Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Box 8 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Willst du nicht doch lieber im Wagen bleiben, Manni?«, fragte Eva Tuck und stellte den Motor ab. Mit beängstigend langen, pinkfarbenen Fingernägeln zog sie den Schlüssel ab. »Dann sage ich einer Schwester oder einem Pfleger Bescheid, dass sie dich hier abholen sollen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich bin doch kein Pflegefall«, knurrte Manfred.

Er stieß die Wagentür auf und kämpfte sich vom Beifahrersitz hoch.

Auf seine Frau gestützt machte er sich auf den Weg Richtung Klinikeingang. Passend zur Stimmung war der Himmel wolkenverhangen. Das hielt einige Patienten nicht davon ab, ihre Morgenzigarette zu rauchen. Ein Mann im Frotteebademantel stand neben einem anderen, der einen Ständer mit Infusionslösung mit sich führte. Bei Evas Anblick verstummte das Gespräch schlagartig. Kein Wunder beim Anblick der Fleisch gewordenen Barbiepuppe.

Eva war sehr blond. Sehr vollbusig. In einem sehr kurzen Kleid in kreischendem Pink. I-Tüpfelchen ihrer Erscheinung waren die glitzernden Highheels und jede Menge Schmuck, der klimperte und klirrte, als wollte er der platinblonden Mähne die Show zu stehlen.

Als das ungleiche Paar die Lobby betrat, wurde es schlagartig still. Alle starrten das seltsame Wesen an. Die Besucher, die es sich auf den Loungemöbeln gemütlich gemacht hatten. Die Frau im Rollstuhl, einen Arm in einer monströsen Schiene, die pausenlos auf ihren Mann eingeredet hatte. Die drei Ärzte, die in einer Ecke standen und diskutiert hatten. Allen stockte der Atem.

Eva nahm von dem Aufsehen keine Notiz. Sie hörte Schritte hinter sich. Trat zur Seite, um einen Paketboten vorbeizulassen. Auch er riss die Augen auf. Verdrehte sich den Kopf. Der Stapel Päckchen in seinen Armen schwankte. Es war nur Evas beherztem Eingreifen zu verdanken, dass er nicht stürzte.

»Vorsicht, die Teppichkante!«, warnte sie ihn.

In einer Ecke hatte sie einen freien Sessel entdeckt, auf den sie zusteuerte.

»Warte hier.« Sie drückte ihren Mann in die Polster. »Ich sage Bescheid, dass wir hier sind.«

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

Eva verdrehte die Augen. Sie war seit zwei Jahren mit ihm verheiratet. Bisher hatte sie ihre Entscheidung nicht bereut. Ganz im Gegenteil. Doch seit einiger Zeit war Manfred nicht mehr er selbst. Erst heute Morgen hatte er sie angeschrien, dass ihr noch immer die Ohren klingelten. Wegen einer Fliege an der Wand.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Vor zwanzig Jahren hätte sich Schwester Elena auch noch lustig gemacht über die skurrile Erscheinung, die vor ihr aufgetaucht war. Doch im Laufe der Zeit hatte sie viele Erfahrungen gemacht. Obwohl die eigenwillige Aufmachung dieser Frau nicht dem mitteleuropäischen Stilempfinden entsprach, wirkte ihr Lächeln freundlicher als das mancher gewöhnlicher Zeitgenossen.

»Das ist sehr freundlich. Schwester Elena.« Das Schild an ihrer Brust verriet Eva den Namen. »Mein Mann hat einen Termin bei Dr. Norden. Manfred Tuck.«

»Kleinen Augenblick.« Elena verschwand hinter dem Tresen. Die Tastatur klapperte unter ihren Fingern. »Ah, hier haben wir ihn ja. Wo ist denn Ihr Mann?«

Eva deutete mit der pinkfarbenen Pfeilspitze auf den Sessel neben dem Eingang.

»Er ist nicht besonders gut zu Fuß.«

Schwester Elenas Blick huschte von Eva zu Manfred und wieder zurück. Gut, dass Eva die Verhältnisse geklärt hatte. Elena hätte den Mann für ihren Vater gehalten.

»Ich sage nur schnell Dr. Norden Bescheid und bin gleich bei Ihnen.«

Sie legte den Hörer gerade zurück auf die Gabel, als ein Donnerschlag die Lobby erschütterte.

»Wozu haben wir einen Termin ausgemacht, wenn wir dann stundenlang herumsitzen und warten müssen?«

»Manni, bitte!«, flehte Eva ihren Mann an. Ein Glück, dass sie daran gewöhnt war, Aufmerksamkeit zu erregen. Sonst hätte sie die neugierigen Blicke nicht ertragen. Ein Glück, dass in diesem Moment Schwester Elena mit einem Rollstuhl vor ihnen auftauchte. Ihr Blick zeugte von ihrem Verständnis für Evas Lage.

»Guten Morgen, Herr Tuck. Mein Name ist Elena. Ich bin die Pflegedienstleitung im Haus«, wandte sie sich an den Patienten. »Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Dr. Norden war noch bei einem Notfall. Aber jetzt hat er Zeit für Sie. Ich bringe Sie sofort zu ihm.« Sie deutete auf den Rollstuhl.

Mannis Miene verhieß nichts Gutes. Eva reckte das Kinn vor und klimperte mit den schwarz getuschen Wimpern. Doch der gefürchtete Anfall blieb aus.

»Sieh mal einer an!« Manfred sah der Schwester dabei zu, wie sie die Fußstützen hochklappte. »Sie haben ja an alles gedacht.«

»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn Sie wollen, können Sie selbstverständlich auch zu Fuß gehen.«

Manfred zögerte.

»Schon gut. Ich nehme Ihr Angebot besser an.« Er schob das Haar über der Stirn fort. Blasslila Spuren und Reste einer Kruste wurden sichtbar. »Vielleicht muss ich mich ja in Zukunft daran gewöhnen.«

»Was redest du denn da, Manni?« Evas Schmuck klimperten leise. »Wo müssen wir jetzt hin?«

»Kannst du endlich aufhören, mich zu bemuttern?«

Da war er wieder, der Ton, der Eva zur Verzweiflung brachte.

»Am besten, Sie warten in ­unserem Klinikkiosk«, empfahl Schwester Elena schnell. »Immer geradeaus und am Ende der Lobby rechts.«

Eva zögerte nicht.

»Sehr gern«, erwiderte sie und machte den Eindruck, als wäre sie der Schwester am liebsten um den Hals gefallen.

*

»Hast du die Einladung zur Eröffnung des neuen Thailänders gesehen?« Christine Lekutat stand an einem der Schreibtische im Dienstzimmer der Ärzte und durchsuchte einen Stapel Papier. Heute wollte sie es endlich wagen. Heute wollte sie den Kollegen zum Mittagessen einladen.

»Hängt an der Pinnwand«, erwiderte Milan Aydin, ohne von der Patientenakte aufzusehen.

Der Stoff ihrer Dienstkleidung raschelte, als sie das Zimmer durchquerte. Sie nutzte die günstige Gelegenheit, um eine Handvoll Gummibärchen in den Mund zu werfen. Das Rascheln verstummte.

»Warst du das? Hast du ihn da oben hingehängt?«, nuschelte Christine und reckte sich nach dem Flyer. Hüpfte vor der Pinnwand in die Höhe. Vergeblich.

Aydin beobachtete die Kollegin mit hochgezogener Augenbraue. Ein Lachen zuckte in seinen Mundwinkeln.

»Na klar. Warum nicht?«

»So hoch? Da kommst du als Lahmer doch gar nicht hin!«

Ein typischer Lekutat-Witz!

Milan unterdrückte ein Seufzen. Würde er sich je an diese Art von Humor gewöhnen? Er klappte die Akte zu, packte die Greifräder des Rollstuhls und fuhr hinüber zu Christine. Eine Drehung, und er saß auf der rechten Lehne.

»Lieber lahm als klein und fett.« Er landete wieder auf der Sitzfläche und drückte ihr die Einladung in die Hand.

»Frechheit!«

Ihr Schnauben entlockte ihm nur ein müdes Lächeln.

»Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.«

»Meine Güte, was war doch nur ein Spaß. Kein Grund, gleich ausfallend zu werden«, wetterte Christine und sah hinüber zur Tür. Die Assistenzärztin Sophie Petzold kam ihr gerade recht. »Ach, sieh mal einer an! Die Dame ist auch schon da.« Sie warf einen demonstrativen Blick auf die Uhr. »Ist mir da irgendwas entgangen? Gibt es eine neue Arbeitszeitregelung?«

Sophie stutzte. Was war denn jetzt los? Bisher hatten sie sich doch recht gut verstanden, hatten sogar ab und zu miteinander gelernt. Umso weniger verstand sie diesen Angriff.

Bevor Sophie antwortete, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein. Sie stellte die Kanne zurück auf die Warmhalteplatte. Löffelte Zucker in den Kaffee. Goss Milch dazu. Rührte gründlich um. Erst dann drehte sie sich um.

»Falls es Sie interessiert: Ich schreibe morgen meine Facharztprüfung. Aus diesem Grund hat mir Dr. Norden freigestellt, wie ich meinen Dienst plane.

»Interessant.« Christines Augen wurden schmal. »Wenn Sie so viel Zeit auf Ihre Studien verwenden, können Sie mir sicherlich sagen, welche hirneigenen Tumore häufig vorkommen.«

Christine Lekutat hatte der angehenden Fachärztin für Chirurgie überhaupt nichts zu sagen. Trotzdem wusste Sophie, dass sie diese Herausforderung annehmen musste. Es ging um Macht und darum, wie sich die Verhältnisse in Zukunft verteilen würden.

Aufreizend ruhige schlenderte sie hinüber zum Schreibtisch von Milan Aydin und setzte sich auf die Tischkante.

»Die Medizin unterscheidet Meningeome, Neurinome, Hypophysenadenome, Gliome und Medulloblastome.« Sie garnierte ihre Ausführung mit einem liebenswürdigen Lächeln. Dagegen wirkte Christine wie ein Hund, der die Zähne fletschte.

»Sehr schön. Dann können Sie mir sicher auch etwas mehr über Gliome berichten.«

Mist! Ausgerechnet die Gliome hatte Sophie nur überflogen. Mut zur Lücke, wie ihr Verlobter Dr. Matthias Weigand ihr geraten hatte.

Sie durchbohrte Dr. Aydin mit Blicken. Doch er war vertieft in seine Arbeit. Die Tastatur klapperte unter seinen Fingern.

Sophie konzentrierte sich.

»Gliome entstammen … entstammen den Stützzellen des Hirngewebes, den sogenannten Gliazellen. Von ihnen leiten sich verschiedene Tumoren ab wie zum Beispiel das Astrozytom. Oder wie das Oligo …« Wieder ein hilfesuchender Blick Richtung Milan. Er nickte unauffällig in Richtung Computer. Sophie hätte ihm um den Hals fallen wollen. »Das Oligodendrogliom. Es existieren auch Mischformen aus beiden Zellarten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat diese Tumoren in verschiedene Grade eingeteilt. Sie reichen von WHO I bis WHO …«

»Genug. Ablesen kann ich das auch selbst«, zischte die Lekutat.

Dr. Aydin und Sophie lachten, während die Kollegin vor Wut zitterte.

»Sie werden schon sehen, was Sie davon haben! Und wie heißt es so schön: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.« Mit diesen Worten rauschte sie – im wahrsten Sinne des Wortes – aus dem Dienstzimmer.

Nach und nach verging Sophie das Lachen. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.

»Welche Laus ist der Kollegin denn heute über die Leber gelaufen?«

»Das kann man nie so genau wissen«, erwiderte Aydin grinsend. »Schließlich ist sie eine Frau.«

*

Wie versteinert saß Manfred Tuck auf dem Stuhl im Untersuchungszimmer. Dr. Daniel Norden kehrte mit einem Glas Wasser zurück und drückte es ihm in die Hand.

Er setzte sich auf einen Hocker und rollte vor seinen Patienten. Eine Weile saß er nur da und sah Manfred beim Nachdenken zu.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er schließlich.

»Was erwarten Sie denn? Mit so einer Diagnose.« Mannis Stimme war rau.

»Dafür wissen Sie jetzt wenigstens, was für die Wesensveränderung und die Schwindelanfälle verantwortlich ist.«

»Eva wird sich freuen. Jetzt kann sie wenigstens sicher sein, dass es nicht an ihr liegt.« Er zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe. »Und nicht an meiner Liebe zu ihr.« Manfred hob die Augen. Suchte den Blick seines Arztes. »Können Sie sich vorstellen, wie schlimm das ist? Von einem Moment auf den anderen nicht mehr man selbst zu sein. Ein Fremder im eigenen Körper.« Er schüttelte den Kopf. Senkte den Blick wieder und betrachtete das Glas in seinen Händen. »Wenn mir das früher einer gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt.«

»Zum Glück kann die Medizin heutzutage erklären, welchen Ursprung diese Symptome haben. Wobei Sie wenigstens wissen, dass Ihre Reaktionen nicht normal sind. Andere Patienten nehmen ihre Persönlichkeitsveränderungen gar nicht wahr.«

»Ich weiß nicht, ob das ein Glück ist«, erwiderte Manfred rau. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, hierher zu kommen. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«

Dr. Norden musste nicht lange überlegen, was in diesem Fall zu tun war. Gründliche Aufklärung war für ihn schon immer Dreh- und Angelpunkt einer erfolgreichen Behandlung gewesen. Er griff nach dem Tablet und schaltete es ein. Rollte neben Manfred Tuck, damit er die Aufnahmen sehen konnte.

»Bildmorphologisch spricht alles für einen gutartigen Tumor. Wir werden noch ein Angio-MRT durchführen. Dabei handelt es sich um eine radiologische Untersuchung zur bildgebenden Darstellung von Gefäßen im menschlichen Organismus. Mit dieser Untersuchung können wir den Eingriff besser planen.« Er legte die Hand auf den Arm des Patienten und lächelte. »Mein Ziel ist es, den Tumor komplett zu entfernen.«

Manfred erwiderte das Lächeln nicht.

»Und was ist mit den Risiken?«

Mit dieser Frage hatte Dr. Norden gerechnet. Gern beantwortete er sie deshalb noch lange nicht.

»Neben den üblichen Narkoserisiken birgt ein Eingriff im Gehirn natürlich besondere Risiken.«

Manfred Tucks Blick schnitt ihm tief in die Seele.

»Was heißt das?« Die Stimme war rau, zornig.

»Aufgrund der Verletzungsgefahr des umliegenden Gewebes kann es zu einem Funktionsverlust und Ausfallerscheinungen kommen.«

Manfred sprang so unvermittelt auf, dass Daniel Norden erschrak.

»Und das erzählen Sie mir so nebenbei? Wie ein Märchenonkel im Kindergarten?« Seine Stimme krachte wie ein Donnerschlag.

Auch Dr. Norden stand auf. Es war ihm wichtig, auf Augenhöhe mit seinem Patienten zu sprechen.

»Es handelt sich dabei um Möglichkeiten, nicht um ein unausweichliches Schicksal«, sprach er eindringlich auf seinen Patienten ein. »Ich kenne viele Patienten, die nach einer Operation am Gehirn putzmunter nach Hause gegangen sind.«

»Und was, wenn nicht?«

Daniel unterdrückte ein Seufzen.

»Es gibt keine Alternative.« Er musste sich zwingen, den Tatsachen und Manfred Tuck in die Augen zu sehen. »Der Tumor wächst. Ihre Symptome – Schwindel, Kopfschmerzen, Wesensveränderung – werden noch stärker werden, da er auf das umgebende Gewebe drückt. Mit einem Eingriff haben Sie wenigstens die Chance auf ein gesundes Leben. Ohne Operation gibt es diese Option nicht.«

Manfred Tuck schwankte wie eine Tanne im Wind. Er ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.

»Dann behalten Sie mich hier?«

»Das ist der Plan.«

Manfred nickte mehrmals hintereinander.

»Sagen Sie bitte meiner Frau Bescheid? Sie wartet im Kiosk.«

»Natürlich. Schwester Elena informiert sie gleich.«

»Aber sagen Sie ihr noch nichts von der Diagnose. Eva ist so furchtbar sensibel und nimmt sich alles so sehr zu Herzen. Ich glaube, diesen Job übernehme lieber ich.«

Daniel Norden hatte seine Zweifel, ob das die richtige Entscheidung war. Aber er hatte keine Wahl.

»Wie Sie wollen«, erwiderte er und ging zum Telefon, um alles Weitere in die Wege zu leiten.

*

Dieter Fuchs, Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik, saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die Tabellen, die vor ihm lagen. Wie konnte das sein? Woher rührte die Differenz zwischen seiner Berechnung und der des Controllings. Schlimm genug, wenn es sich um ein paar Cents gehandelt hätte. Aber 3462,12 Euro? Das war eine Katastrophe. Er griff sich an den Hals. Lockerte den Krawattenknoten und öffnete den obersten Knopf. Wartete auf Erleichterung. Doch nichts wurde leichter. Ganz im Gegenteil. Seit seine Tochter aufgetaucht war und in der Behnisch-Klinik entbunden hatte, war seine Welt aus den Fugen geraten. Noch immer wusste Dieter Fuchs nicht, ob Elsa – Wirtschaftsma­nagement-Studium und ehemalige Wirtschaftsberaterin in einem weltweit agierenden Pharmaunternehmen – ihm eine Falle gestellt hatte oder ob es wirklich einem Missverständnis geschuldet war, dass seine Position in Gefahr war. Seit das Damoklesschwert über ihm schwebte, ging schief, was schief gehen konnte. Verlegte er Unterlagen, traf Fehlentscheidungen, übersah falsche Buchungen. Fehler, die ihm, dem Pedanten, noch nie unterlaufen waren. Jedem anderen Mitarbeiter hätte er angesichts eines solchen Fehlverhaltens fristlos gekündigt. Und sich selbst?

Mit zitternden Fingern öffnete er die oberste Schreibtischschublade. Er tastete nach einer Schachtel, die er seit einiger Zeit dort versteckt hatte. Wo steckte sie nur? Dieters Bewegungen wurden hektischer. Er durchwühlte den Inhalt der Schublade, bis er das Objekt der Begierde doch noch fand. In der hintersten Ecke. Gut verborgen vor neugierigen Blicken. Er drückte zwei Tabletten aus dem Blister. Wog sie in der Hand. Ach was, eine dritte konnte nicht schaden! Er griff nach dem Glas Wasser und spülte sie mit einem kräftigen Schluck hinunter. Dann wartete er. Inzwischen wusste er, dass er ein bisschen Geduld haben musste, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Sich die Welt um ihn herum langsamer drehte. Geduld war keine seiner Stärken. Doch das Warten lohnte sich. Auch das hatte Dieter Fuchs inzwischen gelernt. Er wusste, dass das Rauschen in seinen Ohren gleich nachlassen, der Schweiß auf seiner Stirn trocknen würde. Endlich war es so weit. Er freute sich über die Kühle auf seinen Wangen. Aber warum wurde es­ immer kälter? So kalt, dass er zu zittern begann. Er wollte aufstehen, doch seine Beine zitterten auch. Er wollte nach dem Telefonhörer greifen, um seine Assistentin Regina Kampe nebenan anzurufen. Und griff immer wieder daneben. Deshalb öffnete Dieter Fuchs den Mund.

Obwohl Regina nur ein paar Meter weiter saß, hörte sie ihren Chef nicht. Sie starrte auf den Bildschirm. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Jetzt war es also so weit!

Regina Kampe stand auf. Strich den Rock glatt und ordnete die Frisur. Sie nahm allen Mut zusammen und marschierte auf die Tür des Chefbüros zu. Ein kurzes Klopfen. Sie drückte die Klinke herunter.

»Chef, Dr. Beckmann vom ­Trägerverein bittet um ein per­sönliches Gespräch. Sind Sie mit dem …« Mitten im Satz hielt sie inne. Ihr Atem stockte. Ihr Schrei hallte bis hinaus auf den Flur.

*

»Wie eine Gänsemama mit ihren Jungen«, spottete Schwester Josepha und sah Dr. Matthias Weigand und seiner Gefolgschaft nach, die auf dem Weg zur Visite waren. Sie hatte nur Glück, dass er im Begriff war, seine Aufgaben zu verteilen und deshalb nicht auf die beiden Lästerschwestern an der Ecke achtete.

»Dr. Gruber, Sie sprechen mit Frau Baader. Ich möchte ihre Überbein-Operation auf morgen verschieben. Oder nein«, revidierte er seine Entscheidung einen Atemzug später. »Sophie, du übernimmst das.«

»Ich?«

Matthias Weigand blieb stehen und drehte sich um.

»Warum nicht du?«

»Weil ich diese Gespräche immer führen muss. Und weil ich sie hasse.«

Matthias lächelte seine Verlobte an. Er wusste, dass er mit Argusaugen beobachtet wurde. Ein Krankenhaus war ein Moloch aus Klatsch und Tratsch. Da bildete die Behnisch-Klinik keine Ausnahme. Es würde schnell die Runde machen, wenn er Sophie wegen ihrer privaten Beziehung bevorzugt behandelte. Ungerecht durfte er aber auch nicht sein. Es war ein beständiger Drahtseilakt. Ehrlich gesagt war er froh, wenn sie endlich ihren Facharzt hatte. Dann würden sich ihre Arbeitsfelder nur noch hin und wieder berühren. Aus seiner Sicht ein klarer Vorteil. Sein Lächeln wurde tiefer.

»Genau deswegen musst du diese Situationen üben. Immerhin bist du bald Fachärztin.« Er zwinkerte Sophie zu und setzte seinen Weg fort.

Das Fußgetrappel hinter ihm zeugte davon, dass ihm seine Küken folgten. Matthias straffte die Schultern und grüßte lächelnd einen entgegenkommenden Kollegen.

Noch vor ein paar Monaten wären Sophie und er sich in so einer Situation an die Gurgel gegangen. Doch sie hatten sich beide geändert. Er wusste, unter welcher Anspannung sie stand. War bereit, seine Liebe über seinen Ärger zu stellen. Sie verstand, dass sie nicht jedes Mal einen Streit vom Zaun brechen konnte, wenn er den Vorgesetzten gab. Zumindest war es das, was Matthias dachte.

Sophie dagegen dampfte vor Zorn.

»Na warte! Heute Nachmittag habe ich meine Prüfung. Dann kann er diese Gespräche selbst führen.«

Ihr Kollege Benjamin Gruber eilte mit wehendem Kittel neben ihr her.

»Aber was, wenn du nicht bestehst? Immerhin bist du erst seit ein paar Wochen wieder in der Klinik.«

»Natürlich bestehe ich.« Wenn Blicke töten könnten, wäre Benjamin in diesem Augenblick umgefallen. »Glaubst du etwa, ich habe im vergangenen halben Jahr nur den Babysitter für meine Tochter gespielt?«

Diese Vorstellung brachte Benjamin zum Lachen.

»Nein, du hast recht. Wahrscheinlich war Matthias der Babysitter, während du die Fachbücher auswendig gelernt hast.«

Es hatte ein Scherz sein sollen. Doch Benjamin hatte dir Rechnung ohne den Wirt gemacht.

»Was soll denn das schon wieder heißen? Du denkst also, dass ich eine Bestie bin, die ihren Mann unter dem Pantoffel hält?«, fauchte Sophie wie eine wütende Katze und bog bei der nächstbesten Gelegenheit rechts ab, während der Rest ihrer Kollegen weiter geradeaus ging.

*

Wo Eva Tuck auftauchte, erregte sie Aufmerksamkeit, von der sie selbst aber offenbar keine Notiz nahm.

Als hätte sie nie etwas anderes getan, schob sie den Rollstuhl mit ihrem Mann darin über den Klinikflur. Dr. Aydin blieb stehen und sah ihr nach.

»Ich werde eine Eingabe beim Klinikchef machen. Wir brauchen eine neue Schwesterntracht.«

Sein Kollege Arnold Klaiber konnte nur den Kopf schütteln.

»Lieber nicht. Dann verdoppelt sich die Anzahl unserer Herzinfarktpatienten sprunghaft.«

»Aber dann bekommen die Herren am Ende ihrer Tage noch ein Mal etwas Hübsches zu Gesicht.«

»Ansichtssache.« Klaiber winkte seinen Kollegen mit sich. Und auch Eva hatte ihr Ziel erreicht.

Sie half ihrem Mann vom Rollstuhl ins Bett.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass es dir so schlecht geht?«

»Soll ich eine junge, schöne Frau wie dich mit meinem Altmännerkram belästigen?« Stöhnend ließ sich Manni in die Kissen fallen.

Eva setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihrem Mann über die Wange.

»Ich mag es nicht, wenn du so redest. Du bist mein kluger Mann, mein Beschützer. Du hast für alles eine Lösung, wenn ich längst nicht mehr weiterweiß.«

Manfred schüttelte den Kopf und murmelte Unverständliches, das nicht gerade nach Zustimmung klang. Laut sagte er:

»Was hätte das denn gebracht? Wir wären nicht zu deiner Familie nach Kiew geflogen und hätten nicht dieses schöne Fest gefeiert. Stattdessen läge ich schon seit letzter Woche hier in der Klinik.«

»Dann wärst du vielleicht schon wieder gesund«, gab Eva zu bedenken. »Was hat der Arzt überhaupt gesagt?«

Manni wich dem Blick seiner Frau aus.

»Er … Er wollte sich nicht festlegen. Muss noch ein paar Untersuchungen machen.«

Eva legte den Kopf schief. Eine platinblonde Strähne fiel ihr in die Stirn. Sie wischte sie weg und lächelte ein pinkfarbenes Lächeln. Das Strasssteinchen im rechten oberen Eckzahn blitzte.

»Dann ist es sicher nichts Schlimmes, und du kannst endlich wieder gute Laune haben.«

»Mal sehen.« Manfred rang sich ein Lächeln ab. »Und jetzt gib mir einen Kuss und verschwinde. Ich brauche meine Sachen.«

Eva zögerte kurz. Dann stand sie auf und stöckelte durch das Zimmer. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte. Schickte ihrem Mann eine Kusshand.

Manni atmete auf, als sie endlich verschwunden war. Viel länger hätte er die Verzweiflung nicht verbergen können.

*

Dr. Norden war gerade auf dem Rückweg in sein Büro, als er Regina Kampes Schrei hörte. Keine fünf Minuten später kniete er neben dem Verwaltungsdirektor, den er gemeinsam mit dem Pfleger Jakob auf den Boden gelegt hatte. Herz und Lunge waren abgehört. Puls und Blutdruck gemessen. Sämtliche Ergebnisse waren halbwegs zufriedenstellend.

»Herr Fuchs, können Sie mich hören?« Daniel klopfte ihm sanft auf die Wangen.

Dieters Augenlider flatterten.

»Hallo, Herr Fuchs. Hier spielt die Musik.«

»Lassen Sie mich in Ruhe«, presste Fuchs durch die fahlen Lippen.

Dr. Norden atmete auf.

»Nichts lieber als das. Leider bin ich als Arzt verpflichtet, Ihnen zu helfen.« Er sah hinüber zu Jakob, der inzwischen nicht untätig gewesen war. »Sagen Sie im Labor Bescheid, dass ich die Blutwerte so schnell wie möglich brauche.«

Wieder verdrehte der Verwaltungsdirektor die Augen.

»Schön hierbleiben, Herr Fuchs.«

Wieder klatschte Daniel auf Dieters Wangen. Davon hatte er schon oft geträumt. Doch wie so oft war die Realität nicht halb so befriedigend wie die Vorstellung. »Und jetzt erzählen Sie mir bitte, was passiert ist.«

Dieter warf den Kopf hin und her und rang nach Luft.

»Ich … Ich weiß nicht … Plötzlich war es kalt. So furchbar kalt.«

»War Ihnen schlecht? Hatten Sie Beschwerden? Herzstechen? Kopfschmerzen? Schwindel?«

»Nein. Nichts.«

Daniel musterte den Mann auf dem Boden.

»Wollen Sie mir erzählen, dass Ihnen aus heiterem Himmel schlecht geworden ist?«

Regina Kampe stand am Schreibtisch. Die Computermaus lag genau in der Mitte des Mousepads, das ein großes Logo einer Pharmafirma zierte. Sie hätte schwören können, dass auch die Akten rechts neben der Schreibtischunterlage fein säuberlich Kante auf Kante aufeinandergelegen hatten, bevor Dieters Kopf darauf gelandet war. Unter den Mappen spitzte eine Liste hervor. Regina Kampe zog sie hervor. Sie erkannte das Dilemma auf einen Blick.

»Möglich, dass das hier der Grund für den Zusammenbruch war.« Sie zeigte Dr. Norden den Differenzbetrag.

»Schwer vorstellbar, dass ein gestandener Mann ohne großartige gesundheitliche Beschwerden wegen so einer Meldung ohnmächtig wird«, tat der seinen Zweifel kund. »Da muss noch etwas anderes dahinterstecken.« Er wandte sich wieder an den Mann auf dem Boden. »Nehmen Sie Medikamente ein?«

Dieter Fuchs wandte den Kopf ab. Antwort genug für Dr. Norden.

»Was haben Sie geschluckt?«

Der Verwaltungsdirektor presste die Lippen aufeinander. Daniel seufzte.

»Warum müssen Sie mir das Leben eigentlich immer so schwer machen?«

Vom Flur wehten Geräusche herein. Das Klirren von Metall, Schritte und Stimmen. Die angeforderte Liege traf ein. Während sich die Kollegen um den Verwaltungsdirektor kümmerten, nahm sich Dr. Norden den Schreibtisch vor. Lange musste er nicht suchen.

»Beruhigungsmittel.« Er öffnete die Schachtel und schüttelte sie. Zwei leere Blister fielen heraus. Vom dritten fehlten drei Tabletten. »Alle Achtung! Wenn er die drei auf einmal geschluckt hat, wundert mich nichts mehr.« Mit ein paar Anweisungen schickte er die Kollegen mitsamt dem Patienten in die Notaufnahme, wo Dieter Fuchs ordnungsgemäß behandelt werden konnte. Er selbst blieb noch kurz am Tisch stehen. Dachte über seine Zeit mit dem Verwaltungsdirektor nach. An die Intrigen und Bosheiten, mit denen Dieter Fuchs nicht nur ihn, sondern das gesamte Klinikpersonal nach Lust und Laune schikaniert hatte. Und er dachte an das, was dem Verwaltungsdirektor in den vergangenen Wochen widerfahren war. Gab es doch so etwas wie Gerechtigkeit?

*

Als Pflegedienstleitung hatte Schwester Elena die Gesamtverantwortung für den Pflegebereich der Behnisch-Klinik und war Mitglied im Direktorium. Sie steuerte sämtliche Prozesse von der Personalplanung bis hin zur Qualitätssicherung. Sie erteilte Arbeitsanweisungen, wirkte mit bei der Erarbeitung von Pflegekonzepten und half bei der Umsetzung in die klinische Praxis. Neben all diesen Aufgaben war es ihr aber wichtig, den Kontakt zu ihren Mitarbeitern und Patienten nicht zu verlieren. Aus diesem Grund mischte sie sich immer wieder unter Schwestern und Pfleger und tat gewöhnlichen Dienst. Wie an diesem frühen Nachmittag bei Manfred Tuck.

»Das Gespräch bei Dr. Norden war wohl nicht gerade erfreulich, was?« Sie legte den Deckel über den welken Salat, der auf dem Tablett in einer Schale neben angetrocknetem Fischfilet mit Kartoffelpüree lag.

»Meine Gefäße müssen noch untersucht werden«, erwiderte Manfred, der mit geschlossenen Augen im Bett lag.

Einfach einschlafen, wieder aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Doch diesen Gefallen wollte ihm das Schicksal nicht tun.

Elena beobachtete das Gesicht ihres Patienten. Es erinnerte sie an einen See, über den der Wind strich.

»Was beschäftigt Sie?«, fragte sie und stellte eine frische Wasserflasche auf den Nachttisch.

»Dr. Norden hat von der Wesensveränderung gesprochen, die so ein Tumor auslösen kann.«

»Und davor haben Sie Angst?«

Manfred öffnete die Augen. Er lächelte wie ein trauriger Clown.

»Ich stecke schon mittendrin.« Er stützte sich auf den Ellbogen und sah die Schwester an. »Das, war ich in letzter Zeit gedacht und getan habe … Was davon bin wirklich ich? Und was macht das Ding in meinem Kopf? Ich schreie meine Frau an, obwohl sie das Liebste ist, das ich habe. Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang. Vielleicht schlage ich Eva irgendwann oder tue ihr noch Schlimmeres an. Das ist doch beängstigend.«

»Sie haben recht.« Genau wie Dr. Daniel Norden es verabscheute, schlimme Diagnosen zu überbringen, konnte Elena es nicht ausstehen, keinen Trost parat zu haben. Doch was sagte man einem Menschen in so einer Situation? »Deshalb werden unsere Ärzte alles dafür tun, um Sie von dem Parasiten in Ihrem Kopf zu erlösen.« Sie nickte ihm zu. »Verlieren Sie nicht den Mut.« Mehr konnte sie im Augenblick nicht für Manfred Tuck tun und gab die Klinke Dr. Norden in die Hand, der im Begriff war, das Zimmer zu betreten.

Klinikchef und Pflegedienstleitung kannten und schätzten sich seit vielen Jahren. Hatten schwierige Situationen gemeistert, zusammen gelacht und manchmal auch getrauert. Diese Erlebnisse hatten sie zusammengeschweißt. Eine tiefe Freundschaft wachsen lassen, die viele Worte überflüssig machte. Daniel schenkte Elena ein Lächeln, ehe er ans Bett seines Patienten trat. Er stellte die Nierenschale auf den Nachttisch, rollte einen Hocker herbei und setzte sich.

»Eine Angio-MRT läuft nicht anders ab als eine normale MRT«, erklärte er, während er einen Zugang in Manfreds Handrücken legte. »Der Unterschied besteht lediglich darin, dass wir ein Kontrastmittel spritzen, um die Gefäße deutlich sichtbar zu machen. Deshalb dieser Zugang hier.« Er klebte ein Pflaster auf die Kanüle, um sie am Verrutschen zu hindern. »Die Untersuchung dauert in etwa 45 Minuten. Haben Sie sonst noch eine Frage?«

Manfred Tuck schüttelte den Kopf. Die Fragen, die er auf dem Herzen hatte, konnte kein Mensch dieser Welt beantworten.

»Nein.«

»Gut. Dann auf in die Radiologie!«

*

»Na, das ist ja mal eine Überraschung. Unser lieber Herr Verwaltungsdirektor.« Dr. Weigand trat an die Liege und blickte auf Dieter Fuchs herab. »Was machen Sie denn für Sachen?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Fuchs verschränkte die Arme und blickte demonstrativ auf das Foto an der Wand.

Ein wogendes Weizenfeld, gesprenkelt mit blutroten Mohnblüten. Was für eine Verschwendung! Sobald er wieder auf den Beinen war, würde er sich darum kümmern, dass dieser Firlefanz durch eine anatomische Darstellung ersetzt wurde. Dummerweise sah Weigand nicht danach aus, als ob er ihn gleich wieder gehen lassen würde.

»Draußen würde es mich auch nicht interessieren. Hier drinnen bin ich leider dazu verpflichtet.« Matthias‘ Augen blitzten vor Vergnügen. Es kam nicht oft vor, dass ihm der Verwaltungsdirektor hilflos ausgeliefert war. Endlich konnte er sich für die Kekse revanchieren, die der Verwaltungschef zusammen mit Verbrauchsmaterial wie Papierhandtücher und Verbandmaterial bestellte und die genauso schmecken. Für den abgelehnten Antrag für eine SPECT-fähige Gammakamera. Und nicht zuletzt für die falsche Auslastungsanalyse, die den Ärzten viel Ärger bereitet hatte, bevor die Tochter des Verwaltungsdirektors den Irrtum aufgeklärt hatte.

Wenn Matthias Weigand nur daran dachte, konnte auch er eine Beruhigungspille vertragen. Ein Glück, dass der Trägerverein der Klinik eine Entscheidung angekündigt hatte. Hing Fuchs‘ desolater Gemütszustand etwa damit zusammen? »Die Kollegen haben mir verraten, dass Sie eine ordentliche Portion Sedativa geschluckt haben und deshalb ohnmächtig geworden sind. Das passt überhaupt nicht zu Ihnen und Ihrer Sparsamkeit.« Dr. Weigand faltete die Hände vor dem Bauch. »Warum haben Sie das getan?«

Dieter Fuchs zog Augenbraue und Mundwinkel hoch.

»Beruhigungsmittel nimmt man gemeinhin, wenn man sich beruhigen will. Oder sehe ich das falsch?«

»Und worüber haben Sie sich aufgeregt? Noch dazu so sehr, dass es gleich drei Tabletten sein mussten.«

»Spielt das eine Rolle?«

»Wenn ich Sie behandeln soll, tut es das.«

»Dann spielt es keine Rolle.«

Dr. Weigand holte tief Luft. Von rechts hörte er ein unterdrücktes Grunzen. Ein strafender Blick, und Pfleger Jakob senkte den Kopf.

»Gut«, wandte sich Matthias wieder an den Verwaltungsdirektor. »Dann untersuche ich Sie jetzt. Die Ergebnisse liegen frühestens morgen Vormittag vor. Solange müssen Sie leider hierbleiben.« Er machte eine kunstvolle Pause. »In der psychiatrischen Abteilung.«

»Aber …«

»Kein Aber. Solange ich mir nicht sicher sein kann, dass Sie sich selbst absichtlich Schaden zugefügt haben, schütze ich Sie nur vor sich selbst.« Er setzte sich auf den Hocker und zog das Ultraschallgerät heran. »Nicht, weil Sie mir so sympathisch sind.« Er nahm den Schallkopf zur Hand und drückte durchsichtiges Gel aus einer Flasche darauf. »Sondern weil es meine Pflicht als Arzt ist.«

*

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Dr. Aydin.«

Der Neurochirurg lächelte zufrieden.

»Indem Sie aufstehen und das Zimmer auf zwei Beinen verlassen«, machte er einen Vorschlag.

Das ließ sich sein Patient Holger Brandhorst nicht zwei Mal sagen. Er stand auf und machte ein paar Extraschritte durch das Zimmer, ehe er es in Begleitung seiner Frau und seines Arztes verließ.

Am Ende des Flurs blieb Milan Aydin stehen und sah dem Ehepaar nach. Ein tiefes Gefühl der Befriedigung erfüllte ihn. Menschen von ihren Schmerzen zu befreien und ihnen zu helfen, war einer der Gründe, warum er die Mühen und Strapazen jeden Tag aufs Neue auf sich nahm. Hinzu kam, dass die Medizin für Milan Ähnlichkeit mit einer Wildwasserfahrt hatte. Auch wenn gerade alles ruhig dahin plätscherte, konnte hinter der nächsten Ecke schon die nächste große Herausforderung warten. Ein Rascheln hinter ihm bestätigte diese Ansicht.

Auch ohne den Rollstuhl zu wenden wusste Milan, dass seine Kollegin Christine Lekutat im Anmarsch war. Anders als sonst würdigte sie ihn keines Blickes. Watschelte an ihm vorbei, als wäre er Luft.

Bei ihrem Anblick drückte Milan das schlechte Gewissen. Sicher, sie hatte einen seltsamen Sinn für Humor. Benahm sich wie ein Elefant im Porzellanladen und sah genauso aus. Abgesehen davon war sie aber eine hervorragende Chirurgin und eine zuverlässige Kollegin.

»Dr. Lekutat«, rief er ihr nach.

Als hätte sie nur darauf gewartet, machte sie Halt. Sie drehte sich so schwungvoll um, dass sie sich um ein Haar in ihrem Kittel verfangen hätte. Ihre Wangen leuchteten in schönstem Rot.

»Milan … ich meine Dr. Aydin. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«

Um ein Haar wäre Milan laut herausgeplatzt. Ihr zuliebe tat er es nicht. Er packte die Greifräder und fuhr auf sie zu.

»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Mein Kommentar vorhin war wirklich nicht nett.« Er legte den Kopf ein wenig schief. Schenkte ihr dieses neckische Lächeln, das Frauen so mochten. »Wenn Sie immer noch Lust haben, mit mir zum Thailänder essen zu gehen, komme ich gern mit.«

Christine strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

»Wirklich?«

Ihre Augen leuchteten. Auf ihren Wangen zeigten sich rote Flecken. Plötzlich bekam es Milan mit der Angst zu tun. Hatte sie sein harmloses Angebot falsch verstanden?

»Wenn Sie nicht mehr wollen …«

»Doch, doch. Mir tut meine dumme Reaktion von vorhin leid. Im Grunde genommen weiß ich ja, dass Ihr Humor ein wenig daneben ist.«

»Das sagt die Richtige«, platzte Milan heraus.

Schweigen.

Christine sah aus, als hätte er ihr einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Sie griff sich ans Herz und wurde blass.

»Wie meinen Sie das?«

Kurz nach seinem Unfall hatte sich Milan Aydin Sorgen gemacht, seine Chancen bei den Frauen verspielt zu haben. Bis er festgestellt hatte, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Der Rollstuhl hatte eine magische Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht. Auf die Professorin für Altphilologie genauso wie auf die Laborantin der Behnisch-Klinik. Doch trotz seiner mannigfaltigen Erfahrungen mit Frauen stieß Milan bei Christine Lekutat an seine Grenzen. War sie am Ende gar keine Frau? Kein menschliches Wesen?

»Bitte nicht ohnmächtig werden«, flehte er sie an.

Er griff nach dem Tablet in seinem Schoß und fächelte ihr Luft zu.

»Hören Sie schon auf damit! Ich brauchte Ihr Mitleid nicht.«

Milan ließ das Gerät sinken.

»Nehmen Sie es mir nicht übel. Aber offenbar verstehen wir uns einfach nicht. Deshalb ist es in Zukunft bestimmt besser, wenn wir unseren Kontakt auf das Medizinische beschränken«, machte er einen Vorschlag zur Güte.

Christine fiel von einem Schrecken in den nächsten.

»Dann wollen Sie jetzt doch nicht mit mir zu Mittag essen?«

»Ich glaube nicht.« Milan schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich ehrlich bin, ist mir der Appetit vergangen.« Er wagte es noch nicht einmal, ihr ein Lächeln zu schenken. Stattdessen fuhr er mit gesenktem Kopf davon.

Eigentlich hätte er erleichtert sein müssen.

Doch zum wohl ersten Mal in seinem Leben machte er die Erfahrung, dass es Siege gab, die sich wie Niederlagen anfühlten.

*

»Ich habe keine Ahnung, was in diese Lekutat gefahren ist.« Sophie Petzold hatte die Hände in die Hüften gestützt und sah mit halb geschlossenen Augen haarscharf an ihrem Verlobten vorbei.

Matthias war ganz sicher, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. Andernfalls hätte er sich umgedreht in Erwartung, Christine Lekutat hinter sich zu sehen.

»Die ganze Zeit war sie so nett. Und plötzlich lässt sie mich so auflaufen. Aus heiterem Himmel. Ausgerechnet heute. Das ist nicht fair.«

»Vielleicht hat sie einfach einen schlechten Tag. Das kommt in den besten Familien vor«, versuchte Dr. Weigand, seine zukünftige Frau zu trösten. Er streckte die Arme aus, um Sophie an sich zu ziehen. Seine Hände fielen ins Leere.

»Vielleicht rächt sich auch dieser übermäßige Zuckerkonsum. Ich kenne niemanden, der derart viele Süßigkeiten in sich hineinstopft. Als Ärztin müsste sie doch wissen, dass das gefährlich ist.«

»Deine Sorge ehrt dich. Aber statt dir den Kopf über die Kollegin Lekutat zu zerbrechen, solltest du dich lieber auf deine Prüfung konzentrieren.« Matthias sah auf die Armbanduhr. »Du hast noch eine Stunde.«

Sophie starrte ihn an, als hätte er sich vor ihren Augen in ein Monster verwandelt.

»Waaaaas? Eine Stunde nur noch? Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief sie im Büro auf und ab. Sogar ihr »O Gott, o Gott, o Gott«, erinnerte entfernt an ein Gackern. »Dabei wollte ich unbedingt noch einmal das Gliom durchgehen. Du mit deinem Mut zur Lücke! Das geht garantiert schief. Schon mit der ersten Frage hat mich die Lekutat eiskalt erwischt.«

Matthias konnte seiner Verlobten nicht böse sein. Dazu erinnerte er sich zu genau an den Tag seiner eigenen Facharztprüfung. Anders als Sophie war er auf jede mögliche und unmögliche Frage vorbereitet gewesen. Und war dank seiner Nervosität mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Das würde Sophie nicht passieren. Er kannte sie. Hatte sie oft genug in Krisensituationen erlebt. Und für ihre Coolness und Gelassenheit bewundert.

»Es geht nur um die hirneigenen Tumore, die du nicht so gründlich gelernt hast.«

Sophie hielt in ihrem Marsch inne. Durchbohrte ihn mit Blicken.

»Stell mir eine Frage!«, verlangte sie.

»Wie bitte?«

»Du sollst mir eine Frage zu hirneigenen Tumoren stellen.«

Matthias Weigand lächelte. Seine Sophie! Er hätte es sich denken können.

»Also gut. Erzähl mir was über Medulloblastome.«

»Medulloblastome sind Tumore, die fast ausschließlich im Kindes- und Jugendalter auftreten. Dabei handelt es sich um Tumoren des Kleinhirns, die sich besonders durch Koordinationsstörungen, Stand- und Gangunsicherheit bemerkbar machen. Ihrer Lage ist die Möglichkeit einer Nervenwasserabflussstörung geschuldet, die eine akute Hirndrucksteigerung mit entsprechender Symptomatik zur Folge haben kann. Obwohl es sich beim Medulloblastom um einen besonders bösartigen …«

»Genug, genug«, wehrte Matthias Weigand ab. »Du bist ja ein wandelndes Medizinlexikon.«

Atemlos hielt Sophie Petzold inne. Sie lächelte.

»Richtige Antwort.«

»Gut. Dann solltest du dich langsam umziehen. Sonst verpasst die Prüfungskommission das Beste, was ihr an diesem Tag geboten wird.«

Sophie stemmte die Hände in die Hüften. Legte den Kopf schief. Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht. Sie

»Hab ich dir schon einmal gesagt, dass du ein widerlicher Schleimer bist?«, scherzte Sophie.

»Ein Mal?«, fragte Matthias lachend zurück und zog sie in seine Arme, um sie – wenn nicht schon mit Worten, so wenigstens mit Taten – zu überzeugen.

*

Das Tablet in der Hand, blieb Dr. Daniel Norden einen Moment vor dem Zimmer seines Patienten Manfred Tuck stehen. Er konnte von Glück sagen, nicht in früheren Zeiten gelebt zu haben. Lange Zeit war es Usus, den Überbringer schlechter Nachrichten zu töten. Nicht nur in der griechischen Antike fanden sich solche Berichte. Erst am Wochenende hatte Daniel eine Dokumentation über die Azteken gesehen, in dem ihr Herrscher Montezuma den Boten hinrichten ließ, der ihm das Nahen des Spaniers Cortez gemeldet hatte.

Trotzdem fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut, als er zu seinem Patienten trat.

Manfred saß im Bett und sah ihn mehr oder weniger erwartungsvoll an.

»Ah, der Herr Doktor …«

»Herr Tuck, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie ein Meningeom haben.«

»Soso, jetzt hat das Ding also einen Namen.« Er fasste sich an den Kopf. »Werde ich daran sterben?«

»Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Dabei handelt es sich um einen gutartigen Tumor der Hirnhaut. Wir werden Sie morgen früh operieren.«

Manfreds Augen wurden schmal.

»Morgen früh schon?«

»Wie bereits in der ersten Untersuchung festgestellt, ist die Lage des Tumors sehr erfolgversprechend. Ich habe die berechtigte Hoffnung, dass Sie den Eingriff ohne bleibende Schäden überstehen werden.« Daniel Norden sah seinem Patienten an, dass er Redebedarf hatte. Er zog sich einen Hocker ans Bett und setzte sich. »Wie gesagt, die Lage des Tumors ist günstig«, wiederholte er in Ermangelung einer anderen Idee.

Manfred Tuck seufzte aus tiefstem Herzen. Er blickte hinab auf seine ineinander verschlungenen Hände.

»Wissen Sie, bisher war ich immer ein Glückskind«, begann er zu erzählen. »Zuletzt, als ich Eva kennengelernt habe. Ausgerechnet in einer Zeit, in der ich so unzufrieden gewesen bin wie nie zuvor. Die Kinder erwachsen, die Frau an meiner Seite nur noch eine alte Bekannte, die ich hin und wieder zufällig im selben Haus traf.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und dann kam Eva. Wie ein Wirbelwind ist sie durch dieses Leben gefegt, hat den Mief und Staub weggeweht. Statt Stoffhosen trage ich jetzt moderne Jeans und einen flotten Haarschnitt. Statt Rinderrouladen mit Klößen esse ich jetzt Soljanka mit Oliven und Tomaten. Und habe Spaß wie nie zuvor in meinem Leben.« Seine Mundwinkel zogen sich wieder nach unten. »Aber irgendwann ist offenbar bei jedem Zahltag.«

*

Nach diesem Gespräch wanderte Daniel Norden mit gesenktem Kopf über den Flur. Wie Manfred Tuck zählte auch er sich zu den Glückskindern. Wie auch nicht, mit dieser Frau an seiner Seite, den fünf gut gelungenen Kindern und seinem Enkelkind Fynn. Mit seinem Traumberuf, der ihn ans Ziel seiner Wünsche – die Leitung einer renommierten Privatklinik – geführt hatte. Würde auch er eines Tages büßen müssen für dieses unverschämte Glück?

Derart in Gedanken vertieft, nahm Daniel die Schritte hinter sich nicht wahr. Erst die Stimme riss ihn aus seiner Versunkenheit.

»Dan! Halt! Warte doch auf mich!«

Er drehte sich um und wartete auf seine Frau Fee. Ihre Wangen leuchteten, ihre Brust hob und senkte sich.

»Du siehst aus, als hättest du einen Marathon hinter dir.«

»Wir wollen es nicht übertreiben. Es war nur ein Halbmarathon«, schmunzelte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Je mehr sich ihr Atem beruhigte, umso blasser wurde ihr Strahlen. »Stimmt es, dass Fuchs kollabiert ist?« Seite an Seite setzten sie ihren Weg fort.

»Das ist leider richtig. Ich habe Erst Hilfe geleistet und ihn dann in die Ambulanz zu Matthias bringen lassen.«

»Wusstest du, dass er ihn in die Psychiatrie verlegt hat?«

»Das ist mir neu.« Daniel wiegte den Kopf. »Wundert mich aber nicht. Meiner Ansicht nach war eine ordentliche Portion Beruhigungsmittel Grund für den Zusammenbruch.

»Ich weiß. Matthias hat es mir erzählt. Er hat auch gesagt, dass Fuchs sich weigert, mit den Kollegen der Psychiatrie zu sprechen.« Felicitas schickte ihrem Mann einen Seitenblick. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich mal mit ihm unterhalte?« Die Frage war nicht ungewöhnlich. Schließlich war Fee Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Alles, was mit diesem Thema zusammenhing, interessierte sie brennend.

Trotzdem wunderte sich Daniel über diese Bitte.

»Deine Fähigkeiten in allen Ehren. Aber denkst du wirklich, Dieter Fuchs spricht ausgerechnet mit dir über seine Befindlichkeiten? Immerhin bist du die Frau seines Erzfeindes.« Er zwinkerte Fee zu.

»Dann hast du also nichts dagegen, wenn ich mein Glück einmal versuche?«

»Natürlich nicht. Solange du nicht zu enttäuscht bist, wenn er dich abblitzen lässt.«

»Das lass mal meine Sorge sein.« Felicitas hielt ihren Mann am Kittel fest, drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Im nächsten Moment war sie um die Ecke verschwunden. Nur die Schritte, die schnell leiser wurden, bewiesen Daniel, dass er nicht geträumt hatte.

Gleichwohl dachte Dieter Fuchs an einen Traum, als Frau Dr. Norden an seinem Bett auftauchte.

»Was wollen Sie denn hier?« Er runzelte die Stirn. »Falls Sie noch weitere Untersuchungen durchführen wollen, können Sie gleich wieder gehen. Und überhaupt ist es eine Frechheit, dass mich dieser Weigand in diese Abteilung abgeschoben hat. Ich bin doch nicht geisteskrank.«

Beim Anblick des Verwaltungsdirektors erschrak Fee. Schwammig und blass, wie er war, hatte er noch nie besonders gesund ausgesehen. Neu waren die dunklen Ringe unter den Augen. Zeugen schlafloser Nächte? Oder doch einer Nierenerkrankung? Und was war mit dem Zucken des rechten Augenlids?

»Falls es Sie beruhigt: Keiner unserer Patienten hier ist geisteskrank.« Was für eine unmögliche Bezeichnung! »Sie befinden sich hier in der psychiatrischen Abteilung unserer Klinik, die sich auf die Behandlung psychischer Störungen und psychosomatischer Erkrankungen spezialisiert hat.«

»Egal, wie Sie es nennen«, schnaubte Fuchs. »Es ist eine bodenlose Frechheit, mich so zu behandeln.«

»Bitte beruhigen Sie sich. Heutzutage sind psychische Erkrankungen kein Stigma mehr. Ganz im Gegenteil sind sie genauso ernst zu nehmen wie körperliche Krankheiten.«

Fuchs saß aufrecht im Bett und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.

»Das sagen Sie doch nur, damit Sie keinen Ärger bekommen.«

Nur mit Mühe gelang es Felicitas, ein Lächeln zu unterdrücken. Die Zeiten, in denen sie sich vor dem Verwaltungsdirektor gefürchtet hatte, waren lange vorbei. Aber das musste sie ihm nicht unter die Nase reiben. Nicht ausgerechnet jetzt.

»Herr Fuchs, ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu streiten. Ich möchte Ihnen helfen.«

»Vielen Dank. Da nehme ich lieber meine Tabletten.« Er griff nach der Fernbedienung. Leise surrend fuhr das Kopfteil des Bettes herunter. Unten angekommen, drehte er sich um und zog die Bettdecke über die Schulter. Deutlicher konnte er seine Ablehnung nicht zum Ausdruck bringen.

Im ersten Moment war Fee versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen und das Zimmer zu verlassen. Arbeit hatte sie schließlich genug. Darüber hinaus wussten ihre kleinen Patienten ihre Bemühungen mehr zu schätzen als dieser Stoffel. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie aus freien Stücken hier stand. Sie dachte an die Worte ihres Mannes. Reckte trotzig das Kinn vor.

»Was soll das, Herr Fuchs?«, fragte sie und gab sich keine Mühe mehr, freundlich zu klingen. »Warum sträuben Sie sich so gegen Hilfe? Haben Sie keinen Spaß mehr am Leben? Wollten Sie sich etwas antun?«

»Unsinn!«, schnaubte er. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich habe meine Tabletten.«

»Wenn alles in Ordnung ist, dann brauchen Sie die doch auch nicht, oder?«

»In Ordnung! In Orndung!«, äffte Dieter Fuchs die Ärztin nach. Der Gefühlsausbruch kam überraschend. »Nichts ist mehr in Ordnung. Seit meine Tochter aufgetaucht ist und hier alles durcheinanderbringt, klappt nichts mehr. Ich verrechne mich ständig. Kann nicht mehr schlafen. Mich nicht konzentrieren. Und dann dieses Herzrasen. Diese Angst vor jedem neuen Fehler. Schrecklich.«

»Deshalb nehmen Sie Tabletten?«

»Ja.« Dieter nickte.

Fee betrachtete seinen Rücken.

»Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie mit diesen Beruhigungsmitteln alles nur noch schlimmer machen?«

Die Bettdecke raschelte. Dieter Fuchs kämpfte sich auf die andere Seite.

»Und was sollte ich Ihrer Ansicht nach denn sonst gegen all das tun?«, blaffte er sie an.

»Lassen Sie sich von mir helfen.«

Dr. Fee Norden wertete es als Erfolg, dass Dieter Fuchs ihr nicht sofort widersprach.

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, knurrte er endlich. »Sonst werde ich Sie überhaupt nicht mehr los.«

*

»Wow!« Als Dr. Weigand seine Verlobte das nächste Mal zu Gesicht bekam, blieb ihm die Spucke weg. »Du weißt aber schon, dass du zur Facharztprüfung gehst und nicht zum Vorstellungsgespräch bei einem Millionenunternehmen.«

Sophie drehte sich um ihre eigene Achse. Das Etuikleid war schlicht geschnitten. Hellblau wie ihre Augen und knielang, wie es sich gehörte. Mit kleinem V-Ausschnitt. Die seitliche Raffung war das einzige auffällige Detail und sorgte doch für den besonderen Kick.

»Heißt das, dass ich dir gefalle?«

»Du siehst umwerfend aus.«

»Das ist schlecht. Wenn die Prüfer umfallen, können sie nicht mehr über mein Können richten.«

Matthias zog Sophie an sich.

»Wenn du Glück hast, ist eine Prüferin dabei.« Er wollte sie an sich drücken.

Zwei Hände vor seiner Brust hinderten ihn daran.

»Berühren verboten. Es darf nicht verknittern.« Auf flachen Sohlen ging Sophie hinüber zur Garderobe, nahm dem Blazer vom Haken und hängte sich die Tasche über die Schulter. »Bist du soweit?«

»Moment.« Matthias zog den Pieper vom Gürtel und schaltete ihn aus. »Deine Prüfung ist Notfall genug. Noch mehr Aufregung verkrafte ich heute nicht.« Er nahm Sophie an der Hand und zog sie mit sich.

Auf dem Weg durch die Flure der­ Behnisch-Klinik hallten ihnen Glückwünsche entgegen. Alle Kollegen schienen zu wissen, was Dr. Sophie Petzold an diesem Nachmittag erwartete.

»Alles hier oben gespeichert?«, fragte ihr Leidensgenosse Benjamin Gruber und tippte sich an die Stirn.

»Ich hoffe.« Sophie sah ihn an. »Wann ist es eigentlich bei dir soweit?«

»Ich habe noch ein bisschen Galgenfrist. Aber merk dir alles gut, damit du mir hinterher Tipps geben kannst.«

»Dein Fachgebiet ist psychosomatische Medizin. Schon vergessen?«

Sie zwinkerte Benjamin zu.

»Ich meinte so allgemeiner Natur.«

In der Lobby trennten sich ihre Wege. Matthias war froh darum. Nicht, dass er den Assistenzarzt nicht mochte. Aber es gab Situationen, in denen er gut und gern auf Smalltalk verzichten konnte.

Sie überquerten den Platz vor der Klinik. Mit einem Hupton schnappten die Schlösser des Wagens auf. Matthias hielt seiner Verlobten die Tür auf. Wenig später waren sie auf dem Weg durch die Stadt.

»Prüfer sind keine Monster. Keiner wird es darauf anlegen, dich durchfallen zu lassen«, erklärte er.

»Ich werde nicht durchfallen.«

Matthias starrte durch die Windschutzscheibe.

»Meine Güte, so eine Schlafmütze da vorn!« Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad. »Hast du deinen Führerschein im Lotto gewonnen?«

Sophie musterte ihn sichtlich irritiert. »Was ist denn mit dir los, Matse? Du bist doch sonst nicht so ungeduldig.«

»Wir sind auf dem Weg zu deiner Facharztprüfung. Schon vergessen?« Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Entspann dich! Ich werde nicht durchfallen!«, wiederholte Sophie.

Matthias Weigand rollte mit den Augen.

»Ich bin dein Anleiter. Hör wenigstens ein Mal, ein einziges Mal auf das, was ich dir zu sagen habe.«

»Schon gut. Reg dich nicht so auf.« Das, was Sophie jetzt am wenigsten brauchen konnte, war ein Streit.

Leicht machte Matthias es ihr allerdings nicht.

»Oberste Priorität: Lass die Prüfungsfrage auf dich wirken und antworte dann erst. Und falls es Unklarheiten gibt: Frage nach! Bitte.«

»Hier sind wir! Da drüben ist mein Lieblingsschmuckgeschäft.«

»Wie kannst du jetzt an Schmuck denken?«, schimpfte Matthias.

»Da wird ein Parkplatz frei.« Sophie deutete auf den Wagen vor dem Ärztehaus. Das orangefarbene Blinklicht leuchtete weithin. »Wenn das kein gutes Omen ist.«

Matthias blieb stehen und wartete, bis der Parkplatz frei war. Seine Fingerspitzen trommelten auf dem Lenkrad.

»Du sollst nachfragen! Hast du das gehört?«, wiederholte er seine Anweisung.

»Jahaaa. Ich bin doch nicht schwer von Begriff.«

»Ich meine es ernst. Dein Stolz in allen Ehren. Aber die Prüfung zu bestehen, ist mindestens genauso wichtig.« Er kurbelte am Lenkrad, um den Wagen in die Lücke zu bugsieren.

»Ich frage nach, wenn ich etwas nicht verstanden habe«, versprach Sophie. »Auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann.«

Matthias stellte den Motor ab. Er öffnete den Sicherheitsgurt und drehte sich zu Sophie um.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich nervöser sein werde als du«, gestand er und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Aber du bist der erste meiner Assistenzärzte, der die Facharztprüfung macht.«

»Wenn ich durchfalle, bekommst du die Kündigung vom Chef«, scherzte Sophie.

»Das mit ziemlicher Sicherheit nicht. Trotzdem würde ich an mir zweifeln.«

Täuschte er sich oder war ihr Lächeln spöttisch?

»Keine Sorge. Ich werde dir keine Schande machen.«

Matthias überlegte noch, was er darauf antworten sollte, als Sophie die Tür aufstieß.

»Wenn ich mich jetzt nicht beeile, bekomme ich gar nicht erst die Chance, nicht zu bestehen.« Sie schickte ihm eine Kusshand.

Krachend fiel die Tür ins Schloss.

»Viel Glück!«, rief Matthias ihr nach.

Doch Sophie hörte ihn nicht mehr.

*

»Nemaye! Nein! Das ist nicht dein Ernst.« Eva Tuck schüttelte den Kopf. Ihr ganzer Körper klimperte, als wäre eine Schmuckschatulle auf den Boden gefallen. »Das kannst du nicht machen!«

»Meine Güte! Jetzt mach es mir doch nicht schwerer, als es ohnehin schon ist«, schimpfte ihr Mann. »Ich verlasse dich und damit basta!«

»Aber warum?« Eva wollte nicht weinen. Ausgerechnet heute hatte sie keine wasserfeste Wimperntusche aufgetragen. »In guten wie in schlechten Zeiten, hast du das schon vergessen?«

»Hör mir doch auf mit diesem altmodischen Unsinn!«, wütete Manfred weiter. »Ich bin viel älter als du und demnächst ein Krüppel. Aber du, du hast noch dein ganzes Leben vor dir.«

»Hör du auf damit!« Eva staunte selbst über ihren Tonfall. »Was soll ich mit einem ganzen Leben ohne dich?«

»Du meinst wohl mit einem Krüppel.« Manni lachte abfällig. »Schau dich doch an!« Er griff nach ihrer Hand. Betrachtete die langen Fingernägel. Pink lackierte Pfeilspitzen. »Wie willst du denn mit diesen Krallen einen Krüppel pflegen? Nein.« Er ließ ihre Hand fallen und schüttelte den Kopf. »Das will ich gar nicht miterleben. Genauso wenig, wie ich erleben will, dass du mich wegen eines anderen, gesunden Mannes verlässt.«

»Aber …«, wollte Eva aufbegehren.

»Kein Aber! Raus jetzt!«

Die Mitarbeiter im Schwesternzimmer horchten auf. Was war das?

Im nächsten Moment fiel eine Tür krachend ins Schloss. Schritte stöckelten über den Flur und wurden schnell leiser.

»Die Barbiepuppe, unverkennbar«, schloss Schwester Astrid messerscharf.

»Nur kein Neid«, erwiderte ihr Kollege, der Pfleger Jakob. »Es kann ja nicht jeder so scharf aussehen wie Frau Tuck.«

»Schluss damit!« Mit einem Machtwort beendete Schwester Elena diese Diskussion. »Statt sich den Mund über unsere Patienten und deren Angehörige zu zerreißen, sollten Sie lieber nach dem Rechten sehen.« Sie stand vom Schreibtisch auf und ging zur Tür. »Eigentlich dachte ich, Sie wären über das kleine Einmaleins der guten Pflege hinaus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie sich auf den Weg zu Manfred Tuck. Sie öffnete die Tür. Und erschrak. Mit zwei, drei Schritten war sie am Bett.

»Um Gottes willen, Herr Tuck!«

Mit weit aufgerissenen Augen lag Manfred im Bett. Er zuckte am ganzen Körper. Elena legte ein Kissen unter seinen Kopf. Sprach beruhigend auf ihn ein und wartete darauf, dass er sich wieder beruhigte. Ein Krampfanfall, verursacht durch ein Meningeom, war keine Seltenheit. Sie wusste, dass sie nicht viel mehr tun konnte, als abzuwarten. Schneller als vermutet zeigte die Strategie Wirkung. Mannis Glieder entspannten sich. Sein Atem beruhigte sich. Er blinzelte ins schwindende Licht des Tages.

»Schwester …« Seine Blicke irrten im Zimmer umher. »Ist sie weg?«

»Ihre Frau ist vor ein paar Minuten gegangen.« Elena griff nach seinem Handgelenk und sah auf die Uhr. »Sie wirkte sehr verstört.« Sie legte seinen Arm zurück auf das Bett und half Manfred, sich zuzudecken. »Darf ich fragen, was passiert ist?«

Erschöpft von dem überstandenen Anfall lag er einfach nur da und blickte hinüber zum Fenster. Von hier aus sah er nur ein Stück grauen Himmel und die Wipfel der Bäume im Klinikgarten. Mit an den Rändern gewellten Blättern. Der Sommer lag in den letzten Zügen. Bald würde er sein buntes Kleid anziehen, ein letztes Fest feiern, bevor die Welt die Farben verlor. Genau wie sein Leben.

»Ich habe mich von Eva getrennt«, gestand er tonlos.

»Wie bitte?«

»Hören Sie schlecht? Dann sollten Sie mal einen Ihrer HNO-Ärzte aufsuchen. Wozu ist das hier eine Klinik?«

Schwester Elena legte die Hand auf seine Schulter.

»Warum haben Sie Ihre Frau verlassen?«

Ihre sanfte Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht.

»Das fragen Sie noch? Ich habe einen Gehirntumor. Soll sich eine junge, schöne Frau wie Eva an einen alten Krüppel verschwenden? Sie hat auch nur ein Leben.« Manfred fuhr sich über die Augen. »Ich kann mir gut vorstellen, wie das wird. Die mitleidigen Blicke der Leute. Evas Mitleid mit mir. Ihr Überdruss. Meine Eifersucht. Mit wem war sie beim Shoppen? Wer hat die neue Handtasche bezahlt? Riecht sie nach Herrenparfum?«

»Herr Tuck …«

»Eines Tages werde ich Eva hassen für all das, wofür ich sie heute liebe. Das hat sie nicht verdient.«

»Finden Sie nicht, dass Ihre Frau in dieser Sache auch noch ein Wörtchen mitzureden hat?«

Manfred Tucks Lachen jagte Elena einen Schauer über den Rücken.

»Ich bitte Sie, Schwester. Das Leben ist kein Groschenroman. Wir wissen doch beide, dass eine Frau wie Eva einen alten Mann wie mich nicht aus Liebe geheiratet hat.« Er schüttelte den Kopf. »Zum einen war es für Eva eine schöne Selbstbestätigung, den kapitalen Zwölfender – also mich – erobert zu haben. Zum anderen hat sie dadurch nicht nur einen Mann, sondern auch gesellschaftliche Achtung und Macht erhalten. Ein nicht zu verachtender Nebeneffekt.« Sein Lächeln war maskenhaft. »Aber was ist mit Achtung, der Selbstbestätigung, wenn ich zum Pflegefall werde?«

Im Gegensatz zu seinem Lächeln war Elenas warm.

»Mal abgesehen davon, dass ich Sie nie einen Hirsch nennen würde, denke ich, dass Sie Ihre Frau unterschätzen.« Noch einmal fühlte sie Manfred Tucks Puls. Er hatte sich wieder halbwegs beruhigt.

»Geben Sie sich keine Mühe. Ich kenne meine Frau besser als jeder andere Mensch. Ich weiß, wie Eva tickt.« Manfred seufzte. »Leider.«

*

»Und? Schon was von Sophie gehört?«, erkundigte sich Dr. Daniel Norden. Er war auf dem Rückweg in sein Büro, als ihm Matthias Weigand über den Weg lief.

»Nein, noch nicht.« Matthias schob den Kittelärmel zurück. »Ich verstehe gar nicht, warum das so lange dauert.«

»Vielleicht ist sie mit ein paar Kollegen feiern gegangen.«

»Oder aber sie steht mal wieder vor dem Schaufenster ihres Lieblingsjuweliers und hat die Zeit vergessen. Der ist nämlich nur ein paar Minuten Fußweg entfernt vom Ärztehaus.« Matthias trat von einem Bein auf das andere. »Ich rufe sie an.«

»Auf keinen Fall.« Daniel hob die Hände. »Das würde ich nicht tun. Stell dir vor, du erwischst sie mitten in der Prüfung.«

»Ausgeschlossen. Ich habe ihr selbst zugeschaut, wie sie das Handy ausgeschaltet hat.« Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und drückte ein paar Tasten. Ein Foto von Sophie, aufgenommen im Sommer am See, blinkte auf. »Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal«, äffte er die Stimme des Anrufbeantworters nach und legte wieder auf. »Diese Warterei macht mich noch wahnsinnig.«

»Ich kenne ein probates Mittel gegen diese Art von Wahnsinn.«

»Ich bin gespannt.«

»Arbeit.« Daniel lachte, klopfte seinem Freund und Kollegen auf die Schulter und setzte seinen Weg fort.

An diesem Abend war er mit seiner Frau zum Essen verabredet und wollte pünktlich Feierabend machen.

Ähnliche Pläne hatte auch Dr. Weigand. Hinter Sophies Rücken hatte er einen Babysitter organsiert. Einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant reserviert. Er hatte Champagner und Torte bestellt. Aber was, wenn das Leben wieder einmal Kapriolen schlug? Lieber nicht daran denken! Blieb also nur der Rat seines Freundes.

Mit Schwung betrat Dr. Weigand das Zimmer des Verwaltungsdirektors.

»Endlich kümmert sich mal jemand um mich«, schallte ihm postwendend eine Beschwerde entgegen.

»Sie haben jede Behandlung abgelehnt.«

»Weil ich nicht geisteskrank bin. Am Ende verpassen Sie mir noch eine Libo … Labo … Lebitomie.«

»Sie meinen wohl eine Lobotomie«, korrigierte Dr. Weigand den Verwaltungsdirektor. »Falls es Sie beruhigt: Dieser neurochirurgische Eingriff ins Gehirn wird in Deutschland seit den 1970er Jahren nicht mehr durchgeführt.«

Dieter Fuchs schickte dem Chef der Ambulanz einen schiefen Blick.

»Bei Ihnen kann man nie wissen. Aber wechseln wir lieber das Thema. Wissen Sie endlich, was mir fehlt?«

Matthias kämpfte mit einer passenden Antwort. Daniel hatte ihm nicht verraten, dass die Mischung aus Nervosität und Ärger gefährlich werden konnte für den Patienten.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Ergebnisse erst morgen früh kommen.« Er schaltete das mitgebrachte Tablet ein und öffnete die Patientenakte Dieter Fuchs.

»Wieso erst morgen früh?«, wetterte der Verwaltungsdirektor unterdessen weiter. »Warum dauert das so lange? Man könnte den Eindruck bekommen, dass das Labor nicht sehr effizient arbeitet. Am Ende war meine Auslastungsanalyse doch richtig.«

»Das sehen die Herrschaften vom Trägerverein anders«, erwiderte Matthias in aller Seelenruhe, während er auf dem Bildschirm vor und zurück wischte.

Dieter Fuchs schluckte.

»Wie meinen Sie das?«

Dr. Weigand schaltete das Tablet aus und widmete sich wieder seinem Patienten.

»Das wissen Sie nicht?«, schützte er Unwissenheit vor. »Ach, und ich dachte, Sie hätten die Tabletten aus Angst vor dem Termin genommen.«

»Wie bitte?« Sämtliche Farbe wich aus Dieter Fuchs‘ Gesicht. »Welcher Termin?«

Matthias blickte verwirrt drein. War es möglich, dass Fuchs noch nichts von der Entscheidung des Trägervereins mitbekommen hatte? Obwohl die Spatzen die bittere Wahrheit längst von den Dächern respektive durch die Flure der Behnisch-Klinik riefen.

»Am besten, Sie setzen sich mit Dr. Beckmann vom Trägerverein in Verbindung. Er kann Ihnen genau sagen, um was es geht. Sie wissen doch, wie das in einer Klinik so ist. Da kursieren immer nur Halbwahrheiten.«

Das Klingeln des Telefons befreite ihn aus der unangenehmen Situation.

»Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann, wünsche ich Ihnen einen schönen Abend«, verabschiedete er sich.

Auf dem Weg zur Tür nestelte er das Mobiltelefon aus der Kitteltasche. Es war Sophie! Endlich!

*

Durch die Durchreiche der Küche wehten Rufe ins Restaurant. Töpfe, Geschirr und Besteck klapperten. Wie das Summen eines Bienenvolks erfüllte das Gewirr aus Stimmen die Luft. Ab und zu riss ein Lachen aus und flatterte durch die Gaststube.

Der Duft nach einem Urlaubsabend in Italien ließ nicht nur Daniel und Fee das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Ein Besuch bei Enzo ist immer wie ein Kurzurlaub«, murmelte Fee und schob ein Stück ölglänzende Paprikaschote in den Mund.

»Genau das war der Plan, warum ich dich heute hierher entführt habe.« Ein Teller mit Antipasti stand vor ihm. Vom Balsamico dunkelbraun gefärbte Zwiebeln. Silbrige Sardinen. Streifen vom Fenchel auf Orangenscheiben, die leuchteten wie die untergehende Sonne.

Doch Daniel schien das Wunder vor sich nicht zu bemerken. Ein Glas Weißwein in der Hand saß er da und bewunderte seine Frau.

Sie hörte auf zu essen. Zog eine Augenbraue hoch.

»Was ist? Warum schaust du mich so an?«

»Weil es mir gefällt, mit wie viel Genuss du isst.«

Belustigtes Lachen. Fee spießte eine Cocktailtomate mit Rucola auf und wedelte mit der Gabel vor seinem Gesicht herum.

»Wenn du dich nicht beeilst, bekommst du nichts mehr.« Ein Haps, und die Tomate verschwand in ihrem Mund.

»Dann bestelle ich mir einfach was Neues.«

»Das könnte schwierig sein im Moment.« Fee nickte hinüber zu Kellnerinnen und Obern, die sich vor dem Tresen versammelt hatten.

Daniel drehte sich um.

»Oh, sieht nach einem Geburtstag aus.«

Die Wunderkerzen auf der Torte sprühten Funken. Der Korken knallte. Champagner sprudelte in zwei Gläser.

»Wie kannst du mir das antun? Vor allen Leuten! Dabei wusstest du doch gar nicht, ob ich bestehe. Kannst du mir nicht still und ­heimlich einfach ein hübsches Schmuckstück schenken, wie andere Männer das machen? Zum Beispiel diese Sternenkette von meinem Lieblingsjuwelier?«

Sowohl Daniel als auch Fee kannten diese Stimme.

»Gewitter im Anmarsch«, stellte Daniel fest.

»Eher ein Tornado. Sieht nicht so aus, als hätte sie die Prüfung bestanden«, schloss Fee aus Sophies Leichenbittermiene. Sie sah zu, wie ihre Freundin auf den Ober zutrat. Ihm das Glas aus der Hand nahm und es in einem Zug leerte. »Sollen wir fragen, ob sie sich zu uns setzen wollen?«

»Gute Idee. Das könnte Matthias vor einem handfesten Ehekrach bewahren.« Daniel schob den Stuhl zurück und stand auf.

Er wurde begrüßt wie ein Retter in größter Not. Zumindest von Matthias Weigand. Wenig später saßen sie zu viert am Tisch.

»Und? Wie ist es gelaufen?« Todesmutig stellte Daniel Norden die Frage, die seiner Frau auf der Seele brannte.

Sophie stürzte ein zweites Glas Champagner hinunter.

»Eigentlich ganz gut. Zumindest dachte ich das. Die Fragen waren manchmal verwirrend einfach. Ich habe mich kaum getraut zu antworten, weil ich dachte, es müsste mehr dahinter stecken.«

»Ein beliebter Trick, um die Prüflinge zu verunsichern«, bemerkte Matthias und schenkte seiner Verlobten nach. Diesmal griff sie nicht sofort zum Glas.

»Das war aber nur am Anfang so. Später sind die Prüfer auf den Themen herumgeritten und haben immer weiter gefragt, bis mir die Antworten ausgegangen sind.«

»Schwer vorstellbar.« Daniel garnierte seine Worte mit einem Zwinkern.

Dachte er an die erste Zeit mit der Assistenzärztin Sophie Petzold, fielen ihm Attribute wie frech, überheblich und respektlos ein. Kein anderer ihrer Kollegen hatte es je gewagt, seine Operationspraktiken in Abrede zu stellen. Sophie war die Erste und bislang Einzige gewesen. Damals hätte er ein Scheitern in der Prüfung als Lehre verstanden. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Heute war er anderer Meinung.

Sophie verzog den Mund.

»Das dachte ich auch. Aber sie haben es tatsächlich geschafft. Vor allen Dingen diese Frau Dr. Kramer. Die hatte es auf mich abgesehen.« Auch das dritte Glas Champagner musste daran glauben. »Ihr habe ich es auch zu verdanken, dass ich noch kein Ergebnis habe.«

Mit einem Stück Brot putzte Fee Öl und Essig vom Teller.

»Das habe ich noch nie gehört. Normalerweise wird man aus dem Zimmer geschickt und erfährt kurz darauf das Ergebnis.«

Sophie zuckte mit den Schultern.

»Dummerweise wurde Frau Dr. Kramer zu einem privaten Notfall gerufen und musste fort, kaum dass ich die letzte Frage beantwortet hatte.«

Fee putzte die öligen Finger an der Serviette ab. Sie griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie.

»Und wie geht es jetzt weiter?«

»Jetzt hoffe ich darauf, morgen mein Ergebnis zu bekommen.« Diesmal nippte Sophie nur an ihrem Glas. Sie senkte den Kopf.

Zeit für Ablenkung!

»Jemand Lust auf ein Stück »Torta alla Zabaione«?«, fragte Matthias Weigand betont fröhlich in die Runde.

Daniel und Fee blickten gleichzeitig auf ihre Teller. Ein paar einsame Olivenkerne und ein Zweig Rosmarin. Mehr war nicht übrig von den Köstlichkeiten.

»Warum nicht? Süßes hebt bekanntlich die Stimmung.«

»Dann sollten wir unserem Verwaltungsdirektor auch mal ein paar Süßigkeiten zukommen lassen«, bemerkte Matthias, während er Torte auf die Teller verteilte. »Vielleicht hilft es ja was.«

»Wie geht es ihm denn?« Sophie versenkte die Gabel in dem weißen, fluffigen Traum.

»Ihr beide sitzt quasi im selben Boot. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet.«

Daniel dankte Matthias und wischte einen Klecks Eigelbsahne vom Tellerrand.

Er bemerkte die fragenden Blicke.

»Sigmund Beckmann vom Trägerverein hat mich informiert, dass Fuchs abgelöst werden und seine Tochter die Stelle der Verwaltungsdirektorin erhalten soll.«

Fee verschluckte sich am Tortenstück. Sie hustete, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen.

»Wenn er das hört, passiert ein Unglück«, krächzte sie endlich. »Diese Schmach wird er nicht überstehen«

»Das klingt ja so, als hättest du Mitleid mit ihm«, stellte Matthias überrascht fest.

Wie recht er hatte! Fee war selbst verwundert über diese Erkenntnis.

»Irgendwie schon. Aber vielleicht kann ich das Schlimmste verhindern«, murmelte sie versonnen und schob ein weiteres Stück Torte in den Mund.

*

In dieser Nacht schlief Manfred Tuck schlecht. Schuld daran war nicht nur die drohende Operation. In erster Linie lag es an seiner Trennung von Eva. Wie konnte sich etwas, von dem er zutiefst überzeugt war, so falsch anfühlen? So weh tun? Er war dankbar, als das Leben in der Klinik wieder erwachte. Schritte und Stimmen wehten von den Fluren herein. Essenswagen rumpelten vor der Tür. Was hätte er jetzt für eine Tasse Kaffee gegeben! Wahrscheinlich nur deshalb, weil er wusste, dass er an diesem Morgen weder Kaffee noch sonst irgendetwas bekommen würde, was mit Frühstück zu tun hatte.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Tuck.« Die gut gelaunte Stimme des Klinikchefs dröhnte ihm im Ohr.

»Danke, ich habe schon bessere erlebt.«

Dr. Norden trat ans Bett. Überprüfte Puls und Blutdruck.

»Das verstehe ich. Damit Sie sich nicht noch länger Sorgen machen, bereite ich Sie jetzt auf den Eingriff vor.« Daniel zog einen Hocker ans Bett. Aus der mitgebrachten Nierenschale nahm er ein Päckchen und riss es auf.

Manfred lugte über seine Schulter.

»Macht das normalerweise nicht eine Schwester?«

»Ich wollte das gern selbst übernehmen.« In traumwandlerischer Sicherheit legte er einen Zugang am Handrücken seines Patienten.

Stille.

»Das trifft sich gut. Dann kann ich Sie um einen Gefallen bitten.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe noch keine Patientenverfügung.« Manfred lächelte wie ein Schuljunge. »Das ist wie mit dem Testamentschreiben. Manche Dinge schiebt man vor sich her. Als ob man deshalb früher sterben würde.«

Eine Patientenverfügung also! Manfred Tucks Wunsch überraschte Dr. Norden nicht. Inzwischen gehörte es in der Klinik zum guten Ton, schon bei der Aufnahme nach so einem Schriftstück zu fragen. Hatte ein Patient noch keine Vorsorge getroffen und wollte das Versäumnis nachholen, stellte die Klinik ein entsprechendes Formular bereit. Er bat Manfred um ein paar Minuten Geduld und kehrte wenig später mit den Unterlagen zurück. Zum Glück war er früh genug gekommen, dass sie die Fragen in aller Ruhe durchgehen konnten. Häkchen für Häkchen setzte der Klinikchef in die dafür vorgesehenen Kästchen.

Bis er bei der letzten Frage angekommen war.

»Keine Beatmung«, erklärte Manfred Tuck.

Daniels Kugelschreiber schwebte über dem Formular.

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

Dr. Norden setzte den Haken.

»Gut. Dann fehlt nur noch Ihre Unterschrift.« Er hielt seinem Patienten Klemmbrett und Kugelschreiber hin.

Ein kurzes Kratzen, und das Werk war vollbracht. Erschöpft sank Manfred zurück in die Kissen.

»Meinetwegen können Sie jetzt loslegen.«

Es klopfte. Die Tür öffnete sich.

»Besuch für Sie, Herr Tuck«, verkündete eine Schwester.

Eine Frau in Jeans und schwarzem Pullover trat ein. Wie ein Vogelnest saß das blonde Haar auf ihrem Kopf. Das runde Matrjoschkagesicht war ungeschminkt. Die Schatten um die Augen verrieten eine schlaflose Nacht. Um ein Haar hätte Manfred seine eigene Frau nicht wiedererkannt.

»Eva? Wie siehst du denn aus?«

Sie lächelte nicht.

»Wie heißt es so schön? Das Äußere spiegelt das Innere wieder.«

Solche Worte aus Evas Mund? Damit hatte selbst Daniel Norden nicht gerechnet.

Manfred wischte sich über die Augen.

»Hast du nicht verstanden, was ich gestern gesagt habe? Ich will dich nicht mehr sehen.«

Unbeirrt trat Eva ans Bett.

»Was ist das?« Sie hatte das Formular auf der Bettdecke entdeckt.

»Eine Patientenverfügung.«

Eva streckte die Hand aus. Nur ihre Fingernägel waren von der Verwandlung verschont geblieben. Pinkfarbene Pfeilspitzen trafen das Klemmbrett. Sie überflog das Formular.

»Spinnst du?« Ihre Stimme kletterte zwei Oktaven höher. »Du bist mein Mann. Ich liebe dich. Und ich will ein Leben mit dir.«

Manfred schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, seufzte er tief.

»Wir hatten ein Leben. Das ist jetzt vorbei. Für dich und für mich.«

»Das kann ich immer noch selbst entscheiden.« Ihre Stimme brachte das Glas auf dem Nachttisch zum Klingen.

»Kannst du das? Wirklich?«

Das reichte!

»Beruhigen Sie sich!«, sprach Dr. Daniel Norden ein Machtwort. »Alle beide.«

Eva presste die Lippen aufeinander. Manfred drehte den Kopf weg.

Zufrieden mit der Wirkung seiner Worte brachte Dr. Norden die Nierenschale nach draußen. Diese Gelegenheit nutzte Manfred.

»Du darfst dein Leben nicht wegwerfen, Eva.«

»Wer wirft sein Leben weg?« Sie deutete auf die Verfügung. »Ich helfe dir bestimmt nicht bei deinem Selbstmord«, zischte sie verächtlich.

»Keine Sorge. Das war mir schon klar.« Manfred zog den rechten Mundwinkel hoch. »Deshalb habe ich auch Dr. Norden als Bevollmächtigten eingesetzt.« Er sah hinüber zur Tür. »Doktor!«

Als hätte er nur darauf gewartet, kehrte Daniel zurück. Manfred drückte ihm das Klemmbrett in die Hand. Der Klinikchef nahm es. Hielt es einen Moment fest. Suchte Evas Blick.

»Ihr Mann hat das Recht, selbst über sein Leben zu bestimmen.« Er nickte ihr zu. »Und jetzt müssen Sie uns leider entschuldigen. Das OP-Team erwartet uns.«

*

»Und du sagst mir sofort Bescheid, sobald du was von der Kommission hörst. In Ordnung?«, fragte Dr. Weigand.

Seit zehn Minuten wollte er auf dem Weg zum Operationssaal sein, wo ihn das Operationsteam um Dr. Norden erwartete. Doch jedes Mal wieder fand er einen Grund, um den Abschied hinauszuzögern.

Sophie saß mit einem Berg Patientenakten am Schreibtisch und blickte noch nicht einmal mehr hoch. Stattdessen warf sie einen Blick auf die Uhr.

»Solltest du nicht längst im OP sein?«, fragte sie und blätterte eine Seite um.

»Wie spät ist es denn?«

»Gleich fünf nach acht.«

»Verdammt!« Matthias verschwand aus der Tür. Im nächsten Atemzug tauchte er wieder auf. »Du sagst mir Bescheid, ja?«

Sophie rollte mit den Augen.

»Wenn du so weitermachst, muss ich demnächst das Geld für uns beide verdienen.«

Ein gedämpftes Klingeln. Sophie griff in die Kitteltasche. Beim Blick auf das Display erstarrte ihre Miene.

»Petzold.«

Matthias kehrte ins Büro zurück. Stellte sich hinter seine Verlobte und spitzte die Ohren.

»Ja … hmmm … in Ordnung … Ja …«, sagte Sophie, wenn das Kauderwelsch am anderen Ende der Leitung verstummte. »Ja … ja, ich habe verstanden. Vielen Dank für Ihren Anruf.« Sie drückte die Taste mit dem roten Hörer.

Ohrenbetäubende Stille.

Matthias durchlöcherte Sophie mit Blicken. Warum sagte sie denn nichts? Und was machte sie für ein Gesicht?

»Und?«, platzte er endlich heraus.

»Bestanden.«

Matthias hätte wetten mögen, dass jeder das Rumpeln hörte, als ein ganzes Gebirge von seinem Herzen ins Tal rauschte. Er nahm Sophies Gesicht in die Hände und strahlte sie an.

»Herzlichen Glückwunsch, Sü­ße.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Ich bin so unglaublich stolz auf dich.«

Bestanden! Es dauerte eine ganze Weile, bis die Bedeutung dieses Wortes endlich auch bei Sophie ankam.

Sie wagte ein Lächeln. »Danke.«

»Ich habe keine Sekunde an dir gezweifelt.«

»Das kannst du jetzt leicht sagen.« Ihr Lächeln wurde breiter.

»Nein. Wirklich. Ich habe es die ganze Zeit gewusst.« Matthias griff unter den Kittel in die Brusttasche seines Hemdes. »Deshalb habe ich das hier für dich machen lassen.«

Sophie fühlte etwas Spitzes in der Hand. Ein Schmuckstück? Etwa die Kette mit dem spektakulären Sternenanhänger, die sie schon so lange im Schaufenster bewunderte?

»Ein Namensschild.« Ihr Lächeln verblasste.

»Toll, nicht!« Matthias nahm es ihr aus der Hand und heftete es an ihre Brusttasche. Trat einen Schritt zurück. »Dr. Sophie Petzold. Fachärztin für Allgemeinchirurgie. Na, wie klingt das?«

»Das klingt, als ob das OP-Team stocksauer auf dich ist.« Das Klingeln aus Matthias‘ Kitteltasche war nicht zu überhören. Genauso wenig wie Dr. Nordens wütende Stimme. Es gab Situationen, da verstand er keinen Spaß. Freundschaft hin oder her. Das bekam Dr. Weigand in diesem Moment wieder einmal zu spüren.

»Ich muss leider los.« Ein letzter Kuss für Sophie, dann waren nur noch seine Schritte zu hören, die sich rasch entfernten und schließlich verstummten.

*

Bewaffnet mit einer Tasse Kaffee in der einen und dem Dienstplan der kommenden Woche in der anderen Hand war Schwester Elena unterwegs zu ihrem Büro.

»Hoppla!« In letzter Sekunde wich sie der Frau aus, die ihr auf ihrer Spur entgegengekommen war.

»Tut mir leid.«

»Ist ja nichts passiert.«

Beide setzten ihren Weg fort. Ein paar Schritte weiter blieb Elena stehen. War das nicht … ? Sie drehte sich um.

»Frau Tuck?«

Tatsächlich.

»Ja.« Eva sah sie fragend an.

»Ich hätte Sie fast nicht erkannt.« Schwester Elena überlegte nur kurz. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Mehr als mir lieb ist«, lautete die wenig ermutigende Antwort.

Elena winkte sie mit sich. Sie schloss die Tür zu ihrem Büro und bot Eva Tuck einen Platz in der Besucherecke an. Überall zog etwas den Blick an. Die gerahmten Familienfotos an den Wänden. Zwei handgestickte Kissen auf einem schlichten Sofa. Eine Muschelsammlung im Glas – Relikt aus dem vergangenen Sommerurlaub.

»Wenn ich schon so viel Zeit hier verbringe, will ich es wenigstens ein bisschen gemütlich haben«, entschuldigte sich Elena für die bunte Mischung.

»Ich finde das sehr nett. Erinnert mich ein bisschen an zu Hause.«

War das ein Kompliment? Schwester Elena fragte nicht nach. Sie organisierte eine zweite Tasse Kaffee und setzte sich. Es gab Wichtigeres zu besprechen.

»Sie waren bei Ihrem Mann?«

»Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll.«

»Aber das letzte Wort ist doch noch nicht gesprochen.«

Eva Tuck hob den Blick. Sie sah die Schwester aus babyblauen Augen an. Elena hätte sich nicht gewundert, wenn sie den Daumen in den Schmollmund gesteckt und daran gelutscht hätte.

»Natürlich ist es schrecklich für Manni, wenn er nicht mehr laufen, den Arm nicht mehr bewegen kann. Aber gerade dann muss man doch zusammenhal …«

»Es ist überhaupt nicht gesagt, dass Ihr Mann einen Schaden zurückbehalten wird«, fiel Elena der verzweifelten Ehefrau ins Wort.

Eva schürzte die Lippen.

»Warum will er mich denn dann verlassen?«

War es richtig, die Wahrheit zu sagen? Um Zeit zu gewinnen, nippte Elena an ihrem Kaffee.

»Ihr Mann denkt, dass Sie ihm eines Tages dankbar sein werden, wenn er Ihnen jetzt Ihre …«, sie zögerte, » … Freiheit gibt.«

»Was für eine Freiheit soll das denn sein?« Evas Augen schwammen in Tränen. Mit ehrlicher Bewunderung sah Elena ihr dabei zu, wie sie die Tasche öffnete und ein Päckchen Taschentücher hervorkramte. Und das alles, ohne einen der Pfeilnägel abzubrechen. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, mich in einen anderen Mann zu verlieben als Manni. Er ist perfekt für mich. Was will ich denn mit so einem jungen Schnösel, der keine Ahnung hat, wie man eine Lady behandelt?«, schluchzte sie und tupfte die Tränen aus den Augenwinkeln. »Bei Manni fühle ich mich geborgen. Er beschützt mich und sorgt für mich. Seine Liebe ist wie ein warmer, weicher Mantel. Daran wird auch ein Rollstuhl nichts ändern. Warum kann er das denn nicht verstehen?«

»Möglich, dass ihm diese Krankheit zum ersten Mal vor Augen geführt hat, dass ein so großer Altersunterschied nicht nur Vorteile hat«, gab Elena zu bedenken. »Vielleicht hat Manfred bis jetzt noch nicht darüber nachgedacht, wie es später einmal sein wird.«

Es war Eva gelungen, die Flut zu stoppen. Sie warf den Kopf in den Nacken, dass das Vogelnest gefährlich schwankte. Trotzig wie ein kleines Mädchen schürzte sie die Lippen.

»Aber ich habe darüber nachgedacht. Und mir macht es nichts aus, für ihn da zu sein, wenn er mich braucht. Genauso wie er für mich.«

Schwester Elena lächelte.

Es gefiel ihr, dass Manfred Tuck mit seiner Annahme doch nicht recht hatte. Manchmal war das Leben eben doch ein Groschenroman! »Wenn das so ist, haben Sie nur eine Wahl: Sie müssen um Ihren Mann kämpfen. Sie müssen ihm beweisen, dass Sie ihn wirklich lieben.« Sie holte Luft. »Im Moment hat er einfach nur Angst. Angst vor der Operation. Angst vor einer möglichen Behinderung. Angst davor, Sie zu ­verlieren. Diese Angst lässt ihn vergessen, wie sehr er Sie eigentlich liebt.«

*

Während einer Operation unterhielten sich Ärzte häufig nicht nur über Medizinisches. Sie sprachen auch gern über das Wetter. Je nach sportlicher Vorliebe über Fußball, Autorennen oder Leichtathletik. Auch Krankenhaus-Tratsch stand hoch im Kurs. Aus Erfahrung wusste Dr. Daniel Norden, dass es ein gutes Zeichen war, wenn über Pläne fürs Wochenende geredet oder Witze erzählt wurden. Das bedeutete, dass das Team nicht gestresst war. Dass der Eingriff gut lief.

Was also hatte es zu bedeuten, dass an diesem Morgen tiefes Schweigen im OP herrschte? Das einzige Geräusch machten die Überwachungsgeräte. Hin und wieder seufzte ein Kollege. Fiel ein Operationsinstrument klappernd in eine Nierenschale. Mehr war nicht zu hören. Dr. Norden saß am Kopfende des Patienten und blickte durch ein Mikroskop auf das Operationsfeld.

»Wie geht es ihm?«

Dr. Räther hatte die Geräte eben erst gecheckt. Trotzdem sah sie gleich wieder auf die Zahlen, die schneller hin und her sprangen als die Kurse an der Börse. Sie legte die Hand auf die Stirn des Patienten. Auf seine Wange.

»Bis jetzt ist alles normal.«

Dr. Matthias Weigand wusste, was er zu tun hatte. Er sah hinüber zur Kollegin Lekutat.

»Sie können jetzt das Kontrastmittel injizieren.«

Die Lekutat stand am OP-Tisch. Sie reagierte nicht.

»Kollegin Lekutat?«

Ein Zucken.

»Jaja, ist ja schon gut.« Sie griff nach der Spritze, gefüllt mit einer giftgrünen Flüssigkeit. Hob sie hoch und ließ den Inhalt langsam in den Zugang an Manfred Tucks Handgelenk laufen.

Dr. Weigand konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm über dem Operationstisch.

»In zwei Minuten kann es losgehen.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als es passierte.

Ein Keuchen, gefolgt von einem Klappern. Die Augen sämtlicher Anwesender richteten sich auf Christine Lekutat. Die Plastikspritze war ihr aus der Hand gefallen. Ihr rechter Arm hing herab.

»Milan essen Mittag Thailand«, stammelte sie. Drehte sich um und machte ein paar Schritte. Zog das rechte Bein hinter sich her. Bevor einer der Kollegen eingreifen konnte, verdrehte sie die Augen und fiel um. Wie ein nasser Sack klatschte sie auf den Boden.

Einen Moment lang stand die Zeit im Operationssaal still. Sogar die Geräte schienen eine Pause zu machen.

»Matthias, du übernimmst!« Daniel Nordens Stimme zerriss die Stille.

Mit einem Schlag war alles wieder da. Die Überwachungsgeräte piepten, das Beatmungsgerät schnaufte und pumpte. Daniel kniete neben Christine Lekutat. Er riss ihr die Maske vom Gesicht. Der hängende Mundwinkel war ein weiteres Indiz.

»Verdacht auf Schlaganfall. Schwester Kathrin, informieren Sie die Radiologie! Außerdem brauchen wir eine Liege. Schnell!«

Eilige Schritte quietschten auf dem Fliesenboden. Die Schiebetür zum OP öffnete sich. Leise Stimmen wehten herüber. Metall klapperte.

»Ihr anderen macht weiter«, wies Daniel seine Kollegen an. »Ich schicke eine Vertretung.«

Es brauchte zwei Schwestern und einen Pfleger, um Dr. Lekutat auf die Liege zu wuchten. Daniel Norden wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich vorher ein paar Mal ins Training gegangen«, schimpfte er auf dem Weg in die Radiologie.

Im Operationssaal herrschte dagegen Stille. Der Zwischenfall hatte nicht gerade für Erleichterung gesorgt. Besorgtes Tuscheln von links und rechts.

»Konzentration bitte, Herrschaften!«, mahnte Dr. Weigand seine Kollegen. Er hatte den Platz des Klinikchefs eingenommen. Blickte konzentriert durch das Mikroskop. »Frischer Neurotupfer für mich.«

»Der Tumor ist dargestellt.«

Wieder schoben sich die Türen auf. Der Neurochirurg Milan Aydin fuhr herein. Er hatte den Rollstuhl gegen ein elektrisches Modell getauscht, ganz auf seine Bedürfnisse abgestimmt.

Doch an diesem Tag konnte er sich nicht recht darüber freuen, seine Kollegen um ein ganzes Stück zu überragen.

Die Nachricht von Dr. Lekutats Zusammenbruch hatte ihn schwer getroffen. Auch wenn er unmöglich Schuld daran haben konnte. Oder etwa doch?

»Das Monitoring sieht gut aus«, erklärte Dr. Räther mit einem Blick auf den Bildschirm, auf dem die Hirnströme des Patienten dargestellt waren.

»Dann ist jetzt Showtime!« Matthias atmete tief durch. »Ich schalte um auf Blaufilter.« Angestrengt blickte er durch das Mikroskop. »Da ist er!«

»Wunderschön!« Dr. Aydin starrte auf den Bildschirm. »Ein Wunder der Natur.«

»Ehrlich gesagt finde ich einen Regenbogen schöner«, erwiderte Matthias. »Und harmloser. Tumorpinzette!« Er streckte die Hand aus.

Fühlte das kühle Metall durch den Handschuh. Führte das Instrument mit ruhiger Hand. Stück für Stück arbeitete er sich vorwärts.

Ein Alarm zerriss die Konzentration. Er zog eine Augenbraue hoch.

»Was ist los?«

Ramona Räther wusste Bescheid.

»Das Monitoring zeigt Auffälligkeiten.«

»Soll ich stoppen?«

»Wäre gut.« Mit einer Taschenlampe leuchtete sie in die Pupillen des Patienten. »Er krampft.« Der Beweis folgte, kaum dass sie ausgesprochen hatte. Sie drückte ein Medikament in den Zugang an seiner Hand. »Ganz ruhig, Herr Tuck. Sie schaffen das«, sprach sie beruhigend auf den schlafenden Mann ein. Sie schämte sich nicht dafür, gab es doch Beweise genug, dass das Unterbewusstsein der Patienten durchaus aufnahmefähig war. »Gleich ist es vorbei.«

Sie hatte nicht zuviel versprochen. Manfreds Gliedmaßen entspannten sich zusehends.

Dr. Weigand atmete auf.

»Schweiß.«

Eine Schwester trocknete seine die Stirn.

»Danke.« Und zu Dr. Räther gewandt: »War das alles?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Auf jeden Fall könnt ihr weitermachen.«

Matthias nickte dem Kollegen Aydin zu. »Weiter geht es.« Wieder der konzentrierte Blick durch das Mikroskop. »Pinzette!«

*

Dr. Daniel Norden wusste, dass er sich auf seine Mitarbeiter verlassen konnte. Während sie den Eingriff zu Ende brachten, konnte er sich in aller Ruhe um Christine Lekutat kümmern.

Er saß am Schreibtisch im Behandlungszimmer. Der Computerbildschirm warf das Licht auf sein Gesicht.

»Meine Vermutung war also richtig. Wir haben es mit einem Schlaganfall zu tun.«

Schwester Elena trat hinter ihn. Warf einen Blick über seine Schulter.

»Ein ischämischer Infarkt.«

»Ein ziemlich großes Areal.« Daniel fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Das hat zunächst einmal noch nichts zu bedeuten. Allerdings werden wir mit einer Lyse allein nicht weit kommen.« Er deutete auf eines der Bilder. »Siehst du? Die Halsschlagader ist stark verengt.«

»Eine PTA könnte helfen.«

Trotz aller Sorge um die Kollegin auf der Behandlungsliege musste Daniel lächeln. Er drehte sich zu Elena um.

»Wenn du mir auch noch die Definition aufsagst, bekommst du Lekutats Job. Auch ohne Medizinstudium.«

»Die perkutane transluminale Angioplastie, kurz PTA genannt, ist ein minimalinvasives Verfahren zur Erweiterung oder Wiedereröffnung von verengten beziehungsweise verschlossenen Blutgefäßen.« Auch Elena lächelte. »Aber den Job will ich trotzdem nicht. Ich bleibe lieber Pflegedienstleitung. Eric und die Kinder beklagen sich auch so schon genug, dass ich so selten zu Hause bin.«

»Du hättest dir einen Arzt als Mann suchen sollen.« Daniel zwinkerte der Freundin zu und konzentrierte sich wieder auf die Aufnahmen. »Dummerweise ist das noch nicht alles. Wie bei so vielen Schlaganfallpatienten ist auch das Herz in Mitleidenschaft gezogen.«

»Kein Wunder.« Elena betrachtete die schlafende Kollegin. Wie ein Berg lag sie auf der Behandlungsliege. Füllte die Breite komplett aus. »Schlaganfall und Herzinfarkt liegen ähnliche Auslöser zugrunde. Es kommt recht häufig vor, dass das eine das andere nach sich zieht.«

»Ehrlich gesagt wundert mich das bei ihrem Lebenswandel nicht.« Dr. Norden wiegte den Kopf. »Ich hatte das schon viel früher befürchtet.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Sie gründlich untersuchen und die PTA anordnen, sobald sich ihr Zustand stabilisiert hat. Und im Übrigen darauf warten, dass sie wieder aufwacht, damit ich ihr ins Gewissen reden kann.«

Mit einem Blick auf die schlafende Kollegin verzog Elena den Mund.

»Das hätte ich an deiner Stelle nicht so laut gesagt. Am Ende schläft sie genau deshalb einfach weiter.« Sie klopfte Daniel auf die Schulter und verließ das Zimmer. Höchste Zeit, nach ihrem Patienten Manfred Tuck zu sehen.

*

Die morgendliche Visite war vorüber. Felicitas Norden nutzte eine kurze Verschnaufpause, um Dieter Fuchs einen Besuch abzustatten. Die halbe Nacht war sie wachgelegen und hatte darüber nachgedacht, wie sie das fällige Gespräch führen sollte. Bis sie schließlich in Ermangelung einer besseren Idee beschlossen hatte, sich auf ihren Instinkt zu verlassen. Schweren Herzens klopfte sie an und betrat das Zimmer.

Der Verwaltungsdirektor saß kerzengerade am Tisch am Fenster. Wie an jedem Arbeitstag trug er das schlammfarbene Cordsakko mit den Lederflicken auf den Ellbogen. Eine farblich abgestimmte Hose. Straßenschuhe.

Aber dieser Tag war kein Arbeitstag.

»Guten Morgen, Herr Fuchs, wie fühlen Sie sich heute?« Fee schloss die Tür hinter sich.

Dieter blickte nur kurz von seinen Unterlagen hoch. Der Kugelschreiber in seiner Rechten zitterte leicht.

»Wenn Sie mir das nicht sagen können, werde ich dieses Zimmer verlassen und in mein Büro zurückkehren.« Daher also wehte der Wind!

Felicitas unterdrückte ein Seufzen. Sie trat an den Tisch.

»Darf ich?«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«

Sie setzte sich. Legte das Tablet auf den Tisch und schaltete es ein.

»Ich habe tatsächlich die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen.«

Dieter zog eine Augenbraue hoch.

»Und?«

»Ihr Blut weist minimale Störungen im Vitaminhaushalt auf, was möglicherweise Ihrer Ernährung geschuldet ist. Außerdem konnten die Kollegen im Labor Hormon- und Stoffwechselstörungen sowie Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und Störungen von Nieren und Leber ausschließen. Die körperliche Untersuchung hat auch keinen Hinweis auf eine Tumorerkrankung ergeben.«

Der Verwaltungsdirektor zögerte kurz. Dann legte er den Kugelschreiber weg und sah Felicitas an.

»Heißt das, ich bin gesund?«

»Leider nein.« Felicitas schüttelte den Kopf. »Bezüglich Ihrer Erkrankung habe ich einen Verdacht. Um ganz sicher zu gehen, muss ich Ihnen allerdings noch ein paar Fragen stellen.«

Fuchs hob den Arm und sah auf die Uhr.

»Wenn Sie nicht so lange um den heißen Brei herumgeredet hätten, könnte ich noch pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen.«

Fee unterdrückte ein Seufzen.

»Herr Fuchs, Sie haben durchblicken lassen, an Herzrasen und Unruhezuständen zu leiden. Außerdem schlafen Sie schlecht und kämpfen mit Konzentrationsstörungen. Haben Sie sonst irgendwelche Beschwerden?«

»Reicht das etwa noch nicht?«

Felicitas Norden überging diese Bemerkung mit einem freundlichen Lächeln.

»Wie sieht es aus mit Kopf- oder Magenschmerzen? Fühlen Sie sich erschöpft und ausgebrannt?«

»Ja, ja und ja. Also, was fehlt mir? Ich muss nämlich dringend mit Dr. Beckmann vom Trägerverein sprechen. Offenbar gibt es ein Problem. Das muss ich aus der Welt schaffen.«

Fee biss sich auf die Unterlippe.

»Herr Fuchs, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie unter dem sogenannten Burnout-Syndrom leiden.« Er öffnete den Mund, um zu widersprechen. Rasch fuhr sie fort. »Sie sind doch ein Mensch, der höchste Anforderungen an sich stellt.«

Er schloss den Mund wieder.

»Sie wollen das Beste aus allem und allen herausholen. Nicht zuletzt aus sich selbst.«

Ein vages Nicken.

»Sie vollbringen stets Höchstleistungen und verzeihen es sich nicht, Fehler zu machen.«

»Ganz genau.« Die Verwunderung in Dieters Gesicht war echt. »Woher wissen Sie das?«

»Ich habe eine psychiatrische Ausbildung genossen«, erinnerte Felicitas ihn. »Deshalb weiß ich auch, dass Sie sich als Spielball Ihrer Mitmenschen fühlen, was leider allzu oft auch stimmt.« Die Lüge ging ihr leicht über die Lippen. Denn wie hieß es so schön: Der Zweck heiligt die Mittel! Um den Verwaltungsdirektor vor dem endgültigen Zusammenbruch zu bewahren, tat sie es ohne Skrupel. Sie beugte sich vor und winkte ihn zu sich. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Herr Beckmann nichts Gutes im Schilde führt«, raunte sie ihm zu. »Er wird seinen Plan ohne Rücksicht auf Verluste durchziehen. Und wie so oft werden Sie der Sündenbock sein.«

Dieters Kinn zitterte. Doch er sagte nichts.

»Noch haben Sie die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren und mit Anstand und Würde aus der Sache herauszukommen.«

»Und wie?« Dieters Stimme war rau.

Fees Herz schlug schneller. Ihre Handflächen wurden feucht. Ihre Kehle war trocken. Bis jetzt hatte sie nur um den heißen Brei herumgeredet. Hatte sie dem Verwaltungsdirektor genug Honig ums Maul geschmiert?

»Indem Sie sich aus gesundheitlichen Gründen aus der Klinik zurückzuziehen.« Fee Norden hielt die Luft an und schloss die Augen.

Wartete auf den Vulkanausbruch, der sie mit Lava und Asche überschütten würde. Aber nichts dergleichen geschah. Vorsichtig öffnete sie die Augen wieder. Blinzelte zu Dieter hinüber.

Der Verwaltungsdirektor saß am Tisch. Seine Hände lagen nebeneinander auf den Unterlagen. Sie zitterten leicht. Er sah nicht etwa aus dem Fenster und bewunderte das Wolkenspiel am Himmel. Stattdessen fixierte er einen Fleck an der Wand. Ein Muskel über dem Augenlid zuckte.

»Meine Tochter. Beckmann will meine Tochter, nicht wahr?«, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit.

»Ja. Allerdings bin ich mir sehr sicher, dass Sie an einem Burnout-Syndrom leiden. Wir arbeiten mit einer psychosomatischen Klinik zusammen, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Ich kann Ihnen anbieten, Sie an die Kollegen zu überweisen. Dort sind Sie in den besten Händen. Können sich erholen und nebenbei in Ruhe ein neues Betätigungsfeld suchen. Und das alles, ohne dass Ihr Ruf beschädigt wird.«

Wieder Schweigen. Eine halbe Ewigkeit lang. Fees Pause war längst vorbei. Doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen.

»Das klingt nach einem Plan.« Endlich wandte Dieter Fuchs den Kopf und sah sie an. »Ich bin einverstanden. Leiten Sie alles Notwendige in die Wege. Und jetzt gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Ich glaube nicht, dass Sie für das hier bezahlt werden.«

War das der Dank für all ihre Bemühungen? Für die schlaflose Nacht? Doch dann bemerkte Fee ein Blitzen in seinen Augen, das vorher nicht da gewesen war. Mehr Dank konnte sie von Dieter Fuchs nicht erwarten.

*

Der Überwachungsmonitor tutete leise vor sich hin. Unermüdlich fuhren die Linien über den Bildschirm.

Das Beatmungsgerät schnaufte wie ein Blasebalg. Dr. Norden stand am Bett seines Patienten. Er drehte am Rädchen der Infusion. Betrachtete den schlafenden Manfred. Die Maske mit dem Beatmungsschlauch bedeckte das halbe Gesicht. Eigentlich hätte er schon längst entfernt werden sollen. Wäre da nicht ein Problem gewesen.

»Herr Tuck!« Daniel klopfte sanft auf Manfreds Wange. »Hallo, Herr Tuck. Können Sie mich hören?«

Schwester Elena stand neben ihm.

»Und?«

»Immer noch nichts«, seufzte Daniel Norden. »Ich habe gerade noch einmal mit Dr. Räther telefoniert. Die Narkose verlief ohne Komplikationen. Bis auf diesen einen Krampfanfall war Herr Tuck stabil.« Wieder der Blick hinab auf den schlafenden Mann. »Warum will er nicht aufwachen?«

»Manchmal dauert es eben ein bisschen«, versuchte Schwester Elena, ihren Freund zu trösten. »Manchmal denke ich, diese schnelllebige Zeit hat uns viel zu ungeduldig werden lassen. Dabei gibt es Dinge, die einfach ihre Zeit brauchen.«

Dr. Norden rang sich ein Lächeln ab.

»Ich würde dir wirklich gern recht geben, wäre da nicht diese Patientenverfügung.«

Elena schluckte.

»Was genau steht darin?«

»Im Augenblick erinnere ich mich nur an einen Punkt: Wenn er nicht allein atmen kann, soll ich die Geräte abschalten.«

»Oh, nein.« Elena schlug die Hand vor den Mund. Der schlafende Manni verschwamm vor ihren Augen. Vermischte sich mit ihrer Erinnerung an Eva. Nicht auszudenken, was sie dazu sagen würde.

»Wir müssen seine Frau informieren.« Daniel Nordens Stimme verriet seine Erschütterung.

»Ich kümmere mich darum«, versprach Elena und wollte sich schon auf den Weg machen, als er sie zurückhielt.

»Christine Lekutat sollte gleich aus dem OP kommen. Ich will hören, wie es gelaufen ist.« Es war ihm anzusehen, dass ihm diese Worte nicht leicht fielen. Dass er etwas Zeit gebraucht hätte. Zeit, um innezuhalten. Nachzudenken. Zu trauern. Zu verarbeiten. Doch an einem Ort wie diesem durfte man keine Zeit verlieren. Nicht hier, wo Menschen auf Hilfe hofften. Wo eine Minute über Leben und Tod entscheiden konnte. »In etwa einer halben Stunde bin ich zurück. Denkst du, das reicht für einen Abschied?«

Elena biss sich auf die Unterlippe.

»Kann man je Zeit genug für ein letztes Mal haben?«

*

Entgegen seiner Hoffnung musste Dr. Norden nicht lange im Vorraum des Operationsbereichs warten.

»Und? Wie sieht es aus?«, fragte er die Herzspezialistin Katharina Linhardt, die den Eingriff bei Dr. Lekutat vorgenommen hatte.

Er trat neben sie ans Waschbecken und sah ihr dabei zu, wie sie sich die Hände wusch.

»Der Eingriff ist gut verlaufen. Wir konnten die Engstelle aufweiten und die Durchblutung in vollem Umfang wiederherstellen.«

Daniel atmetet auf.

»Immerhin etwas.«

Sie stellte das Wasser ab und nahm dankend das Handtuch, das er ihr reichte.

»Ihnen muss ich ja sicher nicht erzählen, dass das Problem damit nicht behoben ist.« Das weiche Frottee fühlte sich gut an auf der gestressten Haut.

Schade, dass es so etwas nicht auch für das Gemüt gab. Einen wildfremden Patienten zu behandeln, war die eine Sache. Einen Kollegen, mit dem man schon viele Schlachten geschlagen hatte, eine ganz andere.

»Wir wissen noch nichts über die Schäden, die der Schlaganfall angerichtet hat«, fuhr Katharina fort. »Außerdem haben die Untersuchungen ergeben, dass es um zwei ihrer Herzkranzgefäße nicht allzu gut bestellt ist. Am liebsten hätte ich das gleich noch mitgemacht.« Sie zielte. Das Handtuch landete im Korb für die Schmutzwäsche. »Wenn ich keine Lust mehr auf Herzen habe, wechsele ich zum Basketball«, sagte sie ohne ein Lächeln.

Im Normalfall war Dr. Norden für jeden Scherz zu haben. Diesmal war er mit den Gedanken aber woanders. Er kannte das Problem, von dem Katharina Linhardt sprach.

»Manchmal weiß man gar nicht, welchen Feind man zuerst angreifen soll.«

Wie Sahne sprudelte die Handcreme aus dem Spender auf Katharinas Haut. Einen Moment lang wähnte sich Daniel in einem Orangenhain. Leider verflog der Duft viel zu schnell wieder.

»Wussten Sie, dass statistisch gesehen die Hälfte der Patienten nach einem Schlaganfall auf Hilfe angewiesen ist?«, fragte Dr. Linhardt.

»Können Sie sich die Kollegin Lekutat als Pflegefall vorstellen?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Pflegekraft freiwillig länger als ein paar Tage bei ihr bleibt«, erwiderte Katharina schmunzelnd.

Endlich lächelte auch Daniel.

»Gut möglich, dass Sie recht haben.« Seite an Seite machten sie sich auf den Weg zum Klinikkiosk. Nach diesem Schock hatten sie sich eine Stärkung verdient.

Katharina entschied sich für Kaffee mit Hafermilch und Vollkorn-Karottenkuchen.

Daniels Miene sprach Bände.

»Ein Glück, dass die Kollegin Lekutat das nicht sieht. Ein passender Spruch wäre Ihnen sicher.«

»Dabei würde es Christine nicht schaden, sich ein paar Gedanken über ihre Ernährung zu machen. Sonst ist alles, was wir tun, vergebliche Liebesmühe.«

»Eines nach dem anderen.« Ungeachtet des strengen Blicks löffelte Daniel Zucker in seinen Kaffee. »Zuerst einmal müssen wir sie überhaupt wieder auf die Beine bekommen.« Er nippte am Kaffee. Süß und stark, mit einem schönen Nussaroma, genau wie er es mochte. »Wie wollen Sie weiter verfahren?«

»Sobald sie aufgewacht ist und wir wissen, wie sie den ersten Eingriff überstanden hat, kümmere ich mich um ihr Herz. Natürlich hoffe ich, dass wir das Problem der Herzkranzgefäße mit Stents in den Griff bekommen.«

»Die Alternative wären Bypässe.«

»So weit wird es hoffentlich nicht kommen«, erwiderte Dr. Linhardt und schob ein Stück Karottenkuchen in den Mund.

»Wie geht es Dr. Lekutat?«

Eine Stimme an ihrem Ohr ließ sie zusammenzucken.

Beschäftigt mit den Gedanken an die weitere Behandlung hatten die beiden Ärzte nicht bemerkt, dass Milan Aydin seinen Rollstuhl an den Tisch manövriert hatte.

Katharina Linhardt erschrak so sehr, dass sie sich verschluckte. Sie hustete, bis ihr die Tränen kamen.

»Müssen Sie sich so anschleichen?«, krächzte sie, als sie wieder Luft bekam.

Milan Aydin warf den Kopf in den Nacken und lachte ein bisschen zu laut.

»Ich habe ja schon alles Mögliche von Frauen zu hören bekommen. Aber dass ich mich anschleiche …« Immer noch lachend schüttelte er den Kopf. »Diesen Vorwurf hat mir noch keine gemacht.«

»Einmal ist immer das erste Mal.« Katha beruhigte ihre Kehle mit einem Schluck Kaffee.

Diese Gelegenheit nutzte Dr. Norden.

»Sagen Sie bloß, Sie hegen eine heimliche Vorliebe für die Kollegin Lekutat?«

Es hatte ein Scherz sein sollen. Doch Milan verging das Lachen.

»Christine wollte mit mir zum Mittagessen gehen, und ich habe ihr einen Korb gegeben. Vielleicht ist sie deshalb …« Der Rest des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.

»Ihren Wirkung auf Frauen in allen Ehren«, spottete Dr. Linhardt gutmütig und kratzte den letzten Rest Kuchen vom Teller. »Aber einen Schlaganfall können Sie noch nicht auslösen.«

*

Auf dem hellblau-weiß gestreiften Kopfkissen hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. Und immer noch tropften die Tränen weiter und ließen ihn wachsen. Doch weder Eva noch sonst irgendjemand achtete darauf. Daniel Norden war noch nicht zurück. Und Schwester Elena stand in der Ecke und versuchte, sich unsichtbar zu machen.

»Hast du gewusst, dass du nicht wieder aufwachst? Vielleicht sogar geplant, als du dich von mir getrennt hast?«, schluchzte Eva. Unablässig streichelte sie die Wange ihres schlafenden Mannes. »Du Mistkerl! Umbringen könnte ich dich dafür.« Eva wischte sich mit dem Pulliärmel übers Gesicht. Ihr verschwommener Blick suchte und fand die Schwester. »Können Sie das verstehen? Dass ich ihn hasse für das, was er mir jetzt antut? Dabei liebe ich ihn doch.«

Elena holte tief Luft.

»Letztendlich wissen wir beide nicht, wie sich Ihr Mann gefühlt hat. Wir waren noch nicht in dieser Situation, zumindest ich nicht. Ich hatte noch keine so schwierige Operation mit ungewissem Ausgang vor mir.«

»Ich auch nicht«, gestand Eva offenherzig.

Schwester Elena lächelte.

»Sehen Sie. Deshalb haben wir keine Ahnung, welche Gedanken Ihrem Mann durch den Kopf gegangen sind, als er seine Entscheidung traf.«

Eva nickte und beugte sich wieder über Manni. Setzte ihr Selbstgespräch fort. Elena dagegen hörte die Schritte auf dem Flur. Bekam eine Gänsehaut. Vor der Tür verstummte das Quietschen. Die Klinke wurde heruntergedrückt, Daniel Norden schlüpfte durch die Tür. Elena schickte ihrem Freund und Chef einen verzweifelten Blick. Er nickte. Trat hinter Eva. Sie tat, als bemerke sie ihn nicht.

»Frau Tuck.«

Eva schüttelte den Kopf.

»Nein. Noch nicht. Ich kann ihn noch nicht gehen lassen.« Es grenzte an ein Wunder, dass nicht noch mehr Tränen flossen. Doch der Vorrat schien aufgebraucht.

Dr. Norden presste die Lippen aufeinander. Schon lange war sein Herz nicht mehr so schwer gewesen. Aber auch das gehörte zum Alltag eines Klinikarztes.

»Wir haben noch etwas Zeit. Aber Sie sollten sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass es … dass es zu Ende geht.« Ein letzter Blick. Daniel wandte sich ab. Wollte das Zimmer verlassen, als er einen Widerstand am Ärmel fühlte. Er drehte sich zu Elena um.

Ohne ein Wort deutete sie auf Manfreds Zeigefinger, an dem das Pulsoximeter befestigt war. Daniel wusste sofort, was sie meinte. Der Finger zuckte. Auf dem Weg zum Bett zog er die Taschenlampe aus der Kitteltasche. Er schob Eva weg. Zog Manfreds Augenlid hoch und leuchtete in das Auge. Zuerst in das linke. Dann in das rechte. Und wieder in das linke. Es gab keinen Zweifel!

»Willkommen zurück, Herr Tuck.« Dr. Norden lachte vor Erleichterung.

»Manni. Mein Manni!« Falsch gedacht! Es waren doch noch Tränen übrig. Offenbar gab es einen Extra-Vorrat für Freudentränen. Eva lachte und weinte gleichzeitig. »Oh, Manni!«

Manfreds Augenlider flatterten. Er versuchte zu sprechen. Schwester Elena erkannte das Problem.

»Den Tubus sind Sie gleich los.« Sie löste den Beatmungsschlauch von der Maske. Griff nach einem Papiertuch und zog vorsichtig das verbliebene Stück Schlauch aus der Lunge. Zuletzt entfernte sie die Maske.

Manfred hustete und keuchte. Aber er atmete selbstständig. Doch die nächste Hürde wartete schon. Konnte er auch sprechen? Arme und Beine bewegen?

*

»Kann mal jemand dieses Piepen ausschalten? Das ist ja nervtötend«, krächzte Christine Lekutat mit geschlossenen Augen.

Katharina Linhardt klappte die Patientenakte zu, steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche und drehte sich zu ihrer Patientin um.

»Wenn Sie schon wieder meckern können, scheint es Ihnen ja gut zu gehen.«

Christine blinzelte ins gedimmte Licht.

»Was ist passiert?«

»Sie sind im OP mit einem ischämischen Infarkt zusammengeklappt.« Dr. Linhardt griff nach Christines rechter Hand und drückte sie. »Spüren Sie das?«

»Ein Besuch im Fitness-Studio könnte mal wieder nicht schaden.«

Katha lachte.

»Das war der Plan für heute Nachmittag. Aber Sie haben mir leider einen Strich durch die Rechnung gemacht.«

»Jetzt bin ich wieder schuld.«

Katharina war ans Fußende getreten und schlug die Bettdecke zurück.

»Dafür müssen Sie jetzt Gymnastik für mich machen«, verlangte sie. »Wackeln Sie bitte mit den Zehen. Gut.« Sie nickte zufrieden, auch wenn sich Wehmut in ihre Freude mischte. »Sieht so aus, als hätten Sie Glück im Unglück gehabt.«

»Was ist mit dem pelzigen Gefühl in den Fingern und Zehen?« Christine Lekutat hob die Hand und bewegte die Finger.

»Die Zeit wird zeigen, ob sich das wieder gibt.«

Christine ließ die Hand wieder sinken. Etwas in Katharinas Stimme irritierte sie.

»Was ist? Haben Sie Zahnschmerzen?«

Katha holte tief Luft. Wenn die Kollegin schon fragte, konnte sie auch gleich die Wahrheit sagen.

»Es gibt da noch ein Problem. Sobald Sie wieder halbwegs fit sind, müssen wir einen Eingriff an Ihrem Herzen vornhmen.«

Dr. Lekutat zog eine Augenbraue hoch.

»Was stimmt nicht mit meinem Herz?«

»Zwei Ihrer Herzkranzgefäße machen uns Sorgen.«

»Dann bringen Sie das in Ordnung. Ich will so schnell wie möglich wieder arbeiten.«

»Das kann ich leider nicht versprechen. Wenn Sie all das überstanden haben, brauchen Sie erst einmal Ruhe.« Und eine anständige Ernährungsberaterin! Aber das sagte sie nicht laut. Sie nickte der Kollegin im Bett zu und wandte sich ab. Hatte gerade die Tür erreicht, als ein Alarm die Luft zerriss. Mit zwei, drei großen Schritten kehrte sie ans Bett zurück. Auf einem der Monitore blinkte ein rotes Rechteck. »WARNING«!

»Verdammt!«, schimpfte Katha und beugte sich über Christine. »Kollegin Lekutat!«

Keine Reaktion.

»Dr. Lekutat! Hören Sie mich?«

Wieder nichts. Ein neuer Alarm ertönte. Katharina Linhardt musste nicht auf den Monitor sehen, um zu wissen, dass das Herz flimmerte.

»Defi, schnell!«, rief sie der Schwester zu, die, angelockt vom Alarm, ins Zimmer stürzte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder.

Ein Ruck, und das Klinikhemd zerriss. Dr. Linhardt begann mit der Herzdruckmassage.

Die Schwester kehrte zurück. Katharina bestrich die Elektroden mit Gel.

»Und weg!« Ihr Blick flog hinüber zum Monitor. »Noch einmal. Und weg!«

Der Alarm wechselte in ein regelmäßiges Piepen. Katharina Linhardt atmete auf. Fuhr sich mit dem Kittelärmel über die Stirn.

»Das war knapp.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Schwester Rosi.

Über die Antwort dachte Dr. Linhardt nicht lange nach.

»Trommeln Sie ein OP-Team zusammen. Wir müssen sofort operieren.«

*

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nicht wiedersehen will«, krächzte Manfred Tuck. Sein Hals war rau vom Tubus und schmerzte. »Warum bist du immer noch hier?«

»Was glaubst du alter Esel denn?« Evas Stimme war süß wie Honig. »Weil ich dich liebe. Und weil ich alt mit dir werden will. Noch viel älter, als du jetzt bist.«

Manni blinzelte seine Eva an. War er etwa doch im Himmel gelandet?

»Wirklich?« Er hustete. »Dabei dachte ich immer, du bist nur bei mir, weil ich dir ein schönes Leben, Status und Anerkennung bieten kann.«

»Wenn du so denkst, dann bist du nicht nur ein alter, sondern auch noch dummer Esel.« Eva kicherte.

Zupfte ihren Manni am Ohrläppchen.

»Ganz genau! Und was willst du jetzt mit diesem dummen, alten, gebrechlichen Esel anfangen?«

»Ganz einfach. Ich sorge dafür, dass du wieder auf die Beine kommst.« Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Ihr liebevoller Blick streichelte sein Gesicht.

Dabei war er so sicher gewesen, nie mehr wieder so angesehen zu werden. Manni blinzelte tapfer gegen die Tränen an, die über die Ufer zu treten drohten.

»Aber …«

»Kein Aber.« Eva lächelte nicht mehr. »Ich liebe dich, Manni. Und ich will mit dir zusammenbleiben. Das wusste ich auch schon, als ich nach der Operation an deinem Bett gesessen bin. Als ich nicht wusste, ob du mich je wieder umarmen, je wieder mit mir shoppen gehen kannst.«

»Eva! Meine Eva!«, erwiderte Manfred rau. »Schwester Elena hatte doch recht: Ich habe dich unterschätzt.« Er drehte den Kopf, um sie besser ansehen zu können. »Aber wie siehst du überhaupt aus? Völlig verändert. So hätte ich dich bestimmt nicht geheiratet.« Die vertraute Leichtigkeit zwischen ihnen war zurück. Was für ein wunderbares Gefühl! Fast so wunderbar wie die Nachricht der Ärzte, dass er wieder ganz gesund werden würde.

»Man sieht immer so aus, wie man sich fühlt«, klärte Eva ihren Mann auf.

»Dann musst du dich bis jetzt verdammt gut gefühlt haben mit mir«, bemerkte Manfred nachdenklich.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob Eva sich vom Bett.

Seine Augen weiteten sich vor Schreck.

»Wo gehst du hin?«

An der Tür drehte sie sich noch einmal um und schickte ihrem Mann eine Kusshand.

»Keine Angst. Ich bin bald wieder da!«

»Hoffentlich.« Vor nicht allzu langer Zeit wäre Manfred aufgesprungen, wäre seiner Frau nachgelaufen. In seinem Zustand blieb ihm aber nichts weiter übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Er legte den Kopf zurück in die Kissen und schloss die Augen. Dachte an Eva. Seine wunderschöne, junge Eva, um die ihn so viele Männer beneideten. Aber nicht nur aus diesem Grund würde er sie immer wieder … Die Gedanken flogen davon, und Sekunden später war er mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.

*

»Ja. Ja, das klingt hervorragend. Dann werde ich alles Nötige in die Wege leiten«, versprach Felicitas Norden. Sie beendete das Gespräch. Legte den Hörer zurück auf die Gabel. Ein kurzer Blick in den Terminkalender. Im Augenblick wartete niemand auf sie. Eine gute Gelegenheit, um ihren Mann zu entführen.

»Was verschafft mir die Ehre, schöne Frau?«, fragte Daniel und unterschrieb den letzten Brief in der Mappe, bevor er sie zuklappte und den Füller zur Seite legte.

»Lass uns ein paar Schritte gehen. Ich muss dir etwas erzählen.«

Ein paar Minuten später knirschte Kies unter ihren Füßen. Vor ihnen schlängelte sich der Weg wie eine Schlange durch die Gartenanlage. An diesem späten Nachmittag waren sie allein hier. Kein Wunder. Ein kühler Lufthauch zerrte an den Blättern der Bäume. Unter der großen Kastanie lagen ein paar braune Kugeln neben stacheligen Schalen. Fee mochte sie besonders gern, wenn sie noch glänzten wie frisch poliert. Wenn das Leben noch keine Spuren auf ihnen hinterlassen hatte. Sie fand eine stachelige Kugel und brach sie auf. Pulte die Kastanie aus der schützenden Hülle.

»Wie gut sie sich anfühlt.«

»Fast so gut wie du.« Daniel zog seine Frau an sich und küsste sie.

Sie lachte an seinen Lippen. Als sie weitergingen, behielt sie die Kastanie in der Hand.

»Ich habe mit Fuchs gesprochen«, verriet sie endlich ihr Geheimnis. »Er ist einverstanden mit unserer Idee.«

»Wirklich?« Daniels Überraschung war echt. »Wie hast du das denn angestellt? Wenn ich ihm mit so einem Vorschlag gekommen wäre, wäre er mir mit Sicherheit an die Gurgel gegangen.«

»Tja, die Waffen einer Frau sind eben nicht zu unterschätzen.«

Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»Ist Fuchs gegen solche Methoden nicht immun?«

»Den Menschen möchte ich sehen, der nicht empfänglich ist für Lob und Anerkennung.«

»Ganz schön raffiniert.« Daniel schnalzte mit der Zunge. »Dabei dachte ich, ich kenne dich ganz gut.«

»Schön, dass ich dich immer noch überraschen kann.« Genug geplänkelt. Fee hatte nicht ewig Zeit. »Nachdem ich meinen Teil des Plans erfüllt habe, bist du jetzt dran. Kannst du bitte Dr. Beckmann anrufen und ihm mitteilen, dass Dieter Fuchs aus gesundheitlichen Gründen nicht länger für den Posten des Verwaltungsdirektors zur Verfügung steht?«

Sie waren am Ende der Runde angelangt. Daniel Norden hielt seiner Frau die Tür auf. Warum grinste er so verschlagen?

»Schon erledigt.«

»Wie bitte?« Fee drehte sich zu ihm um. »Aber …«

Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.

»Ich wusste zwar nicht, wie du Fuchs von seinem Rückzug überzeugen würdest. Aber ich hatte keinen Zweifel an deinem Erfolg.«

»Jetzt bin ich sprachlos«, entfuhr es Fee.

»Wie schön, dass auch ich dich immer noch überraschen kann«, erwiderte Daniel, legte den Arm um ihre Schultern und begleitete sie zurück in die Pädiatrie.

*

»Hast du mitbekommen, was heute mit Dr. Lekutat passiert ist?« Matthias Weigand stand im Aufenthaltsraum der Ärzte und schenkte sich den letzten Rest Kaffee aus der Maschine aus. Er schmeckte genauso verbrannt, wie er roch. Offenbar stand er seit Stunden auf der Warmhalteplatte.

Sophie Petzold saß am Tisch und knabberte an einem der Kekse, die Dieter Fuchs gekauft hatte. Nebenbei blätterte sie eine Fachzeitschrift durch.

»Christine Lekutat hat heute während einer Meningeom-Operation einen ischämischen Infarkt erlitten. Anschließend hat unsere Herzspezialistin Katharina Linhardt eine PTA durchgeführt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war«, antwortete sie und blätterte um. »Immerhin ist nicht auszuschließen, dass der Herzinfarkt von der PTA ausgelöst wurde.«

Da war sie wieder! Seine rechthaberische Sophie. Matthias hatte sie fast vermisst.

»Darf ich dich daran erinnern, dass die Kollegin Linhardt unsere Herzspezialistin und somit eine sehr erfahrene Ärztin ist?«

»Na und? Auch Herzspezialisten sind nur Menschen«, erwidere Sophie lapidar und ohne hochzusehen.

»Und was hätte Dr. Linhardt deiner Ansicht nach tun sollen?«, fragte Matthias weiter.

»Ich hätte es zuerst mit einer medikamentösen Fibrinolyse versucht. Das Risiko einer PTA war einfach zu hoch.«

Matthias Weigand spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Das ist ja mal wieder typisch. Frau Doktor Petzold weiß alles besser.«

»Natürlich.« Sophie klappte die Zeitschrift zu und warf sie auf den Tisch. Sie fixierte ihren Verlobten wie ein Torero den Stier. »Im Gegensatz zu euch alten Hasen bin ich durch meine Facharztausbildung auf der Höhe der Zeit.«

Das war ja wohl die Höhe!

In dem Maß, in dem sich Matthias Weigands Magen verknotete, zogen sich seine Mundwinkel nach unten. Hatte sie denn wirklich nichts gelernt aus den Auseinandersetzungen der Vergangenheit? Sollte alles werden wie früher? Alles umsonst gewesen sein? Er sah Sophie zu, wie sie aufstand und zum Kühlschrank ging.

»Jetzt fang bloß nicht schon wieder damit an!«, schimpfte er. »Nicht umsonst war ich neulich erst auf der Jahresversammlung der Internisten und nehme laufend an Fortbildungen teil.«

Sophie wandte ihrem Verlobten den Rücken zu. Sie studierte den Inhalt des Kühlschranks, als hätte sie nie Faszinierenderes gesehen.

»Trotzdem denke ich, dass ich durch meine gerade erst abgeschlossene Ausbildung am Puls der Zeit bin«, erwiderte sie ungerührt. Nahm einen Joghurt zur Hand, studierte das Etikett und stellte ihn wieder zurück. »Im Gegensatz zu euch bin ich in den Genuss modernster Unterrichtsmethoden gekommen, konnte zahlreiche Operationen durch Video-Konferenzen live verfolgen und verschiedenste Behandlungsmethoden an einem Computermodell simulieren.«

»Das bedeutet aber noch lange nicht, dass du ein besserer Arzt bist als wir anderen.«

»Stimmt auffallend. Wenn, dann bin ich eine bessere Ärztin.«

Etwas an Sophies Stimme ließ Matthias aufhorchen.

»Sag mal …« Er packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Du nimmst mich auf den Arm!«

In diesem Moment hielt Sophie es nicht länger aus. Sie prustete los und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen.

»Reingefallen! Reingefallen!«, freute sie sich und klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen. »Jetzt sind wir quitt.«

»Was habe ich dir denn getan, dass du mich dermaßen an der Nase herumführen musst?«, verlangte Matthias zu wissen. Noch wusste er nicht, ob er wütend oder erleichtert sein sollte.

Sophie stemmte die Hände in die Hüften und schob das Kinn vor.

»Das war die Retourkutsche dafür, dass du mir zum Facharzt nur ein lausiges Namensschild geschenkt hast statt der Kette, die ich mir so sehr gewünscht habe.«

Daher also wehte der Wind!

Matthias lachte und schloss seine Verlobte in die Arme.

»Was bist du doch für ein freches, kleines Luder. Und ich dachte schon, ich hätte dich wenigstens ein bisschen gezähmt.«

»Das willst du doch gar nicht«, raunte Sophie an seinem Hals.

»Stimmt auch wieder.« Er löste sich aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück.

Erst jetzt spürte Sophie etwas Kühles am Hals. Sie hob die Hand.

»Was ist … Aber … Was hast du getan?« Sie musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, was Matthias ihr klammheimlich um den Hals gelegt hatte.

»Weißt du eigentlich, dass du der größte Spielverderber aller Zeiten bist?« Er beugte sich vor und rieb seine Nasenspitze an ihrer. »Nach der Reklamation von gestern Abend hatte ich vor, dir die Kette heute Abend bei einem romantischen Abendessen zu Hause zu überreichen. Ganz so, wie du es dir gewünscht hast. Aber wenn du so ungeduldig bist …«

Weiter kam er nicht. Sophie fiel ihm um den Hals und küsste ihn, als gäbe es kein Morgen mehr. Diesmal beschwerte sich Matthias nicht. Ihm war es egal, wann sie ihn küsste. Hauptsache, sie tat es. Und sie tat es mit Leidenschaft.

*

Mit quietschenden Bremsen hielt Dr. Milan Aydin den Rollstuhl vor dem Krankenzimmer an. Er sah von links nach rechts. Ein Glück! Keine Menschenseele war zu sehen. Das konnte ihm nur recht sein. Niemand musste erfahren, was er jetzt tat. Ein Stoß, und die Tür öffnete sich so weit, dass er ins Zimmer fahren konnte. Ein weiterer Stoß, und sie fiel mit leisem Klacken ins Schloss. Erst dann rollte er ans Bett, in dem Christine Lekutat lag und schlief. Ein stiller Eisberg in einer blinkenden, piependen Stadt.

»Hallo, Kollegin!« Obwohl er nicht sicher war, ob seine Worte wirklich zu ihr vordrangen, war er nervös. Seine raue Stimme verriet ihn. Wie seltsam, das quirlige Kraftpaket so still daliegen zu sehen! »Ich wollte mal nach Ihnen sehen.« Milan räusperte sich. »Ihnen von der Operation erzählen, vor der Sie sich erfolgreich gedrückt haben. Stellen Sie sich vor: Dem Patienten geht es gut. Er ist aufgewacht. Und obwohl der Kollege Weigand den Eingriff geleitet hat, funktioniert Herr Tuck wieder einwandfrei. Ist das nicht erstaunlich?« Milan lachte leise. »Wirklich schade, dass Sie das alles verpassen.« Das Lachen wurde zum Lächeln und versickerte schließlich ganz. Er betrachtete das Gesicht der Kollegin, rund und blass wie ein Laib Butterkäse. Über ihrem Kinn klebte ein Pflaster. Es hielt den Beatmungsschlauch an seinem Platz. Das war ein klarer Vorteil unattraktiver Menschen: Sie konnte nichts entstellen. Im nächsten Moment schämte sich Milan für diesen Gedanken. Schließlich war er hergekommen, um sich bei Christine Lekutat zu entschuldigen. Vielleicht war er wirklich zu hart gewesen. Hätte er ihr wenigstens die Freundschaft anbieten sollen, statt sie knallhart abzuservieren?

Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er den Besucher nicht bemerkte, der das Zimmer betrat.

Im ersten Moment wunderte sich Dr. Norden. Bis er sich an das Gespräch zwischen Aydin und der Herzspezialistin Linhardt erinnerte. Er trat neben seinen Kollegen und warf einen Blick auf die Werte auf dem Geräteturm.

»Und? Irgendwas Neues?«

Milan zuckte zusammen. Doch er hatte sich schnell wieder im Griff.

»Ach, Chef, Sie sind es. Ich bin zufällig vorbeigekommen und dachte, ich schaue mal rein.«

Daniel verkniff sich einen Kommentar. Im Augenblick gab es wichtigere Dinge als Kliniktratsch.

»Die Kollegin Linhardt ist mit mir einer Meinung, dass wir Dr. Lekutat langsam aufwachen lassen sollten. Assistieren Sie mir?« Daniel drehte am Rädchen der Infusion.

Mist! Er saß in der Falle. Eigentlich hatte er seinen Besuch zumindest vor Christine verheimlichen wollen.

»Natürlich, Chef.« Milan zupfte ein Papiertuch aus dem Spender und hielt ihn unter den Beatmungsschlauch.

Eine behutsame Bewegung und Christine atmete allein weiter. Daniel legte die Beatmungsutensilien in eine Nierenschale. Er setzte das Stethoskop auf die Ohren und hörte Dr. Lekutats Lunge ab.

»Atmung unregelmäßig«, murmelte er vor sich hin. »Beruhigt sich aber langsam.« Er hängte das Stethoskop um den Hals. Sah hinüber zu den Geräten. »Der Puls könnte auch gleichmäßiger sein.« Er zog die kleine Taschenlampe aus der Brusttasche. Leuchtete zuerst in das linke, dann in das rechte Auge der Kollegin. »Reflexe sind da!« Immerhin war das eine gute Nachricht.

Milan atmete erleichtert auf.

»Dann … Na, dann kann ich ja jetzt gehen … Ich meine fahren.« Er nickte dem Chef zu. Rollte rückwärts auf die Tür zu. Öffnete sie mit der Linken und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Was sagte man dazu? Doch Daniel Norden hatte im Augenblick Wichtigeres zu tun, als darüber nachzudenken. Er zog einen Hocker ans Bett und setzte sich an Christines Seite. Musterte ihr Gesicht. Bemerkte die feuchte Spur an ihrem Mundwinkel. Er zupfte ein Papiertuch aus dem Spender und betupfte Wange und Lippen. Monoton tutete der Monitor im Hintergrund. Ein beruhigendes Geräusch. Gerade richtig, um die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen und dem Schicksal wieder einmal dankbar zu sein.

*

»Moment. Habe ich das richtig verstanden?« Schwester Elena saß in einem der Loungesessel in der Lobby der Behnisch-Klinik und musterte ihren Kollegen Milan Aydin. »Du dachtest, die Lekutat sei verliebt in dich, und wolltest deshalb nicht mit ihr essen gehen?«

»Nein. Ja. Vielleicht. Ach, was weiß ich denn?« Ungeduldig schüttelte Milan den Kopf. »Ich glaube, ich habe da was falsch verstanden. Christine wollte einfach nur so mit mir essen gehen, weil allein essen nun einmal keinen Spaß macht. Aber ich habe ihre Einladung in den falschen Hals bekommen.« Er setzte die Wasserflasche an die Lippen und trank einen großen Schluck.

Elena kicherte.

»Du hast recht. Es ist ja auch schwer vorstellbar, dass es ein weibliches Wesen auf dieser Welt geben könnte, das nicht in dich verliebt ist.«

»Mach dich nur lustig über mich.« Er setzte den Verschluss auf die Flasche und drehte ihn zu. »Was kann ich denn dafür, dass ich den Frauen gefalle?«

»Sag bloß, das ist dir unangenehm!«, spottete Elena.

Es gelang ihr einfach nicht, Milan Aydins Problem ernst zu nehmen. So leid es ihr auch tat.

»Kommt darauf an«, gab er unumwunden zu. »Bei manchen ist es extrem unangenehm. Andere würde ich natürlich keinesfalls von der Bettkante stoßen …«

Die Schiebetüren neben der Sitzgruppe öffneten sich surrend. Ein kühler Lufthauch strömte herein. Er brachte einen würzigen Duft nach Herbst mit sich. Aber das war noch längst nicht alles. Ein zweiter Duft mischte sich darunter. So schwer und süß, dass Elena fast in Ohnmacht fiel. Er gehörte zu einem Wesen, das von einem anderen Stern zu kommen schien. Es steckte in einem hautengen, bodenlangen Kleid aus Goldlamee. Mit einem Dekolleté, dass Elena fürchtete, Evas Brüste würden den zarten Stoff jeden Moment sprengen. Noch immer thronte das platinblonde Nest mitten auf dem Kopf. Inzwischen war es mit silberfarbenen Schleifchen garniert. An Evas Handgelenken klapperten unzählige Armreifen. In ihrer Hand schlenkerte sie ein Täschchen, das mit dem Stein an ihrem Eckzahn um die Wette glitzerte.

Dr. Milan Aydin starrte Eva mit offenem Mund nach. Er war beileibe nicht der Einzige. Andere Besucher der Behnisch-Klinik tuschelten und wisperten. Mit Genugtuung stellte Elena fest, dass es keine Rolle spielte, ob der Mann Kioskbesitzer oder Unternehmer war. Eine Frau wie Eva beflügelte jede männliche Fantasie. Und vielleicht auch die eine oder andere weibliche.

»Bei dieser jungen Dame hätte ich übrigens keine Skrupel, sie zum Essen einzuladen«, erklärte Milan, als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. »Und auch zu mehr.«

»Zu dumm, dass ausgerechnet diese Dame kein Interesse an einem rollstuhlfahrenden Türken hat«, gluckste Elena. »Sie steht eher auf große Jungs.« Sie stand auf und packte die Griffe des Rollstuhls. »Mach dir nichts draus. Man kann nicht alles haben. Und im Zweifel bliebt dir ja immer noch die Lekutat.« Sie drehte ihn schwungvoll herum. »Was hältst du davon, wenn ich dich zum Trost in den Klinikkiosk einlade? Der Karottenkuchen ist wirklich grandios.«

Milan schnitt eine Grimasse.

»So was kann nur eine Frau sagen. Die Lekutat gegen den Goldengel? Das ist wie Karottenkuchen gegen Schokosahnetorte mit Nougatfüllung.«

»Das sieht der Ehemann des Goldengels wahrscheinlich ähnlich«, musste Elena zugeben und lachte mit Milan, bis sie den Kiosk erreicht hatten.

Chefarzt Dr. Norden Box 8 – Arztroman

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