor einem Jahr als gelähmter Mann gewesen war. Er hatte nicht mehr an eine neue Zukunft und schon gar nicht an ein neues Glück geglaubt. Aber Anja hatte ihn mehr oder weniger dazu gezwungen. So, wie sie sich jetzt für ihre kranken Kinder aufopferte, genauso hatte sie sich damals für ihn und seine kleine Tochter eingesetzt.

Da legte Felicitas den Hörer auf die Gabel zurück und fiel ihrem Vati um den Hals. »Ich darf heute Nachmittag Mutti besuchen, und Stoffel darf auch mitkommen. Kommst du auch mit, Papi?«

»Du weißt doch, dass ich heute Nachmittag Sprechstunde habe, Filzchen«, erinnerte er sie nachsichtig.

»Ach ja, schade. Gehe ich eben allein.«

»Ich werde dich hinbringen und nach der Sprechstunde wieder abholen.«

»Ich darf also den ganzen Nachmittag in Sophienlust bleiben?«, fragte Felicitas mit leuchtenden Augen, denn sie spielte gern mit den Kindern. Stefan Frey nickte lächelnd. Anja Frey aber saß nach dem Anruf ihres Mannes einige Minuten regungslos da. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Züge. Sie fand, es war richtig gewesen, dass sie sich damals so sehr um Stefan und sein Kind bemüht hatte. Auch jetzt konnte sie nicht anders, als sich für die kranken Kinder einzusetzen. Es war ihre Pflicht, dazusein, wenn sie gebraucht wurde. Und im Fall ihres Mannes hatte das Schicksal sie für ihren Einsatz reich belohnt.

Anja murmelte leise den Namen ihres Mannes und freute sich auf Felicitas’ Besuch am Nachmittag. Doch dann erhob sie sich, um den Kindern ihre Medizin zu geben.

Anja blieb bei der Gelegenheit einige Zeit an den Betten der Kinder sitzen, um sie aufzumuntern. Entweder erzählte sie ihnen dann kleine Geschichten, oder sie spielte mit ihnen. Dabei war Vicky ihr eine große Hilfe. Verglichen mit den beiden kleineren Mädchen ging es ihr am besten. Sie konnte sogar jeden Tag für einige Minuten aufstehen, um sich selbst zu waschen. Und wenn Anja gerade keine Zeit hatte, sich mit den Kranken zu beschäftigen, las Vicky den anderen Patientinnen Geschichten vor oder lenkte sie mit einfachen kleinen Spielen ab.

Eines Nachmittags fragte Bärbel nach ihrer Mutti. »Wo ist sie, Vicky? Warum besucht sie mich nicht?«

»Aber deine Mutti darf dich nicht besuchen, Bärbel. Niemand darf uns besuchen«, erklärte Vicky. Ihr ging es

an diesem Tag schlechter als an den vorangegangenen Tagen. Ein dröhnender Schmerz schien ihren Kopf zu sprengen, und der Nacken tat ihr bei jeder Bewegung weh.Trotzdem beklagte sie sich nicht bei Anja, weil sie erkannte, dass die beiden jüngeren Mädchen noch schlechter dran waren.

Als Anja ins Zimmer trat, richtete Bärbel ihre fiebrigen Augen bittend auf sie. »Warum darf meine Mutti mich nicht besuchen, Tante Doktor?«

Die Frage überrumpelte Anja einigermaßen. Doch sie ließ sich nichts anmerken. »Weil deine Krankheit ansteckend ist, Bärbelchen. Du willst doch nicht, dass deine Mutti auch krank wird, oder? Sie soll doch gesund bleiben, damit sie dich pflegen kann, wenn es dir ein bisschen besser geht.«

»Darf ich dann zu ihr, wenn es mir ein bisschen besser geht?«

Anja zögerte keine Sekunde mit der Antwort. »Aber natürlich darfst du das, Bärbelchen. Du musst nur noch ein bisschen Geduld haben, ja?«

Ergeben nickte die kleine Bärbel. »Wie lange noch?«, fragte sie kläglich.

»Nicht mehr so lange, mein Liebes.«

Unter Anjas fürsorglicher Zärtlichkeit vergaß Bärbel die Sehnsucht nach ihrer Mutti und schloss beruhigt wieder die Augen. Doch die Schmerzen und der Druck im Kopf ließen sie nicht lange schlafen. Als sie die Augen wieder aufschlug, begegnete sie Vickys fieberndem Blick.

»Mir tut der Kopf so weh, Vicky«, flüsterte sie mit trockenen Lippen.

»Ich weiß«, meinte die ältere Vicky verständnisvoll. »Ich habe auch die meiste Zeit Kopfweh. Soll ich Tante Doktor bitten, dir eine Tablette zu geben?«

Doch Bärbel lag schon wieder apathisch in ihrem Bettchen und gab darauf keine Antwort. »Erzähl mir lieber eine Geschichte, Vicky«, bat sie nach einer Weile leise.

Anja hatte gerade wieder das Zimmer betreten.

»Ich werde euch ein Märchen erzählen«, schlug sie vor und setzte sich zu Vicky ans Bett.

Aufmerksam lauschten die drei kranken Kinder nun Anjas Stimme und vergaßen dabei für kurze Zeit ihre Schmerzen.

Wenn wir nur schon wieder gesund wären und draußen mit den anderen Kindern spielen könnten, dachte Vicky sehnsüchtig. Die kleine Heidi aber war bei ihren Wünschen so bescheiden, dass sie sich nur die Schmerzen wegwünschte. Zum Glück schlief sie sehr viel. Auch jetzt nickte sie bereits wieder ein, noch bevor Anja ihr Märchen beendet hatte.

Leise erhob sich die Ärztin und zog die Bettdecke, die von Heidis Körper gerutscht war, wieder hoch. »Schlaft ein wenig«, sagte sie leise zu Vicky und Bärbel.

Schon mit halb geschlossenen Augen nickten die beiden.

Als Anja ihr eigenes Zimmer betrat, vernahm sie vor dem geöffneten, aber vergitterten Fenster Kinderstimmen. Es waren Nick und Pünktchen.

»Wir wollten Sie nur mal besuchen«, entschuldigte sich Nick. »Wir dachten, dass es Ihnen so ganz allein vielleicht langweilig wird.«

Anja war gerührt. »Das ist wirklich lieb von euch«, sagte sie warm.

»Wir haben Ihnen ein paar selbstgeschnittene Blümchen aufs Fensterbrett gelegt«, sagte Pünktchen und deutete auf einen kleinen Strauß, der außerhalb des Gitters lag.

Anja entdeckte ein reizend arrangiertes kleines Sträußchen und griff danach. »Wie schön! Ich danke euch. Das wird mich in den langen Stunden an meinem Schreibtisch erheitern. Ich stelle die Blumen gleich ins Wasser.«

»Wir haben Mutti vorher gefragt, ob wir das auch dürfen«, erklärte Nick. »Sie hat gesagt, solange wir mit keiner der isolierten Personen in körperlichen Kontakt kommen, kann nichts passieren.« Er schaute Anja fragend an, und sie bestätigte die Worte seiner Mutter.

»Dürfen Heidi, Bärbel und Vicky noch nicht aufstehen?«, erkundigte sich Pünktchen und blickte hinüber zu dem anderen Fenster, aus dem kein Laut drang.

Anja schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Pünktchen. Dazu sind sie noch zu schwach. Aber in einer Woche geht es ihnen hoffentlich schon besser.«

»Wir haben uns schon einige Spiele ausgedacht, die man auch durchs Fenster spielen kann«, berichtete Pünktchen eifrig.

»Glauben Sie, dass die drei sich darüber freuen werden?«

»Ganz bestimmt«, versicherte Anja. »Sie langweilen sich ja jetzt schon. Je besser es ihnen geht, umso mehr werden sie unter der Langeweile leiden.« Dabei hoffte sie mit der ganzen Kraft ihres Glaubens, die drei Kinder durchzubringen. Sie wusste nur zu gut, dass die Krise noch nicht überstanden war.

Pünktchen und Nick erzählten noch einige Neuigkeiten von Sophienlust und ein bisschen Klatsch aus dem Dorf, dann verabschiedeten sie sich wieder. Vorher bestellten sie jedoch noch liebe Grüße an die drei kranken Mädchen.

An diesem Nachmittag kam auch Felicitas mit ihrem Hund Stoffel. Denise, die im Dorf zu tun gehabt hatte, war beim Dokorhaus vorbeigefahren und hatte Felicitas mitgenommen.

Mit strahlenden Augen und einer Tüte Bonbons in der Hand stand das kleine Mädchen auf einmal vor dem Fenster. »Mutti!«

Anja, die gerade sehnsüchtig in den sonnengebadeten Park hinausgeblickt hatte, glaubte ihren Augen nicht zu trauen. »Filzchen! Filzchen, mein Liebling! Wo kommst denn du auf einmal her?«

Das Mädchen strahlte, weil ihr die Überraschung gelungen war. Auch der Spaniel begann freudig zu bellen.

»Pst, Stoffel, nicht so laut«, mahnte Anja. »Die drei Patienten halten gerade Mittagsschlaf.«

»Tante Isi hat mich mitgebracht, Mutti«, berichtete Felicitas.

»Das ist wirklich eine schöne Überraschung«, freute sich Anja. Sie musste die brennende Sehnsucht, ihre kleine Tochter in die Arme zu schließen, gewaltsam unterdrücken. Da stand sie, das kleine Mädchen, nur einige Meter von ihr entfernt. Und doch konnten sie nicht zusammenkommen. Doch Anja freute sich auch schon über Filzchens Anblick. »Wie geht es dir denn, mein Liebes? Ißt du auch genügend?« Sie hatte den Eindruck, dass das Kind ein wenig schmaler geworden war.

Doch Filzchen nickte eifrig. »Ich esse immer, Mutti. Tante Elise kocht uns

jeden Tag leckere Sachen. Auch Papi

ißt viel, und Stoffel auch.« Sie hüpfte glücklich auf der Stelle.

Anja musste lächeln. »Das freut mich.«

»Hier habe ich eine Tüte Bonbons für die kranken Kinder mitgebracht, Mutti.« Felicitas streckte die Tüte zum Fenster hinauf. »Ich habe sie von meinem Sparschwein gekauft«, fügte sie stolz hinzu.

»Das ist aber wirklich lieb von dir, Filzchen. Da werden sich die armen kranken Häschen bestimmt sehr freuen.« Anja verschwieg, dass die Kranken noch gar keine Süßigkeiten essen durften, um das freudige Gefühl des Schenkens bei ihrer Tochter nicht zu zerstören.

Nach einer halben Stunde sagte Filzchen der Mutti auf Wiedersehen. Dabei vergaß sie nicht, viele liebe Grüße an Bärbel, Heidi und Vicky auszurichten.

Anja machte den Abschied kurz, weil sie bereits eine Träne in Filzchens Augenwinkeln glitzern sah. »Du darfst hierher zum Fenster kommen, sooft du willst«, versprach sie. Doch als Filzchen dann hinter ihrem Stoffel davonsprang, musste sie sich doch abwenden und die Nase putzen.

In der gleichen Nacht verschlechterte sich Bärbels Zustand. Es kam zu einer Krise. Das Fieber stieg und quälte das Kind mit Phantasien und Träumen.

Anja wich nicht von Bärbels Bett. Wenn das Kind nach seiner Mutti rief, nahm Anja die heißen, kleinen Finger in ihre Hände und redete begütigend auf Bärbel ein. Obwohl sie nicht bei sich war, also auch keines der beruhigenden Worte verstehen konnte, die Anja ihr zuflüsterte, tröstete sie doch der Klang der vertrauten Stimme genauso, wie die Gegenwart der Mutter sie getröstet hätte.

Das unruhige Stöhnen und Weinen riss auch Heidi und Vicky aus ihrem Schlaf, sodass Anja ihnen ein leichtes Beruhigungs- und Schlafmittel geben musste. Bei Bärbel prüfte sie jede Stunde Puls und Temperatur und wusch ihr heißes Gesicht und ihre verschwitzten Ärmchen mit einer extra dafür vorbereiteten medizinischen Lösung. Das verschaffte dem Kind jedes Mal für kurze Zeit Erleichterung.

Die Mittel, die Anja dem Kind einflößte, durften nicht zu stark sein. Sie hatte die Dosierung mit den Ärzten des Maibacher Krankenhauses genau abgesprochen. Deshalb wagte sie es auch jetzt, in den gefährlichen Krisenstunden, nicht, die Dosierung zu erhöhen. Es hätte den Tod des Kindes bedeuten können. Wie jeder gute Arzt wusste Anja, dass der geschwächte Körper den Kampf gegen die heimtückischen Krankheitserreger selbst ausfechten musste. Man konnte den geschwächten Organismus des Kindes nur hilfreich unterstützen.

Es war eine furchtbare Nacht, voller Angst und Zittern. Stunde um Stunde saß die Ärztin am Bett des schwerkranken Kindes und hoffte und betete. Mehr als einmal war sie nahe daran, ihren Mann anzurufen, um von ihm durchs Telefon seelischen Beistand zu erhalten. Doch sie überwand diese Schwäche jedes Mal wieder, weil sie genau wusste, wie sehr sie Stefan damit ängstigen würde.

Als Bärbel im Morgengrauen in einen etwas ruhigeren Schlummer fiel, spürte Anja die Müdigkeit und die nervliche Anspannung wie Blei in ihren Gliedern. Das Bangen und Zittern und die Angst hatten sie völlig ausgelaugt. Sie wollte aufstehen, um sich in ihrem Zimmer aufs Bett zu legen, doch das gelang ihr nicht mehr. Sie schlief an Bärbels Bett auf dem harten Stuhl ein.

Als der erste Sonnenstrahl ins Zimmer lugte, erwachte Anja steif und gerädert. Es gelang ihr kaum, sich zu erheben. Prüfend wanderte ihr Blick über die drei Krankenbetten.

Vicky und Heidi schliefen ruhig. Auch Bärbel schlief jetzt. Doch ihr Atem ging kurz und stoßweise. Sie stöhnte leise. Doch sie schlief wenigstens. Schon allein für diese Tatsache war Anja dankbar. Der Schlaf würde Bärbels geschwächtem Körper ein klein wenig Kraft geben.

Lautlos verließ die Ärztin das Krankenzimmer, ließ jedoch die Tür einen Spalt offen, um es sofort zu hören, wenn eines der Kinder nach ihr rufen sollte.

Was sie immer wieder erneut ängstigte, war die Tatsache, dass Bärbels Fieber nicht sinken wollte. Mit brennenden Augen starrte ihr die Kleine entgegen, als sie später wieder an ihr Bett trat. »Hast du heute wieder mehr Schmerzen, Bärbelchen?«, fragte sie.

Das Kind nickte gequält. »Alles tut weh, Tante Doktor«, flüsterte Bärbel mit heiserer Stimme und wollte den Kopf heben.

Doch Anja drückte sie behutsam in die Kissen zurück. »Bleib liegen, Kindchen, du darfst dich nicht anstrengen.« Sie schob ganz vorsichtig ihre Hand hinter Bärbels Kopf und hob ihn ein wenig an, um der Kleinen die Tropfen einzuflößen. Dabei spürte sie, wie ihr selbst der Schweiß ausbrach. Aber nicht von der körperlichen Anstrengung, sondern infolge der seelischen Belastung. Obwohl sie Ärztin, also Leiden gewohnt war, schmerzte es sie, ein hilfloses Kind leiden zu sehen. Die kleine Bärbel war ein so liebes, geduldiges Mädchen. Tausendmal lieber hätte Anja die Schmerzen der Kleinen selbst auf sich genommen, als so ohnmächtig neben dem Bett gestanden und abgewartet, ob die heimtückische Krankheit nachließ oder nicht.

In den vielen Nachtstunden, die Anja Frey noch im Zimmer der drei Kranken wachte, als die Krankheit ihren Höhepunkt erreichte, erkannte sie eines: die Ohnmacht der Ärzte. Trotz aller Erkenntnisse der Wissenschaft und aller Errungenschaft der Technik gab es Dinge, die der Mensch nicht beeinflussen konnte.

In diesen hilflosen Augenblicken begann Anja Frey heimlich zu beten. Niemand ahnte es, und sie hätte es auch nicht zugegeben, dass sie als Ärztin den lieben Gott anflehte, ihre Kinder wieder gesund zu machen.

Nachdem Bärbel ihre Tropfen geschluckt hatte, blieb Anja am Bett des Kindes sitzen, bis die Kleine in einen unruhigen Schlummer fiel.

Bei den beiden anderen Patientinnen war die Krankheit nicht so stark zum Ausbruch gekommen wie bei Bärbel. Sie waren bereits in der Lage, ihre Tropfen selbst zu nehmen. Trotzdem ließ Anja Frey in ihrer Aufmerksamkeit nicht nach. Gestern noch hatte sie Denise gegenüber am Telefon behauptet, dass sie die drei Kinder durchbringen würde. Doch heute hatte sich Bärbels Zustand wieder etwas verschlechtert. Sobald die drei Kinder schliefen, ließ sich Anja telefonisch mit dem Chefarzt des Maibacher Krankenhauses verbinden. Da er mit seinem Ärzteteam gerade bei der Visite war, musste Anja geraume Zeit warten, bis sie mit ihm sprechen konnte. Sie schilderte ihm Bärbels Zustand, die genaue Dosierung der Medikamente, die sie dem Kind gab, und das stets gleichbleibende Fieber.

Doch der erfahrene Chefarzt beruhigte seine junge Kollegin. »Das Fieber des Kindes wird sich meiner Vermutung nach noch einige Tage auf der gleichen Höhe halten«, stellte er fest. »Aber das ist eigentlich kein Grund zur Beunruhigung. So eigenartig es klingen mag, es ist trotzdem ein Zeichen dafür, dass die Krankheit normal verläuft und ganz allmählich eine Besserung eintritt.« Dann beschrieb er Anja noch den Verlauf der gleichen Krankheit bei Patienten in seinem Krankenhaus.

Beruhigt verabschiedete sich die Ärztin schließlich von ihrem erfahreneren Kollegen.

Bevor sie sich an den Schreibtisch setzte, um die Krankheitsaufzeichnungen zu vervollständigen, schaute sie noch einmal in das Krankenzimmer. Aber die drei Kinder schliefen friedlich. Mit einem erleichterten Lächeln schloss Anja behutsam die Tür und ging zurück zu ihrem Arbeitstisch.

*

Vierzehn Tage waren Corinna und Jochen nun schon unterwegs. Vierzehn wunderschöne, vom Glück verzauberte Tage. Jeder neue Morgen, jeder Sonnenstrahl erschien ihnen wie ein Geschenk, weil sie dies alles gemeinsam erleben durften. Jeden Morgen waren sie zu neuen Touren aufgebrochen, hatten sonnendurchglühte Mittagsstunden in trauter Zweisamkeit auf blühenden Almwiesen oder hoch oben im schroffen Felsgestein verbracht. Fast nie waren ihnen Menschen begegnet. Sie hatten das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Und in dieser Einsamkeit, inmitten der stummen, steinernen Zeugen, lernten sie einander so gründlich kennen, dass sie glaubten, schon ein Leben lang zusammenzugehören.

An einem heißen Mittag beendeten die beiden eine schöne, aber anstrengende Tour. Sie waren schon um vier Uhr früh aufgebrochen, um die kühlen Morgenstunden zu nutzen. Jetzt saßen sie am Ende eines steilen Felskars an eine Felswand gelehnt und hielten Mittagsrast.

Lautlos huschte ein schwarzer Schatten über sie hinweg. »Ein Adler«, flüsterte Jochen, und Corinna hob neugierig den Kopf. Aber so lautlos, wie er gekommen war, verschwand der seltene und stolze Vogel wieder.

Corinna schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an Jochens Schulter. Ganz von fern tönte das Läuten der Kirchenglocken zu ihnen herauf. »Im Dorf läutet es zu Mittag«, sagte Corinna.

Jochen nickte träge. »Aber wir sind hier oben allein. Allein auf der Welt.«

Damit hatte er ausgesprochen, was Corinna fühlte. Sie tastete nach seiner Hand. »Ich möchte dir für etwas danken, Jochen. Für deine Geduld und für dein Verständnis. Ich verstehe heute nicht mehr, warum ich meinem Glück so lange aus dem Weg ging. Aber ohne deine Geduld wären wir wahrscheinlich nie so glücklich geworden, wie wir es heute sind.«

Er hauchte ihr einen unendlich zarten Kuss auf die Wange. »Das Wichtigste ist, dass wir einander gefunden haben.«

Als die Sonne ihr schattiges Fleckchen erreichte, löste sich Corinna aus Jochens Armen und stand auf. »Bist du nicht hungrig?«

»Aber ja, und wie«, bestätigte er, denn sie hatten seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen.

Corinna öffnete den Rucksack und breitete eine karierte Leinendecke auf dem glatten Felsblock aus, den sie als Tisch benutzten. Darauf stellte sie eine Thermosflasche mit Tee und all den Proviant, den sie auf ihren Bergtouren immer mit sich führten. Es war eine einfache Mahlzeit, die sie einnahmen, aber sie schmeckte ihnen besser als das großartigste Menü.

Nach dem Essen ruhten sie ein wenig, den Rücken an den sonnenwarmen Felsen gelehnt und den frischen Duft der Almwiesen, der zu ihnen heraufwehte, einatmend. Corinna spürte noch, wie ihr Kopf zur Seite sank. Dann nickte sie ein in dem beglückenden Bewusstsein, den geliebten Mann an ihrer Seite zu wissen.

Der Schrei einer Dohle weckte sie nach zwanzig Minuten. Sie wandte den Kopf und betrachtete Jochens im Schlaf entspanntes Profil. Wie beruhigend seine Züge wirkten! Es war ein schöner Gedanke, sich die Zukunft an seiner Seite auszumalen. Auch Bärbel würde sich freuen, wieder einen Vati zu bekommen. Sie hing ohnehin mit abgöttischer Liebe an Jochen.

Plötzlich, als habe er ihren Blick gespürt, öffnete Jochen die Augen. Ein heller Funke sprang in seinen Augen auf, als er die Arme nach ihr ausstreckte und sie an sich zog. »Liebes«, murmelte er und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Wie sehen unsere Pläne für den Nachmittag aus?«, fragte er nach einer Weile, als Corinna sich wieder aus seinen Armen löste.

»Ich möchte in Sophienlust anrufen, um zu erfahren, wie es Bärbel geht.« Diese Bitte hatte Corinna in den vergangenen Tagen schon des öfteren geäußert. Nur waren sie nie in die Nähe eines größeren Ortes gekommen, von dem aus das Telefonieren möglich gewesen wäre.

Jochen wusste, dass sich Corinna um Bärbel sorgte und dass sie erst dann wieder ruhig werden würde, wenn sie erfahren hatte, dass es dem Kind gut ging. Deshalb war er ebenfalls dafür, dass sie in Sophienlust anrief. »Wenn wir jetzt absteigen, sind wir in ein bis zwei Stunden bei unserem Wagen und können zu dem nächsten größeren Ort fahren, um anzurufen«, schlug er vor.

Sie dankte ihm mit einem zärtlichen Blick. »Lieb von dir.«

Der Weg ins Tal führte durch saftige Wiesen und kleinere Waldstücke. Er war sehr angenehm zu gehen. Schneller als erwartet kamen sie ins Tal und zu ihrem Wagen. Der Weg in den nächsten Ort betrug nur eine Viertelstunde Fahrzeit.

Jochen begleitete Corinna in das Postamt und stand neben ihr, als sie das Ferngespräch nach Sophienlust anmeldete. Mit einem erwartungsvollen Lächeln sah er sie in die altmodische Telefonzelle gehen und den Hörer abheben. Während der ersten Worte umspielte noch immer das Lächeln ihre Züge. Doch plötzlich verkrampfte sich Corinnas Hand im Aufschlag ihrer Bluse. Von einer Sekunde zur anderen verfiel ihr Gesicht. Der fröhliche Ausdruck wich einem verzerrten Schmerz.

»Krank? Meine Bärbel ist krank?«, rief Corinna mit angstvoller Stimme in den Hörer. Sie hörte die Bestätigung der Heimleiterin, wusste aber immer noch nicht, um welche Krankheit es sich handelte. »Ist es eine Erkältung, Husten oder Schnupfen?« Ihre Stimme war fast ein Flehen. Aber noch bevor sie eine Antwort erhielt, kam Denise von Schoenecker selbst an den Apparat.

Sehr behutsam und vorsichtig machte sie Corinna klar, dass die kleine Bärbel nicht an einem Husten oder Schnupfen, sondern an einer sehr schweren Krankheit litt.

Corinna hatte das Gefühl, alles Blut ströme ihr aus ihrem Herzen. Ihre Knie wurden weich, doch sie wollte jetzt nicht schlappmachen. Sie musste erfahren, was Bärbel fehlte. »Bitte, Frau Schoenecker, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was meiner Bärbel fehlt. Ich bin völlig gefasst«, erklärte sie.

Trotz dieser Beteuerung zitterte ihre Stimme hörbar. Denise hörte es, doch sie fühlte sich verpflichtet, Corinna die ganze Wahrheit zu sagen. Deshalb sprach sie das furchtbare Wort Hirnhautentzündung aus, das Corinna wie ein Blitzschlag traf. Mehr Unheil hätte ein Blitz aus heiterem Himmel auch nicht anrichten können.

Der Hörer glitt aus Corinnas Hand. Sie selbst konnte sich gerade noch an der Wand stützen, sonst wäre sie zu Boden gesunken.

Jochen war sofort an ihrer Seite in der Telefonzelle. Er nahm den Hörer und wollte selbst mit Denise von

Schoenecker sprechen, doch Corinna hatte sich bereits so weit gefangen, dass sie das Gespräch beenden konnte. »Ich fahre augenblicklich zurück nach Sophienlust«, sagte sie.

»Es hat keinen Zweck, dass Sie Ihren Urlaub vorzeitig abbrechen, Frau Saller«, versuchte Denise der jungen Frau klarzumachen. »Sie dürfen Bärbel ohnehin nicht sehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Ihr Kind die Krise bereits überstanden hat und wieder gesund wird.«

Sie wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, Corinna in ihrem Leid der Ungewissheit zu überlassen.

»Ich muss sie sehen, ich muss zurückkommen!« Corinna war keinem vernünftigen Argument mehr zugänglich.

»Sie dürfen Bärbel nicht sehen!«, rief Denise mit Nachdruck in den Hörer. »Bärbel ist isoliert und muss es noch eine Woche lang bleiben. Es hat also gar keinen Zweck, dass Sie früher zurückkommen, Frau Saller. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ihrem Kind geht es bereits wieder gut.«

Doch diese Versicherung nahm Corinna schon nicht mehr wahr. Sie verabschiedete sich hastig von Denise und legte auf. Wie eine Schlafwandlerin taumelte sie aus der Zelle. Als Jochen sie stützen und ihr ein paar tröstende Worte sagen wollte, stieß sie ihn abrupt von sich. »Lass mich!«

Er schaute die geliebte Frau hilflos an. »Corinna, Liebes, es … es tut mir so unendlich leid. Aber du hast ja gehört, dass Frau von Schoenecker bestätigt hat, Bärbel habe das Schlimmste bereits überstanden.«

»Hör auf!«, fuhr sie ihn an. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Finger ineinander verschlingen musste, um sie einigermaßen stillhalten zu können.

Jochen wollte ihre Hand ergreifen, doch sie wandte sich brutal von ihm ab. Hass glitzerte in ihren Augen und traf ihn wie ein Schlag. »Aber … aber Corinna …« Mehr konnte er nicht sagen. Nur in seinen Augen stand noch immer die stumme Versicherung seiner Liebe zu ihr. Er machte eine Geste, als wollte er sich entschuldigen, als wollte er sagen, ich bin doch nicht schuld an der Krankheit deines Kindes.

Doch Corinna blickte ihn einen Moment lang verächtlich an, einen Moment, in dem ihn ihre Blicke wie versengende Blitze trafen. Dann wandte sie sich ab und lief auf die Straße hinaus zum Wagen.

Jochen folgte ihr hilflos und verwirrt. Was hatte sie nur? Der Schmerz musste ihre Sinne verwirrt haben.

Er trat zum Wagen und öffnete für sie die Tür zum Beifahrersitz. Dann ging er um den Wagen herum und setzte sich hinter das Steuer. Er startete jedoch nicht, sondern blieb einige Minuten still sitzen.

Corinna blickte starr geradeaus. Kein Leben schien mehr in ihr zu sein. Nur über ihre Wange lief eine einzelne Träne. Diese Träne, das Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit und Schwäche, nahm sich eigenartig auf dem zur Maske erstarrten Gesicht aus.

Jochen holte sein Taschentuch hervor und wollte ihr behutsam die Träne vom Gesicht tupfen. Doch Corinna stieß seine Hand weg. Nun begann sie zu sprechen.

Aber ihre Worte waren an niemand gerichtet. Es war ein abgehacktes, von trockenen Schluchzern unterbrochenes Selbstgespräch.

»Schämen sollte ich mich! Während mein Kind todkrank ist, vergnüge ich mich hier. Das ist jetzt die Strafe dafür! Ich bin eine schlechte Mutter … Nein, überhaupt keine Mutter. Sonst hätte ich an mein Kind und nicht nur an mich selbst gedacht.«

»Mach dir doch keine Vorwürfe«, bat Jochen demütig. Es schmerzte ihn, sie so leiden zu sehen.

»Lass mich in Ruhe«, fuhr sie ihn an. »Du hast mich zu diesem Urlaub verleitet. Du bist schuld daran. Warum habe ich nur auf dich gehört?« Sie schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht.

Jochen fuhr zurück, als habe ihn eine Natter gebissen. Ihre Vorwürfe trafen ihn unvorbereitet und waren nicht berechtigt. »Du weißt nicht, was du sagst«, murmelte er. »Das kannst du nicht meinen …«

»Doch, das meine ich so! Dir ist es doch egal, was mit meinem Kind geschieht. Dir geht es nur um dein Vergnügen!«

Diese Worte trafen ihn wie Keulenschläge. Er warf ihr einen letzten bittenden Blick zu. Doch als er sah, dass in ihren Augen noch immer Hass loderte, wandte er sich verletzt ab. Dann startete er den Motor und fuhr langsam in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Ich will sofort nach Sophienlust«, verlangte Corinna trotzig.

»Wir haben das ganze Gepäck noch in unserer Hütte«, sagte er mit frostiger Stimme, der man anhörte, dass er litt.

»In der Hütte?«

»Ja«, erklärte er geduldig, als spräche er zu einem Kind. Doch die Wärme war nun aus seiner Stimme verschwunden. Er war eben auch nur ein Mensch, dessen Stolz empfindlich verletzt worden war. »Wir müssen noch einmal zu unserer Hütte aufsteigen, bevor wir nach Sophienlust fahren. Schließlich können wir unser Gepäck nicht einfach hier zurücklassen.«

Sie gab keine Antwort. Jochen deutete es als Zeichen, dass sie einverstanden war. Er schaltete in einen höheren Gang und fuhr etwas schneller. Bald erreichten sie den kleinen Ort, hinter dem der Aufstieg zu der Hütte begann. Jochen parkte seinen Wagen wieder an der gleichen Stelle wie zuvor. Er wollte Corinna beim Aussteigen helfen, doch sie sprang schnell aus dem Wagen und holte wortlos ihren kleinen Rucksack vom Rücksitz.

Es ging bereits auf den Abend zu, als sie ihren Aufstieg begannen. Schweigend folgten sie dem anfangs nur leicht ansteigenden Pfad. Jochen ging voraus, Corinna mit verbissenem Gesicht hinter ihm. Als er sich einmal umdrehte, um sie zu fragen, ob sie auch mitkäme, nickte sie nur.

Tiefrot versank die Sonne hinter den Bergkuppen und tauchte die schweigende steinerne Welt ringsum in ein unwirkliches Licht. Der Anblick dieses Naturschauspiels war so schön, dass er Corinna den Schmerz um Bärbel noch intensiver zu Bewusstsein brachte. Sie hätte schreien mögen. Wie konnte es hier so friedlich und schön sein, wo es zur gleichen Zeit an anderen Orten so unsäglichen Schmerz gab? Wie gern hätte sie sich an dem Sonnenuntergang erfreut, wenn sie ihr Kind gesund und in Sicherheit gewusst hätte.

Ein warnender Laut von Jochen ließ sie zusammenfahren. »Pass auf! Du

bist vom Weg abgekommen!«, rief er ihr zu. Er war bereits fünfzehn Meter vor ihr.

Corinna erkannte, dass sie an einer Gabelung einem schmalen Wiesenpfad gefolgt war, der zu einem Abgrund führte. Sie sprang über die Wiesen, deren Gras hier schon spärlicher wurde und sich allmählich mit Geröll vermischte.

»In Ordnung, gehen wir weiter«, sagte sie, sobald sie wieder an Jochens Seite war. Ihr Ton war kühl und unpersönlich. Kein Wort des Dankes kam über ihre Lippen.

Gequält wandte er sich ab und stieg weiter. Die Stille der Bergeinsamkeit, die er sonst so liebte, lastete jetzt schwer auf ihm. Warum war sie nur so ungerecht? Sie wusste doch, dass er für sie und ihr Kind nur das Beste wollte. Er begriff überhaupt nicht die Verwandlung, die mit ihr vorgegangen war.

Es begann schon zu dämmern, als sie die Hütte erreichten. »Ihre« Hütte, wie sie sie in den vergangenen Tagen immer zärtlich genannt hatten. Hier hatten sie zueinandergefunden und sich Liebe und Treue versprochen. Und nun benahmen sie sich wie zwei Fremde, die einander nichts zu sagen hatten.

Jochen holte den mitgebrachten Proviant aus dem Rucksack. »Richtest du ein kleines Abendessen, Corinna?« Seine Stimme hatte einen fast demütigen Klang.

Doch Corinna nickte nur in abweisendem Hochmut. »Natürlich«, antwortete sie knapp. Aber als er ihr mit einigen Handgriffen helfen wollte, bat sie ihn, das bleibenzulassen.

Corinna benahm sich, als verüble sie ihm seine Gegenwart, als sei er ihr lästig. Er spürte, wie alles in ihm sich verkrampfte. Plötzlich kam sie ihm wie eine Fremde vor. Das war doch nicht mehr seine Corinna, die warmherzige, verständnisvolle Frau, die ihn noch vor einigen Tagen gebeten hatte, sie nie allein zu lassen, weil sie ihn brauchte. Spürte sie denn nicht, wie weh sie ihm tat?

Gekränkt und verletzt wandte er sich ab und setzte sich auf die Eckbank. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf in die Hände vergraben, so wartete er, bis Corinna das Abendessen auf den Tisch stellte.

Sie selbst rührte fast nichts davon an. Auch Jochen verging der Appetit nach einigen Bissen. Er sah ihr zu, wie sie die Teller wieder abräumte, den Proviant im Rucksack verstaute und die kleine Küche der Hütte in Ordnung brachte.

»Bitte, setz dich zu mir«, bat er, sobald sie mit ihren Arbeiten fertig war und in der Mitte des niederen Raumes stand. Zaghaft streckte er ihr seine Hand entgegen. »Ich weiß, dass du leidest, und versichere dir, dass ich mit dir fühle. Aber bitte, lass uns jetzt einmal vernünftig und sachlich miteinander reden.« Es hatte ihn Überwindung gekostet, trotz ihrer abweisenden Haltung diese Bitte auszusprechen.

»Sachlich?« Sie schaute ihn jetzt voll an. In ihren Augen stand noch immer verletzende Abweisung. »Mein Kind ist todkrank, und du sprichst von Sachlichkeit!« Ihre Stimme verlor nun die Beherrschung. »Was für ein gefühlloser Mensch bist du eigentlich?«

»Mit Vorwürfen und Beleidigungen hilfst du deinem Kind auch nicht!« Er sprach jetzt strenger als beabsichtigt. »Ich weiß, dass Bärbel krank ist, und ich habe genauso viel Angst um sie wie du. Aber ich war es doch nicht, der sie krank gemacht hat, Corinna. Wieso strafst du mich für ihre Krankheit?«

Doch Corinna war keinem vernünftigen Argument zugänglich. In ihre Augen schlich sich wieder jene Mischung aus Hass und Verachtung, die es Jochen unmöglich machte, die Mauer der Abwehr, die sie umgab, zu durchbrechen.

»Nicht du, sondern ich habe Strafe verdient«, hörte er sie in bitterem Tonfall sagen. »Ich habe mich von dir verleiten lassen, in diesen Urlaub zu fahren, statt bei meinem Kind zu bleiben.«

Jochen rang um Fassung. »Bärbel wäre auch krank geworden, wenn du bei ihr geblieben wärst.«

»Nein, das wäre sie nicht«, rief Corinna. »Ich hätte nur bei ihr bleiben müssen, dann wäre das alles nicht passiert. Das ist jetzt die Strafe dafür, dass ich sie allein gelassen habe, dass ich nur an mich gedacht habe. Aber das wird nie wieder geschehen. Künftig werde ich nur noch für mein Kind dasein, wenn es weiterlebt.« Ihre Worte verloren sich in einem Schluchzen.

Jochen stand auf und trat zu ihr. Doch als er die Hand ausstreckte, zuckte sie wie vor einem giftigen Insekt zurück. »Wage es nicht, mich anzurühren. Ich hasse dich!«

Jochen taumelte zurück. Gekränkt, verletzt und gedemütigt sank er auf die Ofenbank. Corinna hastete in den hinteren Teil des Raumes, der als Schlafzimmer diente. Sie kroch in ihren Schlafsack und wühlte das Gesicht in das Kopfpolster.

Jochen wusste nicht, wie lange er reglos auf der Ofenbank sitzen geblieben war. Als er aus seiner Starre erwachte, blinkten ihm durch das Fenster vom nachtdunklen Himmel die aufgegangenen Sterne entgegen. Er blickte sich befremdet um. Schemenhaft erkannte er Corinnas Umrisse unter dem Schlafsack. Wenn er an ihre letzten Worte dachte, zuckte ein brennender Schmerz durch seinen Körper.

Er wollte aufstehen, doch seine Knie gaben nach, sodass er zurück auf die Bank sank. Nein, er konnte jetzt nicht hingehen und sich neben sie in den Schlafsack hüllen, als sei nichts geschehen. Ich werde auf der Ofenbank schlafen, beschloss er.

Da vernahm er aus dem Winkel, in dem die Betten standen, ein leises Schluchzen. Erstaunt horchte er auf. Wenn Corinna fähig war zu weinen, dann konnte sie doch nicht so gefühllos sein, wie er glaubte.

Er erhob sich nun doch und ging zu ihr.

Zusammengerkümmt wie ein kleines Kind lag sie in dem Daunensack. Ihre Schultern wurden von einem lautlosen Weinkrampf geschüttelt.

Ohne ein Wort zu sagen, breitete Jochen seinen Schlafsack auf dem Lager neben ihr aus, schlüpfte hinein und schloss ihn am Hals, denn es wurde empfindlich kalt in der Nacht. Corinnas Weinen wertete er als ein gutes Zeichen. Vielleicht musste man ihre grobe Reaktion dem Schock zuschreiben. Vielleicht würde sie sich am nächsten Morgen wieder beruhigt haben.

*

Anja Frey erwachte von einem leisen klagenden Laut. Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Schon schob sie die nur angelehnte Tür zum Krankenzimmer vollends auf. Das leise Wimmern wiederholte sich. Es kam von Bärbels Bett.

Die Ärztin trat lautlos zu der kleinen Patientin und sah, dass sie schlief. Doch ihre Lippen bewegten sich, und ihre Fingerchen verkrampften sich in der Bettdecke. »Mutti, Mutti, wo bist du?«, stöhnte das Kind und warf sich gequält herum.

Sofort setzte sich Anja auf die Bettkante und ergriff die fiebrigen Hände der Kleinen. Ihre Temperatur musste sich wieder erhöht haben, das merkte Dr. Anja Frey sofort.

Sie strich Bärbel über die Stirn und hoffte, sie würde in einen ruhigeren Schlaf zurückfinden. Doch da öffnete das Kind die Augen. Bei dem schwachen Lichtschein, der von Anjas Nachttischlampe aus dem Nebenzimmer kam, erkannte das Mädchen die sitzende Gestalt an seinem Bett. »Mutti«, flüsterte die Kleine erleichtert. »Liebe Mutti, du bist gekommen.« Ihre Finger tasteten wieder nach Anjas Hand und krallten sich darin fest. »Bleibst du jetzt immer bei mir? Ich … ich hab’ solche Angst …« Ihr schwaches Stimmchen verlor sich wieder, die Augen fielen ihr zu.

Beunruhigt lauschte Anja den Atemzügen der Kleinen. Sie waren unregelmäßig und schwer. Da beschloss die Ärztin, die Nacht am Bett des Kindes zu verbringen.

Sie griff nach der Lehne des Stuhles, der am Fußende des Bettes stand, und stellte ihn lautlos daneben. Dann wachte sie in der Dunkelheit Stunde um Stunde, bis der Morgen graute.

Bärbels Schlaf war unruhig und wurde immer wieder von leisem Stöhnen unterbrochen. Oft tupfte Anja Frey ihr die heiße Stirn ab, ergriff Bärbels Händchen und redete beruhigend auf sie ein. Tatsächlich wurde die Kleine dann, obwohl sie keines der tröstenden Worte verstand, stets ruhiger und fiel wieder in einen leichten Schlummer.

Erst bei Anbruch des Tages wurde der Schlaf des Kindes tief und fest. Aber da erwachten die anderen beiden Patienten. Damit Bärbel in Ruhe weiterschlafen konnte, rollte Anja ihr Bett zu sich ins Zimmer und schloss die Tür.

»Wo ist Bärbel?«, wollten die beiden Mädchen, denen es bereits besser ging, wissen.

»Sie hat heute Nacht nur wenig geschlafen und ist noch sehr müde. Deshalb habe ich sie in mein Zimmer gestellt«, erklärte die Ärztin mit gedämpfter Stimme.

Die beiden Mädchen verstanden und verhielten sich an diesem Vormittag ruhiger als sonst.

Als Bärbel gegen Mittag erwachte, flößte Anja ihr eine stärkende Brühe ein. Ihre Temperatur war nun etwas gesunken.

»Ich habe von meiner Mutti geträumt. Wo ist meine Mutti, Tante Doktor?«, wollte Bärbel wissen.

»Deine Mutti ist doch in Urlaub gefahren. Weißt du das nicht mehr?« Anja hielt es immer noch für das Beste, dem Kind die Wahrheit zu sagen und vernünftig mit ihm zu sprechen.

Die Kleine nickte auch zu den Worten der Ärztin. Doch dann hob sie wieder den Kopf und fragte: »Aber warum lässt sie mich so lange allein?«

Anja spürte Mitleid in sich aufsteigen.

»So lange ist es doch gar nicht. Das kommt dir nur so vor, Bärbelchen. In einer Woche darfst du deine Mutti wiedersehen. Das ist nicht mehr so lange.«

Wiederum nickte das geschwächte Kind mit dem Kopf. Dann schluckte es die Tropfen, die Anja ihm auf einem Löffel hinhielt.

»Möchtest du, dass ich dir eine Geschichte erzähle?«, fragte Anja, während sie Bärbels Bett wieder zurück in das Zimmer zu den anderen beiden Mädchen rollte.

Bärbel nickte nur schwach, während die anderen Kinder in begeistertes Bitten ausbrachen.

Anja Frey, die sich in diesen Tagen manchmal wunderte, woher sie all die Geschichten nahm, dachte sich schnell etwas aus und begann zu erzählen: »Es war einmal ein kleines Mädchen, das große Sehnsucht nach seiner Mutter hatte. Denn die Mutter lebte weit entfernt und konnte nicht zu ihrer Tochter kommen.

Eines Tages kam in das Zimmer des kleinen Mädchens ein kleiner bunter Vogel geflogen. Er hatte keine Scheu vor dem kleinen Mädchen und hüpfte vergnügt in dem Zimmer umher. Doch wenn er sang, musste das kleine Mädchen komischerweise immer nur an seine Mutter denken. Warum nur?

Das kleine Mädchen dachte lange nach. Dann wusste es plötzlich: Die Mutter hatte den kleinen Vogel geschickt, um sie durch ihn zu grüßen. Doch eines Tages würde die Mutter genauso bei ihr sein wie der kleine bunte Vogel.«

Anja Frey hatte ihre Geschichte beendet. Bei den letzten Worten waren Bärbel die Augen zugefallen. Ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen. Die Ärztin war sicher, dass das Kind nun von einem kleinen bunten Vogel träumte, der ihm einen Gruß von der Mutter brachte.

*

Corinna erwachte, als es im Osten bereits grau wurde. Einen Moment lang lag sie regungslos da. Dann überfiel sie wieder die Erinnerung mit all ihrem Schmerz.

Corinna wandte den Kopf zu der Bettstatt hin, die einen halben Meter von ihr entfernt stand. Undeutlich hoben sich Jochens Umrisse unter dem Schlafsack ab. Sie hörte seine gleichmäßigen Atemzüge.

Da öffnete sie vorsichtig den Reißverschluss ihres Schlafsackes und schälte sich aus ihm heraus. Genauso leise schlüpfte sie in ihre Kniebundhose und die Bluse und zog einen Pullover darüber. Als sie fertig angezogen noch einmal zum Bett hinüberschaute, sah sie Jochen in unveränderter Stellung und gleichmäßig atmend in seinem Schlafsack liegen.

Rasch zog sie ihre Bergschuhe an, die im vorderen Teil der Hütte neben der Tür standen. Ebenfalls neben der Tür standen die beiden Rucksäcke mit der Bergsteigerausrüstung. Seile, Haken und alles, was dazu gehörte, waren in den Rucksäcken verstaut.

Corinna nahm ihren Rucksack und hängte ihn sich über die Schulter. Dann öffnete sie die Hüttentür. Sie stand bereits auf der Schwelle, als sie sich zögernd noch einmal umwandte. Jochen hatte sich die ganze Zeit nicht ein einziges Mal bewegt. Doch ihr Zögern dauerte nur wenige Sekunden. Dann wandte sie sich entschlossen ab und schloss bestimmt, aber lautlos, die Hüttentür hinter sich. Eine unwirkliche Stimmung hing über den Bergen. Wie große drohende Schatten ragten sie aus dem unbestimmten grauen Licht empor.

Es war noch immer Nacht. Noch war die Sonne hinter den Bergen nicht aufgegangen. Nur ein unsicheres helles Grau, das ihrem Schein voranging, kündigte die Sonne an.

Ohne sich ein einziges Mal nach der Hütte, in der sie ihr Glück gefunden und wieder verloren hatte, umzudrehen, schritt Corinna auf den Felsen zu. Mit keinem Gedanken gab sie sich Rechenschaft über das ab, was sie tat. Warum hatte sie die Hütte verlassen? Sie wusste es nicht. Sie hatte sich nur auf ihr Gefühl verlassen und das getan, was sie geglaubt hatte, tun zu müssen.

Als die unbestimmte Düsterkeit sich in ein helles Licht verwandelte, hatte Corinna die Wiesen- und Geröllhänge schon weit hinter sich gelassen. Sie begann den schwierigen und gefahrvollen Aufstieg zu einem der steilsten und höchsten Dolomitengipfel. Zur Absturzstelle ihres Mannes.

Corinna hätte nicht sagen können, wann dieser Gedanke in ihr gereift war, ob es in dem Moment des Erwachens, beim Verlassen der Hütte oder erst beim Beginn des Aufstieges gewesen war. Auf jeden Fall war ihr ihr Ziel bewusst geworden, als die ersten Meter des Anstiegs all ihre Kräfte erfordert hatten.

Als ihr Körper sich erwärmt hatte, hielt sie einen Moment inne. Sie zog den schweren Pullover aus und verstaute ihn im Rucksack. Nur einen Moment dachte sie daran, dass für diesen schwierigen Aufstieg eigentlich zwei Personen notwendig waren, die sich gegenseitig am Seil sichern konnten. Aber sie hatte sich vorgenommen, eine Höchstleistung zu vollbringen, denn sie glaubte, nur damit das Schicksal wieder versöhnen zu können.

Als die Sonne dann goldgleißend über den Zacken der Felsen aufging, legte Corinna eine kurze Rast ein, um dieses Naturschauspiel zu beobachten.

Andächtig und fast staunend betrachtete sie die strahlende Helle, in die die Bergwelt nach der langen, düsteren Nacht nun getaucht war. Erst in diesem Moment legte sie sich zum ersten Mal bewusst Rechenschaft über das ab, was sie vorhatte.

Ich bin mit Jochen in Urlaub gefahren, um die Unfallstelle meines Mannes aufzusuchen, sagte sie sich. Aus diesem Grund war es auch gerechtfertigt, dass ich mein Kind allein ließ. Als ich meinem Vorhaben dann untreu wurde, bestrafte mich das Schicksal. Mein Kind wurde krank. Schwer krank. Und nur ich in meiner Treulosigkeit bin schuld daran. Ich bin schuld, wenn mein geliebtes kleines Mädchen vielleicht stirbt.

»Oh, Bärbel!« Corinna schrie den Namen des Kindes in den unberührten Morgen hinein und spürte nicht die Tränen auf ihren Wangen.

Doch so überraschend wie dieser Ausbruch sie überfallen hatte, so schnell fasste sie sich wieder. Ich werde nachholen, was ich versäumt habe, und dann wird Bärbel wieder gesund werden, sagte sie sich. Daran glaubte sie fest. Es gab ihr die Kraft, weiterzusteigen.

Schritt für Schritt setzte Corinna ihren Fuß auf den immer schmaler und gefährlicher werdenden Weg, der plötzlich nur noch aus einzelnen Trittstellen bestand. Spätestens hier hätte sie sich anseilen müssen. Aber es war ja niemand da, der sie hätte absichern können.

»Ich brauche niemand, der mich sichert«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich schaffe es allein!« Sie nutzte all ihre Routine aus und erkämpfte sich Schritt für Schritt das schwierige und manchmal heimtückische Gelände. Die immer wärmer werdende Sonne trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Ihr nur unvollkommen ausgeruhter Körper war einer solchen Strapaze nicht gewachsen. Doch das wollte Corinna nicht wahrhaben.

*

Die Sonnenstrahlen drangen bereits durch das winzige Fenster der Hütte, als Jochen erwachte. Er sah den leeren Schlafsack auf Corinnas Lager und hob den Kopf. Wahrscheinlich hantierte sie in der Küche oder vor der Hütte.

Schnell sprang er aus dem Bett und brachte seinen vom Schlaf steifen Körper mit ein paar Gymnastikübungen in Schwung. Dann trat er, noch in dem Trainingsanzug, in dem er geschlafen hatte, in den vorderen Hüttenteil. Komisch, wie ruhig es war. »Corinna?«, rief er.

Keine Antwort!

Er trat vor die Hütte, aber auch da war Corinna nicht. Nachdenklich setzte er sich auf die Holzbank vor der Hütte.

Grollte sie ihm immer noch? Er spürte, wie die Sonne ihn erwärmte. Nachdenklich blieb er einige Minuten sitzen. Er fand nur eine Antwort auf seine Frage: dass Corinna bereits ins Tal abgestiegen war. Entweder würde sie ihn im Ort erwarten – oder sie war ihm noch immer böse und fuhr mit dem Zug allein nach Sophienlust.

Kopfschüttelnd erhob er sich. Auf jeden Fall würde er ihr so schnell wie möglich folgen.

Schnell und geschickt bereitete er sich in der Küche ein einfaches, aber kräftiges Frühstück zu und zog sich an.

Dann schnallte er die beiden Schlafsäcke auf seinen großen Rucksack, brachte die Hütte wieder in Ordnung, in der sie sie vorgefunden hatten, und verließ sie.

Nicht ohne wehmütige Gefühle nahm er von dem Ort, an dem er so viele Stunden mit Corinna glücklich gewesen war, Abschied.

Sobald die kleine Hütte seinen Blicken entschwunden war, strebte er mit weit ausholenden Schritten dem Tal zu. Er gönnte sich keine Rast mehr, bis er den kleinen Ort erreicht hatte, der tief unten im Kessel lag.

Jochen hatte bereits die ersten Häuser des Dorfes passiert, als ihm eine Menschenansammlung in der Mitte des Dorfplatzes auffiel. Schon wollte er vorübergehen, da bemerkte er, dass die Leute alle zu einem bestimmten Punkt in den Felsten starrten und erregt sprachen. Einige hielten sogar Feldstecher an die Augen.

Verwundert trat Jochen zu ihnen.

Ein alter weißhaariger Mann mit Bart wandte sich an Jochen. »Das ist doch unverantwortlicher Leichtsinn«, schimpfte er, während er sein Fernglas an die Augen hielt und mit der freien Hand hinauf in die Berge deutete.

»Wieso? Was ist denn geschehen?«, fragte Jochen drängend. Er spürte plötzlich einen seltsamen Krampf in der Magengegend.

»Ganz allein diesen gefährlichen Aufstieg zu wagen«, wetterte der alte Mann zusammenhanglos weiter. »Eine Person ganz allein!« Er hatte Jochen an seiner Seite bereits wieder vergessen und starrte erneut durch seinen Feldstecher.

»Es ist eine Frau!«, rief da ein Mann am anderen Ende der Gruppe aus.

Mit einer einzigen Bewegung riss Jochen dem alten Mann das Fernglas von den Augen. Seine Gedanken begannen zu rasen. Eine Frau! Das konnte nur Corinna sein. Er setzte das Glas an die Augen und konnte sekundenlang nichts sehen, weil seine Hände zu sehr zitterten.

Als seine Augen die Stelle gefunden hatten, an der der Einzelgänger unterwegs war, war seine schreckliche Vermutung zur Gewissheit geworden. Der Einzelgänger war eine Frau. Es musste Corinna sein, denn sie bewegte sich auf dem gefährlichen schmalen Grat, der zur Absturzstelle ihres Mannes führte.

»Sie ist in Gefahr, in tödlicher Gefahr«, stieß er hervor und spürte die Angst um sie wie eine Eiswoge in seinem Körper. Aber trotz der Nervosität arbeiteten seine Gedanken mit klarer Präzision. Er musste ihr zu Hilfe kommen, und zwar möglichst schnell. Aber um ihr zu helfen, gab es keine andere Möglichkeit, als ihr nachzusteigen. Ein Hubschrauber war in diesem verlassenen Ort nicht schnell aufzutreiben. Aber konnte er ihr denn überhaupt helfen, wenn er ihr allein nachstieg? »Hier gibt es doch eine Bergwachtstation?«, wandte er sich an den ihm zunächst stehenden Mann.

Der nickte eifrig. »Natürlich! Das ist die beste Idee! Wir müssen die Bergwacht mobilisieren. Sie kann da oben jeden Moment ausrutschen und ist nicht gesichert!«

Diese Feststellung, die nur allzu wahr war, trieb Jochen das Blut ins Gehirn.

»Wo ist die Bergwacht?«, herrschte er den jungen Mann fast grob an.

Doch der nahm ihm das nicht übel. »Kommen Sie!«, forderte er Jochen auf und lief auch schon los. Die anderen Beobachter folgten den beiden.

Die Männer im Dienst der Bergwacht hielten sich nicht mit langen Überlegungen oder Diskussionen auf. Sie erkannten die Gefahr augenblicklich und handelten.

Kommandos flogen hin und her, und wenige Minuten später waren die routinierten Männer zum Aufbruch gerüstet. Sogar eine Trage führten sie mit sich.

Während dieser kurzen Vorbereitungen hatte Jochen Corinna nicht aus den Augen gelassen. Das Ferngals projizierte sie ihm vergrößert vor, sodass er an ihren Bewegungen erkannte, dass sie außerordentlich geschwächt sein musste. Seine Erfahrung sagte ihm, dass sie wahrscheinlich zu spät kommen würden. Doch das wollte er nicht wahrhaben.

»Ich begleite euch«, sagte er zu den Männern der Bergwacht.

Die musterten ihn kurz und eingehend. Doch da sie den erfahrenen Bergsteiger in ihm erkannten und außerdem vermuteten, dass er in irgendeinem Zusammenhang mit der gefährdeten Einzelgängerin stand, nickten sie ihm kurz zu.

»In Ordnung! Kommen Sie mit!«

Schweigend stiegen sie auf ein Geländefahrzeug, das sie über einen Wiesenweg so nahe wie möglich an die Berge heranbrachte, damit sie Zeit sparten.

Jochen war sich darüber im Klaren, dass jetzt ein Wettlauf mit der Zeit begann, der unter Umständen Corinnas Tod zur Folge haben konnte, wenn sie den Wettlauf verloren. Bei diesem Gedanken drohte ihn sekundenlang Schwäche zu überfallen. Doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Wenn er schlappmachte, konnte er Corinna ja nicht helfen.

»Gehört die Frau zu Ihnen?«, fragte ihn einer der Bergwachthelfer.

Jochen nickte gequält. »Sie ist meine Verlobte.«

Er spürte die mitfühlenden Blicke der Männer und war ihnen komischerweise dafür dankbar.

Dort, wo das Geländefahrzeug nicht weiter konnte, stiegen sie ab und begannen schweigend den Aufstieg. Sie konzentrierten all ihre Kräfte darauf, schnell voranzukommen.

Jochen erkannte schon bald, dass die Männer einen kürzeren Weg einschlugen als den, den er kannte. Trotzdem hatte er ein hilfloses Gefühl, wenn er zu der Höhe aufblickte, in der Corinna sich schutzlos befand. Zu weit war sie von ihm entfernt. Wenn ihr in diesem Moment etwas zustoßen sollte, konnte er ihr nicht helfen.

Halte aus! rief er ihr wortlos hinauf. Halte durch, wir kommen!

*

Corinnas Kräfte wurden schwächer und schwächer. Sie merkte es selbst an der Unsicherheit, mit der sie jeweils die nächste Trittstelle auswählte. Ein falscher Tritt hier oben bedeutete das sichere Verderben. Aber sie erlaubte sich nicht, auch nur einige Minuten zu rasten. All ihre Gedanken strebten vorwärts. Dort oben, an der Stelle, an der ihr Mann abgestürzt war, lag ihr Ziel. Und obwohl sie bereits den größten Teil des Aufstieges hinter sich gebracht hatte, lag der gefährliche Teil noch vor ihr.

Schweißtropfen rannen Corinna über die Stirn in die Augen, sodass sie sekundenlang wie geblendet war. Doch sie fuhr sich nur mit dem Ärmel der Bluse übers Gesicht.

Weiter! Sie musste weitergehen, so schwer es ihr auch fiel. Ein halbes Ziel war ein verlorenes Ziel. Schwer atmend klammerte sie sich an einen Felsvorsprung und zog ihren Körper hinauf, einen Schritt weiter. Für den nächsten Schritt prüfte sie mit den Händen das Gestein, ob es auch nicht locker war. Ein abbröckelndes Felsstück konnte sie das Leben kosten. »Ich muss weiterleben«, flüsterte sie zusammenhanglos. »Weiterleben für mein Kind. Und für mein Kind muss ich mein Ziel erreichen. Die Absturzstelle kurz unterhalb des steilen Gipfels.«

Corinna keuchte und lehnte sich einen Moment an die Felswand, als ihr schwarz vor den Augen wurde. Als erfahrene Bergsteigerin hätte sie dies als Alarmzeichen werten und umkehren müssen. Nichts war gefährlicher und schlimmer als Schwindelanfälle auf einem schmalen Felsgrat. Doch Corinna wollte nicht darauf achten. Sie sah nur das scheinbar nahe Ziel und redete sich unaufhörlich ein, es erreichen zu müssen. Dass ihr geschwächter Körper, der seit fast sechsunddreißig Stunden keine Nahrung mehr erhalten hatte, rebellieren musste, wollte sie nicht einsehen. Schritt für Schritt kämpfte sie sich weiter nach oben.

Ihre schönen Züge waren vor Anstrengung verzerrt. Als ihre Kräfte sie vollends zu verlassen drohten, begann sie mit sich selbst zu reden. Sie redete sich Mut zu, um den Aufstieg zu erzwingen. Aber es machte den Eindruck, als habe sie den Verstand verloren, denn kein vernünftiger Mensch wäre unter diesen Umständen weitergegangen.

»Dort oben ist sie! Freds Todesstelle«, ächzte sie. »Wenn ich sie erreiche, wird Bärbel gesund werden. Komme ich nicht hinauf, dann …, dann …« Ihr Fuß ruschte ab und trat ins Nichts.

Corinna stieß einen Schrei aus und klammerte sich mit beiden Händen an den Felsen. Sekundenlang baumelten ihre Füße in der Luft. Sie kämpfte mit der Balance. Dann fanden ihre Beine wieder festen Halt.

Taumelnd ging sie in die Hocke. Ihr Gesicht war schweißüberströmt. Die salzigen Tropfen brannten ihr in den Augen. Das Haar hing ihr wirr ins Gesicht.

Corinna war sich nicht bewusst, dass sie im Augenblick höchster Not Jochens und Bärbels Namen gerufen hatte. Ob sie wollte oder nicht, jetzt musste sie sich einige Minuten Ruhe gönnen.

Schwer atmend lehnte sie ihren Kopf an den Fels. Wenn ich es schaffe, dann wird mein geliebtes Kind gesund werden, sagte sie sich wieder. Dann werde ich nur noch für Bärbel leben. Und der liebe Gott wird mich für den Verzicht auf meine Liebe belohnen.

Nun dachte Corinna einen Moment lang ganz klar. »Ja, ich liebe Jochen«, flüsterte sie. »Aber ich werde mir diese Liebe aus dem Herzen reißen. Ich werde sie opfern. Dafür wird Bärbel mir erhalten bleiben, mein ein und alles.«

Als Corinna nach einigen Minuten weitergehen wollte, fand sie keinen Weg mehr. Entsetzt starrte sie nach oben. Dort hinauf musste sie. Aber über ihr war nichts außer der steilen, glatten Wand.

»Aber es muss doch ein Weg hinaufführen!«, schrie sie außer sich. Doch der lebensgefährliche Pfad, den sie bisher verfolgt hatte, endete auf dem winzigen Plateau, auf dem sie saß.

Mit schmerzlicher Gewissheit erkannte Corinna, dass sie sich verlaufen hatte. Irgendwo musste sie dem falschen Pfad gefolgt sein.

Aber ich muss doch nach oben, sagte sie sich in einer letzten Willensaufbäumung. Ich muss!

Wieder blickte sie hinauf. Doch an der glatten Felswand ging es nicht weiter. Wenn sie hinauf wollte, musste sie den falschen Pfad zurückklettern.

Corinna dachte an die Strapazen, die es sie gekostet hatte, hierherzukommen. Wieder überfiel sie ein leichter Schwindel. Doch sie raffte sich trotzdem auf und versuchte den Rückweg. Aber der war, das erkannte sie im gleichen Augenblick, ohne einen zweiten Mann, der sie am Seil hielt, unmöglich. Wenn sie hinunterschaute, erschien es ihr ohnehin wie ein Wunder, dass sie allein heraufgekommen war.

Ihr Ziel, die Absturzstelle, musste direkt über ihr, nahe beim Gipfel liegen. Und sie saß hier unten und konnte weder vor noch zurück. Als ihr die Ausweglosigkeit ihrer Lage zu Bewusstsein kam, durchzuckte ein einziger brennender Schmerz ihren ganzen Körper.

Corinna spürte, wie die Kräfte sie mehr und mehr verließen. Die Kraftreserven ihres Körpers waren erschöpft. Schluchzend sank ihr der Kopf auf die Brust.

Ich werde hier sterben, dachte sie. Kein Mensch weiß, wo ich bin. Wenn ich das Bewusstsein verliere, falle ich hinunter.

Mit Schaudern dachte Corinna auch an die Nacht, die sie hier oben würde verbringen müssen, falls sie bis dahin noch lebte. Dann dachte sie an ihr Kind, dem dieses wahnwitzige Unternehmen galt. Und schließlich gaukelte ihr ihre überhitzte Phantasie in dieser unbarmherzigen Einsamkeit, den sicheren Tod vor Augen, Bilder der jüngsten Vergangenheit vor.

Sie erinnerte sich an die zärtlichen Stunden mit Jochen. Allein waren sie beim flackernden Schein der Kerze in der Hütte gesessen. Wie gelöst und voller Zärtlichkeit sein Gesicht doch gewesen war. Sie sah es wieder ganz deutlich vor sich, hörte seine Lippen flüstern: »Ich liebe dich!« Fast glaubte sie, seinen Mund auf ihrer Haut zu spüren. Sie hatten sich die gemeinsame Zukunft zu dritt so schön vorgestellt …

»Ich brauche euch«, stöhnte Corinna. »Ich brauche euch beide – Bärbel und Jochen!« Das war ihr letzter Gedanke. Sie hatte ihn laut ausgesprochen. Dann schwanden ihr die Sinne. Sie dachte nun auch nicht mehr daran, dass eine falsche Bewegung, ein Verändern ihrer Lage um Zentimeter sie in den Abgrund gleiten lassen würde. Ihr allerletzter traumhafter Gedanke, als ihre Sinne schon im Schwinden waren, war die flehentliche Bitte an den geliebten Mann, ihr zu helfen.

*

Jochen und die Männer der Bergwacht hatten den Dolomitengipfel direkt vor sich. In einem Gewaltaufstieg von vier Stunden hatten sie einen Berg bewältigt, für den ein trainierter und geübter Bergsteiger gut seine sechs Stunden benötigte.

Vier bange Stunden. Jochen durfte gar nicht daran denken, was einem Bergsteiger in Not in dieser Zeit alles zustoßen konnte. Immer wieder hob er das Fernglas an die Augen und suchte die Umgebung des Gipfels ab. Aber Corinna war nicht zu entdecken.

Und dann standen sie an Freds Absturzstelle –?dem Ziel, das Corinna sich gesetzt und offensichtlich nicht erreicht hatte. Sonst hätte irgendein Zeichen darauf hindeuten müssen.

Die Männer der Bergwacht hielten an dieser Stelle eine Beratung ab. »Sie muss hier irgendwo sein. Wir müssen uns verteilen und sie suchen«, beschlossen sie.

Jochen orientierte sich an der bereits neigenden Sonne. »Lange haben wir nicht mehr Zeit. Wenn wir Corinna nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit gefunden haben, ist sie verloren.«

Der Anführer des kleinen Rettungstrupps nickte sehr ernst.

Sie schwärmten in der unmittelbaren Umgebung des Gipfels aus und begannen nach Corinna zu rufen. Die Bergwände trugen den Schall weit und warfen ihn dann als Echo weit und warfen ihn dann als Echo zurück. Corinna hätte sie einfach hören müssen, wenn, ja, wenn sie noch am Leben gewesen wäre.

Jochen verspürte ein innerliches Zittern, das seiner Angst entsprang und sich von Minute zu Minute verstärkte. Bitte antworte, Liebste, flehte er in Gedanken, während er laut immer wieder Corinnas Namen rief.

Die Minuten dehnten sich für ihn zu Stunden. Er war sein Leben lang in den Bergen gewesen und wusste nur zu gut, was es zu bedeuten hatte, wenn sie kein Zeichen von Corinna fanden. Denn wenn ein Bergsteiger in die grausamen, tiefen Schluchten zwischen den Wänden stürzte, blieb kein Zeichen von ihm zurück. Alles Rufen blieb dann unbeantwortet.

Trotzdem rief Jochen mit verbissener Sturheit weiter nach Corinna, als wollte er das Schicksal damit zwingen, ihm die geliebte Frau zurückzugeben.

Nach einer Stunde vergeblichen Suchens kamen die Männer zurück. Jochen rief noch immer Corinnas Namen. »Es hat keinen Zweck mehr«, sagte der Anführer der Bergwacht zu ihm. »So, wie es aussieht, müssen wir das Schlimmste annehmen.«

»Sie meinen …« Jochen musste noch einmal Luft holen, um die erschreckende Wahrheit aussprechen zu können. »Sie meinen, Corinna ist abgestürzt?«

In den Augen des erfahrenen Bergretters standen Mitleid und Trauer, als er Jochens Worte bestätigte. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn Ihre Verlobte sich noch hier oben befände, hätten wir sie finden müssen. Meine Männer haben den ganzen Berggipfel abgesucht.«

»Aber vielleicht …, vielleicht haben wir nicht gründlich genug gesucht.« Doch innerlich wusste Jochen genau, dass seine Hoffnung unsinnig war. Der Gipfel lag frei da. Es gab keine kleineren Schluchten, Nischen oder Höhlen. Nur die große, verderbenbringende Tiefe.

Jochen schlug die Hände vors Gesicht. Er schämte sich seines Schmerzes nicht. Doch plötzlich riss ihn ein Gedanke hoch. Er starrte die Männer der Bergwacht an, wobei sich in seinen verzweifelten Gesichtsausdruck ein Hoffnungsschimmer einschlich. »Es gibt noch eine Möglichkeit!«, rief er aus. Seine Worte überschlugen sich fast.

Die Männer der Bergwacht zuckten verständnislos mit den Schultern. Sie wussten nicht, was Jochen meinte. Nur einer von ihnen ahnte, woran Jochen dachte. Er war in dem Dorf am Fuße der Berge groß geworden und kannte praktisch jeden Stein in dieser Umgebung. »Sie meinen die Felsvorsprünge an der Vorderseite des Berges?«, fragte er.

Jochen nickte eifrig. »Ja, ich habe sie durchs Fernglas vom Dorf aus gesehen. Sie wirkten sehr klein, aber es wäre doch möglich …« Er konnte vor Erregung nicht weitersprechen.

Der Bergwachtmann nickte. »Sie sind groß genug, dass sich ein Mensch darauf halten kann«, bestätigte er.

In einem wilden Hoffnungstaumel riss Jochen das Seil aus dem Rucksack.

Doch einer der Männer zerstörte seine geringe Hoffnung mit einer Tatsache, die stimmte. »Die Felsvorsprünge liegen nicht unterhalb der normalen Aufstiegsroute.«

Jochens Züge erstarrten. Er wusste, was das bedeutete. Wenn Corinna den normalen Aufstieg zum Gipfel benutzt hatte und gefallen war, konnte sie gar nicht auf einem dieser Vorsprünge hängengeblieben sein. Er begriff auf einmal, wie gering diese letzte Chance war, die er entdeckt hatte. Doch so schnell gab er dieses Fünkchen Hoffnung nicht auf.

»Es wäre doch möglich, dass sie vom Weg abgekommen ist«, gab er zu bedenken.

Der Anführer der Bergwachtgruppe wiegte den Kopf. »Als wir Ihre Verlobte sahen, befand sie sich noch auf dem richtigen Weg. Aber möglich wäre es trotzdem, dass sie sich später verlaufen hat. Doch dann hätte sie eigentlich unsere Rufe hören müssen.«

Dasselbe sagte sich Jochen auch. Trotzdem wollte er nicht aufgeben. »Ich seile mich zu den Felsvorsprüngen ab«, erklärte er mit Bestimmtheit und rollte sein Seil bereits auf.

Doch der Führer der kleinen Truppe hielt ihn zurück. »Ihre Idee ist gut, aber lassen Sie mich das machen. Sie sind zu nervös.«

Doch Jochen schüttelte eigensinnig den Kopf. Er hatte die fast kindliche Einbildung, dass er Corinna finden würde, wenn er selbst etwas riskierte. »Es ist meine Verlobte. Daher fällt auch mir die Aufgabe zu, ihr zu helfen. Wenn ich es noch kann.«

Die Männer nickten schweigend. Sie verstanden ihn. »Gut, wir werden Sie von hier oben sichern.«

Von da an wurde nichts mehr gesprochen. Mit schnellen und geübten Handgriffen schlugen die Männer einige Haken in den harten Fels, schlangen Jochens Seil darüber und sicherten es doppelt ab.

Jochen selbst seilte seinen Körper an, sodass er buchstäblich in dem festen Seil hing. Das war auch notwendig, denn seine Hände brauchte er für andere Dinge. Er musste, während die Männer ihn Stück für Stück hinunterließen, noch einige Haken in die fast überhängende Wand schlagen.

»Fertig?«

Jochen nickte. Mit angespannten Gesichtern standen die Männer der Bergwacht über ihm, als Jochen die steile Wand hinunter buchstäblich ins Nichts schwebte. Und obwohl er völlig schwindelfrei war, wagte er es doch nicht, nach unten zu blicken. Zu grausam gähnte die schwarze Tiefe unter ihm. Nicht auszudenken, wenn Corinna dort hinuntergestürzt war. Doch er verbot sich derartige Gedanken augenblicklich. Er benötigte jetzt seine ganze Kraft und Konzentration.

»Langsamer!«, kommandierte der Bergwachtführer von oben. »Nicht so hastig, das ist gefährlich!« Sie gaben das Seil jetzt nur noch Zentimeter für Zentimeter frei.

Noch bevor Jochen den ersten Felsvorsprung mit seinen Füßen erreichte, sah er, dass er leer war. Sein Magen krampfte sich zusammen.

»Was ist?«, wollten die Männer von oben wissen.

»Nichts. Leer«, antwortete Jochen rau, doch nur er selbst wusste, wie viel Grausamkeit und Schmerz sich in diesen beiden Worten verbarg.

»Weiter! Seil nachgeben«, kommandierte er nach oben, sodass das Seil Stück für Stück mit ihm in die Tiefe glitt. Seine Fußsohlen stemmte er senkrecht gegen die Wand. Der zweite Vorsprung war so winzig, dass gerade nur seine beiden Füße darauf Platz fanden. Hier hätte sich ohnehin niemand halten können.

Und dann entdeckte er unter dem jetzt überhängenden Felsen einen breiteren Vorsprung, auf dem ein dunkler Schatten zu erkennen war. Sein Herz begann zu rasen. »Mehr Seil«, schrie er nach oben und arbeitete sich nach rechts hinüber, obwohl auch das gefährlich war. Er hätte in der gleichen Linie bleiben müssen, in der die Männer über ihm standen und das Seil hielten, das noch zusätzlich im Boden verankert war.

Stück für Stück schwebte er durch die Luft auf den Vorsprung zu. Er starrte so intensiv in das überschattete Dunkel, dass seine Augen zu brennen begannen. Doch dann war er sicher. Kein Zweifel, dort lag ein Mensch. Seine Augen hatten sich jetzt auch an das ungewisse und schon dämmerige Licht gewöhnt.

Corinna, schrie sein Herz. Doch seine Lippen brachten keinen Laut hervor. Als er nur noch einen Meter über dem Vorsprung schwebte, erkannte er sogar ihr Gesicht. »Liebste«, schluchzte er auf, hatte sich aber gleich darauf wieder in der Gewalt.

Noch einige Zentimeter, noch einmal, und dann berührten seine Füße den Fels, auf dem sie lag. Erst jetzt erkannte er, dass die Hälfte ihres Körpers bereits über den Fels hinweghing. Eine einzige falsche Bewegung –?und sie musste unweigerlich in die Tiefe stürzen.

Ungeheuer vorsichtig setzte Jochen seine Füße neben ihrem Körper auf. »Corinna, Liebste, hörst du mich?«

Sekundenlang durchzuckte ihn eisiger Schreck. Dann erkannte er, dass sie nur bewusstlos war. Doch gleichzeitig mit diesem Erkennen begriff er, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es sein würde, die Bewusstlose hinaufzuziehen, das wäre Mord gewesen. Mit Sicherheit würden sie dann beide in die Tiefe stürzen.

Also gab es keinen anderen Weg, als sich selbst wieder hinaufziehen zu lassen und Verstärkung zu holen. Jetzt sah er auch den Karabinerhaken in der Wand, an dessen Seil Corinna hing. So vorsichtig war sie zumindest gewesen. Höchstwahrscheinlich verdankte sie dieser ungenügenden Absicherung sogar ihr Leben.

Jochen befestigte noch einen zweiten Karabinerhaken neben ihr und schlang das Seil um ihren Körper.

Gerade als er sich wieder hinaufziehen lassen wollte, entdeckte er den schmalen Steg, der direkt zu dem Felsvorsprung führte. Erstaunen zeigte sich auf seinen Zügen. Über diesen Weg also war sie hierhergelangt. Sie hatte sich verlaufen, und zwar ganz erheblich. Denn dieser schmale Weg kam genau von der entgegengesetzten Seite des Berges. Wie war sie nur dorthin geraten?

Doch er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Da die Männer seine Rufe wahrscheinlich nicht mehr hören konnten, zog er dreimal kräftig am Seil, was bedeutete, dass er wieder hinaufgezogen werden wollte.

Das ging verhältnismäßig schnell.

Als die Männer hörten, dass Corinna dort unten lag, arbeiteten sie mit einstudierter Schnelligkeit und Präzision. Nicht umsonst waren sie als Lebensretter ausgebildet. Zu dritt seilten sie sich ab. Das war zwar keine einfache Aufgabe, aber eine halbe Stunde später hatten sie die immer noch bewusstlose Corinna sicher auf ein flaches Plateau unterhalb des Gipfels gebracht. Dort klappten sie die mitgebrachte Trage auseinander und legten Corinna darauf.

Nun begann der Abstieg. Von den langen Schatten der beginnenden Dämmerung begleitet, stiegen sie schweigend, aber zufrieden ins Tal.

Gegen Mitternacht erreichten sie die Hütte, die Corinna und Jochen »ihre Hütte« genannt hatten.

Sie beschlossen, die Nacht in dieser Hütte zu verbringen und erst am nächsten Morgen ins Tal abzusteigen, da das Gehen mit der Trage doch zu beschwerlich war.

Als sie die Hütte betraten, schlug Corinna die Augen auf. Sekundenlang wusste sie nicht, wo sie war. Dann fiel ihr Blick auf Jochen. Sie begriff, dass sie nicht abgestürzt war, sondern lebte.

»Jochen!« Es war fast ein unartikulierter Schrei. Sie fuhr in die Höhe und spürte gleichzeitig einen stechenden Schmerz im Rücken, der sie veranlasste, das Gesicht zu verziehen.

Jochen war mit einem Satz an ihrer Seite. »Bitte, bewege dich nicht, Liebling. Vielleicht bist du verletzt. Wir heben dich aufs Bett.«

Zu dritt hoben sie Corinna behutsam von der Trage auf die Liege im hinteren Teil der Hütte.

Erleichtert atmete Corinna auf und streckte die eingeschlafenen und klammen Glieder.

»Hast du irgendwelche Schmerzen?«, fragte Jochen.

»Ich glaube nicht.« Sie bewegte erst die Arme, dann die Beine und versuchte schließlich vorsichtig, ihren Oberkörper aufzurichten, was ihr nun auch ohne Schmerzen gelang.

»Dann haben Sie offensichtlich keine ernsthaften Verletzungen«, sagte der Bergwachtführer zu ihr. »Doch der erschöpfte Zustand Ihres Körpers wird noch einige Tage anhalten.«

Corinna sank bereits wieder auf das Bett zurück. Sie konnte nur noch nicken, dann fielen ihr wieder die Augen zu.

Jochen wandte sich an die Männer der Bergwacht. »Ich glaube, es ist besser, sie bleibt hier oben, bis sie wieder völlig zu Kräften gekommen ist. Ernstere Verletzungen liegen ja keine vor. Sie ist nur ganz und gar erschöpft.«

Der Anführer des kleinen Trupps gab Jochen recht und beschloss dann, mit seinen Männern noch in dieser Nacht ins Dorf abzusteigen. »Sie brauchen uns ja nun nicht mehr«, sagte er mit einem erleichterten und zufriedenen Lächeln zu Jochen. Auch seine Männer freuten sich über den Erfolg ihrer Bemühungen. Hatten sie doch einen Menschen vor dem sicheren Tod gerettet.

In kameradschaftlicher Eintracht schüttelten sie Jochen vor der Tür der kleinen Hütte die Hand und wünschten ihm und seiner Verlobten für die Zukunft Glück.

Als Jochen die Hütte wieder betrat, atmete Corinna tief und gleichmäßig. Die Erschöpfung hatte sie einfach übermannt. Er breitete eine wollene Decke über sie und setzte sich mit seiner Pfeife neben das Bett.

Lange Zeit saß er wach und betrachtete ihr im Schlaf entspanntes Profil. Dann fielen auch ihm die Augen zu. Die übermenschlichen Anstrengungen dieses Tages hatten auch seinen Körper äußerst geschwächt.

Als er fast vom Stuhl fiel, erhob er sich und streckte sich auf dem Lager neben Corinna aus. Doch selbst noch im Schlaf waren seine Nerven darauf ausgerichtet, auf den geringsten Laut von ihr zu reagieren.

Doch Corinna schlief tief und fest bis zum Morgen. Sie erwachte, weil ein Sonnenstrahl sie an der Nase kitzelte und der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee in den hinteren Teil der Hütte drang.

Verstört blickte sie sich um. Erst nach einigen Minuten begriff sie, wo sie war. Dann erinnerte sie sich auch wieder an die Ereignisse des vorangegangenen Tages.

Jochen trat mit einem Tablett, auf dem ein komplettes Frühstück stand, zu ihrem Bett.

»Du musst ja völlig ausgehungert sein«, meinte er lächelnd.

Corinna wollte aufstehen, doch Jochen drückte sie auf das Bett zurück. Dabei berührte er ihre Hand und erkannte an der Hitze, dass sie Fieber haben musste. Schnell legte er ihr die Hand auf die Stirn. Kein Zweifel, sie hatte erhöhte Temperatur.

»Ich fühle mich so müde«, sagte sie jetzt mit schwacher Stimme.

»Du musst versuchen, etwas zu essen und dann wieder zu schlafen. Allmählich wirst du schon zu Kräften kommen«, sagte er nachsichtig.

Sie heftete ihre Augen fragend und fest auf Jochen. »Hast du mich da oben runtergeholt?«

Er nickte.

»Danke, Jochen«, hauchte sie.

»Ich … ich …«

»Sprich jetzt nicht«, bat er. »Das strengt dich zu sehr an. Dazu haben wir noch genügend Zeit. Jetzt musst du erst einmal ganz gesund werden.«

Schluck für Schluck flößte er ihr nun den heißen Kaffee ein und fütterte sie mit den gebratenen Eiern. Anschließend schlief sie ein und erwachte erst wieder gegen Abend.

Jochen war den ganzen Tag nicht von ihrer Seite gewichen. Kaum sah er, dass sie die Augen aufschlug, ging er in die kleine Küche und bereitete eine kräftige Brühe und einige belegte Brote zu.

Doch Corinna trank nur die Brühe. Dann wollte sie sich mit Jochen unterhalten. Aber das Fieber war noch immer nicht gesunken. Deshalb verbot er ihr das Sprechen und blieb an ihrem Bett sitzen, bis sie wieder eingeschlafen war.

In dieser Nacht erwachte Jochen davon, dass Corinna im Traum stöhnte. Dann begann sie wirr zu reden. Er verstand nur einige Worte, die sich immer wiederholten –?Seil und Haken und Abgrund –, und begann sich nun ernstlich um sie zu ängstigen.

Doch am nächsten Morgen war Corinna fieberfrei. Sie lächelte ihm zu, als er ihr das Frühstück brachte. »Ich fühle mich schon wesentlich besser.«

»Das freut mich. Versuche etwas zu essen.« Er hatte auch für sich eine Tasse mitgebracht und goss nun den heißen Kaffee ein.

Das duftende Getränk belebte Corinna sichtlich. »Vielleicht kann ich heute schon aufstehen«, meinte sie.

»Warte damit lieber noch bis morgen«, schlug Jochen vor. »Heute Nacht hattest du noch Fieber.«

Fast ein wenig scheu blickte sie zu ihm auf. »Was du mit mir für Umstände hast.«

»Sprich doch nicht davon«, bat er sanft. »Ich bin froh, dass du noch lebst.«

»Wie … wie hast du mich eigentlich gefunden?«, wollte sie wissen.

Jochen erzählte ihr, dass er sie vom Dorf aus gesehen und dann die Bergwacht mobilisiert hatte. »Doch als wir auf dem Gipfel ankamen, konnten wir dich nirgends finden«, ergänzte er.

»Ich hatte mich verlaufen«, erinnerte sie sich wieder. »Mein Gott, Jochen, es war schrecklich, als ich da oben auf dem schmalen Felsvorsprung lag.« Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Sprich nicht darüber«, riet er.

»Nein, ich muss«, beharrte sie. »Ich muss mich endlich mit dir aussprechen.« Und dann beschrieb sie ihm ihre Angst und die trostlose Verzweiflung, die sie in der gefährlichen Höhe überfallen hatte.

Voller Mitleid schloss Jochen sie in seine Arme. Corinna ließ es geschehen. Sie klammerte sich einen Moment an seine starken Schultern und fühlte sich geborgen.

Doch gleich darauf löste sie sich wieder von ihm. Ihre Augen wurden dunkel. »Ich glaube, ich habe dir bitter unrecht getan.«

»Vergiss es«, bat er großzügig. »Du warst verzweifelt und voller Schmerz um dein Kind.«

»Das bin ich auch jetzt noch. Aber schließlich ist es ja nicht deine Schuld, dass Bärbel krank geworden ist.« Sie hielt einen Moment lang inne und erlebte in Gedanken noch einmal die grauenvollen Stunden des einsamen Aufstiegs. »Ich wollte das Schicksal damit versöhnen«, gestand sie ihm aus ihren Gedanken heraus.

Jochen nickte. »Ich habe mir so etwas gedacht, Corinna. Leider hättest du dein Kind damit fast zur Vollwaise gemacht.« Er wählte bewusst so harte Worte, um ihr vor Augen zu halten, dass sie falsch gehandelt hatte.

Aber Corinna war schon zur Einsicht gelangt. »Ich weiß es, Jochen. Als ich allein da oben saß und mit dem sicheren Tod rechnen musste, erkannte ich es.« Sie dachte einen Moment nach, dann gestand sie Jochen, was er schon die ganze Zeit geahnt, ja, fast schon gewusst hatte. »Ich wollte zur Absturzstelle meines Mannes. Und ich wollte meine Liebe zu dir vergessen und nur noch für mein Kind leben.«

»Ist dir niemals der Gedanke gekommen, dass sich Bärbel vielleicht nach einem Vati sehnt?«, warf er ein.

»Doch.« Corinna nickte. »Aber in meinem Schmerz um Bärbel war ich uneinsichtig. Ich glaubte, ich sei an ihrer Krankheit schuld.«

»Aber warum nur, Corinna?«

»Weil ich zu meinem Vergnügen mit dir in den Urlaub gefahren bin und weil ich Fred über den Tod hinaus die Treue geschworen, den Schwur aber dann doch gebrochen hatte.«

Ihre Aufrichtigkeit beeindruckte ihn. »Bärbel wäre auch krank geworden, wenn du bei ihr geblieben wärst.«

»Ja, Jochen, ich weiß es«, sagte sie sehr nüchtern und sehr sachlich.

»Und die Vergangenheit kann doch nicht ewig lebendig bleiben! Du musst sie einmal überwinden. Du lebst doch nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Vor dir und deinem Kind liegt eine lange Zukunft.« Eindringlich, fast flehend, hatte er gesprochen.

Corinna lächelte jetzt. »Ich habe die Vergangenheit nun überwunden, Jochen. Ich habe meine Fehler eingesehen. Da oben, als ich glaubte, sterben zu müssen.«

Als Jochen diese klaren und überzeugenden Worte hörte, sank er vor ihrem Bett in die Knie und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. »Ich hatte solche Angst um dich«, murmelte er.

Corinna strich zärtlich über sein Haar.

»Und ich habe mich so nach deinem Schutz und deiner Stärke gesehnt. Bitte, lass mich nie mehr allein.«

Er schaute auf. »Ist das dein Ernst, Liebste?«

Sie nickte, weil die Stimme ihr versagte. Da nahm Jochen sie fest in seine Arme und hielt sie minutenlang an sich gepresst. »Ich liebe dich so sehr, dass ich ohne dich nicht leben kann.«

»Ich liebe dich auch, Jochen«, flüsterte sie und genoss das beglückende Gefühl, geborgen zu sein. Dann spürte sie seine Lippen in ihrem Haar und auf ihrer Wange. Als er sie auf den Mund küsste, versank die Vergangenheit endgültig in dem tiefen Teich des Vergessens.

»Bitte, halte mich und küss mich noch einmal«, murmelte sie, während draußen die Sonne höher stieg und ihre wärmenden Strahlen in gebündelten Lichtgarben durchs Fenster schickte.

»Dir und meinem Kind gehört jetzt mein ganzes Leben und meine ganze Liebe, denn ich brauche euch. Ich brauche euch beide«, bestätigte sie und schmiegte sich in seine Arme. Dann blickte sie sehnsüchtig hinaus in den hellen, sonnigen Tag. »Könnten wir uns nicht ein wenig auf die Bank vor die Hütte setzen?«, bat sie.

»Wenn du versprichst, nicht gleich wieder allein davonzusteigen?« Lächelnd drohte er ihr mit dem Zeigefinger.

»Ich schwöre und gelobe es«, entgegnete sie lachend.

Die gleißenden Sonnenstrahlen blendeten Corinna einen Augenblick, als sie aus der Hütte trat. Erst jetzt spürte sie, dass ihr Körper noch ziemlich geschwächt war.

Jochen führte sie zu der schmalen Holzbank, auf die sie sich mit geschlossenen Augen setzte, bis die Wärme der Sonne ihren Körper durchdrang und sie schläfrig machte. Jochen spürte, wie Corinnas Kopf auf seine Schulter sank. Dann hörte er ihre gleichmäßigen Atemzüge. Er selbst schlummerte nur ein wenig und versuchte sich dabei so ruhig wie möglich zu verhalten, um ihren Schlaf nicht zu stören.

Als eine Wespe sich auf Corinnas Nase setzte, fuhr sie prustend hoch. »Oh, habe ich geschlafen?«

»Ja, Liebling, ein wenig. Aber es hat dir bestimmt gut getan.«

»Hm«, bestätigte sie. »Ich fühle mich schon wieder richtig gesund.«

»Nun komm bloß nicht gleich auf die Idee, einen Spaziergang zu machen«, wehrte er lachend ab.

»Aber ja, genau darum wollte ich dich bitten. Einen ganz kurzen nur«, bettelte sie. »Die Bewegung wird meinen Kreislauf wieder in Ordnung bringen.«

»Liebling, Liebling«, seufzte er. »Was du alles für Erklärungen erfindest, wenn du einen Wunsch durchsetzen willst.« Doch dann konnte er selbst nicht widerstehen. Die Almwiesen leuchteten in einem satten Grün wie ein weicher Teppich und luden geradezu dazu ein, über sie hinwegzuschlendern. »Also gut, aber nur ein Viertelstündchen. Wir bleiben dabei hier in der Nähe«, gab er nach.

Langsam, denn Corinna war wirklich noch sehr schwach, spazierten sie durch die in strahlenden Sonnenschein getauchte Berglandschaft. Jochen hatte seinen Arm um Corinnas Schulter gelegt und stützte sie.

Dann blieb Corinna stehen. Sie hielt die Hand schützend über die Augen und blickte zu jenem Gipfel empor, der ihr beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Lange stand sie so da und starrte schweigend zu dem Bergriesen hinauf. Jochen unterbrach ihre stumme Betrachtung nicht.

»Dieser Berg bedeutet einen Wendepunkt in meinem Leben«, sagte Corinna schließlich. »Er hätte mir zwar beinahe den Tod gebracht, doch ich weiß jetzt, wohin ich gehöre.« Sie blickte mit strahlenden Augen, in denen all ihre Liebe zu lesen war, zu Jochen empor.

»Wenn es so ist, dann will ich ihm verzeihen, dass er dich mir beinahe genommen hätte«, sagte er mit einem Seitenblick zu dem Dolomitengipfel.

»Ich werde nie mehr ohne dich auf einen Berg steigen«, gelobte Corinna abschließend.

Langsam gingen sie zur Hütte zurück, wo Corinna sich wieder hinlegte. »Morgen geht es mir bestimmt schon so gut, dass wir nach Hause fahren können«, sagte sie.

*

»Tante Isi, Mutti, stimmt es?«, riefen Pünktchen und Nick aufgeregt und liefen Denise nach, die gerade in ihren Wagen steigen wollte, um nach Schoeneich zurückzufahren.

Sie blieb stehen. »Nun beruhigt euch erst einmal und sagt mir, wovon ihr überhaupt sprecht.«

»Von Heidi, Bärbel und Vicky«, erklärte Nick. »Dürfen sie wirklich schon bald wieder mit uns spielen?«

»Vielleicht schon morgen?«, fragte Pünktchen.

»Nein, morgen bestimmt noch nicht«, antwortete Denise lächelnd. »Aber noch in dieser Woche. Unsere drei Patienten sind über dem Berg. Sie haben die Krankheit überstanden.«

»Na, Gott sei Dank«, schnaufte Nick erleichtert, und Pünktkchen stimmte mit ein.

Denise war selbst heilfroh über diese Nachricht. Frau Dr. Frey hatte sie ihr eben erst überbracht. Die Ansteckungsgefahr war gebannt, sodass die Ärztin noch in dieser Woche zu ihrer Familie zurückkehren konnte. Denise fragte sich nur, wie sich diese Nachricht so schnell hatte verbreiten können. Schmunzelnd blickte sie Nick und Pünktchen nach, die in den Park liefen, um die wunderbare Neuigkeit den anderen Kindern mitzuteilen.

Bärbel kauerte währenddessen mit untergeschlagenen Beinen in ihrem Bett und strahlte Vicky an, die auf dem Stuhl neben dem Bett saß. Heidi war am Fußende von Bärbels Bett unter die Decke gekrochen.

»Morgen dürfen wir alle drei aufstehen, und übermorgen dürfen wir schon mit den anderen Kindern spielen«, verkündete Vicky strahlend. Sie hatte die Krankheit am besten überstanden. Nur ein klein wenig schmaler war sie geworden.

Die deutlichsten Spuren hatte die Hirnhautentzündung in Bärbels Gesicht hinterlassen. Sie war sehr schmal geworden, und ihre Wangen waren noch immer blass. Doch aus ihren Augen strahlte schon wieder die alte Lebhaftigkeit. Das war der beste Beweis dafür, dass sie alles gut überstanden hatte. »Vielleicht dürfen wir schon morgen hinaus zum Spielen«, rief sie jetzt erregt aus.

»Nein, morgen noch nicht, hat Frau Dr. Frey gesagt«, belehrte Vicky sie. »Frühestens übermorgen. Aber vielleicht auch erst in drei Tagen.«

»Aber wir haben doch überhaupt kein Fieber mehr«, warf Heidi dazwischen und strampelte unter Bärbels Decke begeistert mit den Füßchen.

»Ist doch egal«, meinte Bärbel. »Hauptsache, wir dürfen in dieser Woche noch raus. Meine Mutti hat auch angerufen, dass sie kommt.«

Das hatte Anja Frey ihr gesagt. Bärbel klatschte vor Begeisterung in die Hände und sprang dann mit einem Satz aus dem Bett, um ein Puzzlespiel zu holen. Sie stülpte den Kasten über der Bettdecke aus. »Wollen wir es alle drei gemeinsam zusammensetzen?«

Heidi und Vicky bejahten und begannen sofort, die zusammengehörenden Stücke zu suchen.

Als Anja leise die Tür öffnete, sah sie, dass die drei Mädchenköpfe zusammengesteckt und ins Spiel vertieft waren. Die drei Kinder beteiligten sich mit Eifer und Begeisterung an der Zusammensetzung des Bildes. Das war der beste Beweis dafür, dass sie die Krankheit überstanden hatten.

Lächelnd schloss Anja wieder die Tür. Sie setzte sich an ihren provisorischen Schreibtisch und vervollständigte die Krankenakten.

Als plötzlich das Durcheinander von vielerlei Kinderstimmen vor dem Fenster des Krankenzimmers erklang, schaute Anja erstaunt hinaus.

Da waren fast alle Kinder von Sophienlust vor dem Fenster versammelt und beglückwünschten die drei zu ihrer baldigen Entlassung.

»Freut ihr euch, dass ihr bald wieder mit uns spielen dürft?«, rief der kleine Fabian zu den Mädchen hinauf.

»Und wie«, bestätigten Heidi und Vicky gleichzeitig. Bärbel dachte einen Moment lang an ihre Mutti. Wann würde sie wohl zurückkommen? Doch dann freute sie sich mit den anderen auf die gemeinsamen Spiele und auf die Ausflüge zum Tierheim oder zu dem See, in dem man baden konnte.

»Wisst ihr was?«, rief Nick begeistert. »An dem Tag, an dem ihr heraus dürft, unternehmen wir alle gemeinsam einen Ritt auf den Pferden und Ponys.« Er war und blieb eben ein Pferdenarr.

Die Kinder nahmen den Vorschlag begeistert auf und redeten auf einmal alle gleichzeitig.

Anja wollte schon das Fenster öffnen und den Kindern klarmachen, dass ein Ausritt wohl doch noch etwas zu anstrengend für die drei Patientinnen sein würde, als Angelika sich einmischte. »Dürft ihr das denn?«, fragte sie Vicky. »Ich meine, so ein Ritt ist doch eine anstrengende Sache.«

Pünktchen wandte sich zu Nick um. Der schlug sich vor den Kopf. »Natürlich«, rief er schuldbewusst aus. »Dass ich daran nicht gedacht habe. Aber ich weiß etwas Besseres. Wir veranstalten euch zu Ehren eine Kaffeeparty.«

Nick hatte eigentlich sagen wollen »unserer geliebten Frau Doktor zu Ehren«, und Pünktchen erriet seine Gedanken. Sie holte das Versäumte für ihn nach. Während die anderen Kinder schon wieder vor Begeisterung tobten, machte sie ihnen lautstark klar, dass die Ehre und der Dank der geliebten Frau Doktor gebührten, weil sie die drei Mädchen gesund gemacht hatte.

Pünktchen hatte alles so schön und gekonnt gesagt, dass Nick sie einen Moment lang sprachlos anstarrte. »Ich wusste gar nicht, dass du solches Talent zum Reden hast«, staunte er kopfschüttelnd.

Pünktchen wurde über und über rot, was ihr bei einem Lob von Nick immer passierte.

»Na ja«, meinte sie und zuckte mit den Schultern, »irgendjemand musste es doch sagen. Schließlich hat sie verdient, dass wir sie feiern. Stellt euch doch bloß mal vor, sie war gesund und hat trotzdem die ganze Zeit da drin sitzen müssen.«

Die anderen Kinder hörten mit großen Augen zu, als Pünktchen ihnen in einfachen Worten klar machte, welche Leistung Anja Frey vollbracht hatte.

Anja selbst hörte hinter dem Fenster jedes Wort mit. Vor Rührung wurden ihr die Augen feucht.

»Wie sieht denn so eine Kaffeeparty aus, Nick?«, wollte Fabian nun wissen.

Nick hatte bereits ganz genaue Vorstellungen. Er schaute in den Himmel hinauf. »Das Wetter bleibt wahrscheinlich schön. Da können wir Tante Ma bitten, uns ein paar Tische in den Park zu stellen. Ich werde Magda persönlich bitten, uns ein paar leckere Torten zu backen.«

»Was für Torten wird sie denn backen?«, fragte Vicky, die gern aß und nun einige ihrer Pfunde verloren hatte.

»Alles«, versprach Nick mit einer weit ausholenden Geste. Pünktchen bedachte ihn dafür mit einem zweifelnden Blick. Doch der Junge ließ sich nicht beirren. Er zählte auf: »Schokoladentorte, Sahnetorte und vielleicht noch Obsttorte. Ist das in Ordnung?«

Die Kinder bestätigten es mit einem lauten Toben und Schreien, sodass Frau Rennert schließlich kam, um nachzusehen, was da los sei.

Da ergriff Nick die Gelegenheit beim Schopfe und brachte sein Anliegen sogleich vor.

Angesichts der großen Begeisterung und bei einem so edlen Beweggrund konnte Frau Rennert nicht nein sagen. Sie versprach, die Kaffeeparty, wie die Kinder das kleine Fest getauft hatten, obwohl es nur Kakao geben würde, zu arrangieren. Vorher wollte sie sich jedoch noch mit Dr. Anja Frey bezüglich des Termins absprechen.

Als Denise von der Sache erfuhr, schmunzelte sie. Das sah so ganz nach ihrem Sohn Nick aus. Aber der Einfall war so gut, dass sie ihn dafür nur loben konnte. Sie bat Frau Rennert, dafür zu sorgen, dass die Kinder noch einige Extrasüßigkeiten erhielten.

Die zwei Tage, die Heidi, Bärbel und Vicky nun noch in ihrem Krankenzimmer verbringen mussten, wurden ihnen zur Ewigkeit.

Am Morgen des dritten Tages war es dann endlich so weit. Anja untersuchte die drei Mädchen noch einmal gründlich. Das Resultat war sehr zufriedenstellend. Sie hatten alle drei die schwere Krankheit ohne Schaden überstanden. Allerdings brauchten sie noch ein bis zwei Wochen lang sehr viel Ruhe und Schonung. Die Ärztin nahm sich vor, deshalb mit Frau Rennert, Frau von Schoenecker und auch mit Bärbels Mutter zu sprechen.

Der Vormittag verging damit, dass die kleine Krankenstation aufgelöst wurde. Wie ein Empfangskomitee standen die Kinder vor den für sie bis dahin tabu gewesenen Räumen und empfingen die drei Außenseiter. Das war kurz vor dem Mittagessen, das sie schon wieder alle gemeinsam einnehmen wollten.

Zur gleichen Zeit telefonierte Anja mit ihrer Familie. Felicitas und Stefan wussten die glückliche Neuigkeit schon seit einigen Tagen. Aber sie fieberten Anjas Heimkehr ungeduldig entgegen. Doch vorerst lud Anja ihre kleine Tochter zu der Kaffeeparty ein.

Felicitas war überglücklich. »Darf ich Stoffel mitbringen?«, bettelte sie.

»Natürlich darfst du das, Filzchen.« Als Anja auflegte, spürte sie, dass sie sich auf die Kaffeeparty, bei der sie ihr Töchterchen zum ersten Mal seit Wochen wieder würde in die Arme schließen können, genauso freute wie die Kinder.

Gleich nach dem Mittagessen ließ Frau Rennert genügend Gartentische und Stühle auf dem Rasen hinter dem Haus aufstellen. Magda hatte sechs Torten gebacken. Sie fand, dass sie ihr besonders gut gelungen waren.

Beim Aufdecken des Kaffeegeschirrs halfen die älteren Kinder mit. Die jüngeren schwärmten unter Nicks Aufsicht im Garten aus und pflückten einen Riesenblumenstrauß, den sie Anja am Nachmittag überreichen wollten.

»Nicht so viele von der gleichen Sorte«, schimpfte Nick, als Fabian gleich fünf dunkelrote Rosen auf einmal schnitt. »Der Strauß soll doch schön bunt werden.«

»Na ja«, meinte Fabian. »Rosen sind ja schließlich die schönsten Blumen.« Dabei drückte er Nick die fünf langstieligen Rosen in die Hand.

Denise war selbst nach Wildmoos gefahren, um Felicitas abzuholen, da Dr. Stefan Frey an diesem Nachmittag Sprechstunde hatte.

Mit vor Aufregung geröteten Wangen kletterte das Kind in Sophienlust aus dem Wagen.

»Lauf hinters Haus«, schlug Denise ihr vor. »Dort findest du deine Mutti bestimmt.«

»Komm, Stoffel!«, rief Felicitas und rannte los. Aufgeregt sprang der Spaniel hinter ihr drein.

Anja hatte sich gerade mit warmen Worten für den wunderschönen Blumenstrauß bedankt. Eine größere Freude als diesen Beweis ihrer Anhänglichkeit hätten die Kinder ihr gar nicht bereiten können. Als sie sich gerade an die Kaffeetafel setzen wollte, kam ein braun-weiß gefleckter Spaniel um die Hausecke gesprungen, dem ein kleines Mädchen mit langen braunen Haaren folgte.

»Filzchen!«, riefen einige der Kinder erfreut aus und sprangen auf.

Doch Felicitas sah nur ihre Mutti. Der vertraute Anblick trieb ihr noch im Laufen die Tränen in die Augen. »Mutti!« Und dann stürzte sie sich mit einem glücklichen Aufschluchzen in Anjas Arme.

Anja nahm ihr Kind auf den Arm und liebkoste es vor aller Augen. Erst jetzt wurde ihr voll bewusst, wie sehr Felicitas ihr gefehlt hatte. Sie streichelte ihr Haar und ihr Gesichtchen und presste sie immer wieder an sich.

Doch da forderte auch Stoffel sein Recht. Er sprang bellend an Anja hoch.

»Siehst du, er freut sich auch, Mutti«, strahlte Filzchen.

Anja begrüßte auch den Hund. Dann nahmen sie alle an dem gedeckten Tisch Platz. Stoffel saß zu Filzchens Füßen.

*

Corinna saß neben Jochen im Wagen. Die beiden fuhren in Richtung Sophienlust. Nach einem weiteren Ruhetag auf der Hütte hatte sich Corinna so weit in Ordnung gefühlt, dass sie sich entschlossen hatten, zurückzufahren. Die Ungeduld trieb die beiden nun weiter und würde sie wohl erst verlassen, wenn sie auf Sophienlust angelangt waren und Bärbel gesehen hatten.

Es war noch früh am Morgen. Corinna und Jochen hatten das kleine Gebirgsdorf nach einem raschen Abstieg von der Hütte eben erst verlassen.

»Wie lange werden wir bis Sophienlust brauchen?«, fragte Corinna und blickte auf ihre Armbanduhr.

»Wenn wir gut vorankommen, können wir am späten Nachmittag in Sophienlust sein«, überlegte Jochen. »Es wird eine anstrengende Fahrt werden. Wenn du müde wirst, kannst du dich auf den Rücksitz legen und ein wenig schlafen.«

»Ich glaube nicht, dass ich die Ruhe habe, zu schlafen«, meinte Corinna. »Dazu bin ich viel zu aufgeregt.«

Jochen verstand sie. Auch ihm wurde bange, wenn er an Bärbel dachte. Doch Frau von Schoenecker hatte am Telefon erklärt, dass Bärbel die Krankheit bereits überstanden habe. Denn trotz der frühen Stunde hatten sie es gewagt, bei Frau von Schoenecker anzurufen.

»Hoffentlich dürfen wir auch wirklich schon zu ihr«, sagte Corinna aus ihren Gedanken heraus.

Jochen wusste sofort, was sie meinte. »Das glaube ich bestimmt«, tröstete er sie. »Wenn Frau von Schoenecker dir bestätigt hat, dass Bärbel über den Berg ist, dann besteht ja auch keine Ansteckungsgefahr mehr.«

Es wurde tatsächlich später Nachmittag, bis sie in die Nähe von Sophienlust kamen. Corinna hatte während der Fahrt keine einzige Minute geschlafen. Kurz vor der Abzweigung der Landstraße, die geradewegs nach Sophienlust führte, steigerte sich ihre Unruhe zur Nervosität. Vielleicht ist Bärbel doch nicht so gesund, wie Frau von Schoenecker mir am Telefon versicherte, überlegte sie plötzlich. Vielleicht wollte sie mich erst nach Sophienlust kommen lassen, um mir hier eine schreckliche Wahrheit zu sagen.

Bei solchen Gedanken, aus der Angst um ihr Kind geboren, konnten nun auch Jochens tröstende Worte Corinna nicht mehr beruhigen.

Als die beiden in den Hof von Sophienlust einfuhren, drangen fröhliche Kinderstimmen an ihr Ohr. Doch Corinna sah niemand. Sie sprang, kaum dass Jochen angehalten hatte, aus dem Wagen und ging den Stimmen nach.

Da bog gerade Denise um das Hauseck herum. Einen Moment blieb sie überrascht stehen, dann erkannte sie Corinna Saller. Mit einem erfreuten Lächeln kam sie auf die junge Frau zu. »Guten Tag, Frau Saller. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Sie reichte Corinna und anschließend auch Jochen die Hand. »Bärbel erwartet Sie schon sehnsüchtig«, fügte sie hinzu.

»Sie ist …, es geht ihr besser?«, stotterte Corinna.

»Aber ja«, bestätigte Denise sofort und sah, wie unendlich erleichtert Corinna aufatmete. Was musste die arme Frau für Ängste ausgestanden haben. »Sie haben einen guten Zeitpunkt für Ihre Rückkehr ausgewählt. Heute durften unsere drei kleinen Patienten zum ersten Mal wieder zu den anderen Kindern.«

»Gleich drei sind erkrankt?«, fragte Corinna erstaunt.

Denise nickte. »Bärbel hat zwei Kinder angesteckt. Aber diese Gefahr ist ja nun zum Glück auch vorüber.«

Bei diesen Worten atmete Corinna noch einmal erleichtert auf und tastete nach Jochens Hand. Da erkannte Denise, dass die beiden zueinandergefunden hatten. Sie freute sich darüber. »Die Kinder sitzen alle im Park hinter dem Haus und feiern die Rückkehr ihrer drei Spielgefährten bei Kakao und Torte«, berichtete sie. »Bärbel sitzt mitten unter ihnen.«

Lächelnd blickte Denise dem jungen Paar nach, das mit schnellen Schritten in Richtung der lauten Kinderstimmen ging.

Bärbel sah ihre Mutti sofort. Sekundenlang stand sie reglos und wie erstarrt, dann lief sie mit einem kleinen Schrei auf Corinna zu.

Corinna sah das schmale blasse Gesichtchen und spürte einen Stich im Herzen. Gleichzeitig aber wurde sie von einer überwältigenden Woge des Glücks hingerissen, als Bärbel sich in ihre Arme warf.

Obwohl das Mädchen viel zu schwer dafür war, nahm sie es auf den Arm und presste das Köpfchen mit den langen blonden Locken an ihre Wange. Sie spürte, wie ein Zittern durch Bärbels Körper ging. »Muttilein, meine Mutti, du warst so lange fort«, schluchzte das Kind und netzte mit ihren Tränen Corinnas Wange.

Mit ungeschickten Fingerchen streichelte Bärbel die Mutti und tastete die vertrauten und geliebten Züge ab, als wolle sie sich überzeugen, dass sie nun wirklich und wahrhaftig da war. »Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, Mutti.«

»Ich auch, mein Liebling, ich auch«, flüsterte Corinna und kostete das beglückende Gefühl, ihr Kind wieder in den Armen zu halten, voll aus. Sie schämte sich ihrer Tränen nicht.

Auch manche Augen der stummen Beobachter, die Zeugen des rührenden Wiedersehens wurden, glitzerten feucht.

»Bleibst du jetzt bei mir, Mutti?«, fragte Bärbel ängstlich.

Corinna nickte spontan. »Ja, mein kleines Mädchen. Jetzt bleiben wir für immer beisammen. Onkel Jochen wird auch bei uns bleiben.«

»Onkel Jochen?«, fragte Bärbel ungläubig und streckte ihre Ärmchen nach ihm aus.

Da nahm Jochen sie zärtlich auf den Arm und begrüßte sie.

Corinna spürte, wie ihre Angst und Nervosität sich allmählich verflüchtigten. Glücklich beobachtete sie Jochen und Bärbel, die vorübergehend ganz und gar mit sich selbst beschäftigt waren.

»Wirst du wirklich für immer bei uns bleiben?«, erkundigte sich Bärbel noch einmal bei ihm.

Jochen nickte lächelnd. »Möchtest du denn auch, dass ich bei euch bleibe, Bärbel?«

»Ja …, o ja«, stotterte sie. Dann schaute sie ihn prüfend an. »Wenn du bei uns bleibst, wirst du dann meine Mutti heiraten?«

Jochen nickte ernst. »Ja, Bärbel, das haben wir vor«, sagte er, war aber nicht ganz sicher, wie die Kleine es aufnehmen würde.

Doch Bärbel schlang ihm überschwenglich die Ärmchen um den Hals und jauchzte: »Dann wirst du ja mein Papi!«

Sie freut sich, dachte Corinna, sie freut sich, dass sie wieder einen Vati bekommt. O Gott, ich danke dir, dass sie Jochen akzeptiert.

»Darf ich dann Papi zu dir sagen?«, kam von Bärbel jetzt schüchtern die Frage. Sie schlug plötzlich die Augen nieder, als schäme sie sich.

Doch Jochen nahm sie fest in die Arme, gab ihr einen fröhlichen Kuss auf die Stirn und bestätigte: »Ab sofort bin ich dein Papi, Bärbel, auch wenn ich noch nicht mit deiner Mutti verheiratet bin. Bist du einverstanden?«

»O ja«, seufzte sie glücklich und schmiegte sich an seine Wange.

Da erkannte Corinna, wie sehr dem Kind trotz aller Mutterliebe der Vater gefehlt hatte. Sie umfasste die beiden, die nun unabänderlich zu ihr gehörten, mit einem zärtlichen und zufriedenen Blick. Erst jetzt ist mein Glück vollkommen, dachte sie. Ich liebe euch beide und werde nur noch für euer Glück leben.

Es gab so vieles zu besprechen, und da sie nun alles gemeinsam tun wollten, unternahmen sie zu dritt einen ausgedehnten Spaziergang durch den Park von Sophienlust. Dabei begegneten ihnen Denise und Anja, die ebenfalls einen kurzen Spaziergang unternommen hatten. Denise machte Corinna und Jochen mit Frau Dr. Frey bekannt.

Corinna hatte schon darauf gewartet, Anja Frey kennenzulernen und ihr zu danken für alles, was sie für Bärbel getan hatte.

Doch Anja wehrte in plötzlicher Bescheidenheit diesen Dank ab. »Was ich getan habe, betrachte ich als meine Pflicht. Ihr Kind war in Gefahr, Frau Saller, und da es zu dieser Zeit gerade zu dem Kreis der von mir betreuten Kinder gehörte, habe ich die kleine Bärbel behandelt.« Es klang so selbstverständlich, als habe sie dem Kind nur einen Brei gekocht.

Doch Corinna und Jochen und vor allem Denise wussten nur zu genau, welch zäher Kampf und welches Opfer sich hinter diesen schlichten Worten verbargen. Corinna zögerte nicht, Dr. Anja Frey ihren aufrichtigen Dank auszusprechen. Ihre Dankesworte kamen von Herzen und waren so ergreifend, dass Anja einen jener großen Momente erlebte, in denen Ärzte sich wirklich als Helfer der Menschheit fühlen.

Während Jochen mit Denise vorausging, ließ Corinna sich von Dr. Anja Frey alle Krankheitsphasen schildern, die Bärbel durchgemacht hatte. Anja verstand, dass sie in Corinna Saller eine Frau vor sich hatte, mit der sie offen sprechen konnte. Und das tat sie auch. Corinna war ihr sehr dankbar dafür.

Als Bärbel, die vorausgesprungen war, wieder zurückkam, riet Anja Corinna, das Kind zur Erholung noch einige Tage auf Sophienlust zu lassen. Dann verabschiedeten sich die beiden jungen Frauen voneinander.

Als Corinna und Jochen mit Denise allein waren, besprachen sie den Hinweis noch einmal. »Eigentlich hatten wir vorgehabt, Bärbel gleich mit nach Hause zu nehmen«, sagte Corinna. Dann schaute sie Jochen an und wurde ein wenig rot, doch sein aufmunternder Blick ließ sie weitersprechen. »Jochen, ich meine, Herr Rauscher und ich wollen nämlich heiraten.«

Ein erfreutes Lächeln glitt über Denises Gesicht. »Das freut mich für Sie beide. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Entschluss.«

Bärbel kam und schmiegte sich in Corinnas Arme. »Ich bin jetzt zu müde zum Spielen«, murmelte sie.

Denise und Corinna blickten sich an. Bärbel war immerhin an diesem Tag zum ersten Mal aufgestanden.

»Sie braucht noch sehr viel Ruhe und Erholung«, gab Denise zu bedenken.

Corinna und Jochen nickten. »Vielleicht wäre es ein Fehler, sie jetzt sofort dem gewohnten anstrengenden Alltagsleben auszusetzen«, gab Jochen zu bedenken.

Corinna nickte nachdenklich. »Wir werden jetzt sehr viel zu tun haben bis zu unserer Hochzeit.«

Da mischte sich Denise ein. »Sie haben vorhin den Ratschlag von Frau Dr. Frey gehört. Ich möchte mich dieser Meinung anschließen. Bärbel braucht noch sehr viel Ruhe und Erholung und frische Luft. Hier auf Sophienlust hätte sie das alles.« Sie hielt kurz inne, als sie Corinnas Zögern bemerkte.

Auch Jochen blickte seine Frau besorgt an. »Ich weiß, Liebes, der Gedanke, dich jetzt gleich wieder von Bärbel trennen zu müssen, ist dir fast unerträglich.«

Doch Corinna bemühte sich, logisch zu denken und vor allem die richtige Entscheidung für Bärbel zu treffen.

»Warum erholen Sie sich nicht selbst noch einige Tage bei uns?«, schlug Denise der jungen Frau nun vor, um ihr die Entscheidung zu erleichtern.

Corinna erkannte das. Ein unendlich dankbarer Blick traf Denise. Doch es ging einfach nicht. »Ich habe nur vier Wochen Urlaub und muss in zwei Tagen wieder ins Büro. Abgesehen davon sind auch die Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen.«

Das sahen Denise und auch Jochen ein. Er ergriff behutsam Corinnas Hand. »Für Bärbel wäre es das Beste, wenn wir sie während der Zeit unserer Hochzeitsvorbereitungen noch hier auf Sophienlust lassen könnten. Aber fragen wir sie doch einfach selbst.« Er zog Bärbel, die der Unterhaltung bis dahin nicht gefolgt war, auf seinen Schoß.

»Bärbelchen, du weißt doch, dass deine Mutti und ich bald heiraten wollen, nicht wahr?«

Sie schaute ihn an und nickte begeistert. »Wie bald schon?«, wollte sie wissen.

Jochen überlegte. »Nun, vielleicht in zwei oder drei Wochen.«

»So lange dauert das noch?«, schmollte Bärbel.

»Schneller geht es beim besten Willen nicht«, meinte Jochen lachend.

»Und so lange müssen Mutti und ich allein bleiben?« Bärbel schaute zuerst ihre Mutti, dann Jochen an. »Das ist aber gar nicht schön.«

»Würdest du denn bis zu der Hochzeit lieber hier auf Sophienlust bleiben und mit den Kindern spielen?«

»O ja!« Bärbel klatschte spontan in die Händchen. Doch dann trat ein besorgter Ausdruck in ihre Augen. »Gehst du denn heute schon wieder fort, Mutti?«

Corinna, die das eigentlich vorgehabt hatte, blickte ein wenig hilflos von Denise zu Bärbel.

Da kam Denise ihr zu Hilfe. »Übernachten Sie doch heute bei uns und ruhen Sie sich noch einen Tag aus, bevor Sie morgen oder übermorgen weiterfahren«, schlug sie vor. Es war als Einladung gedacht.

Corinna blickte auf Jochen. »Was meinst du? Morgen müssten wir natürlich auf alle Fälle heimfahren.«

»O ja, Mutti, bitte«, bettelte Bärbel. »Dann wären wir heute Nacht alle drei hier auf Sophienlust. Dann wäre ich auch nicht so traurig, wenn du mich noch eine Zeit lang hier allein lässt, bis zur Hochzeit.« Sie legte das Köpfchen schief und blinzelte ihre Mutti ein wenig schelmisch an.

Spontan schloss Corinna sie in die Arme.

»Du bist wirklich ein kluges Mädchen. Was denkst du, Jochen? Sollen wir ihr diesen Wunsch erfüllen?«

Da konnte Jochen nicht mehr nein sagen. Sie beschlossen, noch einen Urlaubstag auf Sophienlust anzuhängen.

Da Denise dieses Problem zur Zufriedenheit aller gelöst sah, ging sie zum Haus zurück und ließ die neugebackene kleine Familie allein.

Die Abendsonne warf lange Schatten auf den Rasen des gepflegten Parkes und vergoldete Bärbels Haar. Das Kind überlegte sichtlich. Dann fragte es:

»Wo werden wir denn nun wohnen, Papi?«

»Was hältst du davon, wenn wir uns ein kleines Häuschen mit Garten zulegen?«, fragte Jochen seine Tochter.

Begeistert klatschte das Kind in die Hände. Doch Corinna versuchte die Begeisterung zu dämpfen. »Aber, Jochen«, wies sie ihn zurecht. »Wenn du ihr solche Flausen in den Kopf setzt, wird sie später nur enttäuscht sein. Wir wohnen doch beide nur in einer Mietwohnung.«

Jochen schmunzelte geheimnisvoll. »Bis jetzt, ja, aber das soll sich in Zukunft ändern. Wozu bin ich schließlich Bauingenieur? Ich selbst werde unser Haus entwerfen. Natürlich wird es anfangs nur ein kleines Häuschen sein.«

Corinna schaute ihn verwirrt an. Sie verstand immer noch nicht. »Jochen, so ein Hausbau kostet eine Menge Geld. Natürlich wäre es schön, ein kleines Häuschen im Grünen zu haben. Aber ich bin nur eine kleine Fremdsprachenkorrespondentin mit durchschnittlichem Einkommen. Ersparnisse habe ich fast keine.« Sie senkte die Augen.

»Aber ich, Liebste!« Er schloss sie gerührt in die Arme und vergaß auch Bärbel nicht. »Wozu war ich schließlich so lange Junggeselle? Ich habe genügend Geld gespart, um unseren Traum von einem kleinen Häuschen mit Garten zu verwirklichen. Freust du dich?«

Hinter dem Haus sollte eine Schaukel stehen, und vor dem Haus würden sie einen Steingarten anlegen, in dem ein Gartenzwerg stehen sollte, den Bärbel selbst aussuchen würde. »Und Blumenbeete brauchen wir auch, Papi, und einen schönen grünen Rasen. Vielleicht können wir auch einen Vogel haben, so wie hier auf Sophienlust? Und einen Hund?«

Jochen versprach großzügig alles. Er war viel zu glücklich, um seiner kleinen Tochter einen Wunsch abschlagen zu können.

»Mutti, werdet ihr bestimmt erst heiraten, wenn ich wieder bei euch bin?«, erkundigte sich Bärbel plötzlich erschrocken.

»Aber selbstverständlich, Bärbel. Wir würden doch niemals ohne dich heiraten«, bestätigte Corinna.

Da schmiegte sich die Kleine beruhigt in Jochens Arme. Als ein kühler Abendwind aufkam und einige Wolken vor sich her trieb, die die letzten Sonnenstrahlen verscheuchten, erhoben sich Corinna und Jochen. Mit Bärbel in der Mitte gingen sie zum Herrenhaus von Sophienlust zurück.

*

Die Kinder räumten gerade Tische und Stühle wieder zusammen, als ein Wagen in den Hof von Sophienlust einfuhr. Die neugierige Vicky lief schnell, um nachzusehen, wer zu so später Stunde noch kam.

»Es ist Herr Dr. Frey!«, rief sie, als sie Stefan in dem Wagen entdeckt hatte.

Kaum hatte Felicitas das gehört, sauste sie auch schon wie der Wind um die Hausecke, Stoffel hinter ihr drein. »Vati! Vati, Mutti kommt heute mit uns nach Hause!«, rief sie ihm schon von Weitem entgegen. Ihre Wangen glühten vor Begeisterung.

Stefan wollte sie gerade auf den Arm nehmen, da kam auch Anja um die Ecke gebogen. Ihre Augen strahlten, als sie ihren so lange entbehrten Mann erblickte. »Stefan!« Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei ihm und schmiegte sich in seine Arme.

»Dass ich dich nur wiederhabe«, flüsterte er und strich ihr behutsam über das aufgesteckte blonde Haar.

Anja schmiegte ihre Wange an sein vom Bartwuchs schon wieder etwas stoppeliges Kinn und seufzte glücklich.

»Kommst du heute mit nach Hause?«, flüsterte er fragend an ihrem Ohr.

Anja löste sich von ihm und nickte.

»Schmal bist du geworden, mein Liebes.« Seine Finger fuhren nachdenklich über die Linien ihrer Stirn und ihrer Wangen. »Du musst dich in der nächsten Zeit sehr schonen.«

Die Besorgnis in seinen Augen rührte sie. »Ach, Stefan!« Sie schmiegte sich wieder glücklich in seine Arme, bis sich Felicitas neben ihnen bemerkbar machte.

»Habt ihr mich ganz vergessen?« Treuherzig blickte die Kleine zu dem umschlungenen Elternpaar auf.

Lachend lösten sich Anja und Stefan voneinander. »Mein Liebling«, sagte Anja schmunzelnd und nahm Filzchen auf den Arm. »Schöne Eltern hast du, die dich glatt übersehen.«

Nach ein paar Schritten musste Anja Filzchen wieder auf den Boden stellen, weil das Kind ihr zu schwer wurde. Sie spürte erst jetzt, wie verbraucht ihre Kräfte waren. Stefan, der nicht nur als liebender Ehemann, sondern auch als Arzt seine Frau sehr genau kannte, hatte es sofort an dem neuen angespannten Zug in ihrem Gesicht entdeckt.

»Lass uns bald nach Hause fahren«, bat er seine Frau. »Tante Elise hat zur Feier deiner Rückkehr ein großartiges Abendessen gekocht.«

»Und den Tisch hat sie im Garten gedeckt und eine Windkerze angezündet«, fügte Felicitas eifrig hinzu.

»Eine Windkerze?«, fragte Anja verständnislos.

»Sie meint ein Windlicht«, korrigierte Stefan schmunzelnd. »Aber woher weißt du das denn, Filzchen? Du bist doch schon den ganzen Nachmittag auf Sophienlust.«

»Sie hat es mir gestern verraten.« Felicitas klatschte lachend in die Händchen. Ein kleines Geheimnis war für sie etwas Faszinierendes.

Alle drei gingen zurück zu den Kindern, von denen sich Corinna und Jochen gerade verabschiedeten. Danach wandte sich Corinna noch einmal an Dr. Anja Frey und dankte ihr für die große Leistung, die sie vollbracht hatte. Es war der Dank einer Mutter, die ihr verloren geglaubtes Kind zurückerhalten hat. Anja konnte ihr die Ängste, die sie ausgestanden hatte, nachfühlen. Sie gab ihr noch ein paar Verhaltensmaßregeln für Bärbels Behandlung.

»Das ist jetzt eine gute Gelegenheit, uns ebenfalls zu verabschieden«, flüsterte Stefan seiner Frau ins Ohr. Er konnte es kaum noch erwarten, sie wieder zu Hause zu haben.

Anja lächelte verstehend. Zu lange hatten sie einander entbehren müssen. Sie reichte Denise abschiednehmend die Hand und winkte dann ihren Kindern zu. »Bis morgen«, rief sie in die Runde. Denn sie hatte sich vorgenommen, vorläufig noch täglich nach dem Befinden der drei Mädchen zu schauen.

Als sie zu Stefan in den Wagen stieg, hob Nick wie ein Dirigent die Hände und kommandierte. »Ein Hoch unserer geliebten Frau Doktor!« Und alle Kinder stimmten in den Hochruf mit ein. Sie wiederholten ihn dreimal, während der Wagen von Dr. Frey allmählich aus dem Hof von Sophienlust hinausrollte.

Die Anhänglichkeit und Dankbarkeit der Kinder rührte Anja zu Tränen. Verstohlen betupfte sie sich die Augen.

»Sie haben dich alle lieb, Mutti«, flüsterte Felicitas und streichelte bewundernd Anjas Haar.

Stoffel steckte neben Felicitas seinen Kopf zum Fenster hinaus, bis Stefan in einen höheren Gang schaltete und der Fahrtwind seine langen Ohren durcheinanderwirbelte.

Erschrocken presste Felicitas ihm die Ohren an den Kopf. »Komm herein, Stoffel, du kriegst eine Erkältung«, warnte sie, und der Hund gehorchte sofort.

Währenddessen stand Nick noch immer vor allen Kindern im Hof von Sophienlust und blickte dem davonfahrenden Wagen nach. Neben ihm standen Denise und Bärbel, die sich nun sofort wieder nach ihren Eltern umblickte.

Denise nahm das Mädchen auf den Arm und streichelte ihr langes blondes Haar. »Deine Mutti und dein Papi bringen nur ihre Sachen in die Zimmer, die sie heute Nacht bewohnen werden, Bärbel.«

»Da fahren sie nun«, bemerkte Nick lakonisch und blickte Anjas Wagen nach. Doch als er seine Mutter ansah, merkte er, dass ihre Augen zufrieden strahlten.

Als kurz darauf Alexander kam, um Denise abzuholen, erzählte sie ihm blinzelnd die Neuigkeit, dass Corinna und Jochen beschlossen hatten, zu heiraten.

Erstaunt blickte er seine Frau an, die immer noch die kleine Bärbel auf dem Arm hielt. Doch da kam auch schon Vicky, um Bärbel zum gemeinsamen Abendessen abzuholen.

»Wenn mein Papi und meine Mutti morgen wegfahren, dann kommen sie bald wieder, um mich zu holen. Nicht wahr, Tante Isi?«, fragte Bärbel ein bisschen ängstlich.

»Ganz bestimmt«, versicherte Denise ihr. »Deine Mutti und dein Papi wollen ja nur euer neues Heim herrichten, damit ihr nach der Hochzeit gleich dort wohnen könnt.«

»Wir werden in einem kleinen Haus wohnen mit einem Garten«, erzählte Bärbel aufgeregt.

Vicky, Nick und Pünktchen, die dabeistanden, hörten aufmerksam zu.

»Und einen Hund kriegen wir auch«, fuhr Bärbel fort und hatte den bevorstehenden Abschied schon fast wieder überwunden.

»Bärbel, Bärbel!« Heidi japste nach Luft, so schnell war sie gelaufen. »Wir schlafen heute wieder zusammen in unserem alten Zimmer. Tante Ma hat schon alle Sachen hinaufbringen lassen. Freust du dich?«

»Au ja.« Bärbel klatschte in die Hände. Da wusste Denise, dass sich die Kleine in der Zeit, die sie noch auf Sophienlust bleiben würde, wohlfühlen würde.

»Komm, Nick, wir fahren nach Hause!« Denise hängte sich bei Alexander ein.

»Kann ich nicht zum Abendessen auf Sophienlust bleiben?«, fragte Nick schmollend. Den ganzen Tag über war so viel Aufregendes passiert, dass seiner Meinung nach auch der Abschied interessant zu werden versprach.

»Es ist besser, du kommst mit uns nach Hause.« Dieses Machtwort kam von Alexander. »Denn wenn du auf Sophienlust in deinem alten Zimmer schläfst, dann kommen die Kinder noch stundenlang nicht zur Ruhe, so viel habt ihr euch zu erzählen.«

Nick fügte sich und stieg mit seinen Eltern in den Wagen.

»Bis morgen, Nick!«, rief Pünktchen ihm nach. Sie war immer ein bisschen traurig, wenn er wieder nach Schoen­eich fuhr. Doch es waren ja Sommerferien. Morgen hatte sie wieder einen wunderschönen Ferientag vor sich. Mit Bärbel und Heidi in der Mitte gingen Pünktchen und Vicky schließlich ins Haus.

»Du hast mit deiner Vermutung also doch recht gehabt«, sagte Alexander später am Abend, als er zusammen mit seiner Frau im Wohnzimer saß.

»Und du hattest mich ausgelacht«, neckte Denise ihn.

»Mir schien deine Annahme tatsächlich ein bisschen weither geholt«, meinte er immer noch staunend. »Aber offensichtlich haben Frauen, und besonders du, in solchen Dingen doch das bessere Einfühlungsvermögen.«

Er brachte Denise ein Glas Kognak, das sie in ihrer Hand langsam anwärmte. »Es war ein schönes Gefühl, die beiden jungen Paare in Sophienlust zu sehen«, meinte sie nachdenklich.

Alexander gab ihr nickend recht. »Wenn immer alles so glücklich endete wie in diesen beiden Fällen, gäbe es viel weniger Leid.«

*

Elise Karsten, Anjas alte Tante, stand schon an der Gartentür und hielt Ausschau, als Anja und Stefan mit Felicitas ankamen.

»Herzlich willkommen zu Hause«, sagte sie und schloss Anja mütterlich in die Arme.

Dann entdeckte Anja den aus Tannenzweigen geflochtenen Bogen über der Haustür. Darunter war ein Plakat, auf dem mit etwas ungelenken Buchstaben stand: Herzlich willkommen, Mutti!

»Hast du das gemalt, Filzchen?«, staunte Anja.

Die Kleine nickte stolz. »Nur ein bisschen hat Vati mir dabei geholfen, weil ich doch die Buchstaben noch nicht alle kenne«, gab sie kleinlaut zu. »Aber bunt ausgemalt habe ich es dann ganz allein.«

»Das ist wunderschön, Filzchen.« Anja nahm das Kind auf den Arm und küsste es auf die Wange. »Danke, Filzchen!«

Dann betraten sie das Haus, in dem es sehr ordentlich, sauber und aufgeräumt aussah. Andächtig schritt Anja durch die Zimmer. Wieder zu Hause, dachte sie erlöst. Auch in die Praxis warf sie einen Blick und entdeckte einen ganzen Stoß von Schreibarbeit.

»Das musst du übersehen«, bat Stefan ein wenig schuldbewusst. »Ich bin beim besten Willen nicht dazu gekommen. Aber nachdem wir ja jetzt wieder zu zweit sind, werde ich es schnell aufgearbeitet haben.«

»Mach dir darüber keine Gedanken, Liebster«, bat sie sanft.

Dann gingen sie auf die Terrasse hinter dem Haus, wo Elise den Tisch festlich gedeckt hatte.

»Darf ich meinen Lampion, den mit dem Mondgesicht, holen und anzünden und aufhängen?«, bettelte Felicitas aufgeregt.

»Ja, das müsste hübsch aussehen«, gestattete ihr Anja.

Sofort sauste die Kleine los, um gleich darauf mit einem großen farbenprächtigen Lampion zurückzukommen.

Stefan zündete die Kerze darin an und hängte den Lampion auf.

»Toll sieht das aus!« Begeistert klatschte Felicitas in die Hände. »Jetzt haben wir zwei Monde. Einen am Himmel und einen im Garten.«

Während Elise Karsten all die leckeren Sachen auftrug, die sie zur Feier von Anjas Rückkehr gekocht hatte, schenkte Stefan sich und seiner Frau einen kleinen Aperitif ein. »Auf deine Rückkehr, Anja!« Die Gläser klangen leise aneinander, und Stefan und Anja blickten sich einen Moment lang zärtlich in die Augen.

»Wisst ihr eigentlich, wie schön es ist, wieder zu Hause zu sein?«, seufzte Anja glücklich auf und entspannte sich in dem bequemen Korbsessel. Zwei Augenpaare, die ihres Mannes und ihres Kindes, strahlten sie voller Vertrauen und Zuversicht an. Sie war müde und erschöpft. Doch die Gewissheit, ihr privates Glück für kurze Zeit zurückgestellt zu haben, verlieh ihr neue Kraft.

»Jetzt müssen wir erst einmal essen«, bestimmte Stefan unternehmungslustig.

Felicitas gab ihm eifrig recht. »Ich habe einen Hunger wie ein Wolf«, verkündete sie und bekam große Augen, als Elise eine Platte mit feinsten Leckerbissen als Vorspeise auf den Tisch stellte.

»Mutti, schau mal, was Tante Elise alles gemacht hat«, staunte sie und streckte die Hand voreilig danach aus.

Doch Stefan nahm das vorwitzige Händchen und zog es behutsam wieder zurück. »Wir wollen doch alle gemeinsam beginnen, Filzchen, nicht wahr?«

Sie nickte schuldbewusst und setzte sich nun sittsam auf ihren Stuhl. »Muss ich heute auch so früh ins Bett wie sonst, Vati?«, fragte sie kleinlaut.

Stefan schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht, Filzchen. Heute feiern wir ja Muttis Rückkehr.« Er ergriff Anjas Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Dann begannen sie zu essen und konnten nicht anders, als Elises Kochkünste immer wieder zu loben. Stefan hatte eine Flasche Wein aus dem Keller geholt, die er nun entkorkte.

Felicitas hatte ein Glas Limonade vor sich stehen. »Kann ich auch nicht einen Schluck Wein kriegen?«, bettelte sie mit neugierigen Augen, als Stefan die goldgelbe Flüssigkeit in die hohen Pokale einschenkte.

Übermütig goß er ihr einen Schluck in ihre Limonade. »So, Filzchen, jetzt trinkst du auch Wein und darfst mit uns Großen anstoßen. Zufrieden?«

»Hm!« Felicitas war selig, wie alle Kinder, wenn sie etwas Unerlaubtes bekommen. Gleichzeitig mit Vater und Mutter hob sie ihr Limonadenglas.

»Wir trinken auf unsere geliebte Mutti und darauf, dass wir sie endlich wiederhaben«, sagte Stefan feierlich. Mit einem leisen Glockenton klangen die Gläser aneinander.

»Ach, ist das schön, dass du wieder da bist, Mutti. Weißt du, es war immer so leer ohne dich«, versuchte Felicitas ihre Gefühle zu erklären.

»Filzchen hätte es nicht treffender ausdrücken können. Das gleiche Gefühl hatte ich immer, wenn ich des Nachts allein unser Schlafzimmer betrat«, raunte Stefan seiner Frau zu.

Anja streichelte glücklich seine Hand.

»Machen wir nach dem Essen einen Spaziergang durch den Garten, Mutti?«, bettelte Felicitas. Sie waren inzwischen bei der Nachspeise angelangt.

»Ja, Filzchen, das machen wir«, antwortete Anja. »Die Abendluft ist so mild und angenehm, dass der Spaziergang allen guttun wird.« Andächtig blickte sie in den nachtdunklen Garten, in dem sich die Rosenstöcke und Büsche wie unwirkliche, traumhafte Gestalten ausnahmen. Schön war es, wieder zu Hause zu sein, unendlich schön. Dazu kam das Bewusstsein, das private Glück eine Zeit lang für ihre Schützlinge in Sophienlust geopfert zu haben.

»Das Schönste ist doch die Erholung nach getaner Pflicht«, sagte Stefan.

Anja schaute ihm in die Augen. Er verstand sie so gut, dass er manchmal sogar ihre Gedanken lesen konnte.

Während sie sich erhoben und langsam auf dem knirschenden Kiesweg durch den Garten spazierten, spürte Anja, wie ein angenehmes Gefühl der Entspannung durch ihre müden Glieder rieselte. Sie war erschöpft. Damit hatte Stefan recht. Aber noch nie hatte sie eine körperliche Erschöpfung so dankbar und angenehm empfunden.

Stefan hatte seinen Arm um Anjas Schulter gelegt.

Felicitas hüpfte mit Stoffel vor ihnen her. Als sie den hintersten Punkt des Gartens erreicht hatten, blieben sie einen Moment stehen und betrachteten das Haus. Von den erleuchteten Fenstern ging eine warme, anheimelnde Atmosphäre aus.

»Das sieht richtig gemütlich aus«, stellte Felicitas fest. »Weißt du, was das Schönste ist, Mutti?«

»Was denn, Filzchen?«

»Dass unser Haus nicht leer ist, wenn wir jetzt hineingehen. Du bist drin und Vati ist drin. Und wenn ich in der Nacht aufwache, dann brauche ich mich nicht mehr zu fürchten, weil ich ja nicht mehr allein bin.«

»Armes Filzchen, hast du dich denn gefürchtet?«

»Nur manchmal ein bisschen«, gab sie zu.

»Aber wenn du jetzt wieder da bist, fürchte ich mich nicht mehr.«

Tröstend nahm Anja die Kleine auf den Arm. Doch nach einer Weile musste Stefan sie ihr abnehmen.

»Weißt du schon, dass Bärbel jetzt auch einen Vati kriegt?«, fragte Felicitas ihn.

»Ich weiß es, Filzchen. Mutti hat es mir erzählt.«

»Dann braucht sie wenigstens nicht mehr traurig zu sein«, erklärte Felicitas.

»Woher weißt du denn, dass sie traurig war?«, wollte Stefan wissen.

»Sie hat immer so traurig geguckt, bevor sie krank wurde. Da habe ich sie einmal gefragt, ob sie traurig ist.«

»Und was hat sie dir geantwortet?«, forschte Stefan weiter.

»Dass sie nicht richtig traurig ist, weil sie ja eine Mutti hat. Aber dass sie trotzdem auch gern einen Vati haben möchte. Und nun hat sie einen gekriegt. Glaubst du, dass die drei auch so glücklich werden, wie wir es sind, Mutti?«

»Ja, das glaube ich ganz sicher«, antwortete Anja ernst.

Dann betraten sie das Haus und brachten Felicitas gemeinsam zu Bett. Nachdem sie einen Kuss von Vati und Mutti bekommen hatte, schlief die Kleine augenblicklich ein. Ein gelöstes Lächeln lag auf ihrem hübschen Kindergesicht.

Arm in Arm betraten Anja und Stefan das gemeinsame Schlafzimmer. Dort nahm der Arzt seine schöne Frau fest in die Arme. »Ich liebe dich, Anja«, flüsterte er, doch seine Augen waren sehr ernst dabei.

Genauso ernst und fast feierlich erwiderte Anja seinen Kuss, der ein Versprechen an die Zukunft war.

– E?N?D?E –

Sophienlust Box 15 – Familienroman

Подняться наверх