Читать книгу Praxis Dr. Norden Box 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Verzeihung. Aber leider hat es länger gedauert in der Praxis«, entschuldigte sich Janine Merck. Schwer atmend stand sie vor der Hütte, deren Spiegelbild im Wasser des Sees zitterte.

»Wie bei mir. Ich bin auch erst seit ein paar Minuten hier«, versicherte Dr. Arndt Stein. Er stand auf der Veranda und streckte Janine die Hand hin, um ihr hinaufzuhelfen. »Bitte.«

Der Händedruck war warm und fest.

»Danke.« Janines Wangen leuchteten nicht nur vor Anstrengung. Sie lehnte sich an das Holzgeländer und ließ den Blick über den See schweifen.

Noch stand die Sonne über den Baumwipfeln. Ihre Strahlen spielten mit den kleinen Wellen, die von den Segelbooten stammten, die draußen ihre Bahnen zogen. Begleitet wurden sie von kreischenden Möwen. Unter Janines Füßen gluckerte das Wasser an die Befestigungsmauer. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl an diesem heimeligen Ort.

»Wissen Sie, wie schön es ist, wenn man sich nicht für seine Arbeit entschuldigen muss?«, fragte Arndt Stein in ihre Gedanken hinein.

»Da haben Sie recht.« Sie nahm die Sonnenbrille ab. Hier im lichten Schatten der Bäume brauchte sie sie nicht. »Trotzdem möchte ich mich für die Aktion meiner lieben Freundin Wendy entschuldigen. Eine so offensichtliche Verkuppelungsaktion ist nicht gerade die feine englische Art.«

Tatsächlich hatte Janine die Bekanntschaft mit dem Homöopathen Dr. Arndt Stein ihrer Kollegin Wendy zu verdanken, die sie ins Café ›Schöne Aussichten‹ gelockt hatte.

»Seit wir uns kennen, haben wir uns schon viel zu oft entschuldigt.« Arndt lächelte, dass Janine weiche Knie bekam. »Außerdem bin ich Wendy wirklich dankbar für Ihre Hilfe. Sonst hätte ich Sie womöglich niemals kennengelernt. Und das wäre ein großer Verlust gewesen.« Er bot seiner Besucherin einen Platz am Tisch vor der Hütte an.

Sie setzte sich. Eine leichte Brise wehte ihr eine krause Locke ins Gesicht. Lächelnd wischte sie sie weg und blinzelte ihn an.

»Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht, verkuppelt worden zu sein«, widersprach sie und sah Arndt nach, wie er in der Hütte verschwand.

Sie hörte ein Rumpeln und Klappern, Gläser klirrten. Mit einem verheißungsvollen Plopp rutschte ein Korken aus einer Flasche. Gleich darauf kehrte er mit einem Tablett zurück. Vom kühlen Weißwein beschlagene Gläser, eine Karaffe mit Wasser, bunte Häppchen, belegt mit Kräutercreme, Oliven und Tomaten.

»Dann fangen wir doch noch einmal ganz von vorn an.« Arndt setzte sich neben Janine auf die Bank und reichte ihr ein Glas Wein. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. »Sie sind eine müde, hungrige Wanderin und zufällig hier vorbeigekommen.«

Janine dachte kurz nach. Ihr Lächeln verriet, dass ihr der Gedanke gefiel.

»Sie wollten nicht ganz allein zu Abend essen und haben mich spontan eingeladen.«

»Nein, niemals.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin viel zu schüchtern.«

»Und warum hätte ich mich selbst einladen sollen?«

Das Klingen der Gläser mischte sich mit den Schreien der Möwen.

»Weil Sie den Wink des Schicksals verstanden haben.«

Janine warf den Kopf in den Nacken und lachte. Arndt lachte mit ihr. Danach saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Ließen den Blick über den See wandern. Beobachteten die Ruderer, die im Boot über das Wasser glitten. Sie saßen so dicht nebeneinander, dass Janine die Härchen seiner Arme auf ihrer Haut spürte. Ein elektrisierendes Kitzeln.

»Ich finde, wir könnten langsam »Du sagen«, machte Arndt einen Vorschlag.

Janine schickte ihm einen schiefen Blick. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasste.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das alles wirklich so einfach ist.«

»Lass uns doch sehen, wohin uns die Reise führt.« Wie zufällig rutschte sein Arm auf ihre Schulter.

Janine lehnte sich zurück. Die Wirkung von körperlichem Kontakt war wissenschaftlich bewiesen. Mäusebabys hatten weniger Stresshormone im Blut, wenn sie den Körper der Mutter spürten. Hundewelpen schliefen in bunten Haufen über- und untereinander und Menschenkinder kuschelten sich an die Eltern. Und auch in Janines Berufsalltag gab es häufig Fälle, in denen sie am liebsten Streicheln, Kuscheln und Kümmern verschreiben wollte. Und trotzdem war da dieser warnende Ton in ihrem Kopf. Dieses Blinklicht.

»Ich habe mich schon so oft geirrt«, erwiderte sie und legte den Kopf an seine Schulter.

Arndt lachte leise.

»Ich mich doch auch.«

»Aber man muss doch …«

»Nein, muss man nicht.«

»Es gibt mindestens zehn Gründe, die dagegen sprechen«, erklärte Janine streng.

»Nenne mir einen davon.«

»Ich bin schon über vierzig.«

Arndt beugte sich vor und nahm Janine ins Visier.

»Du hast recht. Neben so einem Backfisch wie dir kann ich nur alt aussehen. Aber für dich würde ich über meinen Schatten springen.«

»Ach ja?«, gluckste Janine.

»Ja! Wirklich!«, versicherte er mit Nachdruck. »Und jetzt würde ich gern die anderen neun Gründe entkräften.« Er fasste sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich.

Janine wehrte sich nicht. Als sich ihre Lippen trafen und er sie zum ersten Mal küsste, vergaß sie, dass sie jemals auch nur einen einzigen Zweifel gehegt hatte.

*

»Alles in Ordnung, Wendy?«, erkundigte sich Dr. Danny Norden. Bereit zum Aufbruch in den Feierabend stand er am Tresen. Nur die Miene seiner langjährigen Assistentin hielt ihn davon ab, die Praxis zu verlassen.

»So in Ordnung, wie es eben sein kann, wenn die ganze Welt um einen herum entweder frisch verliebt oder in ein neues Haus eingezogen ist oder ein anderes aufregendes Abenteuer erlebt.« Unverwandt starrte Wendy auf den Bildschirm ihres Computer. »Nur bei mir, da passiert einfach nichts.«

»Haben Sie nicht neulich noch behauptet, sie wären eine gnadenlose Optimistin?«

»Da muss ich betrunken gewesen sein.«

Unwillkürlich dachte Danny an die Karten, die in seiner Sakkotasche steckten. Er trug sie schon eine Weile mit sich herum, immer auf der Suche nach dem passenden Augenblick, sein Geschenk zu überreichen. War das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte?

»Vielleicht hebt sich Ihre Stimmung ja, wenn Sie sich das hier ansehen.« Er zog das Kuvert aus der Sakkotasche und reichte es Wendy.

Sie betrachtete es, als hätte er ihr Schneewittchens vergifteten Apfel in die Hand gedrückt.

»Was ist das?«

»Machen Sie es auf!«

Der Umschlag raschelte. Es folgte ein Schnauben.

»Ein Salsa-Tanzkursus?« Wendy rümpfte die Nase. »Was soll denn das?«

Lange hatte Danny darüber nachgedacht, wie er sich bei seiner Assistentin für die Rettung seines Vermögens erkenntlich zeigen konnte. Wendy und ihren guten Kontakten war es zu verdanken, dass er aus der Pleite seines Containerinvestments lediglich mit geringem Verlust herausgegangen war.

»Damit möchten Tatjana und ich uns für Ihre Unterstützung bedanken. Und wer weiß, vielleicht ist das genau die Art Abenteuer, die Sie gerade brauchen.«

Wendy schien gänzlich anderer Meinung zu sein.

»Seit wann ist ein Tanzkursus ein Abenteuer? Noch dazu Salsa?«

Schon bereute Danny, die Idee seiner Frau aufgegriffen zu haben.

»Dann sehen Sie es eben als Entspannung. Sie arbeiten zu ohnehin zu viel.«

»Wie und wo ich mich entspanne, entscheide ich immer noch selbst«, knurrte Wendy und knallte die Karten auf den Tisch.

So schlecht gelaunt wie an diesem Abend hatte Danny seine Assistentin selten erlebt. Am liebsten hätte er die Tickets wieder eingesteckt und wäre verschwunden. Doch dazu war es jetzt zu spät.

»Die Kursusgebühr für uns beide ist längst bezahlt. Meine Eltern sind übrigens auch mit von der Partie.«

Konnte es noch schlimmer kommen? Sie, die etwas rundliche Dame mittleren Alters in den Armen eines jugendlichen Adonis?

»Ich soll mit dir tanzen? Und was ist mit Tatjana?«

»Nach dem Umzug verbringt sie lieber jede freie Minute in der Villa. Es gibt noch so viel zu tun. Außerdem will sie Fynn nicht ständig betreuen lassen.«

»Das ist ja mal wieder typisch. Die Frau bleibt bei dem Kind und der Mann hat seinen Spaß.«

»Meinetwegen können Sie auch gern mit Tatjana tanzen. Dann passe ich auf meinen Sohn auf.« Danny schmunzelte. Die Vorstellung der beiden tanzenden Frauen war zu schön.

»Mach dich nur lustig über mich.«

Danny seufzte.

»Warum freuen Sie sich dann nicht einfach über unser Geschenk?« Ihm blieb ein letzter Ausweg. »Oder haben Sie etwa Angst, sich zu blamieren?«

»Ich? Mich blamieren?« Wendy warf den Kopf in den Nacken. »In meiner Jugend war ich die begehrteste Tänzerin auf dem Schwarz-Weiß-Ball.«

»Dann kann ja gar nichts mehr schief gehen.« Danny ging zur Tür. »In einer Woche geht es los.«

*

»Die arme Wendy.« Dr. Daniel Norden griff über den Tisch und angelte die Dose Parmesan. Großzügig verteilte er den italienischen Käse über seinen Nudeln mit Tomatensauce. »So ein Tanzkursus hätte mir gerade noch gefehlt.« Unter den Blicken seiner Frau wickelte er eine Gabel Spaghetti auf. »Wie sind Danny und Tatjana nur auf so eine Idee gekommen?« Er schob die Nudeln in den Mund.

Fee saß ihrem Mann gegenüber und beobachtete ihn.

»Ich finde diese Idee großartig. Endlich mal was anderes als die immer gleichen Gutscheine, die man nie einlöst. Oder die Fresskörbe mit Lebensmitteln, die in den Keller wandern und dort ein Aschenputteldasein führen, bis sie entsorgt werden.«

Daniel kaute und schluckte. Die Botschaft hinter den Worten seiner Frau war unmissverständlich.

»Komm bitte nicht auf die Idee, mir einen Tanzkursus zu schenken.«

Fees Lächeln war verdächtig.

»Und wenn ich dich ganz lieb bitte«, säuselte sie.

Daniel kannte seine Frau. Und er kannte sich. Wenn sie diesen Ton anschlug, diese Miene aufsetzte, war er verloren. Das durfte nicht passieren. Nicht dieses Mal.

»Das nützt gar nichts«, behauptete er und rollte eine weitere Gabel Nudeln auf.

Felicitas tat es ihm nach. Eine Weile herrschte Schweigen. Schon hegte Daniel die Hoffnung, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen würde, als Fee zum nächsten Schlag ausholte.

»Weißt du noch, der letzte Ärzteball?« Ein Unschuldslamm hätte nicht harmloser aussehen können.

»Das Essen war wirklich gut.«

»Das meine ich nicht. Ich dachte vielmehr an die arme Elena. Du bist ihr beim Tanzen so oft auf die Füße gestiegen, dass Matthias sie versorgen musste.«

»Das war ich nicht.«

»Hat sie mir aber erzählt.«

»Ich kann mich nicht erinnern«, behauptete Daniel und griff nach der Serviette. Er tupfte Reste von Tomatensauce von den Lippen.

»Noch eine Portion?« Fee war die Liebenswürdigkeit in Person.

»Nein, danke. Mir ist der Appetit vergangen.« Er seufzte tief. »Lass mich raten: Du hast uns längst angemeldet.«

»Stimmt auffallend, mein Schatz.« Fee hauchte einen Luftkuss über den Tisch. »Wusstest du, dass Paare, die sich gemeinsam in neue Abenteuer stürzen, ihre Beziehung stärken? Die geteilten Erlebnisse machen nicht nur Spaß, sondern heben uns auch aus der Alltagsroutine. Und das schadet auf keinen Fall, so viel, wie wir arbeiten.«

Daniel neigte den Kopf.

»Komisch. Wieso wusste ich von Anfang an, dass ich keine Chance habe?«

Fee stützte das Kinn in die Hand und blinzelte ihren Ehemann über Töpfe und Gläser hinweg verliebt an.

»Vielleicht, weil du mich so gut kennst wie niemand sonst. Und das will schon etwas heißen.«

*

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ehe es sich Wendy versah, war der erste der beiden Kursustage gekommen. Nur noch ein paar Stunden Arbeit, und es wäre so weit. Sie stand am Fenster und sah ihrer Freundin Janine dabei zu, wie sie sich von ihrem neuen Freund verabschiedete.

»Vielen Dank für die wunderbare Mittagspause.« Janine stand vor Arndt auf dem Gehweg. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

»Es war mir ein Vergnügen, schöne Frau.«

»Warum schaust du dann so traurig?«

»Weil mir der Abschied von dir jedes Mal schwerer fällt.«

»Aber wir sehen uns doch heute Abend schon wieder.« Wenn Janine an ihre Pläne dachte, wurde ihr mulmig im Magen. »Ich lerne Malte kennen. Schon vergessen?«

Arndt lächelte.

»Wie könnte ich das vergessen?« Der Wind wehte ihr eine Strähne ins Gesicht. Er streckte die Hand aus und wischte die Locke zärtlich weg. »Meine beiden liebsten Menschen an einem Tisch. Gibt es etwas Schöneres?«

Janine knabberte an der Unterlippe.

»Hoffentlich mag dein Sohn mich.«

»Er wird dich lieben«, versprach Arndt und küsste Janine noch einmal, ehe er sich auf den Weg machte.

Wie auf Wolken kehrte sie in die Praxis zurück.

»Na, ihr zwei Turteltauben!« Wendys Stimme klang unfreundlicher als beabsichtigt. »So sieht es also aus, wenn du etwas langsam angehen lässt.« Sie versuchte ein Lächeln. Es misslang gründlich.

Janine dachte nicht daran, sich die gute Laune verderben zu lassen.

»Was ist los mit dir, Wendylein?«, fragte sie und ging in die Küche, um Kaffee zu holen. »Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war, Arndt und mich zusammenzubringen!«

Wendy bedankte sich für die Tasse, die ihre Kollegin ihr in die Hand drückte. Um Zeit zu gewinnen, trank sie einen Schluck.

»Ja, schon«, erwiderte sie gedehnt. »Ich freue mich ja auch für euch.«

»Aber?«

»Kein Aber. Ich habe keine Lust auf diesen dummen Tanzkursus heute Abend. Was haben sich Danny und Tatjana nur dabei gedacht?«

»Warum fragst du unseren Chef nicht gleich selbst? Da kommt er gerade.« Janine war ans Fenster getreten.

Sie beobachtete Danny, wie er aus dem Wagen stieg. Sie sah auch den jungen Mann, der in atemberaubender Geschwindigkeit auf dem Gehweg heran schoss. Das Fortbewegungsmittel unter seinen Füßen hatte Janine noch nie gesehen. Es sah aus wie ein Skateboard, hatte aber statt vier kleiner Rädern auf der Unterseite an jedem Ende ein großes Rad. Der junge Mann schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Den Grund dafür erkannte Janine, als er näherkam. Ein Kabel führte von der Hosentasche in seine Ohren. Die Augen auf den Boden vor sich gerichtet, bemerkte der junge Mann den Fußgänger nicht, der den Weg entlang ging. Erschrocken klopfte Janine an die Scheibe. Danny Norden blieb stehen. Janine konnte gerade noch einen Schrei ausstoßen. Dann wälzte sich auch schon ein Knäuel Menschen auf dem Boden.

Janines spitzer Schrei ließ Wendy hochfahren. Kaffee spritzte über die Schreibtischunterlage. Sie achtete nicht darauf und folgte ihrer Freundin und Kollegin nach draußen.

»Alles in Ordnung, Chef?«, rief Janine schon von Weitem. Sie atmete auf, als er sich hochrappelte.

»Alles gut.«

Im nächsten Augenblick beugte sich Danny über den jungen Mann, der auf dem Boden saß, die Hände um das rechte Knie geschlungen. Ein feuchter Fleck färbte den Jeansstoff dunkel.

»Hast du dir weh getan?«

»Geht schon.«

Dr. Norden überlegte nicht lange.

»Am besten, du kommst mit in die Praxis.« Er bemerkte den fragenden Blick. »Ich bin Arzt.«

»Wie praktisch.« Der Teenager schnitt eine Grimasse. Zumindest seinen Humor schien er noch nicht verloren zu haben. Er rappelte sich hoch, sammelte sein Fahrzeug ein und ließ sich von der kompletten Belegschaft in die Praxisräume begleiten. »Tut mir leid, dass ich Sie umgefahren habe«, entschuldigte er sich bei Danny Norden.

»Das alles war meine Schuld«, jammerte Janine und hielte die Tür zum Behandlungszimmer auf. »Wenn ich nicht an die Scheibe geklopft hätte …«

»Dann hätte mich der junge Mann einen Meter weiter über den Haufen gefahren«, beendete Danny den Satz. »Ein Glück, dass du wenigstens einen Helm aufhast.«

»Ohne den lässt mein Vater mich nicht Hoverboard fahren.«

»Kluger Mann.« Danny nickte anerkennend. »Was ist das überhaupt für ein Ding?« Er deutete auf das Board, das unschuldig am Schrank lehnte.

»Ein Hover- oder E-Board«, erklärte der junge Mann mit Besitzerstolz. »Es hält sich durch eine elektronische Antriebsregelung selbst in Balance. Durch Gewichtsverlagerung und die Fußstellung kann der Fahrer die Richtung bestimmen.«

»Vorausgesetzt, er ist nicht durch Musik abgelenkt«, ergänzte Danny schmunzelnd.

Der Teenager erwiderte das Lächeln.

»Ohne Musik macht es nur halb so viel Spaß.«

»Verstehe.« Danny nickte und streckte die Rechte aus. »Ich bin übrigens Danny Norden«, stellte er sich vor, als sein Patient vor ihm auf der Liege lag.

»Mein Name ist Malte Stein.«

Klirrend fiel eine Schere zu Boden. Janine fuhr herum und starrte den Teenager an.

»Dein Vater ist Arndt Stein? Der Arzt?«

Malte lächelte.

»Stimmt. Kennen Sie sich?«

»Ich … Wir … Nun ja …« Wie sollte sie ihm beibringen, dass sie die neue Freundin seines Vaters war?

Maltes Augen wurden schmal.

»Sind Sie die neue Freundin von meinem Vater? Super! Ich wusste ja, dass er einen guten Geschmack hat.«

»Vielen Dank für die Blumen.« Janine schluckte. Was hatte Arndt seinem Sohn erzählt? Und überhaupt: Wie viele Frauen hatte er seinem Sprössling schon präsentiert, seit die Mutter die Familie verlassen hatte? In diesem Moment verfluchte sie ihre Zurückhaltung. »Genau die bin ich. Ich sollte heute Abend zu euch zum Essen kommen.«

»Und? Wollen Sie jetzt nicht mehr?«

Janine stand noch immer da und suchte nach Worten. Deshalb beschloss Danny, das Ruder wieder zu übernehmen.

»Zuerst einmal sollten wir herausfinden, ob Sie heute Abend überhaupt einsatzfähig sind.«

»Du. Nicht Sie. Sonst fühle ich mich so alt.« Malte deutete auf die Schere, die noch immer auf dem Boden lag. »Um das herauszufinden, brauchen wir die wahrscheinlich. Anders komme ich aus der Hose nicht mehr raus.«

Das war das Signal für Janine. Sie bückte sich nach der Schere. Froh, etwas tun zu können, machte sie sich ans Werk.

*

Seit dem Umzug in ihr Wolkenkuckucksheim – so hatte Tatjana die alte Villa getauft – verbrachte sie jede freie Minute in ihrem neuen Zuhause. Zum Glück lag es fußläufig zur Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ und war in weniger als zehn Minuten zu erreichen. Statt wie sonst Kaffeepausen in der Bäckerei zu machen, sprintete Tatjana mehrmals täglich hinüber, um eine Nische auszumessen oder eine Umzugskiste auszuräumen. Besonders geeignet dazu war die Stunde zwischen Mittag und Kaffeezeit, wenn nur wenige Gäste im Café saßen. Diese Gelegenheit nutzte Tatjana auch an diesem frühen Nachmittag. Atemlos sprang sie den Gartenweg hinauf. Den Blick auf das Nachbarhaus vermied sie dabei wohlweislich. Thomas und Evelyn Eckert hatten tief in die Trickkiste gegriffen, um ihnen das neu erworbene Haus zu einem günstigen Preis abzuschwatzen. Deshalb stand es um ihr Verhältnis nicht zum Besten. Kein Problem für Tatjana. Sie war wild entschlossen, ihr neues Paradies mit Krallen und Zähnen zu verteidigen.

Doch daran verschwendete sie im Augenblick keinen Gedanken. Wie jedes Mal, wenn sich der Schlüssel im Schloss der schweren Holztür drehte, veränderte sich Tatjanas Gesichtsausdruck. Wie verzaubert wanderte sie durch die Zimmer. Genoss das Geräusch, das ihre Absätze auf den schwarz-weiß gemusterten Steinfliesen machten. Lauschte auf das Knarren der Holzdielen und das Zwitschern der Vögel in den alten Bäumen im Garten. Stundenlang hätte sie durch die noch spärlich möblierten Räume wandern und träumen können. Schweren Herzens besann sie sich auf den Grund, wegen dem sie gekommen war. In ihrem Lager über der Bäckerei war sie auf einen Küchenwagen aus Holz gestoßen. Auf Rollen, mit solider Arbeitsplatte und Schubladen für Arbeitsbesteck. Ob er wohl in die Küche der Villa passte? Zu diesem Zweck zückte Tatjana den Zollstock und wollte sich an die Arbeit machen, als ein tiefer Gong durch das Erdgeschoss hallte. Tatjana zögerte. Sollte sie wirklich öffnen, oder lieber ihre Arbeit machen? Schließlich konnte sie nicht ewig hierbleiben. Titus und Florentina brauchten ihre Unterstützung in der Bäckerei. In diese Überlegungen hinein läutete es wieder. Seufzend machte sich Tatjana auf den Weg zur Tür. Und bereute es zwanzig Sekunden später zutiefst.

»Evelyn.« Ausgerechnet ihre Nachbarin.

Sie hielt Tatjana einen Kaktus im Topf hin.

»Kleines Geschenk zum Einzug.«

»Danke.« Tatjana sah Evelyn Eckert nach, die an ihr vorbei durch den Flur schlenderte. Bei jedem Schritt klimperte und klirrte es. Sollte sie zum Angriff übergehen? Andererseits war ein Nachbarschaftskrieg nicht gerade erstrebenswert. Vielleicht war es besser, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

»Ich wollte mal sehen, wie ihr euch so einrichtet«, hallte Evelyns Stimme durch das Erdgeschoss.

Tatjana stellte den Kaktus auf einen der Umzugskartons, die sich in jeder Ecke stapelten, und nahm die Verfolgung auf.

»Wir müssen ja beide arbeiten. Deshalb haben wir beschlossen, den Umzug Stück für Stück zu machen.«

Evelyn war im Wohnzimmer angekommen. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse.

»Interessante Wandfarbe. Aber das kommt wahrscheinlich dabei heraus, wenn sich ein halbblinder Mensch als Innenarchitekt versucht.«

»Die Wände sind weiß, Evelyn.« Tatjanas Lächeln passte nicht recht zu ihrer spitzen Stimme. »Schlicht und ergreifend weiß.«

»Bisschen langweilig, findest du nicht?«

»Beruhigend.«

»Na ja.« Evelyn verstand den Wink mit dem Zaunpfahl nicht. Sie ließ die Fingerspitzen über Möbelstücke gleiten. Entdeckte das Gitterbett im Kinderzimmer und blieb davor stehen. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Das ist nicht euer Ernst, oder?« Sie drehte sich um und deutete aus dem Fenster. »Mein Büro liegt in dieser Richtung. Ich kann nicht arbeiten, wenn es zu laut ist.«

»Dann hoffen wir mal, dass Fynn bei deinem Anblick nicht erschrickt«, platzte Tatjana heraus.

Evelyn schnaubte sehr undamenhaft. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stöckelte aus dem Zimmer. Ihr Schmuck klimperte und klirrte im Takt ihrer Schritte. Wenig später fiel die Haustür ins Schloss. Tatjana konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Obwohl sie ganz genau wusste, dass das erst der Anfang gewesen war.

*

»Du hattest Glück im Unglück.« Dr. Danny Norden zog ein Papiertuch aus dem Spender und wischte das durchsichtige Gel von Maltes Knie. Ein zweites Tuch diente zur Reinigung des Schallkopfes. Mit Hilfe des Ultraschalls konnte Danny Norden Weichteile wie Schleimbeutel, Sehnen und Muskulatur sichtbar machen. »Die Hautwunde ist nur oberflächlich und dein Knie lediglich geprellt.« Er nickte hinüber zu Janine.

Die verstand die stumme Aufforderung und verließ das Zimmer, um eine Kühlkompresse zu holen. PECH hieß die Behandlung der Wahl. Pause, Eis, Compression, Hochlagern. All diese Maßnahmen waren nötig, um den Schaden der Verletzung so gering wie möglich zu halten.

Malte versuchte, sich aufzusetzen. Das Vorhaben misslang.

»Warum tut das dann so weh?«, keuchte er und sank auf die Liege zurück.

Danny nahm den Ausdruck aus dem Fach und zeigte ihn dem jungen Mann. Mehr als ein Gewimmel aus allen erdenklichen Grauschattierungen konnte Malte nicht erkennen. Danny Norden sah ihm die Ratlosigkeit an.

»Das liegt daran, dass bei dem Sturz das weiche Gewebe unter der Haut gegen die harte Kniescheibe gedrückt wurde. Diese Prellung verursacht Risse von mittelgroßen und kleinen Blut- und Lymphgefäßen.« Mit dem Zeigefinger umkreiste er die entsprechenden Stellen auf dem Ultraschallbild. »Das Blut fließt durch die Gefäßrisse in die vorhandenen Zwischenräume, es bilden sich ein Bluterguss und eine Schwellung.«

»Und wie lange dauert der Spaß?«

Janine kehrte mit dem Kühlkissen zurück. Danny dankte ihr mit einem Lächeln.

»In ungefähr sechs Wochen bist du wieder einsatzfähig.«

»Sechs Wochen?« Malte sog die Luft durch die Lippen. »Das kriegt mein Dad bestimmt schneller hin.«

»Nichts für ungut. Aber zaubern kann dein Vater auch nicht«, gab Dr. Norden zu bedenken. Ganz im Gegenteil schien Arndt Stein bei seinem Sohn beide Augen zuzudrücken. Wie sonst ließ sich erklären, dass der Teenager so erschreckend mager war? Er saß vor der Behandlungsliege und betrachtete seinen Patienten nachdenklich. »Sag mal, kann es sein, dass nicht die Musik Schuld war an dem Sturz?«

Malte legte den Kopf schief.

»Wie meinen Sie das?«

»Ist dir vorhin schwindlig geworden? Oder kurz schwarz vor Augen?«

Die Miene des Jungen verschloss sich. Er drehte den Kopf weg.

»Nein. Wieso?«

Sollte Danny Norden seine Gedanken laut aussprechen? Doch das konnte bedeuten, dass er das Vertrauen des jungen Mannes komplett verspielte.

Janine verstand die Not ihres Chefs. Sie selbst war erschrocken, als unter dem Hosenstoff das Storchenbein zum Vorschein gekommen war.

»Dein Blutdruck ist ungewöhnlich niedrig. Deshalb nehme ich dir ein bisschen Blut ab«, eilte sie Dr. Norden zu Hilfe. »Wie sieht es denn mit deinem Appetit aus?« Sie legte den Stauschlauch um den Arm.

»Ach, das meinen Sie.« Malte lachte. Es klang nicht echt. »Ich kann richtig reinhauen. Auch wenn man mir das nicht ansieht.«

»Das tut man wirklich nicht.« Jenny desinfizierte die Stelle in der Armbeuge. »Achtung, jetzt piekst es ein bisschen.«

Malte zuckte noch nicht einmal zusammen, als sie die Nadel unter der Haut versenkte.

»Da lasse ich mir lieber zehn Mal Blut abzapfen, als mir ein Mal das Knie zu prellen.«

Janine lächelte.

»Das kann man sich leider nicht aussuchen.« Röhrchen um Röhrchen füllte sich mit Blut. »Soll ich deinen Vater informieren?«

»Der hat jetzt Sprechstunde. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, müsste ich dringend mal telefonieren.«

Janine verstand den Wink mit dem Zaunpfahl.

»Wir sind schon weg«, erwiderte sie.

Ein paar Minuten später machte sie ihr Versprechen wahr und verließ gemeinsam mit Danny Norden das Zimmer.

*

»Na bitte! Ich habe dir doch gesagt, dass Malte dich nicht absichtlich versetzt hat.« Nele Kiesbauer hatte es sich auf ihrem Lieblingsstuhl im Café ›Schöne Aussichten‹ bequem gemacht. Ihre Freundin Antonie legte das Mobiltelefon zurück auf den Nierentisch. »Was ist denn überhaupt passiert?«

»Er ist mit dem Hoverboard gestürzt.« Falten kräuselten Antonies Stirn. »Zum Glück hat er einen Arzt über den Haufen gefahren. Der hat ihn gleich mit in die Praxis genommen.«

Nele beugte sich vor und angelte ihre Schokomilch vom Tisch.

»Dann können wir ja zusammen ins Jugendzentrum gehen. Ich will unbedingt die Band sehen, die dort auftritt.«

»Das kann ich nicht machen. Ich habe Malte versprochen, mit ihm dort hinzugehen.«

»Aber wenn er nicht laufen kann …«

Antonie zuckte mit den Schultern und schob die Gabel in den Mund. Schokoladenkuchen mit Kirschen. Bittersüß wie die Liebe.

»Dann muss ich eben darauf verzichten«, erklärte sie schließlich.

Nele nahm ihre Freundin ins Visier.

»Seid ihr jetzt eigentlich zusammen?«

Antonie beugte sich vor. Die Haare fielen ihr ins Gesicht.

»Keine Ahnung.«

»Wer weiß es denn, wenn nicht du?«

»Malte vielleicht?« Antonie zuckte mit den Schultern. Versonnen lächelte sie den Kuchen an. »Ich finde ihn einfach nett.«

»Nur nett?«

»Ja. Nein. Ach, was weiß ich.« Antonie beschloss, die Herausforderung anzunehmen. Sie warf das Haar in den Nacken und sah ihre Freundin offen an. »Er ist irgendwie anders als die anderen Jungs. Er redet nicht die ganze Zeit nur über sich selbst und prahlt mit seinen Heldentaten. Wir können uns richtig gut unterhalten. Er stellt mir Fragen und interessiert sich für mich. Und er bringt mich zum Lachen.« Je mehr sie ins Schwärmen geriet, umso strahlender wurde das Leuchten in ihren Augen. »Außerdem mögen wir die gleiche Musik und schauen die gleichen Serien.«

»Klingt ja nach einem echten Traummann.« Nele erschrak selbst über ihren Ton.

Antonia zuckte zusammen.

»Du bist doch nur neidisch, weil Lars dich wegen Anna sitzen gelassen hat.«

Die Spitze saß. Nele biss sich auf die Unterlippe. Sie zwirbelte eine Strähne zwischen den Fingern und schickte ihrer Freundin einen entschuldigenden Blick.

»Tut mir leid. War nicht so gemeint«, murmelte sie. »Ich will nur nicht, dass unsere Freundschaft wegen einem Kerl kaputtgeht.«

Antonie überlegte kurz. Dann gab sie sich einen Ruck. Streckte die Hand über den niedrigen Nierentisch.

»Das wird nicht passieren. Nicht wegen Malte.«

»Das würde ich auch gar nicht zulassen.«

*

»Guten Tag, die Damen!«, grüßte Arndt Stein die beiden Assistentinnen der Praxis Dr. Norden. Gleichzeitig sah er sich im Praxisflur um. »Wo ist Malte?«

»Ich bringe dich zu ihm«, bot Janine an und kam um den Tresen herum. Sie überlegte kurz, ob sie ihn mit einem Kuss begrüßten sollte, entschied sich aber dagegen. Das hier war nicht der richtige Ort für Vertraulichkeiten dieser Art. »Mach dir keine Sorgen. Soweit ist alles in Ordnung.«

»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Arndt heftete sich an ihre Fersen. »Dummerweise ist es nicht einfach, sich abzuseilen, wenn man allein in der Praxis ist.«

»Was ist denn mit deiner Sprechstundenhilfe?«

»Gisela musste früher weg.« Vor dem Behandlungszimmer blieben sie stehen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es heutzutage ist, zuverlässiges Personal zu bekommen.« Unvermittelt griff Arndt nach Janines Händen. »Warum kommst du nicht zu mir? Das wäre die perfekte Lösung. Dann könnten wir uns jeden Tag sehen und müssten nicht immer Abschied voneinander nehmen. Mal abgesehen davon, dass ich die beste Assistentin der Stadt, ach was, des ganzen Landes hätte.«

Janine lachte. Ihre Wangen glühten.

»Jetzt ist nicht der richtige Moment für Scherze.«

»Das ist kein Scherz.« Arndts Miene bestätigte seine Worte. »Du interessierst dich für Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin, bist gelernte Krankenschwester und hast eine Zusatzausbildung in ambulantem Operieren. Besser geht es nicht.«

»Deine Anerkennung ehrt mich. Aber findest du das nicht ein bisschen überstürzt? Ich habe erst heute deinen Sohn kennengelernt.«

Arndt zog eine Augenbraue hoch.

»Und? Versteht ihr euch nicht?«

»Doch. Malte ist ein ausgesprochen netter junger Mann, den du jetzt besuchen solltest.« Um die Diskussion zu beenden, öffnete Janine die Tür.

»Na endlich. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen«, begrüßte Malte seinen Vater.

Janine zog sich diskret zurück.

»Die Patienten kennen kein Pardon«, entschuldigte sich Arndt und trat zu seinem Sohn. »Was machst du denn für Sachen?«

Malte schnitt eine Grimasse.

»Ich kann nichts dafür, dass Dr. Norden nicht aus dem Weg gegangen ist.«

»Lass mich raten! Du bist wieder mit diesem Höllenteil gefahren und hast dabei Musik gehört.«

»Aber ich hatte einen Helm auf.«

Arndt lachte und schüttelte den Kopf.

»Du bist unmöglich. Lass mal sehen!« Er beugte sich über das Knie. »Tut es sehr weh?«

»Solange ich mich nicht bewege, geht es.«

Arndt prüfte den Sitz der Bandage.

»Sieht aus, als hätte der Kollege Norden gute Arbeit geleistet.«

»Du hättest es bestimmt genauso gut gemacht. Wenn nicht besser.«

»Dein Vertrauen ehrt mich.« Arndt klopfte seinem Sohn auf die Schulter.

»Ich verstehe nur nicht, warum er mir Blut abgenommen hat«, fuhr der junge Mann fort und deutete auf das Pflaster in der Armbeuge.

Dr. Stein runzelte die Stirn.

»Das wird er uns bestimmt erklären, wenn er gleich zu uns kommt.«

*

»Schau mal ins E-Mail-Postfach!« Wendy saß am Schreibtisch. Ihr Blick ruhte auf dem Bildschirm des Computers. »Das Labor von Malte Stein ist da.«

»Da haben sich die Kollegen aber beeilt.« Danny Norden hatte die letzte Patientin des Tages zur Tür gebracht und gesellte sich zu seinen Assistentinnen an den Tresen. »Wie sehen seine Werte aus?«

»Augenblick.« Janine tippte ein paar Befehle ein. Das Licht des Monitors fiel auf ihr Gesicht.

Danny betrachtete sie besorgt.

»Das scheint ja nicht gut auszusehen.« Er trat hinter sie und warf einen Blick über ihre Schulter. »Die Eiweißwerte sind sehr niedrig.«

»Sehen Sie sich die Leberwerte an!« Janine deutete auf die entsprechende Zeile.

»Der Junge hat akute Mangelerscheinungen.«

»Kein Wunder, dünn wie er ist«, murmelte Janine vor sich hin. Wieder musste sie an sein knochiges Knie denken.

»Wie alt ist er?«, erkundigte sich Wendy.

»Fast siebzehn.«

»Wirklich? Ich hätte ihn keinen Tag älter als fünfzehn geschätzt.«

Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, wiegte Janine den Kopf.

»Sieht alles nach einer Entwicklungsstörung aus. Vielleicht eine Essstörung.«

»Das habe ich ihn schon gefragt.« Danny Norden richtete sich auf und streckte den Rücken durch. »Er hat steif und fest behauptet, er würde genug essen.«

»Mal abgesehen davon hätte Arndt das doch gemerkt«, erwiderte Janine. »Er betont immer wieder, wie gut er sich mit seinem Sohn versteht und welch enges Verhältnis sie haben, seit Maltes Mutter die Familie verlassen hat.«

Wendy lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.

»Gerade deshalb könnte es sein, dass sein Vater etwas übersehen hat«, gab sie zu bedenken.

»Aber Essstörungen sind doch eher ein weibliches Problem«, bemerkte Janine.

»Irrtum.« Wendy streckte die Hand nach dem Stapel Papier aus, der sich auf der linken Seite ihres Schreibtischs auftürmte. Eine Weile raschelte sie darin herum, ehe sie triumphierend eine Broschüre durch die Luft schwenkte. »In diesem Heft steht, dass gerade junge Männer in ihrem Selbstbewusstsein verunsichert sind und aus diesem Grund klassische Frauenmuster aufgreifen.« Sie klappte die Broschüre auf und überflog den Text. »Hier haben wir es ja! Hört zu!« Sie hielt den rechten Zeigefinger hoch. »Der Mann ist zunehmend körperorientiert und klinkt sich aus der traditionellen Geschlechterrolle aus. Er wird empfänglicher für Werbung. Seit dem Aufkommen moderner Lifestyle-Magazine für Männer, in denen unerreichbare körperliche Ideale abgebildet werden, ist ein erhöhter Anstieg an Essstörungen bei männlichen Jugendlichen zu verzeichnen.«

Danny Norden hatte aufmerksam zugehört. Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe nicht den Eindruck, als litte Malte unter psychischen Störungen.«

»Und was haben Sie jetzt vor?« Janine sah ihren Chef fragend an.

Danny streckte die Hand nach Wendys Broschüre aus.

»Der Verdacht einer Störung ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb werde ich mit seinem Vater sprechen. Haben Sie die Telefonnummer?«

»Arndt Stein ist gerade bei seinem Sohn«, teilte Wendy ihrem Chef mit.

»Oh, gut. Dann begeben ich mich mal in die Höhle des Löwen.« Auf halbem Weg drehte sich Danny noch einmal um. »Aber freuen Sie sich nicht zu früh!« Er zwinkerte Wendy zu. »Dem Salsa-Kursus heute Abend entgehen Sie nicht. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«

*

Seit einer Weile hatte es sich Fynn angewöhnt, vor jedem neuen Krippentag seinen Kinderkoffer mit all den Dingen zu packen, die ihm wichtig waren. Deshalb dauerte es auch bei jedem Abholen, bis Teddy, Schmusetuch und das aktuelle Lieblingsbuch wieder verstaut waren und der kleine Mann bereit für den Heimweg war.

»Und? Hattest du deinen schönen Tag?«, fragte Tatjana, während sie Hand in Hand mit ihrem Sohn den Gehweg entlang schlenderte.

»Ich bin Bagga gefaht. Aba Micha mein Bagga wegnommt«, plapperte der Kleine. Die rechte Hand gestikulierte wild durch die Luft, während er mit der linken seinen Koffer hinter sich herzog.

»O je, da warst du bestimmt ganz traurig.«

Die blonden Locken flogen nach links und rechts.

»Ich hab Micha haut«, erklärte der Kleine mit dem ganzen Ernst seiner drei Jahre.

Mitten auf dem Gehweg ging Tatjana vor ihrem Sohn auf die Knie. Sie nahm ihn an den Schultern und sah ihm in die Augen.

»Du kannst doch Micha nicht einfach hauen.«

Fynn zog eine Schnute.

»Micha mein Bagga wegnommt.«

»Erstens ist das nicht dein Bagger. Und zweitens darfst du ihn nicht schlagen. Das tut ihm doch weh. Du magst es auch nicht, wenn ich dir einen Klaps gäbe.«

Fynn nickte energisch.

»Mama Dlaps aua!«

»Ganz genau.« Nur mit Mühe konnte sich Tatjana ein Lächeln verkneifen. Sie strich Fynn eine blonde Locke aus der Stirn. »Das nächste Mal, wenn Micha dir den Bagger wegnimmt, gehst du zu Sabine oder Henry. Die helfen dir dann.« Sie stand wieder auf und streckte die schmerzenden Knie. Genug getadelt! Sie sah sich um. Bemerkte, dass sie an der Kreuzung standen. Rechts lag das Wolkenkuckucksheim. Links mussten sie abbiegen, wenn sie in die Wohnung gehen wollten. »Was meinst du? Sollen wir kurz in unserem neuen Haus vorbeischauen? Dein Zimmer ist fast fertig. Papa und ich haben schon die Schränke aufgestellt und dein Kinderbett aufgebaut. Magst du es sehen?«

»Ja, ja, ja.« Das kleine Gesicht strahlte vor Begeisterung.

Tatjana nahm wieder die kleine Hand, die immer ein wenig klebrig war. Munter plaudernd setzten sie ihren Weg fort. Tatjana erzählte ihrem Sohn von der Nestschaukel, die Danny im nächsten Frühjahr in den alten Ahornbaum hängen wollte. Der Koffer rumpelte hinter ihnen über den Asphalt. Die Villa kam in Sicht. Schon von Weitem erkannte Tatjana den Lieferwagen, der prominent vor dem Anwesen der Nachbarn parkte. Selbst mit eingeschränktem Sehvermögen war er nicht zu übersehen. Die Nachbarin Evelyn stand mit einem Handwerker im Blaumann daneben. Bei Tatjanas Anblick hob sie die Hand und winkte.

»Hallo, Liebes!«

Tatjanas Nackenhaare kräuselten sich.

»Hallo, Evelyn.«

Mit ganzem Gewicht hing Fynn an der Hand seiner Mutter und drängte Richtung Lieferwagen. Natürlich war der Kleine ein ganz besonderes Kind. Doch in einem glich er allen anderen Kindern auf dieser Welt: Große Autos, Lastwagen, Bagger und Müllautos übten eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Tatjana wusste nicht, wie viele Stunden sie schon vor Bauzäunen, an Bushaltestellen und neben Mülltonnen verbracht und die dazugehörigen Fahrzeuge in aller Ausgiebigkeit bestaunt hatte. Danny bewunderte sie für ihre Geduld. Doch diesmal sträubte sie sich.

»Du willst dir doch dein Kinderzimmer ansehen, oder?«, versuchte sie mit Engelszungen, ihren Sohn von seinem Plan abzuhalten.

»Ich will Lastwagen anschaun.« Vergessen stand der Koffer vor dem schmiedeeisernen Gartentor der Villa.

Fynn zog und zerrte Richtung Nachbarhaus.

»Warum so streng? Der Kleine will auch mal etwas Spannendes erleben!« Evelyns Lachen wehte herüber.

Zähneknirschend gab Tatjana ihren Widerstand auf und ließ Fynn seinen Willen.

»Habt ihr die Handwerker im Haus?«, erkundigte sie sich, nachdem sie Evelyn und den Mann in Blau begrüßt hatte.

Wieder dieses Lachen!

»Meine Nachbarin hat einen Sehfehler!«, entschuldigte sich Evelyn bei dem Handwerker. Und zu Tatjana gewandt, sagte sie: »Im Gegensatz zu eurem alten Kasten ist unser Haus ein Neubau. Wasserrohrbrüche, Heizungsausfälle, modrige Kellerräume und kaputte Stromleitungen sind glücklicherweise Fremdwörter für uns«, zwitscherte sie. »Wir investieren unser Geld lieber in zusätzlichen Luxus. Herr Merz von der Firma Aquaglück ist gerade hier, um mit mir unseren Traumpool zu planen.« Ihr Lächeln wurde noch einen Tick strahlender. »Von seinem Zimmer aus wird Fynn einen guten Blick auf den Bagger und die gesamte Baustelle haben.«

Ein Schreckensbild gaukelte durch Tatjanas Kopf.

»Ich dachte, du brauchst Ruhe beim Arbeiten.«

»Um sich einen Wunsch zu erfüllen, muss man eben manchmal Opfer bringen. Wenn du uns jetzt entschuldigst. Wir müssen uns noch eingehend mit der Planung befassen.« Evelyn beugte sich zu Fynn hinunter. »Und, wie gefällt dir das große Auto?«

»Rostlaube!«, erklärte der Kleine ernsthaft und griff nach Tatjanas Hand. »Mama, domm! Dindazimma anschaun!«

Nur mit Mühe konnte sich Tatjana ein Lachen verkneifen. Sich Evelyns wütender Blicke gewiss, ließ sie sich von Fynn mitziehen. Selbst wenn seine freche Bemerkung ihre Sorgen wegen des Pools nur kurzfristig verdrängen konnte.

*

Während Tatjana mit Fynn zwischen Umzugskartons, Tüten und Werkzeug herum stapfte, kümmerte sich Danny Norden um den letzten Patienten des Tages.

»Kann ich mich kurz unter vier Augen mit Ihnen unterhalten?«, bat er, nachdem er Maltes Vater begrüßt hatte.

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Arndt, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. »Malte und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Nicht wahr, mein Junge?« Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Hat Janine Ihnen unsere Geschichte erzählt?«

»Kein Wort.« Das war die Wahrheit, und Danny war sehr froh darüber.

»Nun, Maltes Mutter erkrankte vor vielen Jahren an Morbus Crohn, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Natürlich habe ich keine Kosten und Mühen gescheut, um Ricarda zu helfen. In Zusammenarbeit mit einigen Kollegen ist es mir gelungen, die Krankheit in den Griff zu bekommen. Leider konnte ich nicht verhindern, dass Ricarda depressiv wurde. Eine häufige Begleiterscheinung dieser Erkrankung. Schlussendlich hat sie uns verlassen.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut.« Arndt Stein winkte ab. »Das alles ist Jahre her. Heute können wir beide die Vorteile sehen, die die Trennung mit sich gebracht hat. Nicht wahr, Malte?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »So konnte ich mich voll und ganz auf meinen Sohn konzentrieren.«

Malte rutschte auf der Liege herum. Er schien sich nicht wohl zu fühlen in seiner Haut. Doch sein Vater nahm keine Notiz davon. Unverdrossen fuhr Dr. Stein fort.

»Eigentlich sind wir eher beste Freunde als Vater und Sohn. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Nun, da Malte immer öfter mit seinen Freunden unterwegs ist, ist die Zeit gekommen, dass auch ich mir wieder mehr Freiheiten nehme. Janine ist die erste Frau seit Ricarda. Ich wollte sie heute Abend mit Malte bekannt machen. Aber nun ist er mir zuvorgekommen.« Sein wohlwollender Blick ruhte auf seinem Sohn. »Ich hoffe, ich bekomme deinen Segen.«

Malte nickte.

»Sie ist nett.«

Arndt quittierte diese Antwort mit einem Lächeln.

»Da habe ich ja Glück gehabt.«

An dieser Stelle beschloss Danny Norden, dass es Zeit war, zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurückzukehren.

»Ich würde mich trotzdem gern unter vier Augen mit Ihnen unterhalten«, wiederholte er sein Anliegen.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Aus Maltes Hosentasche tönte ein dumpfes Klingeln. Er ahnte, wer der Anrufer sein mochte. Seine knallroten Wangen bewiesen es.

»Das ist Kurt«, schwindelte der junge Mann. »Du kannst dich ruhig mit Dr. Norden unterhalten, Dad! Das hier dauert länger.«

Arndt zögerte kurz.

»Wie du willst«, gab er sich schließlich geschlagen. »Bis später, Sportsfreund.«

*

Danny war kaum um die Ecke verschwunden gewesen, als Wendy vom Stuhl aufgesprungen war. Das Sprechzimmer war leer. Diese Gelegenheit musste sie nutzen.

»Du musst mir helfen!«, verlangte sie von ihrer Freundin und winkte sie mit sich zur Garderobe. »Ich weiß nicht, was ich heute Abend anziehen soll.«

Erst jetzt bemerkte Janine die Kleiderbügel, die fein säuberlich nebeneinander an der Stange hingen. Die Plastikfolie raschelte, als Wendy das erste Kleid herunternahm. Sie trat vor den Spiegel und hielt sich das Blumenmuster vor den Körper.

»Was hältst du davon?«

Janine legte den Zeigefinger an die Wange und musterte das Spiegelbild ihrer Freundin.

»Ich weiß nicht. Mit diesen Röschen siehst du aus wie deine eigene Großmutter.«

»Vielen Dank.« Wendy griff nach dem nächsten Exemplar. »Dann vielleicht doch das kleine Schwarze?«

»Du gehst zu einem Salsakursus, nicht zu einem Termin mit der Bank.« Diesmal legte Janine selbst Hand an. Ein Kleid nach dem anderen wurde einer kritischen Prüfung unterzogen. »Was hältst du von diesem hier?« Ein Traum in dunkelrot mit schwingendem Rock pendelte in ihrer Hand.

»Ich bin doch keine sechzehn mehr«, schimpfte Wendy. »Außerdem macht mich das blass.«

»Warum hast du es dann mitgebracht?«

»Weil die Verkäuferin es mir einfach in die Hand gedrückt hat. Deshalb.« Wendy wandte sich ab und marschierte zurück zum Schreibtisch. Am Stuhl hing ihre Handtasche. Sie zog den Gutschein heraus. Ohne sich zu setzen, griff sie nach dem Telefonhörer.

»Was hast du vor?« Janines Stimme schnitt durch den Flur.

»Ich rufe in der Tanzschule an und storniere den Kursus.« Wendys Augen wanderten zwischen Gutschein und Telefon hin und her. Die Tasten klapperten unter ihren Fingern.

Mit drei, vier großen Schritten war Janine bei ihrer Freundin und drückte auf die Gabel.

»Bist du verrückt geworden? Das kannst du doch nicht machen.«

Wendys Augen sprühten Funken.

»Was sollte ich deiner Ansicht nach sonst tun? Ich kann ja schlecht so zum Tanzen gehen.« Sie deutete auf das petrolfarbene Shirt, das sie zur weißen Hose trug.

»Wenn es sein muss, dann schon. Auf jeden Fall sagst du nicht ab.«

Wendy stemmte die Hände in die Hüften. Ihr Brustkorb hob und senkte sich wie nach einem Sprint.

»Warum gehst du nicht zum Tanzkursus, wenn du so scharf darauf bist?«

»Weil der Chef dich eingeladen hat. Er wollte dir eine Freude machen. Schon vergessen?«

»Schöne Freude«, knurrte Wendy.

Janine holte tief Luft. Sie setzte ein Lächeln auf und legte den Arm um die Schulter ihrer Freundin.

»Wie lange ist es her, dass du zum letzten Mal beim Tanzen warst?« Schmeichelnd drückte sie ihre Wange an die ihrer Freundin und wagte ein paar Tanzschritte.

»Hundert Jahre. Mindestens.« Wendy hatte keine Wahl. Sie musste Janines Bewegungen folgen.

Wendys Ton machte Janine Mut.

»Dann kannst du dich ja gar nicht mehr daran erinnern, ob es dir Spaß macht oder nicht. Deshalb solltest du es unbedingt noch einmal ausprobieren.« Sie hielt den rechten Arm über den Kopf und nötigte Wendy zu einer Drehung.

»Aber ich habe nichts zum Anziehen«, jammerte die, als sie sich nach einer perfekten Pirouette wieder gegenüberstanden.

»Du hast ein wunderschönes rotes Kleid. Genau richtig für eine heiße Salsa«, lachte Janine und bedankte sich mit einer Verbeugung für die Showeinlage.

*

Von der Tanzeinlage in der Praxis bekamen die beiden Männer im Sprechzimmer nichts mit.

»Nehmen Sie Platz!«, forderte Danny Norden seinen Besucher auf und machte eine einladende Handbewegung.

Nach kurzem Zögern setzte sich Arndt Stein auf die äußerste Kante der blauen Besuchercouch. Er ließ den Kollegen nicht aus den Augen.

»Was gibt es denn so Geheimnisvolles, das mein Sohn nicht wissen darf?«

Im Gegensatz zu Arndt machte Danny es sich gemütlich.

»Ich habe den begründeten Verdacht, dass Ihr Sohn unter einer Essstörung leidet«, ließ er die Katze endlich aus dem Sack. »Maltes Laborwerte sind besorgniserregend. Wir haben es mit diversen Mangelerscheinungen zu tun.« Er beugte sich vor und reichte Arndt Stein die Ergebnisse der Laboruntersuchung, die Wendy für ihn ausgedruckt hatte.

»Essstörungen?«, wiederholte der Kollege, während er die Zahlenkolonnen überflog. »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er schließlich und hob den Blick.

»Magersucht. Möglicherweise eine Bulimie …«

»Ausgeschlossen«, unterbrach Dr. Stein den Kollegen. »Ich würde es bemerken, wenn Malte abends nach dem Essen ins Bad verschwände.«

»Sie glauben gar nicht, wie erfinderisch junge Menschen sein können, wenn es darum geht, etwas zu vertuschen. Erinnern Sie sich doch an Ihre eigene Jugend. Die erste heimliche Zigarette. Der erste Rausch.«

Arndt zog eine Augenbraue hoch.

»Wenn Sie sich derart kindisch verhalten haben, ist das Ihre Sache. Ich habe so etwas nie getan.«

Danny fühlte das Blut in den Wangen. Er räusperte sich.

»Wie dem auch sei … Es kommt gar nicht so selten vor, dass Eltern solche Probleme nicht bemerken.«

Nun lehnte sich Arndt Stein doch zurück. Ohne Danny Norden aus den Augen zu lassen, schlug er die Beine übereinander und faltete die Hände.

»Haben Sie Kinder, Kollege Norden?«

»Einen Sohn. Er ist noch klein.«

»Dann können Sie sich vermutlich noch nicht vorstellen, dass mein Sohn und ich ein sehr vertrautes Verhältnis haben. Malte würde mir von seinen Problemen erzählen.«

»Es handelt sich …«

»Wie bereits erwähnt, haben wir keine Geheimnisse voreinander.«

Danny holte tief Luft.

»Es handelt sich lediglich um eine Vermutung, wenn auch um eine begründete. Ich möchte Sie bitten, mit mir zusammenzuarbeiten. Gemeinsam können wir die Wahrheit herausfinden.« Er dachte an das, was ihm der Vater im Behandlungszimmer erzählt hatte. »Denken Sie, dass Malte unter der Trennung von seiner Mutter leidet?«

Dr. Stein zog einen Mundwinkel hoch.

»Allein in Deutschland gibt es rund 1,5 Millionen alleinerziehende Mütter oder Väter. Sie wollen mir doch nicht im Ernst erzählen, dass alle diese Kinder automatisch traumatisiert sind und unter Essstörungen oder vergleichbaren Problemen leiden?«

Dr. Norden war daran gewöhnt, dass seine Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde. Von einem Kollegen hatte er dieses Verhalten allerdings nicht erwartet.

»Wir sprechen aber nicht von all den anderen Scheidungswaisen. Im Augenblick geht es nur um Malte. Ich möchte herausfinden, was ihm fehlt.«

Arndt Stein stellte beide Beine auf den Boden und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel.

»Selbst wenn mein Sohn eine Essstörung hätte, wäre das eine Sache zwischen Malte und mir.« Er ließ den jungen Kollegen nicht aus den Augen. »Oder wollen Sie mir unterstellen, dass ich als alleinerziehender Vater überfordert bin?«

Daher also wehte der Wind! Danny Norden hätte es wissen müssen.

»Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

»Dann sollten Sie in Zukunft vorher darüber nachdenken, wie Sie ein derart heikles Gespräch führen.« Arndt Stein erhob sich. »Ich bringe Malte jetzt nach Hause. Vielen Dank für Ihre Bemühungen, Herr Doktor Norden.«

*

»Mein Vater war mal wieder superpeinlich.« Malte Stein lag auf der Behandlungsliege und drückte das Mobiltelefon ans Ohr. Seine leuchtend roten Wangen verrieten, dass er nicht mit seinem besten Freund Kurt telefonierte. »Stell dir vor: Er hat dem Arzt unsere ganze Familiengeschichte ins Ohr gedrückt. Als ob es einen Außenstehenden interessieren würde, dass Mama depressiv ist.«

Schon vor mehr als einer Stunde hatte sich Antonie von ihrer Freundin Nele verabschiedet und war nach Hause gegangen. Nun schaukelte sie in der Hängematte im Garten und ließ sich die letzten Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. Lichtflecken tanzten vor ihren geschlossenen Lidern, während sie über Maltes Worte nachdachte.

»Vielleicht leidet er viel mehr unter der Trennung von deiner Mutter, als er zugeben mag«, gab sie zu bedenken.

»Früher vielleicht. Aber jetzt nicht mehr, wo er die neue Flamme hat.« Malte lauschte auf die Geräusche, die aus dem Flur in das Behandlungszimmer herüberwehten. Leise Stimmen und unterdrücktes Kichern. Er musste sich keine Sorgen machen, belauscht zu werden. »Das Schlimmste ist, das er mich da nicht raushält und immer mit unserem guten Verhältnis angibt. Langsam kann ich es echt nicht mehr hören.«

»Freu dich doch, dass er es so sieht. Ich wünschte, meine Eltern wären ein bisschen so wie dein Vater. Stattdessen sind sie ultraspießig. Manchmal denke ich, dass sie nie jung waren.«

»Dass mein Dad mich als seinen besten Freund sieht, heißt noch lange nicht, dass er mich versteht«, platzte Malte heraus.

Antonie lachte.

»Ich glaube, es ist ganz normal, sich über seine Eltern aufzuregen. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu.«

Malte lachte mit ihr.

»Dann wird es höchste Zeit, dass mein Vater erwachsen wird.«

»Seine neue Freundin wird ihm schon dabei helfen.« Antonie legte den Arm unter den Kopf und blickte hinauf in das lichte Blätterdach, durch das das Blauweiß des Himmels blitzte. Sie hätte stundenlang dort liegen und mit Malte reden können. Und das, obwohl sie Telefonieren eigentlich hasste.

»Und was machen wir zwei Hübschen so lange?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.

»Wie wäre es mit dem Konzert morgen Abend im Jugendzentrum?«

»Woher wusstest du, dass ich schon zwei Karten besorgt habe?«, fragte Malte heiser.

Mit einem Schlag war jeder Gedanke an seinen Vater wie weggewischt. In diesem Moment gab es nur noch Antonie und ihn und die Aussicht auf ihre erste offizielle Verabredung.

*

Nachdem Danny Norden in die Praxis seines Vaters eingestiegen war, hatte er sich viele Vergleiche gefallen lassen müssen. Obwohl er seine Arbeit gut machte, hatte es an Kritik nicht gemangelt. Erst seit Dr. Daniel Norden als Klinikchef in die Behnisch-Klinik gewechselt hatte, gelang es dem Junior, sich freizuschwimmen. Danny Norden junior änderte vieles, angefangen bei der Dienstkleidung – die Assistentinnen trugen jetzt moderne Poloshirts in Petrol zur weißen Hose – über Teile der Einrichtung bis hin zu neuen Behandlungsmethoden. An anderen Dingen hielt er allerdings fest. Dazu gehörte auch, dass er seine Patienten nach erfolgter Behandlung höchstpersönlich zum Tresen begleitete. Auch bei Arndt und Malte Stein machte er keine Ausnahme.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, verlangte Wendy zu wissen, kaum dass die Tür hinter Vater und Sohn ins Schloss gefallen war. »Sag bloß, du hast auch keine Lust auf den Tanzkursus.«

»Ich kann es kaum erwarten, Sie im roten Kleid durch den Saal zu schwenken.« Das Lächeln auf Dannys Lippen verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. »Ehrlich gesagt mache ich mir Sorgen um Malte Stein.«

»So schlimm sieht die Knieverletzung doch gar nicht aus.«

»Die meine ich auch gar nicht.«

Janine blickte von der Ablage auf, die sie alphabetisch sortierte, um sie an einem der nächsten Arbeitstage in die Aktenordner im Schrank einzusortieren.

»Sie denken über die schlechten Werte nach?«

Danny nickte versonnen.

»Ich habe seinen Vater darauf angesprochen. Dr. Stein will von der ganzen Sache nichts wissen. Und negiert darüber hinaus, dass sein Sohn psychische Probleme haben könnte.«

»So kommt Malte mir allerdings auch nicht vor.«

»Ich mische mich ja ungern in deine Angelegenheiten ein«, meldete sich Wendy wieder zu Wort. »Aber ich denke, du musst sehr behutsam mit dieser sensiblen Angelegenheit umgehen. Kein Jugendlicher lässt sich gern unterstellen, er hätte psychische Probleme.«

Janine nickte.

»Das klingt gleich nach Klapse. Und in diese Kategorie will keiner gern gesteckt werden.«

»Was ist denn das für ein Ausdruck?« Danny schnalzte mit der Zunge. »Wenn Sie so über eine psychiatrische Klinik sprechen, ist das kein Wunder.«

»Die jungen Leute reden so«, verteidigte sich Janine. »Es war noch nie besonders populär, anders zu sein als die anderen. Aus der Reihe zu tanzen.«

Dem konnte Wendy nur zustimmen.

»Am Ende verspielst du nicht nur das Vertrauen des Vaters, sondern auch das des Sohnes«, warnte sie ihren Chef. »Und dann hast du auf ganzer Linie verloren.«

Die Einwände seiner Assistentinnen klangen plausibel. Danny stand am Tresen. Er stützte den Kopf in die Hände. Wo war die Lösung?

»Ich hab’s!«

Janine und Wendy zuckten zusammen. Doch Danny Norden starrte nur eine der beiden Frauen an.

»Habe ich das vorhin richtig mitbekommen? Sie sind heute Abend bei Arndt Stein eingeladen?«

Janine sah auf die Bahnhofsuhr über der Tür, groß genug, dass auch alte Menschen sie lesen konnten.

»Ich habe noch genau zwei Stunden Zeit, um mich von der Assistentin eines Allgemeinmediziners in eine unwiderstehliche Amazone zu verwandeln.«

»Ich könnte dir ein rotes Kleid leihen«, raunte Wendy ihr zu.

Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, ihrem Schicksal zu entgehen.

Janine lachte.

»Das Kleid ist wie für dich gemacht. Ich hatte eher an den schwarzen Jumpsuit gedacht, der dir so gut gefällt.«

Wendy erinnerte sich. Nur eine Frau mit einer mädchenhaften Figur wie Janine konnte so ein Teil tragen, ohne sich lächerlich zu machen.

Für solche Überlegungen fehlte Danny an diesem frühen Abend der Sinn. Er hatte wichtigere Dinge im Kopf.

»Wenn wir die Kleiderfrage geklärt hätten, habe ich eine Bitte.«

Sein Ton ließ Janine aufhorchen.

»Ehrlich gesagt bin ich mit der Einladung bei Arndt schon an den Grenzen meiner Belastbarkeit«, gestand sie. »Ich sterbe vor Aufregung, wenn ich nur daran denke.«

»Trotzdem müssen Sie versuchen, Maltes Vertrauen zu gewinnen. Sie müssen herausfinden, ob die enge Beziehung zum Vater belastend für den Sohn ist.« Danny setzte den Blick auf, mit dem er Tatjana immer ein Extrastück Torte abbettelte. »Sie sind die Einzige von uns Dreien, der das gelingen könnte.«

Janine warf einen Blick in die Runde. Wie sie es auch drehte und wendete: Ihr Chef hatte recht.

»Also gut«, seufzte sie schließlich. »Ich versuche es«, versprach sie, auch wenn sie sich ihr erstes, offizielles Rendezvous mit Dr. Arndt Stein anders vorgestellt hatte.

*

»Habe ich wirklich »Ja« gesagt?« Daniel Norden stand vor dem Eingang und starrte mit schmalen Augen hinauf zu den geschwungenen Leuchtbuchstaben. »Salsa Aventura! Das klingt nicht nach einem harmlosen Vergnügen.«

»Ist es ja auch nicht.« Felicitas lachte und zog ihren Mann in den Flur. Ein intensives Aroma nach weißem Rum und Rohrzucker, vermischt mit einem Hauch Kokos lag in der Luft. Aus dem Raum am Ende des Flurs wehten Salsa-Rhythmen. Unwillkürlich wiegte sich Felicitas die Hüften. »Das erinnert mich an unsere Kreuzfahrt. Dich nicht auch?«

Doch Daniel hatte keinen Sinn für schöne Erinnerungen. Eine steile Falte stand zwischen seinen Augen, als er den Raum betrat, in dem sich die Teilnehmer des Tanzkurses bereits versammelt hatten.

Beim Anblick seiner ehemaligen Assistentin blieb dem Klinikchef die Luft weg.

»Wendy, Sie sehen großartig aus!«

»Wie eine riesige Erdbeere«, schimpfte sie.

»Stimmt nicht. Aber ich ahne, wie Sie sich fühlen.« Daniel blickte an Hemd und schwarzen Hosenbeinen hinab zu den lackglänzenden Tanzschuhen.

Fee und ihr ältester Sohn Danny tauschten vielsagende Blicke.

»Da haben sich genau die Richtigen gefunden«, raunte sie ihm ins Ohr.

Ein Klatschen lenkte nicht nur Mutter und Sohn ab. Die Gespräche verstummten. Die Aufmerksamkeit der Tanzwütigen richtete sich auf den Mann auf der Bühne. Den Teilnehmerinnen blieben die Münder offen stehen. Doch Carlos schien sich seiner Wirkung nicht bewusst zu sein. Gut gelaunt wanderte er vor seinen Schülern auf und ab.

»Salsa cubana oder casino, wie diese Art zu tanzen in Kuba genannt wird, ist keine sture Abfolge auswendig gelernter Schritte und Figuren«, erklärte er mit weit ausgreifenden Gesten. »Vielmehr handelt es sich um eine besondere Art der Kommunikation.« Er blieb vor Wendy stehen, nahm ihre Hände und führte sie in eine Drehung. Wie eine Marionette folgte sie seinen Bewegungen. Das Publikum klatschte. Carlos verbeugte sich und schlenderte weiter. »Eine Kommunikation mit Gefühl, Witz und Erotik.« Diesmal war Fee an der Reihe. Sie wiegte sich in den Armen des Tanzlehrers, als hätte sie nie etwas anderes getan. »Das Erleben von Bewegung und Musik lässt ein intensives Tanzgefühl entstehen, das niemand je wieder vergessen wird.«

»Wenn ich es gar nicht lerne, kann ich es auch nicht vergessen«, murrte Wendy.

Zum Glück hörte Carlos ihre Worte nicht. Wieder klatschte er in die Hände.

»Bitte nehmt eine entspannte Tanzhaltung ein. Die Dame legt die linke Hand auf die Schulter und die rechte Hand in die linke Hand des Herrn. Perfekt. Und jetzt geht es auch schon los. Der Herr geht mit dem linken Fuß einen Schritt vor, die Dame mit dem rechten Fuß einen Schritt zurück. Und das Ganze wieder zurück. Ich zeige das einmal.«

Wieder war Wendy das Opfer.

»Und quick, quick, slow. Quick, quick, slow. Du bist ein Naturtalent.«

Wendy konnte sich nicht erinnern, ihm das Du angeboten zu haben. Doch sie war viel zu sehr mit ihrer Verlegenheit beschäftigt, als dass sie sich beschweren konnte.

»Das liegt nur an dem roten Kleid!«, raunte sie Danny zu, als sie wieder vor ihm stand.

»Ich finde, Sie machen das großartig.«

Fee schien mit ihrem Partner nicht ganz so zufrieden zu sein.

»Aua!«, rief sie und zog den Fuß an.

»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich kein Talent zum Tanzen habe«, erwiderte Daniel ungerührt.

»Das machst du mit Absicht, damit du bald wieder heimgehen kannst.«

Carlos stand neben dem Ehepaar Norden und lachte.

»Darf ich bitten, schöne Frau.« Er machte eine Verbeugung. Fee legte ihre Hand in die seine und ließ sich in die Mitte führen. Es war Daniel anzusehen, dass er sie am liebsten festgehalten hätte. »Wir machen mit der Cucaracha weiter. Der Herr geht nach links, die Dame nach rechts. Zur Seite, zurück, schließen. Zur Seite, zurück, schließen.« Carlos zog Fees rechte Hand an die Lippen und küsste sie. »Alle Achtung. Du hast Feuer im Blut.«

»Deshalb ist sie auch meine Frau.« Daniel legte den Arm um Fees Schultern und schaute sehr böse.

Wendy konnte es ihm nicht verdenken.

»Dieser Lackaffe soll nur ja die Finger von der Frau Doktor lassen«, zischte sie Danny zu und machte einen Schritt nach vorn.

»Aua!«, schrie Danny auf. Sie war mit dem ganzen Gewicht auf seinen Zehen gelandet. »Könnten Sie bitte mir die Führung überlassen?«

»Nein, kann ich nicht.«

»Aber sonst können wir nicht tanzen.«

»Na und? Diese Suppe hast du dir selbst eingebrockt.« Schließlich legte Wendy die Hand aber doch wieder auf Dannys Schulter und wartete auf die Kommandos des Tanzlehrers.

*

Das heiße Fett zischte, als Arndt den Fisch in die Pfanne legte.

Malte ging hinter dem Küchenblock in Deckung.

»Vorsicht, sonst setzt du noch die ganze Küche in Brand.«

Sein Vater winkte ab.

»Gelernt ist gelernt.« Bewaffnet mit einem Pfannenwender wachte Arndt über seine Schätze. »Kannst du bitte mal die Gnocchi probieren? Ich bin mir nicht sicher, ob die Salbeibutter gelungen ist.«

Malte kam wieder zum Vorschein.

»Wenn ich noch mehr vorkoste, bin ich pappsatt, bis Janine zum Essen da ist.« Er legte den Kopf schief und beobachtete seinen Vater dabei, wie er den Fisch wendete. »Was ist heute los mit dir? Du hast doch sonst keine Zweifel an deinen Kochkünsten.« Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. Er nahm eine Gabel aus der Schublade und spießte einen Kartoffelkloß auf. »Sag bloß, es liegt an Janine? Bist du etwa nervös?«

»Ein bisschen.« Arndt griff nach der Flasche Weißwein, die er schon bereitgestellt hatte. Er roch an der Öffnung, ehe er den Fisch mit einem großzügigen Schluck ablöschte. Der Alkoholdunst stieg hoch und verschwand in der Dunstabzugshaube. »Hast du schon die Tiramisu probiert?«

»Papa! Was soll das?«, fragte Malte noch einmal.

Arndt wischte die Hände an der blau-weiß-karierten Schürze ab und sah hinüber zu seinem Sohn.

»Also schön«, gab er sich endlich geschlagen. »Es ist wegen Dr. Norden. Er denkt, du hättest ein psychisches Problem.«

»Aha!« Mehr sagte Malte nicht dazu.

»Er denkt an eine Essstörung. Bulimie zum Beispiel. Das ist, wenn …«

»Erspare mir die Details!«, unterbrach Malte seinen Vater. »Ich weiß, was das ist. Und falls es dich beruhigt: Ich kann mir kaum etwas Ekligeres vorstellen.«

Arndt atmete auf. Er schaltete den Herd herunter, legte den Deckel auf die Pfanne und schenkte sich ein Glas Wein ein.

»Das habe ich dem Kollegen auch gesagt.« Er schlenderte auf Malte zu, legte die Hand auf seine Schulter und sah ihm tief in die Augen. Dabei trank er einen Schluck Wein. »Du würdest doch zu mir kommen, wenn du Probleme hättest, oder?«

Die Türklingel bewahrte Malte vor einer Lüge.

*

Der Besuch in Arndts Haus bestätigte den Eindruck, den Janine schon beim Rundgang durch seine Praxis gehabt hatte. Sie befand sich im Zuhause eines Mannes, der nicht nur den Grund-, sondern auch den Aufbauwortschatz des guten Geschmacks beherrschte. Das wurde ihr schon bei den ersten Schritten auf dem makellosen Echtholzparkett klar. Sie bewunderte die Naturaufnahmen über der Sofalandschaft, die von der indirekten Beleuchtung kunstvoll in Szene gesetzt wurden. Rechts neben der Terrassentür stand ein Sessel mit Blick in den Garten. Auf der Lehne lag eine Decke in Naturtönen, auf einem Beistelltisch ein paar Zeitschriften, eine davon aufgeschlagen. Es war gemütlich. Und doch hatte Janine den Eindruck, in der Kulisse eines Magazins für stilvolles Wohnen gelandet zu sein.

»Darf ich zu Tisch bitten?«

Sie drehte sich um..

»Sehr gern.«

Arndt fasste seine Besucherin sanft am Ellbogen und führte sie auf eine hochglänzende Edelstahlküche zu, in der ein großer Esstisch aus Nussbaum stand. Im Hintergrund lief leiser Barjazz. Ganz wohlerzogener Sohn schob Malte ihr humpelnd den Stuhl zurecht. Sein Vater servierte zuerst Salat und dann Fisch mit Reis. Das Gespräch plätscherte munter dahin. Malte beteiligte sich lebhaft daran. Ein gutes Zeichen, wie Janine befand, und schob eine Gabel Reis in den Mund.

»Ein Mann, der kochen kann! Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Sie tupfte einen Klecks Sauce aus dem Mundwinkel, faltete die Serviette zusammen und legte sie neben den Teller. »Da muss ich mich ganz schön ins Zeug legen, wenn ich mich für die Einladung revanchieren möchte.«

»Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat.« Arndt prostete ihr zu.

Die Gläser klangen aneinander. Janine trank einen Schluck, ehe sie sich an Malte wandte.

»Und wie sieht es mit dir aus? Konnte dich dein Vater mit seiner Leidenschaft fürs Kochen anstecken?«

»Ich spiele lieber den Vorkoster«, gestand der junge Mann.

Er wollte gerade fortfahren, als sich eine Melodie in den Barjazz mischte. Arndt erhob sich und nahm das Mobiltelefon von der Anrichte. Ein Blick auf das Display und ein Seufzen folgte.

»Das ist Frau Herdeegen, eine Patientin. Bitte entschuldigt mich.« Er drückte auf die Taste mit dem grünen Hörer und verschwand im Wohnzimmer. Gedämpft klang seine Stimme durch die geschlossene Tür.

War das die Gelegenheit, auf die Janine seit zwei Stunden wartete? Sie überlegte noch, wie sie Dannys Auftrag ausführen sollte, als Malte das Wort ergriff.

»Deshalb werde ich niemals Medizin studieren«, erklärte er aus tiefstem Herzen. »Arzt ist kein Beruf, das ist eine Lebenseinstellung.« Er sah hinüber zu Janine. Sein offener Blick gefiel ihr. »Stört Sie das nicht?«

»Keine Sorge. Ich weiß, worauf ich mich einlasse. Als gelernter Krankenschwester ist mir kein Abgrund dieses Berufs fremd.« Die Überstunden, Krankenvertretungen und Notfälle, die sie manchmal tagelang in der Klinik festgehalten hatten, waren ihr in lebhafter Erinnerung geblieben. Dagegen waren die Arbeitszeiten eines niedergelassenen Arztes ein wahres Honigschlecken. Selbst wenn er, wie jetzt Arndt, ab und an zu Notfällen gerufen wurden.

Seine Miene sprach Bände, als er ins Esszimmer zurückkehrte.

»Frau Herdeegen hat plötzlich unerklärliche Schmerzzustände. Wir haben heute eine neue Therapie begonnen. Deshalb muss ich zu ihr fahren.«

Janine machte Anstalten aufzustehen. Offensichtlich hatte sie an diesem Tag kein Glück.

»Ich begleite dich hinunter und fahre dann nach Hause.«

»Auf gar keinen Fall«, widersprach Arndt und drückte sie zurück auf den Stuhl. »Bitte bleib hier. Es dauert bestimmt nicht lange.«

»Außerdem gibt es noch Nachtisch«, fügte Malte vielsagend hinzu.

Sein Kommentar gab den Ausschlag.

»Wenn es dir nichts ausmacht, wenn ich dir Gesellschaft leiste …«

»Malte liebt Besuch«, hallte Arndts Stimme aus dem Flur. »Er war schon immer ein geselliges Kind.«

Ein Glück, dass er nicht im Zimmer war. Maltes Augenrollen hätte ihm nicht gefallen. Nur mit Mühe konnte sich Janine ein Kichern verkneifen.

»Schön, dass du so fröhlich bist.« Arndt kehrte zurück, beugte sich über sie und küsste sie auf den Mund. »Ich bin bald zurück.« Kurz darauf fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Janine machte sich daran, Malte beim Tischabräumen zu helfen. Plötzlich war die Leichtigkeit zwischen ihnen verflogen. Das lag nicht zuletzt an Dannys Auftrag. Wie sollte sie beginnen?

»Ich habe selten erlebt, dass sich ein Sohn so gut mit seinem Vater versteht«, sagte sie und beugte sich tief über den Geschirrspüler.

Malte stand neben ihr. Sein sinnender Blick fiel aus dem Fenster.

»Seit ich denken kann, erzählt er mir alles. Er behandelt mich mehr wie einen Freund. Nicht wie einen Sohn.«

»Das ist schön, dass Arndt dir so vertraut.«

»Mag sein. Aber manchmal ist mir das alles ein bisschen zu viel.« Malte sortierte das Besteck ins obere Fach des Spülers. Als das letzte Messer an seinem Platz lag, hob er den Kopf. »Ehrlich gesagt bin ich froh, dass er Sie kennengelernt hat. Dann muss ich auch kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn ich ihm nicht alles erzähle.«

Die Haut hinter Janines Ohren kribbelte, als wollten sich die Ohrmuscheln aufrichten.

»Das musst du so oder so nicht haben.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Es ist ganz normal, dass Menschen Geheimnisse voreinander haben.«

»Finden Sie?« Malte betrachtete Janine mit schief gelegtem Kopf. »Sie haben gesagt, dass Sie Krankenschwester sind?«

»Das ist richtig.« Janine sah nach, wie er zum Kühlschrank ging und eine Schale herausholte. Er stellte sie auf die Arbeitsplatte und bestäubte die Oberfläche mit Kakao aus einer Edelstahldose. »Kann ich etwas für dich tun?«

Die Dose schwebte in der Luft.

»Wenn Sie versprechen, nichts meinem Dad zu sagen.«

So weit war es also her mit dem großartigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn! Trotzdem war Janine erleichtert. Malte war ein ganz normaler Teenager. Egal, was sein Vater in ihre Beziehung hinein interpretierte.

»Kein Wort!«, versprach sie und hob drei Finger der rechten Hand zum Schwur.

Malte trug die Schüssel Tiramisu an ihr vorbei zum Esstisch. Er holte drei Dessertschalen aus dem alten Bauernschrank und stellte sie auf den Tisch.

»Ich habe seit ein paar Monaten immer wieder Durchfall. Ab und zu muss ich mich auch übergeben.«

Blitzschnell zählte Janine eins und eins zusammen.

»Und jetzt hast du Angst, dass du auch an Morbus Crohn leidest? Wie deine Mutter?«

Malte nickte. Er schob Janine eine Schüssel Tiramisu über den Tisch.

»Ich habe keine Ahnung, wie Dad darauf reagieren würde. Deshalb habe ich ihm nichts davon gesagt.«

Nachdenklich schob Janine einen Löffel Mascarponecreme mit Biskuit in den Mund.

»Schwer zu sagen. Allerdings deuten deine Symptome nicht zwangsläufig auf Morbus Crohn hin. Es gibt eine Menge anderer Erkrankungen, die mit Verdauungsbeschwerden einhergehen. Mein Chef Danny Norden kann das untersuchen. Vorausgesetzt natürlich, du willst das.«

Scheinwerferlichter streiften den Bauernschrank. Ein Motorengeräusch kam näher und verstummte vor dem Haus. Noch bevor sich Malte zu einer Antwort durchgerungen hatte, drehte sich ein Schlüssel im Schloss.

»Ah, du bist ja noch hier! Und Nachtisch gibt es auch noch«, frohlockte Arndt und bemerkte vor Freude nicht das künstliche Lächeln auf Janines Lippen.

*

»Zwanzig Minuten Pause!« Carlos’ Ankündigung war nicht nur eine Erlösung für Wendy.

Auch Dr. Daniel Norden wollte an die Bar flüchten, um seinen Kummer in einem Glas Apfelsaftschorle zu ertränken. Doch seine Frau kannte keine Gnade.

»Dan, mein Liebster, wo willst du denn hin?«, flötete sie und hielt ihn am Ärmel fest.

Wie von selbst bewegten sich ihre Beine im Salsaschritt.

»Gönnst du mir noch nicht einmal ein paar Minuten Erholung?«

»Dazu hast du heute Nacht noch genug Zeit. Wir müssen üben, damit du mir später keine Schande machst.« Felicitas zog ihren Mann an sich und legte die Linke auf seine Schulter.

»Na, vielen Dank auch für die Blumen.« Daniel wollte sich aus ihrer Umklammerung winden.

Vergeblich.

»Jetzt hab dich nicht so! Ich will doch nur stolz auf meinen Mann sein.«

»Und das geht nur, wenn ich Salsa tanzen kann?« Als sich seine Frau nach einer Drehung in seine Arme schmiegte, hielt Daniel sie fest.

»Das geht besser, wenn du Salsa kannst«, gurrte sie in seinen Armen. »Und alle Frauen mich um dich beneiden.«

Daniel zog sie an sich.

»Und was genau habe ich davon?«, raunte er ihr zu.

Fee lachte leise. Flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daniels Mundwinkel hoben sich.

»Na, wenn das so ist, üben wir selbstverständlich weiter.«

Viel Zeit blieb dem Ehepaar nicht. Nur ein paar Minuten später scheuchte Carlos seine Schützlinge zurück auf die Tanzfläche.

Wendy schickte ihrem ehemaligen Chef einen hilfesuchenden Blick. Retten konnte er sie allerdings nicht. Ganz im Gegenteil.

»Nein, nein, nein. So geht das nicht«, rief Carlos nach den ersten Schritten.

Er legte die Hand auf Daniels Schulter und zwang ihn, sich umzudrehen.

»Was ist denn jetzt schon wieder falsch?« Allmählich verlor Daniel Norden die Geduld.

»Ich bin jetzt deine feurige Frau.« Carlos zwinkerte Fee zu.

Die hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut herauszulachen.

Wendy dagegen war starr vor Schreck.

»Der arme Herr Doktor.«

Danny grinste.

»Er wird es überleben.« Mit sichtlichem Wohlgefallen beobachtete er den Tanzlehrer, der seinen Vater über das Parkett schwenkte.

»Lass deinen Emotionen freien Lauf! Spür den Rhythmus im Blut!«, forderte Carlos seinen Tanzpartner auf.

Daniel spürte die Hände des Lehrers auf seinen Hüften. Es fehlte nicht viel, und er wäre schreiend davongelaufen. Ein Glück, dass die Musik gleich darauf endete.

»Das war doch schon viel besser.« Gemeinsam mit den Zuschauern applaudierte Carlos seinem Tanzpartner. »Und jetzt Partnertausch«, rief er gut gelaunt in die Runde.

Daniel nutzte das allgemeine Chaos, um sich davonzustehlen. Mit dieser Idee war er nicht allein. Kurz zuvor war Wendy auf das Sofa in der Ecke des Tanzsaales gesunken. Sie sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk.

»Zum Glück ist es fast vorbei.« Daniel Norden setzte sich neben sie.

»Das klingt ja nicht gerade so, als ob Danny Ihnen eine große Freude gemacht hätte.«

»Ungefähr so viel, wie Ihre Frau Ihnen.«

»Wenigstens haben Fee und Danny ihren Spaß.«

Mit leuchtenden Augen und Wangen wirbelten Mutter und Sohn an der Couch vorbei. Vertieft in ihre Bewunderung bemerkten weder Wendy noch Daniel, dass das Unheil in Gestalt von Carlos nahte.

»Keine Lust mehr auf Salsa?«, fragte er.

»Natürlich haben wir Lust«, beeilte sich Daniel zu versichern. »Wir nehmen gerade Anschauungsunterricht.«

»Sehr schön.« Carlos strahlte von einem Ohr zum anderen. »Dann wollen Sie uns morgen zum Abschluss des Kurses bestimmt zeigen, was Sie alles gelernt haben.« Ohne eine Antwort abzuwarten, tänzelte Carlos davon.

Ein ganzes Meer an Falten kräuselte sich auf Wendys Stirn.

»Ich fürchte, das war die falsche Antwort«, stellte sie sichtlich deprimiert fest.

*

Wenn Tatjana Norden die Frühschicht in der Bäckerei übernahm, schlich sie schon im Morgengrauen aus der Wohnung. Danny dagegen übernahm die Aufgabe, Fynn zu wecken, mit ihm zu frühstücken und ihn in die Kinderkrippe zu bringen. Im Anschluss daran holte er sich seinen Guten-Morgen-Kuss in der Bäckerei ab.

Das Glöckchen über der Tür klingelte zur Begrüßung. Ein Duft wie in Großmutters Küche hüllte ihn ein und zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Tatjana stand in der Backstube an der Arbeitsplatte und formte Brötchen aus dem Teig.

»Guten Morgen, schöne Bäckerin.« Er trat hinter seine Frau und küsste ihren Nacken.

Den Bruchteil einer Sekunde später brannte seine Wange wie Feuer. Tatjana starrte ihn an.

»Danny? Du?«

Er presste die Hand an die Wange.

»Hast du jemand anderen erwartet?«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie kannst du mich so erschrecken?« Fragen über Fragen und keine Entschuldigung.

»Normalerweise hörst du mich zehn Meter gegen den Wind.« Der Einwand war berechtigt.

Ein Unfall und Jahre in völliger Dunkelheit hatten dafür gesorgt, dass sich Tatjanas übrige Sinne auf fast unheimliche Art und Weise geschärft hatten. Sie empfing Schwingungen von Körpern, hörte leiseste Geräusche, roch feinste Nuancen. Daran änderte sich auch nichts, nachdem sie einen Teil ihrer Sehkraft durch eine Operation zurückbekommen hatte. Noch immer verließ sie sich mehr auf Gehör, Nase und Intuition, als auf ihr Augenlicht. Trotzdem hatte sie das Glöckchenklingeln an diesem Morgen überhört.

»Ich war mit den Gedanken woanders«, gestand sie und klatschte die Teiglinge auf ein Backblech.

»Offenbar nicht bei schönen Dingen.« Danny tauchte einen Löffel in die Schüssel mit der Zuckerglasur, die auf Vanilleschnecken und Quarkecken, Apfeltaschen und Nusskämme wartete.

»Bei unseren Nachbarn, um genau zu sein.«

»Was haben Sie denn jetzt wieder angestellt?«

Tatjana wuchtete das Backblech auf die rechte Schulter. In weiser Voraussicht schlüpfte Danny an ihr vorbei und öffnete die Ofentür. Wie der Atem eines feuerspeienden Drachen schlug ihm die Hitze entgegen.

»Sie wollen doch tatsächlich einen Pool in ihren Garten bauen.« Tatjana schob das Blech hinein und versetzte der Ofentür einen Schubs.

Krachend fiel sie hinter den Brötchen zu.

»Wo ist das Problem?«

»Denk doch nur an den Baulärm. Mal abgesehen von der Gefahr für Fynn.« Tatjana wollte sich an ihrem Mann vorbei schieben, als Danny ihren Plan vereitelte. Er legte die Hände auf ihre Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»So ein Aushub für ein Schwimmbad dauert höchstens ein paar Tage«, mutmaßte er. »Und bis Fynn über den Zaun klettern kann, hat er hoffentlich längst schwimmen gelernt.«

Seine Gelassenheit blieb nicht ohne Wirkung. Tatjana atmete durch, rang sich ein Lächeln ab und lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Wahrscheinlich hast du recht«, räumte sie ein. »Aber wenn ich diese Giftspritze von Evelyn nur sehe, bekomme ich Bluthochdruck.«

»Ein Glück, dass bald der Winter kommt. Dann bekommen wir unsere Nachbarn hoffentlich nicht so häufig zu Gesicht. Und im Frühjahr besorge ich dir einen Boxsack. Dem macht es nichts aus, wenn du auf ihn eindrischt.«

Tatjana verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und lächelte zerknirscht.

»Tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich wollte Evelyn treffen. Oder Thomas. Oder beide.«

»Ich bin froh, dass es nicht Evelyn war. Sonst müsste ich jetzt ihren gebrochenen Kiefer behandeln.« Danny beugte sich über seine Frau und küsste sie zum Abschied. Für ein Frühstück reichte die Zeit nicht mehr, wenn er seine Patienten nicht warten lassen wollte. Auch das war eines der Dinge, die er von seinem Vater übernommen hatte und die sich nie ändern würden.

*

An diesem Vormittag gaben sich die Patienten die Klinke in die Hand. Fast schien es, als hätte sich halb München in der Praxis Dr. Norden verabredet. Trotz gewissenhafter Terminvereinbarungen war das Wartezimmer bis auf den letzten Platz besetzt. Notfälle wie ein Hexenschuss und eine Platzwunde am Kopf sorgten zusätzlich dafür, dass Wendy, Janine und Danny alle Hände voll zu tun hatten. An private Gespräche war noch nicht einmal zu denken. Ausgerechnet an diesem Tag! Dabei gab es so viel zu besprechen. Janine wollte alles über den Tanzkursus wissen. Wendy dagegen brannte auf Neuigkeiten über Arndt Stein. Sie musste sich bis mittags gedulden, bis nicht nur der letzte Patient, sondern auch Danny Norden die Praxis verlassen hatte.

»Na endlich!«, seufzte Wendy schließlich. Höchstpersönlich hatte sie den letzten Patienten des Vormittags zur Tür gebracht. Um ganz sicher zu gehen, dass wenigstens zwei Stunden lang Ruhe herrschte, drehte sie den Schlüssel im Schloss. Nicht ein Mal. Nicht zwei Mal. Gleich drei Mal. »Sicher ist sicher. Und jetzt will ich alles wissen.«

Janine lehnte sich zurück und ließ den vergangenen Abend noch einmal Revue passieren. Bis auf Maltes Geständnis waren es ungetrübte Stunden gewesen. Nachdem Arndt vom Hausbesuch bei seiner Patientin zurückgekehrt war, hatten sie es sich zu zweit im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Wie im Flug war die Zeit vergangen, und Arndts Kuss zum Abschied hatte Lust auf mehr gemacht. Das verriet Janine ihrer Freundin natürlich nicht. Versonnen lächelte sie vor sich hin.

»Stell dir vor: Arndt hat mich gefragt, ob ich Lust habe, in seiner Praxis anzufangen.«

»Wie bitte?«

Wendys Stimme fegte die rosarote Wolke fort, auf der Janine gesegelt war. Unsanft landete sie wieder auf dem Boden der Tatsachen.

»Immer mit der Ruhe«, versuchte sie, Wendy zu beschwichtigen. »Ich habe natürlich nein gesagt.«

»Aber?« Wendys Gesicht glich noch immer einer Gewitterwolke.

»Kein aber. Und ja, ich gebe zu, dass mir das Angebot schmeichelt«, räumte Janine ein. »Offenbar hält er viel von meinen Fähigkeiten.«

»Fragt sich nur von welchen«, platzte Wendy heraus. Ihre Laune war auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen.

Janine überlegte kurz. Glücklich, wie sie war, wollte sie niemanden um sich herum traurig sehen. Schon gar nicht ihre Freundin. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf Wendys Arm.

»Komm schon! Bevor du platzt, erzählst du mir lieber von eurem Tanzkursus.«

»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich bin froh, wenn der Zauber heute Abend vorbei ist.« Wendy stand auf. Auf dem Weg in die Küche fiel ihr Blick durchs Fenster auf den Wagen, der auf der Straße vor der Praxis parkte. »Dein Galan ist übrigens hier.«

»Arndt? Wirklich?« Mit einem Satz war Janine auf den Beinen. Sie fuhr sich durchs Haar, griff nach Handtasche und Jacke und schwebte zur Tür. »Ich bin pünktlich wieder zurück.«

Wendy hörte noch, wie sich der Schlüssel ein Mal, zwei Mal, drei Mal im Schloss drehte. Gleich darauf sah sie zu, wie Janine in die Arme ihres Liebsten flog. Mit dem Gesicht einer Bulldogge drehte sie sich um. Und stieß einen Schrei aus.

»Du liebe Zeit, Wendy! Was ist los? Sagen Sie bloß, Sie haben mich nicht gehört.« Wie vom Donner gerührt stand Dr. Daniel Norden vor seiner ehemaligen Assistentin.

Wendys Blicke flogen zwischen Fenster und Daniel hin und her.

»Aber Arndt und Janine … «, stammelte sie, noch immer kalkweiß im Gesicht.

»Janine kam zufällig gerade raus, als ich klingeln wollte. Sie hatte es eilig.« Er zwinkerte Wendy zu. »Ach, muss junge Liebe schön sein.«

»Geschmackssache«, knurrte sie. Ihre Miene gereichte einer Bulldogge zur Ehre. »Aber was kann ich für Sie tun? Bestimmt sind Sie nicht hier, um mit mir über Janine zu sprechen.«

»Stimmt auffallend.« Dr. Norden trat auf sie zu. Er deutete eine Verbeugung an und hielt ihr die linke Hand hin. »Darf ich bitten, gnädige Frau?«

Wendy starrte ihren ehemaligen Chef an, als hätte er den Verstand verloren.

»Wie bitte? Was wollen Sie von mir?«

Daniel legte die rechte Hand auf ihre Hüfte.

»Dieses Vortanzen heute Abend macht mich total nervös.«

»Wem sagen Sie das!«

»Dagegen gibt es nur ein Mittel: Üben, üben, und noch mal üben. Deshalb bin ich hier.«

Wendy legte den Kopf schief.

»Und Sie glauben, das nützt etwas?«

»Wir müssen es wenigstens versuchen.«

*

In dieser Nacht hatte Malte Stein kaum Schlaf gefunden. Das Gespräch mit Janine hatte ihn aufgewühlt. Doch nicht so, wie Janine selbst es vermutet hätte. Statt an seinen Vater dachte Malte vielmehr an Antonie. Bevor er sie fragte, ob sie mit ihm zusammen sein wollte, musste er ihr die Wahrheit sagen. Musste ihr die Möglichkeit geben, eine Entscheidung zu treffen. Alles andere wäre unfair gewesen.

Diese Gedanken kreisten unaufhörlich in seinem Kopf, während er im Café ›Schöne Aussichten‹ auf sie wartete. Er hatte gerade die dritte Tasse Tee geleert, als sich Antonie zu ihm gesellte. Sie begrüßte ihn mit einem Küsschen rechts und links auf die Wange. Wenn Malte den Kopf ein paar Millimeter gedreht hätte, wäre das Ziel ein anderes gewesen. Allein ihm fehlte der Mut dazu. So blieb es ein weiteres Mal bei der freundschaftlichen Begrüßung. Das war vielleicht auch besser so angesichts dessen, was er ihr zu sagen hatte. Das Gespräch mit Janine am vergangenen Abend hatte ihn nachdenklich gestimmt.

»Tut mir leid, dass ich so spät bin. Der Lehrer ist nicht fertig geworden.« Antonie ließ sich neben ihn in die weichen Polster fallen und leuchtete ihn mit ihren Scheinwerferaugen an. »Was ist? Warum machst du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«

Malte senkte den Kopf und kratzte den letzten Rest Zucker aus der Tasse.

»Ich muss dir etwas sagen.«

Antonie legte den Kopf schief. Wie ein Vorhang fiel ihr das Haar ins Gesicht. Ohne lange nachzudenken, strich sie es weg. Hätte Malte sie angesehen, hätte er den Schalk bemerkt, der in ihren Augen blitzte.

»Lass mich raten! Du gehst heute Abend mit einer anderen ins Konzert.«

»Bist du verrückt geworden?«, entfuhr es ihm.

Antonie rückte ein Stück weg.

»Schon gut. Das war doch nur ein Spaß!«

Malte atmete ein und wieder aus.

»Tut mir leid.« Er seufzte. »Es ist alles nicht so einfach zur Zeit. Mein Vater, der Unfall gestern. Und jetzt noch …« Er hielt inne. Wusste nicht, wie er weitermachen sollte.

Obwohl es warm war im Café, fröstelte Antonie plötzlich.

»Was ist denn los? Hast du dich gestern doch schlimmer verletzt?«

Malte gab sich einen Ruck. Hob den Kopf und sah ihr in die Augen. Wenn sie schon gleich aufspringen und davonlaufen würde, wollte er sie wenigstens noch einmal ansehen.

»Ich bin schon länger krank.«

»Was fehlt dir?«

»Dr. Norden weiß es noch nicht. Ich tippe auf Morbus Crohn. Das ist eine entzündliche Darmerkrankung.«

Antonie erinnerte sich.

»Diese unheilbare Krankheit, die deine Mutter hat?«

Die Serviette in Maltes Händen hatte sich in Konfetti verwandelt. Er nickte langsam.

»Genau die.«

»Aber dagegen kann man doch etwas tun. Oder nicht?«

»Zumindest ist es schwierig. Und wenn mein Vater das erfährt, flippt er aus. Er hat ja schon die Trennung von meiner Mutter kaum verkraftet.«

Antonie setzte sich kerzengerade auf.

»Mensch, Malte, es geht hier nicht um deinen Vater, sondern um dich. Du bist die Hauptperson in deinem Leben.«

Er presste die Lippen aufeinander und blickte hinab auf die Schnipsel in seinem Schoß. Auf der einen Seite wusste er, dass Antonie recht hatte. Aber da gab es noch den anderen Aspekt.

»Das verstehst du nicht. Du kennst Arndt nicht.«

»Na und? Dein Vater ist ein erwachsener Mann. Ich nehme an, dass er sich gut um sich selbst kümmern kann.« Antonie schnaubte wie ein Pferd. »Wenn du mich fragst, ist es ziemlich egoistisch, dass er seinen ganzen Kram bei dir ablädt.«

»Ich frage dich aber nicht.« Malte erschrak über sich selbst. Doch er konnte nicht anders.

Er sprang auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, humpelte er los. Er stieß mit dem verletzten Knie gegen einen Stuhl. Stolperte über eine Tasche, die die Besitzerin auf den Boden neben ihren Platz gestellt hatte. Doch all diese Hürden und Hindernisse hielten ihn nicht davon ab, seine Flucht fortzusetzen, während Antonies Blicke ein Loch in seinen Rücken brannten.

*

Nach dem gemeinsamen Mittagessen schlenderten Arndt und Janine Hand in Hand am Ufer der Isar entlang.

Den Bäumen war anzusehen, dass der Sommer vorbeiging. Ihre Blätter kräuselten sich an den Rändern. Ihr Grün wurde von Tag zu Tag blasser. Auch die klare Luft erinnerte die Menschen daran, dass der Sommer nicht ewig dauern konnte. Janine zog die Jacke enger um sich. Lag es an dem kühlen Windhauch oder an Maltes Bitte vom vergangenen Abend, dass sie plötzlich fröstelte?

»Woran denkst du?« Arndt schickte ihr einen fragenden Seitenblick. Ehe sie ihre Gedanken sortiert hatte, fuhr er fort. »Lass mich raten! Du überlegst, ob du mein Angebot annehmen und bei mir arbeiten sollst.«

Janine lachte verlegen.

»Dein Angebot schmeichelt mir wirklich sehr. Dummerweise würden es mir Wendy und Danny niemals verzeihen, wenn ich es annehmen würde.«

»Damit könnte ich leben.« Er blieb stehen. Janine blieb nichts anderes übrig, als sich zu ihm umzudrehen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog er ihre Hand an seine Lippen. »Du solltest nicht nur an die anderen denken. Viel wichtiger ist doch, was du selbst willst. Findest du nicht?«

»Bevor du in mein Leben getreten bist, habe ich nie auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, den Arbeitsplatz zu wechseln«, erwiderte Janine. »Das ist doch Beweis genug dafür, dass ich mich wohl dort fühle, wo ich bin.«

»Vielleicht würdest du dich in meiner Praxis auch wohl fühlen«, gab Arndt zu bedenken. »Du könntest alles so machen, wie du es für richtig hieltest, ohne dich nach irgendjemand anderem richten zu müssen. Mal abgesehen davon, dass du viel Neues lernen könntest. Ich würde dich auf Fortbildungen in Homöopathie und TCM schicken. Du könntest eine Heilpraktikerausbildung machen und meine rechte Hand werden. Deine eigenen Patienten behandeln.«

Janines Herz schlug schneller. Gleichzeitig schmerzte ihr Kopf. Sicher, diese Vorstellung war verlockend. Vielleicht sogar mehr als das. Andererseits …

»Gib uns ein bisschen Zeit, um uns besser kennenzulernen. Wer weiß, vielleicht entdeckst du mit der Zeit Eigenschaften an mir, die dich auf die Palme bringen.«

»Und welche sollten das sein?«, fragte Arndt schmunzelnd.

»Beim Telefonieren male ich gern Muster auf die Schreibtischunterlage. Ich singe beim Autofahren. Wenn ich joggen gehe, muss ich mir immer vorstellen, ein böser Mann wäre hinter mir her. Sonst hätte ich ja keinen Grund, schnell zu lau …«

»Genug. Genug!«, unterbrach er sie lachend. Er blieb stehen und zog Janine in seine Arme. »Das sind wirklich schreckliche Eigenschaften. Und eines ist sicher: Mit Malte wirst du dich ganz ausgezeichnet verstehen. Er spricht mit dem Kühlschrank und schlägt Gummibärchen tot, bevor er sie isst, weil er sie nicht bei lebendigem Leib verspeisen will.«

Anders als erwartet, stimmte Janine nicht in das Lachen ihres Begleiters ein. Malte! Dieses Stichwort hatte sie an ihr Versprechen erinnert. Bevor sie sich auf den Rückweg in die Praxis machten, musste sie unbedingt seine Bitte in die Tat umsetzen.

»Apropos Malte«, begann sie und bückte sich nach einem Isarkiesel. Seine glatte Oberfläche beruhigte sie. »Er hat mir sein Geheimnis verraten.«

Arndt blieb stehen.

»Dir?« Seine Stimme klirrte. So abweisend hatte Janine ihn nie zuvor gesehen. »Warum dir? Ihr kennt euch kaum.«

Diese Frage hatte sie sich auch gestellt.

»Ich glaube, er wollte dich schonen.«

Arndts Lachen war fast ein wenig abfällig.

»Ich bin ein erwachsener Mann und halte schon was aus.«

»Wenn Malte das denken würde, hätte er dir sicher gesagt, dass er Angst hat, an Morbus Crohn zu leiden. Genau wie seine Mutter.« Endlich war die Wahrheit heraus. Janines Mission war erfüllt. Was Vater und Sohn damit anfingen, war zum Glück nicht mehr ihre Sache.

Plötzlich hatte Arndt es eilig, sie zurück in die Praxis zu bringen. Janine hatte nichts dagegen.

*

Malte Stein lag auf der Couch im Wohnzimmer und starrte auf das Mobiltelefon in seiner Hand.

»Der Teilnehmer ist leider nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt wieder«, schnarrte der Lautsprecher. Noch nicht einmal die Mailbox, damit er sich für seine Flucht aus dem ›Schöne Aussichten‹ entschuldigen konnte. Zu allem Überfluss drehte sich jetzt auch noch der Schlüssel im Schloss. Was um alles in der Welt wollte sein Vater um diese Uhrzeit hier?

»Hallo, Sportsfreund!« Arndt Steins Stimme hallte durch die Wohnung. »Bist du zu Hause?«

»Schrei nicht so! Ich bin doch nicht taub.«

»Tut mir leid, ich habe dich gar nicht gesehen.«

»Ich bin ja auch noch so klein.« Malte rollte sich auf die Seite und schnitt eine Grimasse. »Da kann das schon mal passieren.«

Im Normalfall war sein Vater immer für einen Spaß zu haben. Doch diesmal lachte er nicht. Nicht das kleinste Lächeln zog seine Mundwinkel hoch. Arndt setzte sich auf den Hocker, der im gleichen Stoff wie die Wohnlandschaft bezogen war. Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort. Unwillkürlich musste Malte an einen Western denken. An diese Szenen, wenn sich zwei Cowboys gegenüberstanden. Wer von ihnen würde als erster die Waffe ziehen?

Es war Arndt.

»Ich habe mit Janine gesprochen.«

Also doch! So schnell hatte Malte nicht damit gerechnet.

Er suchte noch nach einer Antwort, als sein Vater fortfuhr.

»Warum hast du mir nichts von deinen Sorgen erzählt?«

Malte starrte auf die Landschaftsaufnahme an der Wand neben der Terrassentür. Ein undurchdringlicher Wald. Als Kind hatte er sich immer vorgestellt, sich darin zu verstecken. Für die Augen der anderen unsichtbar zu sein, während er alles beobachten konnte.

»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«

Arndt stand auf. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und begann, vor der Couch auf und ab zu laufen.

»Und deshalb erzählst du lieber einer wildfremden Frau von deinem Verdacht, statt zu mir zu kommen?«

»Janine ist vom Fach. Ich dachte, sie kennt sich aus. Außerdem ist sie nett. Und deine Freundin.«

»Trotzdem verstehe ich dich nicht.« Arndt blieb vor seinem Sohn stehen. »Habe ich nicht immer alles für dich getan? Mein Privatleben für dich zurückgestellt? War ich neben meiner Arbeit nicht ganz für dich da?«

Malte hievte das verletzte Bein von der Couch. Er setzte sich kerzengerade hin.

»Vielleicht wäre weniger manchmal mehr gewesen.«

Arndt schnappte nach Luft.

»Was soll das denn schon wieder heißen?«

»Dass du mich mit deiner Liebe und Fürsorge, mit diesem Beste-Freunde-Gedöns erdrückt hast. Weißt du eigentlich, wie schrecklich es ist, keine Geheimnisse haben zu dürfen? Kein eigenes Leben?«

»Aber … aber … ich habe es doch nur gut gemeint. Ich dachte, du würdest unsäglich unter dem Verlust deiner Mutter leiden.«

»Daran ändert sich nichts, wenn du mir die Luft zum Atmen nimmst«, fauchte Malte. »Wenn du mit Mama genauso umgegangen bist, wundert es mich nicht, dass sie gegangen ist.« Er stemmte sich vom Sofa hoch und humpelte an seinem Vater vorbei aus dem Zimmer. »Weißt du, wie froh ich bin, dass du endlich eine Freundin hast? Jetzt hast du hoffentlich nicht mehr so viel Zeit, die Glucke zu spielen. Jetzt habe ich hoffentlich endlich die Gelegenheit, mein eigenes Leben zu leben.« Gleich darauf hallten seine Schritte auf der Treppe.

Arndt stand im Wohnzimmer und sah ihm nach. Die Ohren klingelten ihm wie nach einem Satz Ohrfeigen. Heute war offenbar nicht sein Tag.

*

Wendy drehte sich, dass selbst ihre kurzen Haare durch die Luft flogen. ?hre Wangen leuchteten mit den Rosen in der Vase um die Wette. Auf ihrer Stirn glänzten feine Schweißperlen.

»Olé!« Sie stieß den rechten Arm in die Luft, stemmte die linke Hand in die Hüfte und warf den Kopf in den Nacken.

Dr. Daniel Norden spendete seiner ehemaligen Assistentin Applaus.

»Da kenne ich Sie schon so lange. Trotzdem gelingt es Ihnen, mich immer wieder zu überraschen.« Seine Augen strahlten mit seinem Mund um die Wette.

»Ob sie es glauben oder nicht. Ich mich selbst auch«, keuchte Wendy. »Ich hätte nie gedacht, dass Tanzen so viel Spaß machen kann.« Nach einem Blick auf die Uhr streckte sie die Arme nach Daniel Norden aus. »Kommen Sie, kommen Sie! Für eine Runde ist noch Zeit.«

»Gut. Aber dann muss ich wirklich los.« Daniel nahm Tanzhaltung ein und wirbelte Wendy durch den Flur der Praxis.

Ein Geräusch brachte ihn aus dem Takt. Er stolperte über seine eigenen Füße und fiel auf den Stuhl neben der Garderobe. Wendy landete auf seinem Schoß.

Mit dem Arztkoffer in der Hand stand Danny in der Tür und betrachte die Szenerie.

»Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch«, bemerkte er trocken und sah sich nach Janine um, die neben ihn getreten war.

»Sieh mal einer an!«

»Das ist jetzt nicht so, wie ihr denkt!«, beeilte sich Wendy zu versichern und kämpfte sich aus Daniel Nordens Schoß hoch.

»Ich kann euch versichern, dass ich DAS ganz sicher nicht denke«, platzte Danny heraus.

Sein Vater erhob sich aus dem Stuhl. Er fuhr sich durch das Haar und strich das Hemd glatt. Mit einem formvollendeten Handkuss verabschiedete er sich von Wendy.

»Wir sehen uns heute Abend«, raunte er ihr zu.

»Ich kann es kaum erwarten.« Wendy winkte und sah ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Als wäre nichts geschehen, kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Sie meinem Vater ganz schön den Kopf verdreht haben.« Danny stellte die Arzttasche an ihren Platz neben der Garderobe und hängte seine Jacke auf.

»Du solltest mich nicht unterschätzen! Ich habe Qualitäten, von denen wagst du noch nicht einmal zu träumen«, erwiderte Wendy und zwinkerte Janine zu. Ihre schlechte Laune hatte sich in Luft aufgelöst. Doch die Miene ihrer Freundin gab Anlass zur Sorge. Ein schrecklicher Gedanke kam ihr in den Sinn. War es möglich, dass Arndt Stein Janine überzeugt hatte? Das Lächeln auf Wendys Gesicht verblasste. Mit Argusaugen verfolgte sie jede von Janines Bewegungen.

»Was ist los? Sag bloß, du hast dich gegen uns entschieden?«

Wie ertappt zuckte Janine zusammen.

»Wie bitte? Was? Wovon sprichst du?«

»Tu doch nicht so unschuldig. Du weißt genau, was ich meine. Wechselst du in Arndts Praxis?«

Danny Norden war schon auf dem Weg in sein Sprechzimmer gewesen.

»Augenblick!« Er kehrte an den Tresen zurück. »Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?«

»Nein.« Janine machte einen Schmollmund.

»Ja«, antwortete Wendy gleichzeitig. »Der Kollege Stein hat Janine ein Angebot gemacht. Er möchte, dass sie bei ihm als Assistentin anfängt.«

Danny Norden runzelte die Stirn.

»Stimmt das?«, wandte er sich an Janine.

Die wäre am liebsten mitsamt ihrem Stuhl im Erdboden verschwunden.

»Er hat mir angeboten, die Ausbildung zur Heilpraktikerin zu machen und als seine Partnerin in seiner Praxis zu arbeiten.« Sie wagte es nicht, zu ihrer Freundin hinüberzusehen. Es genügte ihr, Wendys Schnappatmung zu hören.

»Und was haben Sie gesagt?«, fragte Danny. Er klang erstaunlich gefasst.

»Dass ich Zeit brauche, um darüber nachzudenken«, antwortete sie entwaffnend ehrlich. In ihre Worte hinein klingelte das Telefon.

Wendy nahm das Gespräch an. Es dauerte nur kurz.

»Das war Dr. Stein.« Ihre Stimme ließ Janine aufhorchen. »Malte ist kollabiert. Er ist auf dem Weg in die Behnisch-Klinik.«

*

»Na, Prinzessin Rosarot. So schwer verliebt?« Die Frage ihrer Freundin weckte Antonie aus ihren Gedanken.

»Wie kommst du denn darauf?« Antonie sah sich um. An den Nachbartischen saßen Leute, die vorhin noch nicht da gewesen waren.

»Weil du nicht an dein Telefon gehst und auch auf Rufen und Winken nicht reagierst. Ich habe dich die ganze Zeit gesucht.« Nele ließ sich auf den Stuhl gegenüber fallen und sah Antonie forschend an. »Was ist los? Ist dein Hamster gestorben?«

Antonie schnitt eine Grimasse und kramte in ihrer Tasche nach dem Mobiltelefon.

»Nur zu deiner Information: Ich habe keinen Hamster.« Sie warf einen Blick auf das Handy. »Mist. Der Akku ist leer.«

»Dann kann ich ja lange versuchen, dich zu erreichen.« Nele bestellte einen Milchshake und machte es sich gemütlich.

»Also? Ich höre.«

Antonie ließ das Handy wieder in der Tasche verschwinden.

»Wir können heute Abend doch zusammen in das Konzert gehen.«

»Big trouble in paradise?«, scherzte Nele. »Ärger im Paradies? Wie konnte das geschehen?«

»Das ist nicht witzig«, fauchte Antonie. »Malte hat mir erzählt, dass er vielleicht diese Krankheit von seiner Mutter geerbt hat.«

»Echt? Ist das schlimm?«

»Nicht lebensgefährlich, aber auch nicht heilbar. Seine Mutter ist deshalb depressiv geworden und hat die Familie verlassen.« Antonie starrte auf den Milchshake. »Ich mache mir solche Vorwürfe. Die ganze Zeit ging es ihm schlecht. Und ich habe nichts davon bemerkt.«

»Vielleicht ist er einfach nur ein guter Schauspieler, und du hattest keine Chance, etwas zu bemerken«, gab Nele zu bedenken.

»Möglich. Wenn noch nicht einmal sein Vater etwas davon mitbekommen hat …«

»Sein Dad weiß nichts davon?«

Antonie schüttelte den Kopf.

»Malte denkt, er müsste ihn schonen. Deshalb haben wir uns auch gestritten.«

Nele verdrehte die Augen gen Himmel.

»Meine Güte. Als hättet ihr beide nicht schon Probleme genug.«

»Mach du mir nicht auch noch Vorwürfe!«, beschwerte sich Antonie. »Sag mir lieber, was ich jetzt tun soll.«

Mit Inbrunst saugte Nele an ihrem Halm.

»Ganz einfach«, erwiderte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. »Ruf ihn an und sag ihm, dass du nicht streiten, sondern für ihn da sein willst.«

»Mein Akku ist leer. Schon vergessen?«

»Dann nimmst du eben mein Telefon. Seine Nummer hast du ja sicher im Kopf.« Nele sprach aus Erfahrung. Die Sache mit Lars war noch nicht lange her.

Zum ersten Mal, seit Malte aus dem Café gehumpelt war, konnte Antonie wieder lächeln.

»Du bist eine echte Freundin.«

Nele zwinkerte ihr zu.

»Ich habe dir doch versprochen, dass Malte daran nichts ändern wird.«

*

Der neue Überwachungsmonitor piepte gleichmäßig vor sich hin. Verglichen mit anderen Geräuschen auf der Intensivstation war das ein relativ beruhigender Ton, wie Dr. Felicitas Norden jedes Mal wieder aufs Neue befand.

»Ihr Sohn hat einen allergischen Schock erlitten.« Sie stand am Intensivbett ihres Patienten und klärte Dr. Stein auf. »Wir mussten intubieren. Aber jetzt ist Maltes Zustand stabil.«

Arndts Blick ruhte auf seinem schlafenden Sohn.

»Ich verstehe das nicht. Er hatte nie irgendwelche Allergien.«

»Ihnen als Kollege muss ich sicher nicht erzählen, dass Allergien ganz plötzlich auftreten können.«

»Und der Auslöser?«

»Den haben wir noch nicht gefunden. Aber ich bin sicher, dass wir dem Übeltäter bald auf die Spur kommen. Wissen Sie, was Ihr Sohn heute gegessen hat?«

Maltes Arm lag auf der Bettdecke. Erschreckend dünn und fast so bleich wie der weiße Stoff.

»Keine Ahnung«, gestand Arndt heiser. »Gestern Abend gab es Fisch.«

Fee wiegte den Kopf.

»Dann hätte bereits in der Nacht eine Reaktion eintreten müssen. Wie gesagt, ich bin optimistisch, dass wir den Auslöser finden werden. Die Untersuchungen laufen.«

»Mein Sohn befürchtet, er habe Morbus Crohn. Wie seine Mutter. Leider hat er mir das nicht selbst gesagt.«

»Morbus Crohn?« Der Pferdeschwanz auf Fees Rücken tanzte hin und her. »Das ist es mit Sicherheit nicht.« Sie wusste um die Tücken dieser Erkrankung und war froh, Entwarnung geben zu können. »Zumal Morbus Crohn nur zu etwa 20 Prozent erblich bedingt ist.«

Arndt fuhr sich mit der Hand über das Kinn.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Malte nicht zu mir gekommen ist. Ich dachte, dass wir keine Geheimnisse voreinander hätten. Seit uns seine Mutter verlassen hat, haben wir immer alles geteilt.«

Felicitas war eine aufmerksame Zuhörerin. Auch ohne Hintergrundinformationen verstand sie die Botschaft zwischen den Zeilen.

»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Erwachsenwerden ist für niemanden einfach. Nicht für die Kinder. Und auch nicht für die Eltern.«

Arndt drehte sich zu seiner Kollegin um.

»Sie sind Mutter?«

Ein Lächeln spielte um Fees Lippen.

»Fünf an der Zahl. Eines davon ist Maltes behandelnder Arzt. Dr. Danny Norden.«

Arndt Stein spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.

»Ich fürchte, ich habe Ihren Sohn nicht gerade fair behandelt.« Er räusperte sich. »Dabei wollte er Malte nur helfen.«

Fee kontrollierte die Werte des Geräteturms und notierte sie im Krankenblatt. Erst dann wandte sie sich wieder an den Kollegen.

»Das sollten Sie ihm besser selbst sagen, Herr Dr. Stein. Danny ist erwachsen.« Sie zwinkerte ihm zu und legte kurz die Hand auf seine Schulter, ehe sie aus dem Zimmer ging und Vater und Sohn sich selbst überließ.

*

Die Häuser warfen lange Schatten, als Danny Norden vor dem Tanzkursus noch schnell nach Hause kam. In der Wohnung sah es aus, als wäre eine Horde Einbrecher über das Hab und Gut der Familie Norden hergefallen. Schränke standen offen. Überall lagen Kleider, Schuhe und Jacken herum. In der Küche war jeder Quadratzentimeter der Arbeitsplatte bedeckt mit Geschirr, Besteck, Schüsseln, Töpfen und Pfannen in allen erdenklichen Farben und Formen. Sie alle warteten darauf, in die bereitstehenden Umzugskartons eingepackt zu werden.

Der Einzige, der sich in diesem Durcheinander pudelwohl fühlte, war Fynn. Selbstvergessen schob er Spielzeugautos um die Karton­ecken und machte Motorengeräusche dazu.

Sein Vater dagegen schämte sich fast für sein Glück, dieses Chaos gleich wieder verlassen zu können.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Tatjana ihrem Mann auf den Kopf zu. »Du bist froh, dass du gleich wieder gehen kannst.«

»Ab morgen stehe ich dir wieder voll und ganz zur Verfügung.« Danny küsste seine Frau. »Am Wochenende kommt die Umzugsfirma und nimmt den Rest mit. Dann sind wir zumindest diese Baustelle los.«

Tatjana folgte Danny ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Sie sah ihm dabei zu, wie er sich umzog.

»Ehrlich gesagt freue ich mich gar nicht mehr auf den Umzug.«

Danny knöpfte das Hemd zu.

»Mach dir nicht so viele Sorgen, Jana. Jetzt haben wir so viele Hürden überwunden, um unser Wolkenkuckucksheim zu bekommen. Da werden wir doch auf den letzten Metern nicht schlapp machen.« Er steckte das Hemd in die schwarze Hose und betrachtete den fremden Mann in der verspiegelten Schranktür, zog hier den Kragen zurecht und zupfte dort an der Hose.

»Trotzdem mache ich mir Gedanken. Vielleicht unterschätzen wir unsere Nachbarn. Zumindest Evelyn scheint keine Kosten und Mühen zu scheuen, um uns zu vergraulen.«

Danny setzte sich neben seine Frau auf das Bett. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.

»Was ist denn? So zögerlich kenne ich meine mutige Kriegerin gar nicht.«

Tatjanas Augenbrauen zogen sich zusammen wie zwei Gewitterwolken.

»Wenn es nur um mich ginge, hätte Evelyn nichts zu lachen.« Sie seufzte. »Fynn ist das Lindenblatt auf meiner Schulter. Er macht mich verletzlich. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihm etwas zustieße.«

»Du denkst an den Pool?«

»Natürlich. Wasser ist immer eine Gefahr für kleine Kinder. Zumal ich nicht wie eine dieser Helikoptermütter ständig über ihm kreisen will. Er soll eine unbeschwerte Kindheit haben und sich frei entfalten …« Sie hielt inne und funkelte ihren Mann an. »Was gibt es da zu lachen?«

»Was bitte ist denn eine Helikoptermutter?«

»So werden Mütter genannt, die immer in der Nähe ihrer Kinder schweben und sie nie aus dem Augen lassen. Egal, ob das Kind sie braucht oder nicht. So eine Kindheit hatte ich nicht. Und so etwas will ich unserem Sohn auch nicht zumuten. Wofür haben wir denn ein Haus mit einem großen Garten gekauft?«

Danny warf einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr.

»Auch andere Familien mit Kindern wohnen in der Nähe von Wasser. Manche haben sogar einen Pool im eigenen Garten«, gab er zu bedenken. »Sieh es positiv. Auf diese Weise lernt Fynn frühzeitig, mit so einer Gefahr umzugehen.« Er beugte sich über Tatjana und küsste sie zum Abschied. »Ich muss jetzt leider los.«

»Warum habe ich das Gefühl, dass du meine Sorgen nicht ernst nimmst?«, fragte sie.

Antwort bekam sie keine mehr. Danny stand schon im Flur und wurde von seinem Sohn in eine Diskussion darüber verwickelt, warum er jetzt überhaupt keine Zeit hatte, das blaue Auto über den Flur zu schieben.

*

Auch Felicitas Norden rüstete sich für den Aufbruch. Anders als ihr ältester Sohn Danny wollte sie direkt von der Arbeit in die Tanzschule fahren. Der Computer war heruntergefahren, Drucker und Schreibtischlampe ausgeschaltet. Das Handyklingeln durchkreuzte ihre Pläne. Unbekannte Nummer. Einen Moment lang überlegte Fee, ob sie das Gespräch annehmen sollte.

»Norden«, meldete sie sich eine Spur ungeduldig.

»Stein hier. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung.« Arndt Steins Stimme klang, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich.

»Herr Dr. Stein, was kann ich für Sie tun?« Den Apparat am Ohr, schulterte Felicitas ihre Tasche und nahm die Jacke vom Garderobenhaken.

»Ich habe die Tüte einer Bäckerei in Maltes Zimmer gefunden. Zwischendurch ist er total unvernünftig und stopft sich mit süßen Teilchen voll.« Die Tüte raschelte im Hintergrund. »Vielleicht sind sie die Ursache für den allergischen Schock.«

»Das ist nicht ungewöhnlich für Jungs in seinem Alter«, erwiderte Fee. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren. »Einer meiner Söhne hat in der Pubertät regelmäßig ganze Kuchenvorräte vernichtet, wenn ihn keiner daran gehindert hat.« Sie löschte das Deckenlicht und zog die Bürotür hinter sich zu. Ihre Kopfarbeit war nicht ohne Ergebnis geblieben. »Was isst Malte denn besonders gern?«

»Süßes Gebäck in allen Variationen. Und die aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ besonders gern. Da darf es auch mal ein Amerikaner mehr sein.«

Fee konnte es Malte nicht verdenken. Die Brot- und Backwaren ihrer Schwiegertochter Tatjana waren über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Arndt Steins Sohn schienen sie allerdings zum Verhängnis geworden zu sein.

»Das klingt danach, als ob Malte eine Glutenunverträglichkeit entwickelt hätte.«

Arndt sog die Luft durch die Zähne.

»Zöliakie.« Warum war er nicht selbst darauf gekommen?

»Das befürchte ich auch«, bestätigte Felicitas diesen Verdacht. »Können Sie die Tüte vorbeibringen, damit unser Labor den Inhalt analysieren kann?« Auf dem Flur näherten sich Schritte. Fee hob den Kopf und lächelte ihren Mann an, der sie wie verabredet abholte. »Anhand der Inhaltsstoffe können wir feststellen, ob wir mit unserer Vermutung richtig liegen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Daniel einen Kuss auf die Wange.

»Selbstverständlich. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Fee bat den besorgten Vater noch, die Tüte direkt im Labor abzuliefern. Dann beendete sie das Telefonat. Sie hängte sich bei Daniel ein und schlenderte mit ihm den Gang entlang Richtung Ausgang. Unterwegs erzählte sie von dem Fall.

»Ist das nicht der Sohn von Janines Verehrer?«, hakte er nach.

»Da weißt du mehr als ich.« Fee lachte. »Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass Männer doch die größeren Klatschbasen sind.«

*

Als Danny Norden in der Tanzschule ankam, herrschte bereits reger Betrieb. Ein Raunen und Murmeln erfüllte die Luft, die nach Karibik roch. Eine künstliche Palme wiegte sich im Salsa-Rhythmus. Danny sah sich im Vorraum um. An einem der Stehtische entdeckte er seine Eltern, in ein angeregtes Gespräch mit Wendy vertieft.

»Ah, da sind ja unsere Turteltauben.« Ein anzügliches Lachen garnierte seine Worte. Er beugte sich zu seiner Mutter hinab. »Wusstest du, dass dein Mann Geheimnisse vor dir hat?«

»Sag bloß, er trifft sich mit anderen Frauen?« Um Fees Mundwinkel zuckte es verdächtig.

»Nicht nur das. Er tanzt auch mit ihnen.«

»Was du nicht sagst!« Felicitas spielte das Spiel nur zu gern mit. Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihren Mann und seine ehemalige Assistentin an. »Was habt ihr zu eurer Verteidigung vorzubringen?«

Daniel legte den Arm um Wendys Schultern.

»Das werdet ihr schon noch sehen. Am Ende wechseln wir noch ins Profilager.«

Danny schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Das können Sie mir nicht antun, Wendy. Dann bin ich ganz allein in der Praxis.«

Daniel Norden verstand nicht.

»Du hast doch immer noch Janine.«

Danny und Wendy tauschten vielsagende Blicke.

»Janine denkt darüber nach, den Arbeitgeber zu wechseln.« Es war Wendy, die die Karten auf den Tisch legte. »Kaum winkt ein Mann mit einer Heilpraktikerausbildung, schon wird sie uns untreu.«

Doch wenn sie gedacht hatte, dass diese Nachricht wie eine Bombe einschlug, so hatte sie sich geirrt.

»Ehrlich gesagt rechne ich schon länger mit so einem Schritt.«

Mit einem Schlag gehörte dem ehemaligen Chef der Praxis Dr. Norden die ungeteilte Aufmerksamkeit. Alle starrten Daniel Norden an.

Felicitas fand als Erste ihre Sprache wieder.

»Wie kommst du auf so eine Idee?«

»Das liegt doch auf der Hand«, erwiderte er ohne Zögern. »Janine war schon immer ein ehrgeiziger Mensch. Denkt doch nur an die Fortbildung in ambulantem Operieren. Wie sie die durchgezogen hat neben ihrer Arbeit in der Praxis …« Daniel zog einen imaginären Hut. »Alle Achtung.«

Fee wiegte den Kopf. Von dieser Warte aus betrachtet konnte sie Janine gut verstehen. Schon deshalb, weil sie sie sich selbst in fortgeschrittenem Alter noch in das Abenteuer Weiterbildung gestürzt hatte.

»Mit Anfang 40 ist sie noch jung genug, um so eine Herausforderung anzunehmen. Aber mit jedem Jahr wird es schwieriger mit dem Lernen.« Sie lächelte in die Runde. »Ich spreche aus Erfahrung.«

»Das ist ja alles schön und gut. Trotzdem gefällt es mir nicht, Danny auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein«, murrte Wendy und schielte hinüber zum Tanzlehrer.

»Zuerst einmal sind Sie mir ausgeliefert.« Daniel Norden bot seiner Tanzpartnerin den Arm. »Höchste Zeit, unser Talent unter Beweis zu stellen.« Seite an Seite marschierten sie auf Carlos zu, der in der Mitte der Tanzfläche auf sein Schützlinge wartete.

»Wenn es das war, was ich heute Mittag zu Gesicht bekommen habe, dann gibt es gleich etwas zu lachen«, versprach Danny seiner Mutter, ehe auch er zur Tat schritt.

*

Mit geschlossenen Augen lag Malte im Bett. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Er sah aus, als ob er schlief. Das dachte auch sein Vater, als er auf Zehenspitzen das Zimmer betrat. Die blaue Stunde machte ihrem Namen alle Ehre und tauchte das Zimmer in alle Nuancen dieser Farbe. Ein Windhauch blähte den Store. Arndt schlich zum Fenster und wollte es schließen.

»Gib dir keine Mühe. Ich weiß, dass du da bist.«

Arndt legte den Griff um und sperrte die kühle Luft aus. Die Nachttischlampe flammte auf. Malte sah seinem Vater zu, wie er sich einen Stuhl ans Bett zog und sich setzte.

»Wie fühlst du dich?«

»War schon mal besser.« Malte rang sich ein Lächeln ab. »Haben die Ärzte dir gesagt, was mir fehlt?«

»Es deutet alles darauf hin, dass du an einer Glutenunverträglichkeit leidest.«

»Gluten? Kann man das essen?« Es sollte ein Scherz sein. Doch Arndt lachte nicht.

»Gluten wird auch Klebereiweiß genannt und ist ein Stoffgemisch aus Proteinen, Kohlenhydraten und Lipiden, das in verschiedenen Getreidesorten vorkommt«, erklärte er in seiner Eigenschaft als Arzt. »Normalerweise kann der Körper mit diesem Stoff umgehen. Aber manchmal löst Gluten eine Immunreaktion im Dünndarm aus. Dann spricht man von Zöliakie.«

»Gluten. Zöliakie. Heute sparst du aber nicht mit Fachausdrücken«, witzelte Malte. »Also los, raus mit der Sprache, Herr Doktor! Was ist das denn schon wieder?«

»Von Zöliakie oder Sprue spricht man, wenn das Getreide-Eiweiß im Dünndarm mit körpereigenen Enzymen verklumpt und vom Immunsystem angegriffen wird. Dann kommt es zur Entzündung und Zerstörung der Darmzotten, die als Nährstoffschleuse dienen. Die Folge sind Blähungen, Bauchkrämpfe, Durchfall, Erbrechen, Blutarmut, um nur einige zu nennen.«

Malte kämpfte sich in eine bequemere Liegeposition. Nicht ganz einfach mit einem geprellten Knie.

»Da habe ich ja noch einmal Glück im Unglück gehabt. Wozu so ein Unfall gut sein kann.«

»Das kannst du laut sagen«, bestätigte sein Vater. »Hättest du dir weiter fröhlich die Backwaren aus dem ›Schöne Aussichten‹ hinter die Kiemen geschoben, hättest du schwerwiegende Krankheiten riskiert.«

Malte riss die Augen auf.

»Augenblick! Was soll das heißen? Darf ich jetzt etwa keine Amerikaner mehr essen? Keine Vanilleschnecken und Apfeltaschen? Keine Schokocookies, Nussecken und Croissants mehr? Nie wieder Bienenstich?«

Beschwichtigend hob Arndt die Hände.

»Dass du jetzt unter Zöliakie leidest, heißt noch lange nicht, dass du diese Krankheit für den Rest deines Lebens haben wirst«, erklärte er. »Es ist durchaus denkbar, dass sie genauso plötzlich verschwindet, wie sie gekommen ist. Das weiß keiner so genau. Und bis es so weit ist, greifst du auf Alternativen zurück. Nachdem immer mehr Menschen unter Zöliakie leiden, stellt sich die Lebensmittelindustrie immer mehr darauf ein. Die Bäcker hoffentlich auch.«

»Eine Bäckerin genügt mir«, entfuhr es Malte.

Diesmal konnte Arndt nicht anders. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.

*

»Hola, chicas y chicos«, rief Carlos in die Runde seiner Schüler und klatschte in die Hände. »Ich freue mich, euch zum zweiten und letzten Abend unseres Salsa-Kurses begrüßen zu dürfen.«

Zustimmendes Murmeln.

»Freundlicherweise haben sich Daniel und seine bezaubernde Partnerin Wendy bereit erklärt, uns zu zeigen, was sie bisher gelernt haben.« Er winkte die beiden zu sich in die Mitte des Parketts. »Ich bitte euch alle, euch mit Kritik zurückzuhalten. Schließlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.« Seine Ledersohlen klapperten auf dem Parkett. Gleich darauf erklangen schmissige Salsa-Rhythmen.

Daniel Norden nahm Tanzhaltung ein. Er sah seiner Partnerin tief in die Augen. Wendy legte die Rechte in seine Hand. Leicht wie eine Feder sank ihre Linke auf seine Schulter. Sie warf den Kopf in den Nacken und schickte ihm einen feurigen Blick.

Fee stieß Danny in die Seite.

»Das sieht aber nicht gerade amateurhaft aus.«

»Warte es ab. Das ist alles nur Show«, raunte Danny und rieb sich die Hände.

Daniel Norden nickte seiner Tanzpartnerin zu. Wendy trat mit dem rechten Fuß einen Schritt zurück. Was dann folgte, war eine Überraschung. Nicht nur die Anwesenden staunten über die emotionale Darbietung. Auch Carlos stand mit offenem Mund daneben und sah Daniel und Wendy dabei zu, wie sie über das Parkett wirbelten. Nach einer vollendeten Drehung ging Daniel Norden vor seiner Tanzpartnerin auf die Knie. Schwer atmend, aber mit leuchtenden Wangen und Augen, verbeugten sich die beiden vor ihrem Publikum.

»Großartig. Dann kann ich den Unterricht ja jetzt Ihnen überlassen«, scherzte Carlos.

Fee dagegen stieß ihren Sohn in die Seite.

»Das war alles andere als eine Lachnummer.«

»Ich … Ich weiß auch nicht, was da passiert ist. Heute Mittag sah das noch ganz anders aus.« Danny streckte den linken Arm aus und wollte seine Mutter an sich ziehen.

Doch Felicitas schlängelte sich an ihm vorbei in Richtung Daniel, der genau wie Wendy von einer Traube Menschen belagert wurde.

»Darf ich mal durch. Entschuldigung. Ich muss kurz vorbei.« Es kostete sie ein paar Minuten und ein Mal sogar den Einsatz ihrer Ellbogen, bis sie endlich vor ihrem Mann stand. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah zu ihm hinauf.

»Wo hast du das gelernt, Dan?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich hatte keine Wahl. Schließlich wollte ich dir keine Schande machen.« Er zwinkerte seiner Frau zu und bot ihr seinen Arm.

Fee zögerte kurz. Dann schmiegte sie sich an ihn, sich der neidischen Blicke ihrer Geschlechtsgenossinnen wohlbewusst. Was für ein großartiges Gefühl!

Nur Wendy hatte keine Zeit, ihren ehemaligen Chef anzuschmachten. Sie flog von einem Männerarm in den nächsten. Ihr Strahlen verriet, dass sie im siebten Himmel schwebte. Und auch Danny war zufrieden. Er hatte sein Ziel – eine glückliche Wendy - erreicht. Dass er allein am Tisch stand, spielte keine Rolle.

*

Der Gesprächsstoff über die Krankheit hatte sich erschöpft. Während in der Tanzschule die Stimmung überkochte, war Stille im Krankenzimmer der Behnisch-Klinik eingekehrt. Doch es war kein angenehmes Schweigen zwischen Malte und seinem Vater. Die beiden schwiegen nicht aus Ergriffenheit über gemeinsam Erlebtes, einen Sonnenaufgang auf dem Gipfel eines Berges, Ankommen nach einer beschwerlichen Wanderung, das Staunen über die Geburt neuen Lebens. Es war ein unangenehmes Schweigen voller Anspannung. Malte fühlte sich wie ein Kind in Erwartung einer Strafe. Arndt erging es nicht besser. Er knetete die kalten Hände.

»Bist du immer noch böse mit mir?«

Das war das Stichwort. Malte atmete auf. Gleichzeitig zog er eine Augenbraue hoch.

»Eigentlich müsstest du böse mit mir sein. Ich war ganz schön gemein zu dir.«

Arndt winkte ab.

»Das, was du gesagt hast, war längst überfällig. Selbst wenn die Wahrheit manchmal weh tut.«

»Trotzdem«, beharrte Malte. »Ich hätte es auch netter sagen können.«

»Sollen wir noch einmal von vorn anfangen?«, scherzte Arndt.

»Bloß nicht.«

Einen Moment lachten Vater und Sohn miteinander.

»Darf ich dich um etwas bitten?«, fragte Arndt schließlich.

»Kommt darauf an.«

»Erzählst du mir in Zukunft, wenn du gesundheitliche Probleme hast?«

Malte sah seinem Vater in die Augen. Er nickte langsam. Haderte mit sich.

»Es gibt da ein Mädchen, Antonie. Ich glaube, ich habe mich in sie verliebt.«

»Aber das ist doch wundervoll.« Arndts Lächeln war echt. »Es gibt kaum etwas Schöneres als diese Schmetterlinge im Bauch.«

»Echt?« Malte machte keinen Hehl daraus, dass er nicht mit diesem Geständnis gerechnet hatte. »Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich wieder normal bin. Wenn ich ein und dieselbe Zeile nicht mehr drei Mal lesen muss, weil ich ständig an Antonie denke. Wenn ich nicht mehr jedes Mädchen auf der Straße mit ihr verwechsle. Wenn ich nicht mehr wie ein Idiot herum stammle, weil ich Wortfindungsstörungen habe.«

»Ich verstehe, was du meinst.« Arndt nickte. »Schon Platon wusste, dass Liebe eine schwere Geisteskrankheit ist.«

Malte kniff sich in den Arm. Träumte er oder war das wirklich sein Vater, mit dem er über dieses heikle Thema scherzte?

»Weißt du, wie viel Angst ich hatte, dir von Antonie zu erzählen? Ich dachte, dass dich das an Mama erinnert. Dass du wieder so traurig wirst wie früher.«

Arndt biss sich auf die Unterlippe. Er senkte den Blick und betrachtete die Hände in seinem Schoß.

»Vor ein, zwei Jahren wäre das wahrscheinlich sogar noch der Fall gewesen«, gestand er mit rauer Stimme. »Wahrscheinlich hätte ich alles in meiner Macht stehende getan, um dir das Mädchen auszureden.«

Malte schluckte.

»Und heute?«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als es klopfte. Ein Mädchenkopf tauchte im Türspalt auf.

»Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass du noch Besuch hast.«

»Nein, schon gut. Komm nur rein.« Mit einem Satz war Arndt auf den Beinen. »Ich wollte ohnehin gehen. Ich habe eine Verabredung mit Janine.« Gab es eine bessere Antwort auf Maltes Frage?

*

Die Hände tief in die Taschen ihrer Jacke versenkt, schlenderte Janine am Gehweg entlang. Die Luft war kühl. Sie roch nach Herbst. Klingelnd fuhr ein Fahrradfahrer an ihr vorbei. Sein Schatten folgte ihm und holte ihn unter der nächsten Straßenlaterne ein. Janine sah ihm nach und sah ihn doch nicht. Sie versuchte, sich auszumalen, was dieser Abend bringen mochte. Und hatte doch keine Idee. Wie würde Arndt zu ihrer Entscheidung stehen? Und was würden ihre Kollegen sagen, allen voran Danny Norden? Darüber dachte sie schon den ganzen Abend nach und hatte doch keine Antwort gefunden.

»Ich werde es wohl ausprobieren müssen«, seufzte sie. Unversehens war sie am Treffpunkt angelangt. Spanische Gitarrenklänge hallten hinaus auf die Straße. Ein paar Besucher verließen das Lokal. Eine Wolke Knoblauch begleitete sie nach draußen. Ein junger Mann hielt ihr die Tür auf. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. An einem anderen Abend wäre Janine stehengeblieben, hätte ein paar Sätze mit ihm gewechselt. Vielleicht sogar die Telefonnummern getauscht. So aber dankte sie ihm mit einem abwesenden Lächeln und betrat die Tapasbar.

Es war, als betrete sie ein anderes Universum. Ein warmes, duftendes, lautes, fröhliches Universum voller lachender Menschen. Und mittendrin Wendy und ein fremder Mann. Fantasierte sie oder legte ihre Freundin wirklich gerade eine heiße Salsa aufs Parkett?

Fee war auf dem Rückweg zu ihrem Tisch. Sie entdeckte die ehemalige Assistentin ihres Mannes und kämpfte sich zu ihr durch.

»Genauso habe ich heute auch geschaut, als Daniel und Wendy getanzt haben.« Lachend umarmte sie Janine.

Die konnte den Blick nicht von Wendy und ihrem Galan lösen.

»Ich hätte nie gedacht, dass Wendy so temperamentvoll ist.«

»Es geschehen immer noch Zeichen und Wunder.« Fee hängte sich bei Janine ein und zog sie mit sich an den Tisch, wo Danny und Daniel saßen und sich eingelegte Sardinen, Oliven und Gemüse in Tomatensauce schmecken ließen.

»Janine! Wie schön, dass Sie gekommen sind!« Beim Anblick seiner Assistentin griff Danny nach einem sauberen Glas und schenkte Rotwein aus der Karaffe ein. Sie hatten kaum angestoßen, als sich Dannys Blick veränderte.

Janine wusste, warum. Sie drehte sich um. Am anderen Ende der Bar stand Arndt in der Tür und sah sich um. Sie hob den Arm und winkte ihm zu. Ein strahlendes Lächeln verbarg ihr schlechtes Gewissen.

Beim Anblick der Seilschaft zögerte Arndt. Er hatte gedacht, Janine allein zu treffen. Schließlich blieb ihm aber nichts anderes übrig, als sich zu ihr und ihren Kollegen durchzukämpfen.

»Einen wunderschönen guten Abend, die Herrschaften«, grüßte er in die Runde und nahm dankend den Wein, den Danny Norden ihm reichte. »Ich wusste nicht, dass …«

»Keine Entschuldigung«, schnitt Janine ihm das Wort ab. »Das alles ist meine Schuld.« Sie zwängte sich neben Arndt auf den Stuhl und trank einen großen Schluck Wein. Für das, was sie zu verkünden hatte, brauchte sie Mut. Viel Mut. »Ich wollte, dass wir uns hier alle zusammen treffen.«

»Eine großartige Idee«, erklärte Daniel Norden arglos. Danny dagegen schickte seiner Mutter vielsagende Blicke.

Arndt bemerkte es.

»Das finde ich auch. Vor allen Dingen deshalb, weil ich diese Gelegenheit nutzen und mich bei Ihnen entschuldigen möchte.« Er nickte Danny zu. »Ich habe mich Ihnen gegenüber unmöglich benommen. Und das, obwohl Sie Malte und mir helfen wollten.«

»Schon gut«, winkte Danny ab. »Vergeben und vergessen, solange Sie mir nicht meine Assistentin klauen.« Die beiden Männer stießen an.

Doch Arndt trank nicht.

»Um ehrlich zu sein, habe ich das versucht. Ohne Erfolg. Vielleicht sollte ich mich um eine Stelle in Ihrer Praxis bewerben. Das scheint ein attraktiver Arbeitsplatz zu sein.«

»Es freut mich, das zu hören.« Danny wandte sich an Janine, um ein paar warme Worte zu sagen.

Bei ihrem Anblick verschlug es ihm die Sprache.

Sie wagte kaum, den Blick Ihres Chefs zu erwidern. Schnell trank sie noch einen Schluck Wein. Dann holte sie tief Luft, warf den Kopf in den Nacken und sah in die Runde.

»Die Praxis Dr. Norden ist wirklich der schönste Arbeitsplatz, den ich bisher kennengelernt habe.« Ihre Augen füllten sich mit Erinnerungen. »Es war eine großartige Zeit. Ich habe nicht nur tolle Freunde gefunden.« Sie sah hinüber zu Wendy, die sich in den Armen des Tänzers wiegte. »Sondern auch unendlich viel gelernt und erlebt. Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich in der Praxis erst richtig erwachsen geworden.«

Unter dem Tisch griff Fee nach der Hand ihres Mannes und drückte sie. Konnte er in die Zukunft blicken? Sein Lächeln gab keine Antwort auf diese Frage. Sie konzentrierte sich wieder auf Janine.

»Zum Erwachsenwerden gehört aber auch, dass man eines Tages auszieht aus dem warmen Nest. Neue Abenteuer erlebt. Neue Erfahrungen sammelt. Weiter lernt.« Mit jedem Wort fiel ein kleiner Stein von Janines Herzen. Das Strahlen in Arndts Augen half ihr dabei. »Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, um euch zu sagen, dass ich Arndts Angebot annehme. Ich werde in seiner Praxis anfangen und nach der Einarbeitung meine Ausbildung zur Heilpraktikerin beginnen.« Sie faltete die Hände und sah in die Runde.

Danny erwiderte ihren Blick. Gleichzeitig wartete er darauf, dass irgendetwas passierte. Dass die Musik verklang. Die Tänzer innehielten. Das Lachen verstummte.

Doch nichts dergleichen geschah. Die Welt drehte sich weiter, als wäre nichts geschehen. Und Wendy tanzte noch immer mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen und sein Glas zu heben.

»Aufs Erwachsenwerden!«, erklärte er mit fester Stimme und prostete Janine und Arndt zu.

Praxis Dr. Norden Box 4 – Arztroman

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