Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Box 7 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Der Krakowitz denkt ja auch, ihm gehört die Welt«, bemerkte Dr. Christine Lekutat in die Runde der Kollegen.

Zwei, drei Ärzte lachten. Nur der Klinikchef Dr. Daniel Norden blickte düster drein.

»Regel Nummer eins: Kommentare über Patienten stehen uns nicht zu.« Er durchbohrte die Kollegin mit Blicken. »Haben wir uns verstanden?«

»Aber wenn es doch wahr ist …«

»Kollegin Lekutat!«

»Schon gut«, gab sie endlich klein bei.

Dr. Norden konzentrierte sich wieder auf die Liste in seinen Händen. Hatte er auch alles besprochen, was für die kommende Spätschicht wichtig war? Ach ja, die Aufgabenverteilung.

»Dr. Gruber, Sie unterstützen den Kollegen Weigand in der Notaufnahme«, wies er den Assistenzarzt an. »Und Sie, Dr. Lekutat, übernehmen den Fall Krakowitz von Dr. Aydin.« Er nickte dem Kollegen zu, der sich einen Spaß daraus machte, Rollstuhlakrobatik zu betreiben. Manchmal fühlte sich Daniel wie im Kindergarten. Am Ende eines langen Tages hatte er weder Lust noch Kraft, sich mit solchen Kleinigkeiten auseinanderzusetzen. Zumal sich die Kollegen angesichts der harten Arbeit durchaus ein bisschen Spaß verdient hatten. »Mit dem nötigen Respekt, wenn ich bitten darf.«

»Ich bin ja nicht schwer von Begriff«, murrte die Chirurgin.

»Das gilt nicht nur für Sie.« Daniels Blick ruhte auf Milan Aydin.

Mit einem Knall landete der Rollstuhl auf den beiden kleinen Vorderrädern.

»Keine Angst, vor den Patienten begnüge ich mich mit einem Handstand Überschlag«, witzelte Milan. »Was denn? Seit wann ist es verboten, für ein bisschen Ablenkung zu sorgen?«

Wie erwartet hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Dr. Norden schüttelte den Kopf.

»Ich kann nur hoffen, dass die Patienten ähnlich humorvoll sind wie Sie.« Ein letzter Blick auf die Aufzeichnungen. »Dann wünsche ich frohes Schaffen und Ihnen, Kollege Aydin, einen schönen Feierabend.«

Ein Raunen und Murmeln ging durch das Zimmer. Die Wünsche wurden erwidert, ehe die Kollegen das Besprechungszimmer allein oder in Grüppchen verließen und in unterschiedliche Richtungen davon strebten.

Nur Dr. Aydin schien es nicht eilig zu haben.

»Wie sieht es aus, Chef?« Er fuhr auf seinen Chef zu. »Lust auf einen Absacker heute Abend? Nicht weit von hier gibt es eine neue Bar. Die wollte ich schon die ganze Zeit ausprobieren. Aber allein macht das keinen Spaß.«

Daniel war an seinen Schreibtisch zurückgekehrt und packte ein paar Unterlagen in seine Tasche. Auch seine Frau Felicitas hatte heute Spätdienst. Daniel wollte die Zeit nutzen, um sich auf eine Gastvorlesung in der Uni zum Thema ›Medizin im Wandel der Zeit‹ vorzubereiten. Andererseits war die Aussicht auf ein leeres Haus nicht gerade verlockend. Die auf ein Feierabendbier umso mehr. Zudem lag ihm viel an einem guten Verhältnis zu seinen Mitarbeitern.

»Also gut. Ich bin dabei«, erklärte er sich einverstanden.

»Ich wusste, dass Sie nicht so spießig sind, wie Sie manchmal tun«, entfuhr es Milan. »Nur ein Spaß!«, versicherte er im nächsten Atemzug. »Dann sehen wir uns in einer halben Stunde im ›Babaloo‹?«

»Wenn Sie so viel Selbstbewusstsein haben, sich mit einem Spießer in der Öffentlichkeit zu zeigen.«

Milan lachte.

»Eins zu null für Sie.« Er hob die Hand zum Gruß, wendete in zwei Zügen und rollte zur Tür. »Ich freue mich.«

*

Auf dem Weg in die Notaufnahme zog Dr. Weigand zum gefühlt hundertsten Mal das Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Wieder nichts!

»Erwarten Sie einen Anruf?«, fragte der Assistenzarzt Benjamin Gruber, der mit wehendem Kittel versuchte, mit dem Kollegen Schritt zu halten.

Matthias steckte das Mobiltelefon weg und schickte ihm einen Seitenblick.

»Sport ist offenbar nicht Ihre Lieblingsbeschäftigung.« Innerlich klopfte er sich auf die Schulter. Was für ein gelungener Schachzug, um die lästige Frage abzuwehren!

Grubers Kopf leuchtete wie eine rote Ampel. Ein schrilles Piepen zerriss die Luft. Selten kam ihm ein Alarm so gelegen wie in diesem Moment. Selbst wenn das bedeutete, dass er noch einen Zahn zulegen musste.

Die beiden Ärzte wurden schon erwartet.

»Das hier ist Anette Pastor, 39 Jahre alt. Sie leidet unter krampfartigen Unterbauchschmerzen. Fieber 39,9, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe«, teilte der Rettungsarzt Erwin Huber den Kollegen ein paar Minuten später mit.

Hartmut Pastor begleitete seine Frau.

»Sie hatte schon immer einen empfindlichen Magen«, teilte er den Ärzten unaufgefordert mit.

»Das Forellenfilet war nur ein paar Tage abgelaufen«, ächzte Anette. »Aber es hat wirklich noch gut gerochen.«

»Danke. Wir übernehmen.« Matthias nickte dem Notarzt zu und unterschrieb das Protokoll. »Angenehme Nachtruhe wünsche ich«, gab er Erwin mit auf den Weg.

»Ich liebe Ihre Witze, Kollege Weigand. Trotzdem hoffe ich, dass wir uns heute Nacht nicht mehr begegnen.«

»Also auch Nachtschicht?«

»Dann werde ich wenigstens nicht die ganze Zeit daran erinnert, dass ich allein in einem viel zu großen Bett liege.«

Wie viele andere Ärzte litt auch Erwin Huber unter seinem Singledasein. Früh-, Spät- und Nachtschichten, Dienst am Wochenende und unvermutete Notfälle waren nicht gerade das, wovon Frauen träumten. Spätestens nach dem dritten abgebrochenen Kino- oder Restaurantbesuch endeten selbst die Beziehungen, die hoffnungsvoll begonnen hatten.

Davon konnte auch Matthias Weigand ein Lied singen. Jahrelang war er auf der Suche nach seiner Traumfrau gewesen. Und jetzt, da er sie endlich gefunden hatte, standen sich Sophie und er selbst im Weg. Der letzte Streit schien final gewesen zu sein. Seitdem hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ob er es noch einmal versuchen, über seinen Schatten springen und sie um Verzeihung bitten sollte?

»Alles in Ordnung, Kollege Weigand?«

Matthias fühlte, wie ihn jemand an der Schulter rüttelte. Er zuckte zusammen. Kehrte ins Hier und Jetzt zurück.

»Natürlich. Alles klar. Ich musste nur gerade an etwas denken. Bis dann!«

Erwin Huber reckte den Daumen der rechten Hand in die Luft, ehe er sich wieder auf den Weg machte.

In der Zwischenzeit hatte Dr. Gruber die Patientin untersucht.

»Ich tippe auf eine Fischvergiftung«, teilte er dem Chef der Notaufnahme mit. »Vielleicht aber auch ein akuter Blinddarm.«

»Dann lassen Sie mal sehen.« Dr. Weigand nahm den Platz des Assistenzarztes ein. Legte die Hände auf den Bauch der Patientin. Besonders charakteristisch war der Loslassschmerz, der entstand, wenn die Hand des Untersuchers langsam den rechten Unterbauch eindrückte und rasch losließ. »Spüren Sie das, Frau Krakowitz?«

Anette sah hoch. Zuerst zu ihrem Mann, dann zu Matthias.

»Aber mein Name ist Pastor.«

»Verzeihung«, entschuldigte sich der Notarzt schnell und verscheuchte Sophie aus seinem Kopf. »Haben Sie das gespürt?«

»Ehrlich gesagt tut es überall gleich weh.«

Dr. Weigand zog ihr Shirt wieder herunter und wandte sich an seinen Kollegen.

»Ich denke, mit der Fischvergiftung liegen wir richtig. Gut gemacht, Gruber.«

Rote Flecken leuchteten auf Benjamins Wangen.

»Danke. Aber sollen wir nicht vorsichtshalber einen Ultraschall machen?«

»Ultraschall ist ohnehin wenig hilfreich bei einem Appendizitis-Verdacht. Dazu bräuchte es schon ein CT. Aber warum mit Kanonen auf Spatzen schießen, wenn die Diagnose feststeht?« Dr. Weigand ging hinüber zum Schrank und holte Stauschlauch und Kanülen heraus.

»So, Frau Pastor, Sie bekommen jetzt von mir eine Infusion gegen den Flüssigkeitsverlust.« Er setzte sich auf einen Hocker und rollte zur Liege. »Gleich piekst es ein bisschen.«

*

»Sie würden sich wirklich wieder so einen Gleitschirm umschnallen? Obwohl Sie damit abgestürzt sind?«, fragte Daniel Norden.

Er musste die Stimme nicht heben, um die Musik zu übertönen. Der Barjazz aus unsichtbaren Lautsprechern war nicht zu laut. Die Beleuchtung nicht zu hell. Das Ambiente weder zu sachlich noch zu modern. Kurzum: Die Bar war perfekt für ein gepflegtes Feierabendbier in angenehmer Atmosphäre.

Ohne Milan Aydin aus den Augen zu lassen, hob Daniel sein Bierglas an die Lippen. Der Schaum prickelte auf seiner Oberlippe. Den dezenten Malzaromen und Honignoten gelang es nicht, ihn vom Gespräch ablenken. Anders Milan. Er schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Während er erzählte, wanderte sein Blick immer wieder hinüber zu der Blondine am anderen Ende des Raums.

»Natürlich«, antwortete er auf die Frage seines Chefs. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

Daniel wusste nicht, ob diese Phrase auf das Paragliden oder die junge Dame gemünzt war, sie sich den Schaum von der Lippe leckte. Licht aus unsichtbaren Quellen zauberte goldene Reflexe ins Rapunzelhaar. Und Milan Aydin bediente das Klischee und fiel mit Pauken und Trompeten darauf herein. Zumindest ließ sein Gesichtsausdruck darauf schließen. Daniel sah demonstrativ auf die Uhr.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass es Ihnen nichts ausmacht, wenn ich jetzt nach Hause gehe? Ich muss noch an meinem Vortrag feilen.«

Endlich gehörte ihm Milans ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Ich dachte, das wäre nur ein Spaß gewesen.«

»Mit so was mache ich keine Witze«, scherzte Daniel Norden und leerte sein Pils. »Aber ich bin mir sicher, dass Ihnen auch ohne mich nicht langweilig wird.« Er nickte hinüber zu der Blondine.

Das Lachen war ihr vergangen. Sie betrachtete ihr leeres Glas wie ein Kind ein zerbrochenes Lieblingsspielzeug. Diese riesigen Augen! Der Schmollmund! Kein Wunder, dass Milan schwach wurde. In einem anderen Leben, einer anderen Zeit wäre es Daniel Norden vielleicht ähnlich ergangen. Doch die Frau, die seiner Fee gefährlich werden konnte, musste erst noch geboren werden. Daniel war froh darüber.

»Nur kein Neid, Herr Kollege.« Milan deutete seinen Gesichtsausdruck falsch.

Lachend stand Daniel Norden auf.

»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Aydin. Aber ich bin froh, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei sind.«

»Mir zu nahe treten?« Milan Aydin lachte mit seinem Chef. »Keine Sorge. Für mich gibt es keine schlimmere Vorstellung, als mein ganzes Leben mit einer einzigen Frau zu verbringen. Was mir da alles entgehen würde!«

»Ein Glück, dass wir alle verschieden sind.« Daniel bückte sich nach seinem Aktenkoffer und hob die Hand zum Gruß. »Ich wünsche noch einen angenehmen Abend.«

»Danke. Ich denke, dem steht nichts im Wege.« Aydin wartete eine Anstandsminute ab, ehe er dem Kellner winkte. »Ich möchte die Dame an der Bar kennenlernen«, machte er kein Geheimnis aus seinen Absichten. »Welchen Drink können Sie mir empfehlen?«

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Ein Cocktail zum Flirten sollte immer leicht sein«, erwiderte der Ober ohne den Anflug eines Lächelns. »Nicht zu schwer, um einzuschläfern. Aber auch nicht zu leicht, um locker genug zu werden um sein Gegenüber kennenzulernen und in Flirt-Laune zu kommen. Deshalb empfehle ich einen Rose & Berry.«

»Alle Achtung. Sie scheinen Ihr Geschäft zu verstehen.« Milan zwinkerte dem Kellner zu. »Wenn es nicht klappt, mache ich Sie persönlich verantwortlich.«

*

»Und du bist sicher, dass du nach Flensburg gehen willst?« Mit angezogenen Beinen saß Nina auf der Couch in der Wohnung, die Sophie Petzold nach der Trennung von Matthias Weigand allein mit ihrer kleinen Tochter Lea bewohnte. Mit dem Trinkhalm aus Metall rührte Nina in ihrem Glas Tee. Die Eiswürfel klirrten leise. Die Balkontür stand weit offen. Ein leises Brummen wehte herein. Beweis dafür, dass die Stadt hinter den Wohnblocks noch lange nicht schlief.

»Warum nicht?« Sophie zuckte mit den Schultern. »Solange Lea so klein ist, ist es ihr egal, wo sie wohnt. Und die Flensburger Klinik nimmt mich mit Kusshand.«

»Du weißt genau, was ich meine«, sagte Nina ihrer Freundin aus Jugendtagen auf den Kopf zu.

Sie lebte noch immer in dem kleinen Dorf. Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, wie Sophie gern über ihre Heimat lästerte. Schon lange hatte sie der Enge den Rücken gekehrt. Die Freundschaft zu Nina hatte trotzdem Bestand. Die beiden sahen sich nicht häufig. Doch selbst wenn Monate oder sogar ein Jahr zwischen den Treffen lag, fühlte es sich jedes Mal an, als wären nur ein paar Stunden vergangen. Niemand verstand Sophie besser als Nina. Noch nicht einmal sie selbst hatte einen so klaren Blick auf sich wie die Frau, die ihre Freundin war, seit sie sich beim Streit um einen Bagger die Sandschaufeln um die Ohren gehauen hatten.

Deshalb widersprach Sophie auch nicht, wie sie es bei jedem anderen getan hätte.

»Zwischen Matthias und mir ist es vorbei«, erklärte sie im Brustton der Überzeugung. »Ein für alle Mal.«

»Das habe ich schon mindestens vier Mal gehört. Und trotzdem seid ihr danach immer wieder zusammen gekommen. Oder habt euch gar nicht erst getrennt.« Der Trinkhalm gurgelte, als Nina den letzten Rest Eistee aufsaugte.

»Diesmal ist es wirklich vorbei.« Sophie klang nicht halb so überzeugend, wie sie es sich wünschte.

Nina schnitt eine Grimasse.

»An deiner Stelle würde ich mir das gut überlegen. Kein Mann hat es so lange mit Frau Neunmalklug ausgehalten wie Matthias. Und das will was heißen.«

Jeden anderen hätte Sophie nach so einer Bemerkung zum Teufel geschickt. Bei Nina ärgerte sie sich noch nicht einmal. Fromm wie ein Lamm saß sie im Sessel und drehte das Glas zwischen den Händen.

»Schon möglich. Aber so kann das nicht weitergehen. Wann immer wir aufeinanderprallen, gibt es Streit. Das will ich weder Lea noch uns antun.«

»Aber wenn ihr euch doch liebt … schon mal über eine Paartherapie nachgedacht?«

Sophie verdrehte die Augen und winkte lachend ab.

»Von solchen Psychospielchen halte ich nichts. Entweder man verträgt sich. Oder man passt einfach nicht zusammen.«

»Wie du meinst.« Eine von Ninas herausragenden Eigenschaften war ihr mangelnder missionarischer Eifer. »Sag mal, habe ich vorhin nicht eine Tafel Schokolade im Schrank gesehen? Wenn ich nicht sofort was zu essen bekomme, falle ich um.«

Sophie runzelte die Stirn.

»Du hast vor einer halben Stunde eine Pizza Quattro Formaggi verdrückt«, erinnerte sie ihre Freundin. »Du KANNST nicht hungrig sein.«

»Tut mir leid. Mein Magen ist anderer Meinung.« Nina beugte sich vor, machte sich ganz lang und stellte das Glas auf den Tisch. Sie entknotete ihre Beine und stand auf. »Hui, ein bisschen wackelig.« Halt suchend streckte sie die Hand aus. Hielt sich an der Wand fest.

»Das kommt davon, wenn man immer im Schneidersitz dasitzt. Das hemmt die Durchblutung der Extremitäten.«

»Jawohl, Frau Assistenzärztin«, spottete Nina gutmütig und wankte Richtung Küchenzeile.

Auf halbem Weg passierte es. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen. Dabei hatte sie doch gar keinen Alkohol getrunken. Im Fallen griff sie reflexartig um sich. Erwischte das schmale Regal in der Ecke. Den Aufprall auf dem Boden bemerkte sie schon nicht mehr. Ein Glück, denn das Regal begrub sie unter sich.

*

Das Klingeln des Telefons weckte Dr. Weigand aus seinen Gedanken. Einen Moment lang starrte er auf das Diktiergerät in seiner Hand. Richtig! Er hatte Befunde diktieren wollen, als ihm Sophie in die Quere gekommen war. Wieder einmal! Er legte das Gerät weg und nahm das Telefonat an. Ein paar Minuten später war er auf dem Weg zu Anette Pastor. Er wurde schon sehnsüchtig im Behandlungszimmer erwartet.

»Puls 100, viel zu schnell«, informierte ihn der Kollege Gruber.

»Was sagt der Blutdruck?«

»100 zu 70. Viel zu niedrig bei dem Gewicht der Patientin.«

»Ich sage Anette schon die ganze Zeit, dass sie abnehmen soll. Aber nein, sie will ja nicht hören«, bemerkte Hartmut aus seiner Ecke.

Matthias musterte ihn einen Moment lang aus schmalen Augen.

»Apropos abnehmen. Was haben Sie heute gegessen? Außer verdorbenem Fisch, versteht sich.«

»Heute Nachmittag gab es Käse-Sahne-Torte. Das ist mir wichtig. Am Sonntagnachmittag gehört ein festlicher Kuchen auf den Tisch.«

»Ihre Frau ist bestimmt eine tolle Bäckerin«, entfuhr es Benjamin Gruber.

Hartmut Pastor wollte eben zustimmen, als sich Anette auf der Liege krümmte.

»Netti, was ist denn los mit dir?« Hartmut beugte sich über seine Frau.

Dr. Weigand schob ihn kurzerhand weg.

»Gruber, begleiten Sie Herrn Pastor hinaus!«

»Natürlich.« Benjamin legte den Arm um die Schultern des widerstrebenden Mannes.

Matthias kümmerte sich um seine Patientin. Leuchtete ihr mit der Taschenlampe in die Augen und redete beruhigend auf sie ein. Endlich beruhigte sich Anette ein wenig. Benjamin Gruber kehrte zurück.

»Wir haben inzwischen Aufnahmen vom gesamten Oberkörper gemacht.« Auf dem Schreibtisch lag ein Tablet. Er schaltete es ein und suchte nach den Bildern, die die Kollegen der Radiologie eingespielt hatten. »Hier sind sie ja.« Gruber reichte das Gerät weiter.

Matthias Weigand vertiefte sich in die Betrachtung.

»Wir haben es mit einer Bronchopneumonie zu tun. Die Lunge ist entzündet.«

Dr. Grubers Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Wie konnte das passieren? Hat sie Erbrochenes eingeatmet?«

»Schon möglich.« Matthias Weigand kehrte zu seiner Patientin zurück, nahm ihren Hals in Augenschein. Mit einem ziehenden Geräusch rang sie nach Luft. »Die Atemwegsmuskulatur ist gelähmt.«

»Das kann unmöglich eine normale Lebensmittelvergiftung sein.«

»Stimmt auffallend«, gab Weigand dem jungen Kollegen recht. Er beugte sich über Anette Pastor. Hob eines ihrer Augenlider und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. »Frau Pastor, hören Sie mich? Können Sie mit mir sprechen?«

Anette schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Verzweifelt versuchte sie, ein paar Worte herauszubringen. Vergeblich. Mehr als ein Krächzen gelang ihr nicht.

»Trockener Mund, Sprachstörungen.« Dr. Weigand drehte sich zu seinem Assistenzarzt um. »Welche Diagnose stellen Sie?«

Benjamin dachte fieberhaft nach. Im Geiste ging er die endlosen Listen mit Symptomen durch, die er im Studium auswendig gelernt hatte. Seine Lippen bewegten sich lautlos.

»Ich tippe auf Botulismus. Das Bakterium Clostridium botulinum führt nach anfänglichem Erbrechen und Durchfall zu neurologischen Ausfällen wie Schluck-, Sprach- und Sehstörungen. In schweren Fällen kann die Vergiftung zu Atemlähmung und zum Tod führen.«

Dr. Weigand war in allen Punkten einverstanden.

»Sagte Frau Pastor nicht, sie hätte geräucherte Forelle gegessen?« Er erinnerte sich an einen Artikel im Ärzteblatt in der vergangenen Woche. »In letzter Zeit kommt es in Europa immer wieder zu Vergiftungen mit Räucherfisch, der mit Keimen von Clostridium botulinum belastet ist.« Er schaltete die Taschenlampe aus. »Wir brauchen eine Probe für die Serologie.«

»Ich rede mit Herrn Pastor. Vielleicht hat er die Packung noch zu Hause.«

»Beeilen Sie sich! Wenn Sie richtig liegen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«

Wie zum Beweis japste Anette Pastor. Sie rang nach Luft, krümmte sich auf der Liege. Mit zwei, drei Schritten war Dr. Weigand wieder neben ihr. Ein Blick genügte.

»Schwester! Wir müssen intubieren.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der Monitor einen durchgehenden Alarmton ausstieß.

Matthias fuhr herum. Starrte auf die vier Linien des Überwachungsgeräts.

»Kammerflimmern! Den Defi! Schnell!«

Klappernd fiel der Tubus hinunter, hüpfte über den Boden und blieb an einem Schrankbein liegen. Schwester Irina lief in die Zimmerecke, wo der Defibrillator stand. In Windeseile schaffte sie das Gerät herbei. Verteilte ein durchsichtiges Gel auf den Elektroden und reichte sie dem Arzt.

»Und Schock!« Matthias setzte die Elektroden auf. Der Strom schoss durch Anettes Körper. Weigands Blick hing am Monitor. Nichts! Auch der Alarm schrillte unverändert. »Noch einmal!«, verlangte er. Gleich darauf atmete er auf. »Rhythmus ist wieder da.« Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick ruhte auf der Patientin. »Hoffentlich beeilt sich Gruber mit der Serologie. Sonst kann ich für nichts garantieren.«

*

»Das war der Hammer.« Muriel rollte sich von Milan und musterte ihn aus stahlgrauen Augen. »Ich habe mich immer gefragt, wie das bei Rollstuhlfahrern funktioniert.«

»Wieso?« Milan drehte sich zu ihr. Er streckte die Hand aus und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. Seine Augen lachten mit seinem Mund um die Wette. »An mir ist doch alles dran.«

»Das schon.« Muriel kicherte. »Außerdem hast du geschickte Finger. Zwischendurch dachte ich, du bist überall.«

»Ich war überall.«

Muriels Zeigefinger wanderte über seine behaarte Brust.

»Wenn dein Frühstück auch so gut ist, machst du dich unsterblich.«

»Das hoffe ich doch.« Milans Augen glitzerten, als er sich über sie beugte.

»Normalerweise bin ich ein braves Mädchen«, murmelte sie an seinen Lippen.

»Ein Glück, dass du heute eine Ausnahme gemacht hast.« Mund, Wangen, Nasenspitze. Er bedeckte gefühlt jeden Quadratzentimeter ihres Gesichts mit kleinen Küssen. Muriel schnurrte wie eine Katze.

»Ein Glück, dass ich dich gefunden habe.« Ihr Tonfall ließ eine Alarmglocke in Milans Kopf klingeln. Die Erinnerung an eine schrille Stimme. An unschöne Auseinandersetzungen, Eifersucht, Tränen. So etwas wollte er nicht erleben. Nicht schon wieder.

»Verlieb dich nicht in mich.« Er sagte es mit einem Lächeln.

Sie musterte ihn aus Augen, tief wie zwei Bergseen und genauso unergründlich. Plötzlich hustete sie.

Milan riss die Augen auf. Richtete sich auf.

»Bist du krank?«

»Was ist?« Der Zug um ihren Mund war spöttisch. »Hast du Angst, dass du Männergrippe bekommst? Unmöglich. Ich bin eine Frau.«

Wohl oder übel musste Milan lachen.

»Das habe ich gemerkt.«

Sie beugte sich über die Bettkante und angelte sich ihre Tasche. Kramte darin herum, bis sie eine kleine Dose fand. Die Tabletten darin klapperten, als sie sie öffnete und eine davon in die Hand fallen ließ.

»Hast du auch Durst?« Muriel schlug die Bettdecke zurück.

»Ein Glas Wasser wäre toll.«

»Kommt sofort.« So, wie Gott sie erschaffen hatte, schlenderte Muriel durch das Zimmer, sich der Blicke in ihrem Rücken wohl bewusst.

Milan konnte nicht anders. Er musste ihr einfach nachsehen. Konnte die Augen nicht von ihrem Anblick lösen, bis sie aus dem Zimmer verschwunden war. Wieder dieses Husten. Gleich darauf hantierte sie in der Küche. Er sah sie vor sich, wie sie auf der Suche nach Gläsern jeden Schrank öffnete. Er sah ihren Künstlerhänden dabei zu, wie sie den Wasserhahn öffneten und wieder schlossen. Gleich würde sie wieder in der Tür erscheinen und ihn mit ihrem Anblick verzaubern.

Ein Poltern, gefolgt von einem Schrei und dem Klirren von Glas zerriss das schöne Bild. Milan fuhr hoch.

»Muriel!«

Keine Antwort.

»Muriel!«

Wieder nichts. Mit angehaltenem Atem wartete er ab. Doch es war wie verhext. Kein Laut drang mehr an sein Ohr. Alles war still. Viel zu still. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Beine aus dem Bett zu schwingen. Er zog den Rollstuhl zu sich, hievte den leblosen Unterbau hinein. Mit wenigen, kräftigen Handgriffen erreichte er die Tür. Er sah Muriel schon von Weitem. Sie lag bäuchlings auf dem Boden, das lange Haar umfloss ihren Kopf. Sie bewegte sich nicht.

*

Bis die Ergebnisse der Serologie vorlagen, gesellte sich Matthias Weigand zu seiner Kollegin Maria Maurer. Sie saß im Aufenthaltsraum an einem der Tische und blätterte in einer Frauenzeitschrift. Er ließ sich auf die mintgrüne Couch fallen. In der Mitte des Couchtisches thronte die 500-Gramm-Gebäckmischung eines unbekannten Herstellers. Einem Gerücht zufolge bestellte Dieter Fuchs – Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik – diese Kekse für alle Abteilungen. Er bezahlte sie aus dem Budget für Verbrauchsmaterial, genau wie Seife, Papiertücher und Verbandmaterial. So schmeckten sie auch. »Fuchs könnte uns genausogut ein paar Kartons hinstellen. Das würde auch nicht weiter auffallen«, schimpfte er mit einem Mund voll Brösel.

Maria sah kurz hoch.

»Du könntest es mit Marmelade probieren. Ich habe welche mitgebracht.« Sie deutete auf das Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand. »Aprikose. Selbstgekocht von meiner Oma.«

»Großartig. Ich liebe selbstgekochte Marmelade.« Matthias stemmte sich von der Couch hoch und wollte zur Tat schreiten, als der Pieper seinen Plan zunichtemachte. »Bleib sitzen. Ich gehe schon!« Er gab Maria ein Zeichen und machte sich auf den Weg.

Noch bevor er um die Ecke bog, hörte er es. Das war Sophies Stimme, die über den Flur hallte. Unverkennbar! Lea!, war sein erster Gedanke. Sein Herz setzte einen Schlag aus, um mit doppelter Geschwindigkeit wieder einzusetzen. Er fing an zu laufen.

»Um Gottes willen, Sophie. Was ist passiert?«

Sophie fuhr herum. Seit dem finalen Streit hatte sie Matthias nicht wiedergesehen. Doch sein Zauber wirkte immer noch. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um ihre Knie in Pudding zu verwandeln.

»Nina.« Mit zitterndem Finger deutete sie auf ihre Freundin, die ein Rettungsfahrer hereinschob. Diesmal war es nicht Erwin Huber. »Sie ist einfach umgefallen. In meiner Wohnung. Und das Regal oben drauf.«

Matthias Weigand atmete tief durch. Er straffte die Schultern und konzentrierte sich auf die Patientin. Nahm das Klemmbrett mit den nötigen Informationen vom Kollegen in Empfang.

»Hallo, Nina! Ich wusste ja gar nicht, dass du im Lande bist.« Nebenbei überflog er die Angaben.

»Das ist schon mein dritter Abend und ich dachte, wir sollten uns mal wiedersehen.« Nina versuchte ein Lächeln.»Aber keine Angst. Es war nur ein schmales Regal.«

Matthias sah sie an.

»Du meinst das in der Küche? Das hat mich auch die ganze Zeit gestört.« Ein Blick hinüber zu Sophie.

»Was denn?«, begehrte die sofort auf. »Bin ich jetzt etwa wieder Schuld?« Als sie seinen Blick bemerkte, bereute sie ihre Worte sofort. Was war nur los mit ihr? Warum verstand sie ihn immer falsch?

Innerlich schüttelte Matthias den Kopf. Nein, die Trennung war kein Fehler gewesen. Es hatte sich nichts geändert. Aber was war das? Darüber dachte er auf dem Weg ins Behandlungszimmer nach.

»Tut mir leid. Das ist alles ein bisschen viel zur Zeit.« Sophies Stimme übertönte das Klappern der Transportliege. Matthias traute seinen Ohren kaum. Sie hatte sich tatsächlich entschuldigt!

»Schon gut.« Er lächelte. »Wo ist eigentlich Lea?«

Seine Sorge rührte Sophie.

»In ihrem Bett. Die Nachbarin hat das Babyfon übernommen.«

»Gut.« Sie hatten den Behandlungsraum erreicht. Matthias sah sich nach den Kollegen um. »Auf drei. Eins, zwei, drei.« Mit vereinten Kräften hoben sie Nina auf die Liege. Sie verzog das Gesicht. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen.

»Keine Sorge. Bei Matthias bist du in den besten Händen«, entfuhr es Sophie. Als sie gewahr wurde, was sie da gerade gesagt hatte, biss sie sich auf die Unterlippe und senkte die Augen.

Nina lächelte ihre Schmerzen weg.

»Nichts anderes habe ich erwartet.«

»Darf ich Hand anlegen?«, fragte Matthias und schritt zur Tat, ohne eine Antwort abzuwarten. Er betastete Ninas Schulter. Sie verzog das Gesicht. Stöhnte erneut leise. Matthias nickte. »Die Schulter ist ausgekugelt. Das ist schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Um das wieder in Ordnung zu bringen, bekommst du eine kleine Narkose.« Er machte eine Notiz auf dem Formular, das auf dem Klemmbrett befestigt war. »Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.«

»Ich würde dich verfluchen, wenn du das ohne Betäubung tun wolltest.«

Matthias Weigand sah schnell hinüber zu Sophie und wieder zurück.

»Verfluchen tust du mich wahrscheinlich auch so schon«, murmelte er und räusperte sich. »Um sicherzugehen, dass die Schulter nicht auch noch gebrochen ist, wird dich Schwester Irina vorher noch zum Röntgen bringen.«

»Aye, aye, Captain.« Nina zwinkerte ihm zu zum Zeichen, dass sie ihm wohlgesonnen war. Egal, was er dachte.

Doch da war Matthias schon auf dem Sprung zum nächsten Patienten. Dr. Grubers Konterfei leuchtete auf dem Display seines Handys auf.

*

»Botulinum Toxin Typ A«, teilte Benjamin dem Notarzt mit. Sein Atem keuchte im Apparat.

»Sehr gute Arbeit, Gruber. Ich erwarte Sie in drei Minuten bei der Patientin. Mit dem Anti-Serum, versteht sich.« Dr. Weigand legte auf und ließ das Mobiltelefon wieder in der Kitteltasche verschwinden.

Die Sohlen seiner Schuhe knirschten leise auf dem Boden. Langsam beruhigte sich sein törichtes Herz. Dafür begann sich das Gedankenkarussell aufs Neue zu drehen. Warum sah Sophie so mitgenommen aus? Litt sie etwa auch unter der Trennung? Tat es ihr ebenso leid wie ihm? Rang auch sie mit sich, ob sie einen Schritt auf ihn zugehen sollte? Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand. Über die er immer noch nachdachte, als er vor Anette Pastor stand.

Das Beatmungsgerät pumpte Luft in ihre Lungen. Die Elektroden auf ihrer Brust zeichneten die Herztätigkeit auf. Alles deutete darauf hin, dass sich ihr Zustand stabilisiert hatte.

»Das Anti-Serum!«

Das Keuchen hinter ihm riss Matthias aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen. Fuhr herum und starrte den Kollegen Gruber verständnislos an.

»Wie bitte?«

»Das Anti-Serum!« Benjamin hielt das Fläschchen hoch.

»Ach so, natürlich.«

Unter den verwunderten Blicken seines Kollegen griff Dr. Weigand nach dem Medikament.

Durch den Venenzugang an ihrer Hand drückte er das Gegenmittel langsam in die Blutbahn seiner Patientin. Klappernd landete die leere Plastikkanüle im Abfall. Danach überprüfte und notierte er die Werte des Überwachungsmonitors und korrigierte die Tropfgeschwindigkeit der Infusion. Schließlich begann die schwierigste Phase vieler Behandlungen: Den Ärzten blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten, ob die Therapie anschlug. Fast alle empfanden diese Stunden, manchmal Tage der Tatenlosigkeit als nervenaufreibend. In dieser Hinsicht unterschied sich der Notarzt nicht von seinen Kollegen. Im Normalfall. Doch was war in diesen Tagen schon normal? Nachdem Matthias seine Notizen in der elektronischen Akte vermerkt hatte, blieb er einfach auf dem Hocker sitzen und starrte vor sich hin.

Benjamin Gruber beobachtete ihn.

»Alles in Ordnung, Dr. Weigand?«

Es dauerte, bis seine Frage zu dem Kollegen durchdrang. Matthias nickte langsam.

»Ja, ja, alles gut. Gehen Sie nur. Ich bleibe hier und passe auf unsere Anette auf.«

Benjamin blieb nichts anderes übrig, als der Anweisung nachzukommen. Gut fühlte er sich nicht dabei. Irgendetwas stimmte nicht mit Dr. Weigand. Wenn er nur gewusst hätte, was es war.

*

»Oh, Dan, es tut mir wahnsinnig leid. Aber mir ist gerade aufgefallen, dass ich mein Handy auf dem Esstisch liegengelassen habe.«

Daniel Norden atmete auf. »Und ich dachte schon, dass etwas Schlimmes passiert ist.« Seit dem Herzinfarkt seiner Frau saß ihm ständig die Angst im Nacken. Jeder ihrer Anrufe aus der Klinik trieben seinen Blutdruck in die Höhe.

»Aber das ist schlimm«, versicherte Fee. »Darauf sind die Passwörter gespeichert, ohne die ich nicht in die verschiedenen Systeme komme.«

Mit dem Hörer am Ohr stand Daniel vom Schreibtisch auf. Er verließ das Arbeitszimmer und ging hinüber ins Esszimmer.

»Manchmal frage ich mich, wie wir früher ohne all die elektronischen Hilfsmittel überlebt haben.«

Felicitas lachte leise.

»Die Frage enthält bereits die Antwort. Früher hatten wir keinen Computer und benötigten ergo auch keine Passwörter.«

Daniel lächelte.

»Ich liebe dich. Aber ich muss dich enttäuschen. Auf dem Esstisch liegt dein Lebenselixier nicht.«

»Dann vielleicht in der Küche auf der Theke. Oder im Wohnzimmer«, zählte Fee jeden Ort auf, an sie an diesem Tag kurz vor dem Aufbruch in die Klinik gewesen war. »Irgendwo dort muss es sein.«

Daniel hörte Stimmen im Hintergrund. Er verstand nicht jedes Wort. Nur so viel, dass Fee gebraucht wurde.

»Bist du so lieb und bringst es mir in die Klinik, wenn du es gefunden hast? Du bist ein Schatz. Kuss.« Dann war die Leitung unterbrochen.

Lächelnd machte sich Daniel Norden auf die Suche und fand das Telefon schließlich auf der Kommode im Flur. Wenig später war er unterwegs in die Klinik. Auf den letzten Metern verfolgte er einen Krankenwagen, der in die Notaufnahme abbog. Er parkte den Wagen und wählte den Weg über die Ambulanz, um etwas über den Notfall zu erfahren. Ein Rollstuhlfahrer kreuzte seinen Weg.

»Aydin? Was machen Sie denn hier? Ich dachte …« Daniels Blick fiel auf die leicht bekleidete Frau, die auf der Liege hereingerollt wurde. Das grelle Licht der Kliniklampen war alles andere als vorteilhaft. Trotzdem war die Frau aus der Bar schön wie Dornröschen. Ihr Schlaf schien ebenso tief zu sein.

Milan konnte die Gedanken von den Augen seines Chefs ablesen. Er schüttelte den Kopf.

»Sagen Sie nichts!«

»Hätten Sie nicht etwas pfleglicher mit ihr umgehen können?«

»Ich sagte: Sagen Sie nichts!«

Dr. Norden zog einen Mundwinkel hoch, ehe er sich an die Rettungsärztin wandte.

»Was meinen Sie? Ist der Kollege Aydin schuld an ihrem Zustand?«

Annabel Kunstmann sah kurz hoch, korrigierte die Blickrichtung etwas nach unten und musterte den Mann im Rollstuhl.

»Zwischendurch war sie kurz wach und hat über Übelkeit und Bauchschmerzen geklagt. Außerdem habe ich einen Hautausschlag festgestellt. Ihr Blutdruck ist beängstigend niedrig und reagiert nicht auf IV-Flüssigkeit«, zählte sie die Symptome auf, ehe sie sich wieder an den Klinikchef wandte. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein. Ich glaube nicht, dass ein Mann für diese Probleme verantwortlich ist.«

Milan Aydin schnitt eine Grimasse.

»Ist das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?«

»Das können Sie sich aussuchen.« Annabel lächelte wie die Eiskönigin höchstpersönlich und hielt Dr. Norden das Protokoll zur Unterschrift hin. Ein paar Augenblicke später rumpelte der Krankenwagen vom Hof.

Unterdessen hatte sich Dr. Norden auf den Weg in die Kinderabteilung gemacht. Er lieferte das Mobiltelefon bei seiner Frau ab, tauschte ein paar Sätze mit ihr, gab ihr einen Kuss, ehe er in die Notaufnahme zurückkehrte.

Muriel lag ihm Behandlungszimmer. Sie war wieder bei Bewusstsein. Dr. Lekutat hatte die Behandlung übernommen. Inzwischen lagen die ersten Untersuchungsergebnisse vor.

»Das große Blutbild ist unauffällig, das Abdomen-CT ohne Befund«, teilte sie ihrem Chef im Nebenzimmer mit.

Daniel griff nach dem Tablet. Seine Augen glitten an den Zahlenkolonnen hinab.

»Was könnte ihr fehlen?«

»Fragt der König unter den Diagnostikern.« Dr. Lekutat schmunzelte.

Doch weder Daniel noch Milan Aydin war zum Lachen zumute.

»Vielleicht eine Arthritis. Eine begleitende Vaskulitis verursacht Nervenschäden«, machte Dr. Aydin einen Vorschlag.

Daniel Norden schüttelte den Kopf.

»Das würde keine Blutdruckprobleme auslösen.« Er legte den Zeigefinger an die Wange. Ließ sich alles durch den Kopf gehen, was er zu diesem Fall gehört hatte. »Frau …« Erst jetzt fiel ihm ein, dass er ihren Namen gar nicht kannte.

»Muriel«, erklärte Milan.

»Und wie weiter?«

Die beiden Männer sahen sich ratlos an.

Es war Christine Lekutat, die ihnen aus der Patsche half.

»Muriel Buri. Ein Name wie ein Fischgericht.«

Diesmal konnte sich Daniel ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Frau Buri hat über Bauchschmerzen geklagt. Vielleicht ist ein Karzinom dafür verantwortlich.«

»Dazu passt der Ausschlag nicht.« Milan ärgerte sich darüber, dass ihm die Punkte an Muriels Hüfte nicht aufgefallen waren. Aber hätte das etwas geändert?

»Stimmt«, musste Dr. Norden wohl oder übel einräumen. Seine Gedanken wanderten weiter. Noch einmal ging er im Geiste sämtliche Möglichkeiten durch. Vergeblich. »Problem ist Muriels Blutdruck. Wenn wir den nicht so schnell wie möglich in den Griff bekommen, war ihre Bekanntschaft mit Ihnen, Aydin, das letzte Abenteuer ihres irdischen Daseins. Ich schlage deshalb ein Breitbandantibiotikum vor. Außerdem brauche ich einen Hormontest und ein EKG.«

Dr. Aydin musterte den Klinikchef erstaunt.

»Heißt das, Sie übernehmen den Fall?«

»Wollen Sie?«

Schnell schüttelte Milan den Kopf.

»Nein. Ich bin froh, wenn Sie das tun.«

*

»Und? Wie sieht es aus?« Eine halbe Stunde später stand Dr. Weigand wieder am Bett seiner Patientin Anette Pastor.

Statt einer Antwort reichte Benjamin Gruber ihm das Tablet.

»Vor ein paar Minuten hat das Labor die aktuellen Werte geschickt.«

»Oh.« Matthias griff nach dem Gerät und scrollte sich durch die Zahlenkolonnen. »Das Antiserum schlägt gut an.«

Dr. Gruber wagte ein schüchternes Lächeln.

»Ich weiß.«

Auch Matthias lächelte.

»Dann wissen Sie sicher auch, dass Frau Gruber die Krise überstanden hat.« Er nickte anerkennend. »Gute Arbeit, Gruber. Und jetzt gehen Sie bitte und informieren Sie Herrn Pastor.«

»Gern.« Benjamin machte sich sofort auf den Weg. Er fand Hartmut Pastor im Aufenthaltsraum für die Angehörigen. Als der Arzt auftauchte, sprang Hartmut vom Stuhl auf. Tee schwappte über den Rand der Tasse.

»Kruzifix!«, schimpfte er. »Ist denn heute nicht schon genug passiert!« Dankend griff er nach der Serviette, die Benjamin ihm reichte.

»Halb so wild. Das trocknet wieder. Und Ihre Frau befindet sich auch auf dem Weg der Besserung.«

Pastor hielt in der Bewegung inne. Er sah den Assistenzarzt mit großen Augen an.

»Und das erzählen Sie mir so nebenbei?« Seine Mundwinkel zogen sich hoch. Er stellte die Tasse weg und fasste Benjamin an den Schultern. »Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin. So eine Aufregung wegen ein bisschen Forelle! Davon stirbt man doch nicht gleich, oder?«

»Nein … ich meine … doch.« Benjamin schluckte. Er war nicht so der direkte Typ. Eher schüchtern und zurückhaltend. Noch immer fiel es ihm schwer, den Menschen die Wahrheit mitten ins Gesicht zu sagen. Aber auch das gehörte zu einem guten Arzt. Das musste er sich jeden Tag wieder ins Gedächtnis rufen. Er trat einen Schritt zurück. Hartmuts Hände fielen ins Leere.

»Ja, an dem bisschen Forelle hätte Ihre Frau sterben können.«

Pastor verging das Lachen.

»Das kann sie doch nicht einfach so machen.« Seine Augen suchten Dr. Grubers Blick. »Sie wissen ja sicher, wie das in einer langen Ehe so ist.«

Benjamin knetete die Hände.

»Ich … Ich bin nicht verheiratet.« Er hatte noch nicht einmal eine Freundin. Aber das musste Herr Pastor nicht unbedingt wissen.

»Ach ja, natürlich. Sie sind ja noch so jung.« Hartmut fuhr sich über die Stirn. »Ich fürchte, ich bin manchmal ganz schön ungeduldig mit Anette. Dabei will ich doch nur, dass alles wieder so wird, wie es früher zwischen uns war.«

Benjamin trat von einem Bein auf das andere. Er wusste, dass er der völlig falsche Ansprechpartner für Beziehungsfragen war.

»Dann ist ja jetzt vielleicht eine gute Gelegenheit, um in aller Ruhe darüber zu reden. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich muss wieder an die Arbeit.« Er nickte dem reuigen Ehemann zu und trat die Flucht an, bevor Hartmut auch nur Luft holen konnte.

*

An diesem Abend ging es hoch her in der Behnisch-Klinik. Dr. Weigand wollte eben in sein Büro abbiegen, als das Tablet unter seinem Arm klingelte. Die Kollegen aus der Radiologie hatten Nina Schöns Aufnahmen eingespielt. Sie standen zum Abruf bereit. Kurzentschlossen änderte er seine Pläne und machte sich auf den Weg zu ihr. Und zu Sophie! Dieser Gedanke ließ sein Herz höher schlagen. Doch Nina war allein im Behandlungszimmer. Sie lag auf der Liege und döste vor sich hin. Als sie die Schritte im Zimmer hörte, blinzelte sie ins Licht der Deckenleuchte. Sie erwiderte Matthias’ Lächeln.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

»Als hätte mich ein Regal angefallen.« Sie las in seiner Miene. »Sophie ist übrigens heimgegangen. Sie will die Nachbarin nicht so lange einspannen. Ich soll dich schön grüßen.«

Matthias spürte die Hitze im Gesicht. Schnell konzentrierte er sich auf den eigentlichen Grund seines Besuchs. Er griff nach dem Tablet. Auch die Kollegen, die sich anfänglich gegen die Einführung dieses elektronischen Hilfsmittels gesperrt hatten, waren zunehmend begeistert angesichts der vielen Vorteile, die es bot. Dass die lästige Aktensuche weitgehend der Vergangenheit angehörte, war nur einer der Vorzüge. Viele Informationen konnten die Ärzte direkt am Krankenbett erfassen und mit der eingebauten Kamera Fotos für die Wunddokumentation aufnehmen. Änderungen der Medikation eines Patienten flossen unmittelbar in die digitale Patientenakte und waren dort für alle Beteiligten abrufbar. Genau wie die Bilder aus anderen Abteilungen.

»Wie ich vermutet habe. Du hast dir eine vordere Schulterluxation angelacht, aber keine Fraktur. Man könnte sagen, du hattest Glück im Unglück.« Er wischte noch ein paar Mal über den Bildschirm, als traute er seiner eigenen Diagnose nicht.

Nina sah ihm dabei zu.

»Bist du sicher? So weh, wie es tut?«

»Das ist ganz normal bei dieser Art von Verletzung.« Matthias drückte auf die Klingel am Kopfende der Behandlungsliege. »Du wirst sehen: Wenn alles wieder an seinem Platz ist, geht es dir besser.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.« Sie sah ihm zu, wie er eine durchsichtige Flüssigkeit aus einer Plastikkanüle in den Zugang in ihrem Arm drückte. Sein Blick ruhte auf dem Überwachungsmonitor. In schönster Regelmäßigkeit eilten die Linien über den Bildschirm.

Vom Flur wehten Schritte herüber und kamen schnell näher. Schwester Astrid und ihre Kollegin Josepha betraten das Zimmer. Ausgerechnet die Lästerschwestern! So konnte er sicher sein, dass alles, was im Zusammenhang mit diesem Fall passierte, blitzschnell die Runde in der Klinik machte. Innerlich rollte Dr. Weigand mit den Augen. Äußerlich blieb er völlig ruhig. Nickte den beiden zu und erklärte den Fall. Im nächsten Augenblick konzentrierte er sich schon wieder auf Nina.

»Jetzt zählst du bitte langsam von zehn rückwärts.«

»Zehn? Glaubst du, das reicht? Also schön. Zehn. Neun. Acht …« Ihre Stimme verstummte.

Matthias lächelte. Er kannte dieses Phänomen aus eigener Erfahrung. Fast jeder Patient dachte, vor Aufregung nicht einschlafen zu können. Um sich schneller als gedacht den mächtigen Medikamenten geschlagen zu geben.

Nachdem er sich versichert hatte, dass Nina tief und fest schlief, trat er auf die andere Seite der Liege.

»Ich werde jetzt die Schulter reponieren. Ziehen Sie bitte das Tuch straff und halten Sie es ganz fest.« Er drückte Astrid die beiden Enden eines grünen Tuchs in die Hand, das er zuvor unter Ninas Mitte geschoben hatte. »Sie übernehmen bitte den Sauerstoff«, wies er Josepha an. Anschließend klemmte er ein Handtuch unter Ninas Achsel. Er griff nach ihrem Arm. »Abduktion. Außenrotation. Elevation.« Ein Ruck, und die Kugel rutschte zurück ins Gelenk. Im selben Moment klopfte es. In seinem Rücken öffnete sich die Tür. Eine Kollegin kam herein und drückte Josepha ein Klemmbrett in die freie Hand. Sie warf einen Blick auf das Formular.

»Glukose bei 2,8«, stieß sie hervor.

Als Krankenschwester wusste sie um die Bedeutung dieses Wertes.

Genau wie Matthias Weigand. Er legte den Arm der Patientin zurück auf die Liege und nahm das Klemmbrett, das Josepha ihm hinhielt.

»Unterzuckerung?« Er kratzte sich am Kinn. »Ich wusste nicht, dass Nina Diabetikerin ist.«

»Sie kennen die Patientin?«, fragte Astrid scheinheilig.

»Sie ist eine Freundin von Sophie … Ich meine, von Dr. Petzold«, murmelte Matthias, ohne von dem Blatt aufzusehen. »Narkose ausleiten! Glukose 40%! Schnell!«, befahl er.

In Windeseile kümmerte sich Josepha um die Anweisung, drückte die Lösung in den Zugang.

Matthias sah ihr dabei zu. Er dachte nach.

»Vielleicht ist sie Diabetikerin und weiß es noch nicht«, mutmaßte Astrid.

»Möglich«, erwiderte Dr. Weigand. Doch mehr als eine Vermutung war das nicht.

*

Graue Schatten flackerten über den Monitor des Ultraschallgeräts. Bevor Milan Aydin studiert hatte, war es ihm wie allen anderen normalen Sterblichen auch ergangen. Es war ihm ein Rätsel gewesen, wie man in diesem Wirrwarr Gefäß­verschlüsse, Wasseransammlungen und solche Dinge mehr entdecken konnte. Erst viele Jahre später und nach unzähligen Stunden intensiver Schulung hatte sich der Nebel endlich gelichtet. Jetzt sah er klar und verfolgte Dr. Nordens Bemühungen wie einen spannenden Krimi.

Muriel schien das alles herzlich wenig zu interessieren. Mit vom Fieber feuchter Stirn lag sie im Bett. Diverse Schläuche führten von ihrem Körper hinüber zum Überwachungsmonitor. In den Venenzugang ihrer Hand tropfte eine farblose Flüssigkeit. Ein Hustenanfall schüttelte ihren Körper. Daniel half ihr, sich aufzusetzen.

»Geht es wieder?«

»Ja.«

Sie klang wenig überzeugend.

Unter dem kritischen Blick seines Kollegen setzte Dr. Norden die Untersuchung fort. Schwester Elena saß neben dem Bett und nahm Blut ab.

»Der Test wird uns sagen, ob Ihre Hypophyse und Ihre Nebennieren richtig funktionieren.«

Aufklärung war noch immer das beste Mittel, um Vertrauen zwischen Patient und Arzt herzustellen. Studien hatten zudem bewiesen, dass informierte Kranke mit weniger Ängsten zu kämpfen hatten und schneller wieder gesund wurden.

Muriel schien derselben Ansicht zu sein.

»Und was heißt das genau?«, hakte sie nach.

Mit einem Blick gab Elena diese Frage an ihren Freund und Chef weiter.

»Wir haben ein paar Theorien, denen wir nachgehen.«

Muriels Bergseeaugen weiteten sich.

»Das heißt, Sie haben keine Ahnung, was mir fehlt?«

»Ganz ruhig!«, mischte sich Milan in das Gespräch ein. »Du willst doch sicher nicht gegen Schweinegrippe behandelt werden, wenn du eigentlich an der Beulenpest leidest.« Ein typischer Aydin!

Muriel verdrehte die Augen.

»Haha! Bist du immer so ein Witzbold?«

»Nein. Nur manchmal.«

Daniel Norden zupfte ein Papiertuch aus dem Spender und reinigte den Schallkopf vom Gel.

»Wenigstens habe ich eine gute Nachricht. Ihr Herz ist in Ordnung.«

Als Antwort hustete Muriel.

»Bist du so lieb und gibst mir meine Pillen?« Sie deutete hinüber zur Tasche auf dem Stuhl vor dem Fenster.

Milan rollte hinüber und brachte ihr die Tasche.

»Was nimmst du da?« Mit dieser Frage kam er seinem Chef zuvor.

»Keine Ahnung.« Ehe einer der Ärzte sie daran hindern konnte, steckte sie die kleine, runde Tablette in den Mund und schluckte sie hinunter. »Die hat mir meine Mitbewohnerin gegeben. Irgendwas gegen Husten.« Sie wollte die Dose wieder in der Tasche verschwinden lassen.

Doch Milan war schneller.

»Hey, was soll das?«

»Ich kümmere mich nur um dich, Liebling. Sonst nichts.« Hinter Muriels Rücken drückte er Daniel die Dose in die Hand.

»Nenn mich nicht Liebling!« Ihre Augen feuerten wütende Blitze auf Milan ab. »Wer hat vor ein paar Stunden noch zu mir gesagt, dass ich mich nicht verlieben soll?«

Daniel und Elena wandten sich ab und sahen sich an. Beide pressten die Lippen aufeinander, um nicht laut herauszulachen.

»Ich bringe das Blut ins Labor«, sagte Elena schnell.

»Ich komme mit. Habe was zu erledigen«, erwiderte Daniel und schloss die Hand fest um die Plastikbüchse in seiner Hand.

*

Der Überwachungsmonitor piepte leise vor sich hin. Alles im grünen Bereich, wie Dr. Weigand nach einem Blick auf die Zahlen feststellte, die hin und her sprangen wie die Aktienkurse an der Börse. Er beugte sich über Anette Pastor. Zog nacheinander ihre Augenlider hoch und prüfte mit der Taschenlampe den Pupillenreflex. Er gab Auskunft über die Hirnaktivität und das Bewusstsein und ließ einen Schluss auf den Zustand seiner Patientin zu.

»Es wird noch etwas dauern, bis sich die Lähmungserscheinungen zurückgebildet haben und Sie wieder richtig sprechen können«, sagte er zu seiner Patientin.

Dr. Gruber war bei ihm und tippte die gewonnenen Erkenntnisse in das Tablet ein.

»Wir nehmen gleich noch einmal Blut ab«, fuhr Matthias fort.

Die Tür öffnete und schloss sich wieder. Schritte näherten sich. Während Dr. Weigand den Stauschlauch um den Oberarm schlang, warf er einen Blick über die Schulter.

»Ach, Herr Pastor«, begrüßte er Anettes Ehemann.

Doch Hartmut hatte nur Augen für die Ampullen, in die der rote Lebenssaft sprudelte.

»Warum müssen Sie noch einmal Blut abnehmen? Ich dachte, meine Netti ist auf dem Weg der Besserung.«

»Eine reine Routinemaßnahme.« Matthias legte die Ampullen in eine Nierenschale. Er zog die Nadel aus Anettes Arm und bat sie, den Tupfer fest auf die Einstichstelle zu drücken. »Wenn Ihre Frau sich weiter so gut erholt, kann sie in ein paar Tagen nach Hause gehen.«

Hartmut riss die Augen auf.

»In ein paar Tagen erst? Ich dachte, ich kann sie morgen früh wieder mitnehmen.«

»So schnell geht es dann doch nicht.« Das Handy vibrierte in Matthias’ Tasche. Vielleicht Sophie! Zu dumm, dass er das Gespräch nicht annehmen konnte. »Wir wollen doch kein Risiko eingehen.«

Er nickte Hartmut Pastor zu und wollte das Zimmer verlassen. Das Telefon vibrierte immer noch. Er spürte es deutlich am Bein. Fast so, als ob Sophie darüber streicheln würde.

»Dr. Weigand?«

Verdammt! Was wollte dieser Gruber denn noch?

»Was gibt es denn noch?«, fragte er schärfer als beabsichtigt zurück. Er bemerkte es an den irritierten Mienen.

Benjamin Gruber räusperte sich.

»Sollten wir nicht sichergehen, dass Folgeschäden ausgeschlossen sind?«

»Ja. Ja, natürlich.« Matthias hatte Mühe, seinen Unwillen über diese Bloßstellung zu verbergen. »Melden Sie Frau Pastor beim Neurologen an.«

Dr. Gruber lächelte und machte einen entsprechenden Vermerk in der elektronischen Patientenakte.

»Ich kümmere mich sofort darum«, versprach er und verließ das Zimmer.

Das Vibrieren hatte inzwischen aufgehört. Doch Matthias wollte wenigstens nachsehen, ob seine Vermutung richtig war.

»Ich lasse Sie jetzt mit Ihrer Frau allein«, sagte er zu Hartmut. »Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie bitte die Schwester.« Ein letztes Nicken, dann war auch er zur Tür hinaus.

Anette verfolgte ihn mit den Augen. Hartmut trat ans Bett seiner Frau.

»Ein paar Tage gleich«, seufzte er. »Weißt du eigentlich, was das für mich bedeutet? Alles muss ich allein machen. Und niemand da, der für mich kocht. Wie soll ich das überstehen?«

Ein Glück, dass Anette nicht antworten konnte. Es genügte, dass sie einfach die Augen schloss.

*

»Bin ich froh, dass wir die wilden Jugendzeiten längst hinter uns haben.« Mit einer Tasse Kaffee in der Hand saß Daniel Norden im Büro seiner Frau. Eigentlich hatte er vorgehabt, bald heimzugehen. Doch ehe er keine Gewissheit über Muriel Buris Krankheit hatte, würde er ohnehin keinen Schlaf finden. Da konnte er auch genausogut hierbleiben.

Im Gegensatz zum Rest der Klinik herrschte auf der Kinderstation wohltuende Ruhe. Eine gute Gelegenheit, um Neuigkeiten auszutauschen und über das Leben zu philosophieren.

Felicitas musterte ihren Mann mit schief gelegtem Kopf. Solche Sätze aus seinem Mund hatten meist einen aktuellen Anlass.

»Lass mich raten: Ein betrunkener Teenager hat in der Notaufnahme randaliert? Oder nein, halt!« Sie hob die Hände. »Ich weiß es. Eine 16-jährige hat Angst, schwanger zu sein und wollte die Pille danach haben.«

»Falsch und falsch.« Daniel trank einen Schluck. Er betrachtete die Milchränder in der Tasse. »Unser lieber Kollege Aydin konnte es mal wieder nicht lassen. Er hat eine hübsche Blondine abgeschleppt.«

»Ah, daher weht der Wind.« Fee angelte sich einen Keks aus der Schale auf dem Couchtisch. Keinen von denen, die Dieter Fuchs gekauft hatte. Ihre stammten aus der Bäckerei ihrer Schwiegertochter und schmeckten nach Sonntagnachmittag im Café ›Schöne Aussichten‹. »Du bist doch nicht etwa neidisch?« Sie knabberte an der Baiserkruste.

»Ganz im Gegenteil.« Daniel beugte sich vor. Er streckte die Hand aus. Über den Couchtisch hinweg streichelte er über Fees Wange. »Die Frau, die dir das Wasser reichen kann, muss erst noch geboren werden.«

»Stimmt nicht.« Felicitas wackelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. »Deine Töchter sind schon auf der Welt. Aber die laufen außer Konkurrenz.«

»Wenn Aydin es wagte, einer der beiden den Hof zu machen, würde ich ihn feuern«, knurrte Daniel überraschend grimmig.

Fees Augen wurden schmal.

»So schlimm? Was hat er denn angestellt?«

»Seine Flamme ist mit undefinierbaren Symptomen in der Klinik gelandet.« In diesem Moment war er zu müde für ausführliche Erklärungen. »Ich warte auf Laborergebnisse.« Wieder ein Schluck Kaffee.

»Und ich dachte, du bist hier, weil du mich sehen wolltest.« Fee lachte leise.

Daniel überlegte noch, wie er ihren Scherz parieren konnte, als sein Telefon klingelte.

»Ja, Norden«, meldete er sich.

Schwester Elena ließ ihn kaum ausreden.

»Frau Buri geht es schlechter. Und die Ergebnisse aus dem Labor sind da.«

»Ich komme sofort.«

*

Sophie hatte nicht angerufen. Irgendeine unbekannte Nummer leuchtete auf dem Display seines Handys auf. Mit verkniffener Miene steckte Matthias Weigand das Telefon wieder ein. Im Gegensatz zu seinem Chef konnte er noch nicht einmal an eine Ruhepause denken. Das Lächeln auf seinem Gesicht war nicht echt, als er das Zimmer von Sophies Freundin betrat. Nina dagegen freute sich ehrlich über seinen Besuch.

Obwohl es schon nach Mitternacht war, war an Schlaf nicht zu denken.

»Nanu, du bist ja immer noch wach.«

»Das macht die Aufregung. Ich bin überhaupt nicht müde.«

»Das wird sich übel rächen«, prophezeite Matthias Weigand. »Spätestens, wenn dich die Schwestern morgen früh um sechs Uhr aus dem Bett werfen.«

Nina lachte.

»Gut, dass ich im Hier und Jetzt lebe.«

»Womit gleich meine nächste Frage beantwortet wäre. Du fühlst dich offenbar gut.« Matthias trat ans Bett und beugte sich über sie. »Achtung, jetzt wird es kalt.« Um sie nicht zu sehr zu erschrecken, rieb er die Hände, um sie wenigstens ein bisschen auf Temperatur zu bringen.

»Es tut fast gar nicht mehr weh«, erwiderte Nina. Mit stoischer Ruhe ließ sie die Untersuchung des Arztes über sich ergehen.

»Schwester Astrid hat dir einen Gilchrist-Verband angelegt. Sehr gut.« Er prüfte den Sitz der Gurte. »Du musst dich auf jeden Fall noch schonen.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl.«

Statt auf den scherzhaften Ton einzugehen, kräuselten sich Falten auf Matthias’ Stirn.

»Das trifft sich gut. Dann wirst du mir sicher auch verraten, ob du Diabetikerin bist.«

Nina legte den Kopf schief.

»Wie kommst du denn auf so eine Idee?«

»Während der Narkose bist du in eine Unterzuckerung gefallen.«

»Das ist ja komisch … obwohl …« Nina dachte nach. »Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich in letzter Zeit öfter mal Probleme mit dem Blutzucker.«

Manchmal, wenn er besonders aufmerksam war, kribbelte die Haut in Matthias’ Nacken. Ganz so, als wollten sich die feinen Härchen aufstellen. Genau wie in diesem Moment.

»Inwiefern?«, fragte er gespannt.

»Ich hatte immer mal wieder Heißhungerattacken. Wenn ich dann nicht schnell genug etwas Süßes zwischen die Zähne bekommen habe, ist mir schwindlig geworden.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ohnmächtig bin ich nie geworden. Heute zum ersten Mal.«

»Na gut.« Matthias Weigand hatte eine Entscheidung getroffen. »Das Einfachste ist, wenn wir einen Diabetes-Test machen. Dann haben wir wenigstens Gewissheit, mit welchem Feind wir es zu tun haben.«

»Gern. Ich bin ein Freund von klaren Verhältnissen.« Nina sah Matthias so durchdringend an, dass er sich fragte, was genau sie ihm damit sagen wollte. Doch er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Es war auch so schon alles kompliziert genug.

*

Im Laufschritt eilte Schwester Elena neben ihrem Freund her, der gleichzeitig Chef der Behnisch-Klinik war.

»Muriel hatte Kammerflimmern. Ein Glück, dass Dr. Aydin bei ihr war. Sonst hätten wir uns all die schönen Analysen sparen können.«

Daniel schickte ihr einen Seitenblick.

»Du weißt mehr als ich?«

»Das will ich meinen.« Elena lächelte grimmig. »Ich habe mir erlaubt, einen Drogentest anzuordnen.«

Daniel Norden blieb so abrupt stehen, dass er um ein Haar über seine eigenen Beine gestolpert wäre. Drogen? Natürlich! Warum war er nicht selbst auf diese Idee gekommen? Er ballte die Hand zur Faust.

»Ich hätte es wissen müssen.«

»Schon gut!«, winkte Elena ab. »Ich verstehe das schon. Bei einer schönen Frau wie Muriel denkt ein Mann an vieles, aber nicht unbedingt an Rauschmittel.«

»Schönheit verführt uns oft bei der Wahrheitssuche«, bemerkte Daniel und nahm das Blatt Papier, das Elena aus der Tasche gezogen hatte und ihm hinhielt.

»Und die Banalität des Lebens lacht uns dafür aus.«

Dr. Norden runzelte die Stirn.

»Bist du unter die Philosophen gegangen?«

Elena lachte, wenn auch nur kurz.

»Manchmal bleibt einem hier nichts anderes übrig, wenn man nicht verzweifeln will.«

Über diese Antwort musste Daniel erst nachdenken. Um Zeit zu gewinnen, faltete er das Blatt auseinander. Überflog das Ergebnis.

»Nachgewiesener Wirkstoff Methylendioxy-N-Methylamphetamin, kurz MDMA«, murmelte er. »Er ist bekannt dafür, zu einer erhöhten Kontaktfreude, großer Offenheit und Harmoniegefühlen zu führen.«

Daniel verzog den Mund. Für einen Moment fühlte er sich zurückversetzt in die Bar. Sah Muriel vor sich, ihren Augenaufschlag in Milans Richtung, die feuchten Lippen. »Das erklärt einiges.« Er fuhr sich über die Stirn, als wollte er die Erinnerung wegwischen.

»Aber das ist noch nicht alles.« Elena reichte ihm ein weiteres Papier, diesmal in einem Umschlag. »Lisa aus dem Labor hat mich vorab informiert. Frau Buris vermeintliche Hustentabletten werden eigentlich bei schweren Gichtanfällen angewendet.«

Daniel riss den Umschlag auf. Er zog das Blatt heraus.

»Colchizin. Ein Wirkstoff, der in der Natur in einer Pflanze mit dem schönen Namen ›Herbstzeitlose‹ vorkommt.« Er wiegte den Kopf. »Ich habe davon gehört, dass manche Mediziner dieses Mittel auch bei Asthma bronchiale einsetzen. Das würde erklären, warum Muriel diese Tabletten geschluckt hat.« Je näher sie Muriels Zimmer kamen, umso langsamer wurden Daniels Schritte.

Elena nickte. Doch sie wusste noch mehr.

»Rein zufällig war ich vor ein paar Tagen auf einem Elternabend meines Sohnes. Thema war, o Wunder, Drogenmissbrauch bei Teenagern. Dabei kam auch das Thema Ecstasy zur Sprache.« Sie musterte ihren Freund mit gewichtiger Miene. »Weißt du, mit welcher Substanz MDMA gern gestreckt wird?«

»Mit Colchizin?« Daniels Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Muriel konsumierte Ecstasy und damit den Wirkstoff der Herbstzeitlosen, den auch die Hustentabletten enthielten. Eigentlich war es ganz einfach. »Sie hat eine Überdosis geschluckt. All die Symptome, mit denen wir zu kämpfen haben, sind eine Folge des Colchizins.« Nicht nur eine, sondern gleich ein ganzes Meer an Falten türmte sich auf Dr. Nordens Stirn auf. »Da wird unser Milan aber Augen machen«, knurrte er und stürmte an Elena vorbei ins Zimmer.

*

Schwester Irina klopfte an die halb offen stehende Tür des Büros. Von hier aus hatte sie einen Blick auf Matthias Weigand. Er saß am Schreibtisch und starrte auf sein Mobiltelefon. »Dr. Weigand, kommen Sie bitte zur Patientin Pastor!«

Keine Reaktion.

»Dr. Weigand! Frau Pastor braucht Sie«, wiederholte Irina lauter.

Wie ertappt zuckte Matthias zusammen. Er drückte Sophies Bild weg und ließ das Telefon in der Kitteltasche verschwinden. Wie lange er so dagesessen war, wusste er nicht. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es lange gewesen sein musste.

»Ich komme sofort.«

Matthias hielt Wort. Nur ein paar Minuten später betrat er Anette Pastors Zimmer.

»Und?«, fragte er Dr. Gruber, der ihm entgegenkam.

Benjamin drückte ihm das Tablet in die Hand.

»Temperatur konstant auf 39 Grad. Ich geh mal schnell für Königstiger.«

Matthias Weigand unterdrückte ein Seufzen, als er ans Bett seiner Patientin trat. Warum musste das Leben nur so kompliziert sein?

»Frau Pastor, wo haben Sie denn die Schmerzen?«

Anette zog eine Hand unter der Bettdecke hervor und deutete auf die rechte Bauchseite.

»Ungefähr hier.« Noch immer fiel ihr das Sprechen schwer. Doch zumindest war die Lähmung weiter zurückgegangen.

Dr. Weigand schaltete das Tablet ein.

»Sie waren doch schon auf dem Weg der Besserung«, murmelte er, während er den Namen der Patientin eintippte und die aktuellen Laborergebnisse aufrief. Beim Anblick der Resultate erschrak er.

»Die Leukozyten sind immer noch erhöht. Genauso wie der CRP-Wert.« Er blätterte vor und zurück. Doch wie er es auch drehte und wendete, das Ergebnis blieb dasselbe. Mit einem Schlag war jeder andere Gedanke aus seinem Kopf verschwunden. »Bitte zeigen Sie mir noch einmal genau, wo es weh tut.«

»Aber das habe ich doch schon«, reklamierte Anette Pastor. Ihre Augen schwammen in Tränen.

»Gut. Dann untersuche ich Sie jetzt noch einmal.« Matthias legte das Tablet weg und die Hände auf Anettes linke untere Bauchseite. Er drückte zu und ließ wieder locker. »Tut das weh?«

»Alles tut weh. Überall«, jammerte seine Patientin. Eine Träne rann über ihre Wange.

Matthias’ Herz schlug schneller. Ein schrecklicher Verdacht kam ihm in den Sinn. Er erinnerte sich an das Aufnahmegespräch. An Dr. Grubers Vorschlag, ein CT machen zu lassen, den er rigoros abgelehnt hatte. Mit welchen Folgen?

»Ich probiere jetzt etwas anderes aus.« Wieder drückte er zu. Diesmal auf den rechten Oberbauch unterhalb des Rippenbogens. »Und jetzt atmen Sie bitte tief ein.«

Anette versuchte es. Unwillkürlich spannte sie die Bauchdecke an. Ein Stöhnen entwich ihren Lippen. Dr. Weigand wurde es heiß und kalt. Wie hatte das passieren können? Ausgerechnet ihm? Dem Anleiter der Assistenzärzte. Er sah, wie seine Hände zitterten. Schnell zog er sie zurück.

»Ich … ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Im nächsten Augenblick stürzte er aus dem Zimmer. Anettes Schluchzen folgte ihm.

*

Nach dem Besuch bei Muriel Buri war Dr. Daniel Norden auf menschenleeren Fluren unterwegs in sein Büro. Nur hier und da huschte eine Schwester auf leise quietschenden Gummisohlen über den Gang. Aus dem Schwesternzimmer drangen verhaltene Stimme. Wieder einmal fiel Daniel auf, dass die Menschen leiser sprachen, wenn es dunkel war. Erklären konnte er sich dieses Phänomen nicht. Vielleicht lag es daran, dass Dunkelheit gleichbedeutend mit Ruhe war. Automatisch hielt er die Luft an, schlich auf Zehnspitzen an dem Zimmer vorbei. Dabei fiel sein Blick auf die Uhr über der Tür.

Der kleine Zeiger marschierte auf die drei zu. Daniel zögerte. Was sollte er tun? Nach Hause fahren? Mehr als zwei, drei Stunden Schlaf waren jetzt nicht mehr drin. Da konnte er sich genausogut an den Schreibtisch setzen und die Zeit sinnvoll nutzen. Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er Geräusche hinter sich hörte.

Ein Blick über die Schulter. Ein Ultraschallgerät auf Rädern kam direkt auf ihn zu. Geistesgegenwärtig sprang er zur Seite. Am Haarschopf identifizierte er den Assistenzarzt Benjamin Gruber. Der junge Kollege sah immer so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Da konnte er kämmen, was er wollte.

»Nanu, Kollege. Was gibt es denn so Dringendes um diese Uhrzeit?«

»Meine Güte! Haben Sie mich erschreckt!« Gruber blieb stehen und presste die Hand auf das Herz.

»Tut mir leid. Das war keine Absicht.« Daniel bedeutete ihm, weiterzugehen und begleitete ihn. »Also, was ist los?«

»Verdacht auf akute Cholezystitis«, erwiderte der Assistenzarzt.

Daniel runzelte die Stirn. Hatte er das Martinshorn überhört?

»Gerade eingeliefert?«

Benjamin Gruber spürte, wie ihm das Blut bis hinauf in die Haarspitzen schoss.

»Die Patientin kam gestern Abend mit einer Fischvergiftung.«

»Wer hat die Erstanamnese übernommen?«

»Dr. Weigand und ich.« Benjamin räusperte sich.

Er saß in der Falle. Wenn er gestand, dass Weigand ein CT abgelehnt hatte, würde der Kollege in Schwierigkeiten kommen, und er selbst wäre eine Petze. Andererseits: Die Schuld auf sich zu nehmen bedeutete eine Lüge. Und barg die Gefahr einer Abmahnung. Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Was sollte er tun? »Für uns war die Sache sonnenklar«, presste er durch die Lippen. »Bis sich Frau Pastors Zustand auch nach der Gabe des Antitoxins nicht bessern wollte.« Sie waren vor der Tür des Krankenzimmers angekommen.

Daniel zögerte. Sollte er sich in die Behandlung einmischen? Er entschied sich dagegen. Das Letzte, was die Patientin jetzt brauchen konnte, war eine vergiftete Stimmung.

Sie hatte auch so schon Probleme genug.

»Gehen Sie schon!«, wies er Gruber scharf an. »Schöne Grüße an den Kollegen Weigand. Wir sehen uns morgen alle in meinem Büro.«

Benjamin Grubers Adamsapfel hüpfte auf und ab.

»Jawohl, Chef!«, krächzte er und stießt die Tür auf.

Um Haaresbreite verpasste er die Kurve und schrammte mit dem Gerät am Türstock entlang.

Kopfschüttelnd ging der Klinikchef weiter. Jeder weitere Kommentar war überflüssig.

*

Bleich wie der Tod persönlich lag Muriel im Bett. Die vergangenen Stunden hatten ihrem Körper alles abverlangt.

Trotzdem konnte sie schon wieder lächeln, als Milan ins Zimmer zurückkehrte.

»Hey! Ich wusste ja gar nicht, dass ich mir einen Onkel Doktor angelacht habe.« Sie musterte ihn eingehend. »Wusstest du, dass Männer in Uniform besonders anziehend auf Frauen wirken?«

»Das ist ein Arztkittel!«

Milans Tonfall schüchterte sie nicht ein. Ganz im Gegenteil.

»Auch das ist eine Art Uniform.«

Milan Aydin erwiderte ihr Lächeln nicht. Klatschend landete der Laborbericht auf ihrer Bettdecke.

»Du hast Drogen genommen.«

Wenn möglich, wurde ihr Lächeln noch lieblicher.

»Sonst hätte ich mich doch gar nicht an einen coolen Typen wie dich rangetraut«, säuselte sie.

»Spielst du öfter die Märchentante?« Milan lachte immer noch nicht. »Die Kombi aus Ecstasy und Hustentabletten wäre beinahe ins Auge gegangen. Ist dir das eigentlich klar?«

»Meine Güte! Worüber regst du dich auf?« Muriel fiel zurück ins Kissen und drehte den Kopf weg. »Ich hab’s doch überlebt.«

»Schon. Aber nur, weil ich zufällig neben dir gesessen bin.« Er griff nach dem Beutel mit der durchsichtigen Flüssigkeit, der auf seinem Schoß lag. »Häng’ dieses Ding mal an den Ständer da drüben.« Mit dem Kopf deutete er auf den Infusionsständer, an dem schon ein Beutel hing. »Schaffst du das?«

»Kinderspiel.« Muriels angestrengte Miene strafte sie Lügen. Trotzdem baumelte kurz darauf der zweite Beutel am Ständer. Sie sah Milan dabei zu, wie er den Schlauch an ihrem Zugang befestigte. »Was ist das?«

»Wenn du Dr. Norden zugehört hättest, wüsstest du es.«

»Er hat ganz schön viel auf einmal gesagt, findest du nicht?«

Milan Aydin hatte keine Lust auf eine Diskussion. Nicht um diese Uhrzeit.

»Also noch einmal. Das Colchizin beeinträchtigt die Fähigkeit des Herzmuskels, sich zusammenzuziehen und Blut zu pumpen. Außerdem senkt es deinen Blutdruck.« Er stellte die Tropfgeschwindigkeit der Infusion ein. »Diese Antikörper hier sollen das Colchizin neutralisieren und dein Herz in die Lage versetzen, wieder in normaler Geschwindigkeit zu schlagen.«

»Und wann wisst ihr, dass es funktioniert?«

»Das tun wir jetzt schon.«

Muriel drehte ihm den Kopf wieder zu. Lächelte wie ein Engel.

»Da bekommt die Bezeichnung ›Leibwächter‹ doch eine ganz andere Bedeutung.«

Milan spürte, wie sich sein Ärger schon wieder in einen Schwarm Schmetterlinge verwandeln wollte. Er räusperte sich.

»Morgen früh machen wir als erstes ein CT und ein MRT, um Hirnschädigungen auszuschließen.«

Muriel streckte die Hand aus. Ihre Finger streichelten über Milans Arm. Eine Berührung, sanft wie ein Windhauch. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Muriel bemerkte es und lächelte.

»So schlimm kann mein Hirn nicht geschädigt sein«, raunte sie ihm zu. »Zumindest erinnere ich mich noch genau an letzte Nacht. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine Granate im Bett bist? Oder habe ich das nur geträumt? Ich glaube, ich muss das noch einmal ausprobieren.«

Welcher Mann hätte solche Worte nicht gern gehört? Es fiel Milan schwer, noch länger grimmig dreinzublicken.

»Das könnte noch dauern.« Sein Ton war nicht halb so streng wie gehofft. »Zur Überwachung werden wir dich noch einen Tag hierbehalten.«

Muriel hustete.

»Und gegen den Husten bekommst du etwas Anständiges«, fuhr er fort. »Aber mit Sicherheit kein Gichtmittel.«

»Ich sagte doch schon, dass mir meine Mitbewohnerin dieses Zeug gegeben hat. Woher soll ich wissen, dass das ein Medikament gegen Asthma ist? Das habe ich auch schon diesem Dr. Norden gesagt.« Muriel machte einen Schmollmund.

Milan wusste: Er hatte zwei Möglichkeiten. Entweder, er küsste sie. Jetzt. Sofort.

Er entschied sich für die zweite Möglichkeit. Wandte sich ab und verließ das Zimmer, bevor sein schwaches Fleisch über seinen Verstand siegte.

*

Als sich Daniel Norden umdrehte, stand seine Frau vor ihm. Doch Fee sah anders aus als sonst. Die rote Hibiskusblüte in ihrem Haar leuchtete mit den Blumen auf ihrem Sommerkleid um die Wette. Sie hielt einen Cocktail in der Hand und kam auf ihn zu. Streckte die Hand aus und legte sie auf seine Schulter. Aber was war denn das? Warum schüttelte sie ihn wie einen nassen Sack, statt sich an ihn zu schmiegen, ihm Liebesworte ins Ohr zu flüstern?

»Hör auf! Hör sofort auf damit!«, wehrte er sich empört.

»Dr. Norden! Aufwachen!«

Die Stimme war weiblich. Damit hörten die Ähnlichkeiten mit Fee aber auch schon auf. Daniel riss die Augen auf. Sah sich verwirrt um.

»Was … wie … wo … ?«, stammelte er. Das Licht der Morgensonne blendete ihn. Seine Augen tränten.

»Sagen Sie bloß, Sie haben hier geschlafen?« Andrea Sander hatte die Hand von der Schulter ihres Chefs genommen. Sie stand vor ihm und versuchte, sich einen Reim auf die Situation zu machen. »Hat Ihre Frau Sie etwa rausgeworfen?«

»Was? Fee?« Daniel fuhr sich durch das wirre Haar. Er drehte den Kopf nach links und rechts, hob und senkte die schmerzenden Schultern. »Warum sollte Sie?«

»Aus welchem Grund sollten Sie sonst hier übernachten?«, stellte Andrea eine Gegenfrage, die sehr berechtigt war, wie Daniel nach einigem Nachdenken feststellte.

»Heute Nacht war ganz schön viel los.« Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Dankend nahm er die Tasse, die seine Assistentin ihm reichte.

»Erzählen Sie mir keine Märchen!« Ihre Stimme verriet, was sie von dieser Ausrede hielt. »Ich habe doch genau gesehen, wie Sie gestern Abend die Klinik verlassen ­haben. Zusammen mit dem Kollegen Aydin.« Ein schrecklicher Verdacht kam ihr. »Sagen Sie bloß, Sie waren gemeinsam mit ihm auf der Jagd?«

Dank der Lästerschwestern hatte sich Aydins Leidenschaft für Frischfleisch schnell in der Klinik herumgesprochen.

Daniel trank einen Schluck. Langsam kehrten seine Lebensgeister zurück.

»Stimmt. Wir haben ein Feierabendbier getrunken. Im Gegensatz zu dem geschätzten Kollegen bin ich allerdings zeitig nach Hause gefahren, um noch zu arbeiten. Aber dann hat meine Frau angerufen. Sie hatte ihr Handy zu Hause vergessen.«

Andrea Sander verzog das Gesicht. Das Ende der Geschichte konnte sie sich an zwei Fingern abzählen.

»Ein Glück, dass Sie beide in der Klinik arbeiten. Sonst würde ich nicht auf Ihre Ehe wetten.«

»Ich auch nicht.« Daniel lächelte. Er leerte seinen Kaffee und drückte sich aus dem Stuhl hoch. Höchste Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Nach einer Katzenwäsche am Waschbecken war er bereit, sich den Herausforderungen des Tages zu stellen. Er trat an Andreas Schreibtisch, der aussah, als hätte sie ihn seit Tagen nicht verlassen. Doch im Augenblick gab es wichtigere Dinge, als sie auf Bonbonpapier und leere Kaffeetassen aufmerksam zu machen. »Bitte rufen Sie die Kollegen Weigand und Gruber an. Ich will beide sehen, bevor sie das Haus verlassen. In einer halben Stunde bin ich zurück.«

»Wird gemacht, Chef.«

Ihre Worte begleiteten ihn hinaus auf den Flur und verhallten dort.

*

Matthias Weigands Kittel wehte hinter ihm her. Die Aufregungen der Nacht hatten sein Blut mit Adrenalin geflutet. Es wirkte immer noch und hielt ihn wach. Er bog um die Ecke, klopfte im Vorbeigehen zur Begrüßung mit den Knöcheln auf die Theke. Bei seinem Anblick verstummte das Tuscheln und Kichern.

»Guten Morgen, die Herrschaften«, rief er und lächelte in mehr oder weniger verschlafene Gesichter, die so ähnlich aussahen wie sein eigenes. Auch dann, wenn sie nicht gerade eine Nachtschicht hinter sich hatten.

»Guten Morgen, Dr. Weigand!«, kam es mehrstimmig zurück.

Der Notarzt war gleichermaßen bekannt und beliebt. Die Tatsache, dass er wieder Single war, steigerte seinen Beliebtheitsgrad enorm.

Eine Stimme übertönte die der Kollegen.

»Gut, dass Sie hier sind!« Schwester Astrid winkte ihn zu sich. »Gerade sind die Blutplasmaergebnisse von Nina Schön aus dem Labor gekommen.« Sie drückte ihm ein Tablet in die Hand und lächelte aufreizend.

Deshalb also das Getuschel! Er hätte es sich gleich denken können, dass eine der Lästerschwestern dahinter steckte. Besser, nicht darauf einzugehen und sich stattdessen auf die Arbeit zu konzentrieren. Noch so ein Fehler wie bei Frau Pastor durfte ihm nicht passieren.

»Und?«, fragte er und sah hinunter auf den Bildschirm.

»Ihre Insulinwerte sind zwar erhöht, aber nach Diabetes sieht das nicht aus.«

Matthias vertiefte sich in die Auswertung.

»Da haben Sie recht«, murmelte er.

»Was ist es dann?«

Dr. Weigand wiegte den Kopf.

»Ich tippe auf ein Insulinom. Hoffentlich fällt Ihnen dazu genauso viel ein wie zu meiner Person.« Die roten Flecken auf Astrids Wangen bewiesen, dass er richtig lag mit seiner Vermutung. »Also? Ich höre!«

»Wenn bei ansonsten gesunden Menschen Unterzuckerungen auftreten, kann ein gutartiger Tumor der Bauchspeicheldrüse vorliegen, der Insulin produziert.«

Matthias zog einen Mundwinkel hoch.

»Wenigstens haben Sie in der Schule aufgepasst.« Wieder sah er auf das Tablet in seinen Händen hinab. »Allerdings ist das bis jetzt nur eine Vermutung. Bevor wir etwas unternehmen können, müssen wir herausfinden, ob wir mit unserem Verdacht richtig liegen.« Er legte das Tablet weg und krümmte den Zeigefinger der rechten Hand wie eine Hexe. »Mitkommen!«

Ehe Schwester Astrid jedoch Gelegenheit hatte, um den Tresen herumzugehen, klingelte Dr. Weigands Handy. Die Assistentin des Chefs! Da war er also, der Anruf, vor dem Benjamin Gruber ihn schon in der Nacht gewarnt hatte. Matthias überlegte nur kurz.

»Also gut. Wir verschieben Frau Schön auf später. Halten Sie sich bereit.«

*

»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?« Die Hände in die Hüften gestützt, wanderte Dr. Norden in seinem Zimmer auf und ab. Wie zwei Schuljungen standen die beiden Ärzte vor ihm. »Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie das Leben der Patientin leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben? Bei einer akuten Entzündung der Gallenblase entwickeln zehn Prozent der Patienten ohne Behandlung eine gedeckte Perforation. Was das heißt, muss ich Ihnen nicht erläutern, oder?«

Benjamin Gruber wurde heiß und kalt. Er musste noch nicht einmal die Augen schließen, um den Text des Lehrbuchs vor sich zu sehen.

»Der Druck auf die Gallenblasenwand kann dazu führen, dass die entzündete Gallenblase aufbricht. Diese sogenannte Perforation ist deshalb gefürchtet, weil sich die infizierte Gallenflüssigkeit im Bauchfell ausbreiten und eine Bauchfellentzündung mit lebensbedrohlichen Folgen hervorrufen kann«, zitierte er den Text Wort für Wort so, wie er ihn seinerzeit auswendig gelernt hatte. »Ebenso können Bakterien aus der Gallenblase ins Blut übertreten und eine Entzündung auslösen, die auf den gesamten Organismus übergreift und zu einer Blutvergiftung führen kann.«

Um ein Haar entkam Daniel ein Lächeln. Die Beflissenheit des Assistenzarztes war beispielhaft.

»Unter anderen Umständen wäre Ihnen ein Lob sicher. So aber muss ich darüber nachdenken, Sie beide abzumahnen.«

Bis jetzt hatte Matthias kein Wort gesagt. Mit von der Nachtschicht gezeichnetem Gesicht hatte er nur dagestanden und die Standpauke mit gesenktem Blick über sich ergehen lassen. Doch plötzlich erwachte er zum Leben.

»Es war mein Fehler.« Er hob den Kopf und sah Daniel fest in die Augen. »Dr. Gruber wollte die bildgebenden Verfahren in die Diagnostik mit einbeziehen. Nachdem für mich die Sache klar war, habe ich ihn dazu überredet, darauf zu verzichten.«

Dr. Norden betrachtete seine Mitarbeiter mit gerunzelter Stirn.

»Das klang heute Nacht aber anders, Dr. Gruber.«

Benjamins Gesicht leuchtete wie eine Signalboje inmitten des blauen Meeres.

»Ich … na ja … Dr. Weigand …« Er hüstelte und räusperte sich. Wusste nicht, wie er weitermachen sollte.

Dr. Norden befreite ihn.

»Schon gut. Wir unterhalten uns später noch einmal darüber. Für den Moment können Sie gehen, Herr Gruber.«

Benjamin atmete auf. Er sah hinüber zu Matthias.

»Danke. Ja … hmmm … Ich geh’ dann mal.« Seine Sorgen standen ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

Diesmal lächelte Daniel wirklich.

»Keine Angst. Ich reiße ihm schon nicht den Kopf ab.«

»Ja, dann … gut … sehr gut.« Die Tür fiel hinter Benjamin ins Schloss.

Dr. Norden umrundete den Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Allmählich forderte die fast durchwachte Nacht ihren Tribut. Doch noch musste er durchhalten. Er nahm seinen Freund und Mitarbeiter ins Visier.

Beiden war von vornherein klar gewesen, dass ihre Freundschaft auf schwierigem Fundament gebaut war. Wenn Ärger in der Freundschaft das professionelle Verhältnis belastete, wurde es kompliziert. Wenn sich Probleme in der Arbeit ins Private zogen. Und auch der Neid mancher Kollegen war nicht zu unterschätzen. Auf der anderen Seite war es nicht einfach, loyale Freunde zu finden, auf die man sich bedingungslos verlassen konnte. Ein solcher Freund war Matthias Weigand. Deshalb nahm Daniel Norden diese Schwierigkeiten billigend in Kauf. Selbst wenn sie ihn in solche Situationen führten.

»Also, ich höre! Wie konnte das passieren?«

Matthias spielte mit dem Kugelschreiber in seinen Händen.

»Ursprünglich wurde die Patientin mit einer Fischvergiftung eingeliefert. Ich will ja nicht angeben, aber Anette Pastor hat es unserer Arbeit zu verdanken, dass sie überhaupt noch am Leben ist«, versuchte er, sich herauszureden.

»Diese Mühe wäre um ein Haar umsonst gewesen.«

Matthias kannte Daniel gut und lange genug, um zu wissen, dass dieser leise Ton Gefahr bedeutete. Quasi Alarmstufe rot. Deshalb verstand er ihm Nachhinein auch nicht mehr, welcher Teufel ihn ritt, als er sagte:

»Ist dir noch nie ein Fehler passiert?«

Die Antwort ließ nicht auf sich warten.

»Oh doch! Und nicht nur einer.« Daniel lehnte sich vor. Sein Blick war eisig. »Aber nicht, weil ich unkonzentriert war. Die Notoperation heute Nacht hättest du verhindern können. Aber offenbar war die Patientin nicht interessant genug, um dich von deinen privaten Problemen abzulenken. Das hätte ins Auge gehen können.«

Zu gern hätte Matthias geleugnet. Alles abgestritten. Doch die Hitze auf seinen Wangen verriet ihn.

»Du hast ja recht«, gab er sich endlich seufzend geschlagen. Machte ein paar Schritte nach rechts und wieder zurück. Blieb wieder neben dem Stuhl vor dem Schreibtisch stehen. »Es kommt nicht wieder vor.«

Dr. Norden schüttelte den Kopf.

»Und du denkst, das genügt?«

»Was erwartest du von mir? Soll ich auf Knien um die Klinik rutschen? Mir die rechte Hand abhacken?«

Jedem anderen hätte Daniel Hochmut unterstellt. Oder Zynismus. Nicht so Matthias. Dazu kannte er ihn gut genug.

»Ich habe eine bessere Idee«, erwiderte er langsam. »Du wirst so lange nicht operieren, bis du dein Privatleben in Ordnung gebracht und wieder einen klaren Kopf hast. Alles andere ist mir zu gefährlich.« Er erhob sich und ging vor zur Tür. »Ich kann nicht immer darauf hoffen, dass dir ein aufmerksamer Kollege wie Benjamin Gruber auf die Finger schaut und für dich die Kohlen aus dem Feuer holt.« Er öffnete die Tür und wartete darauf, dass sich sein Freund in Bewegung setzte.

Matthias Weigand zögerte. Sah hinüber zu Daniel. Wenn möglich, war er noch blasser, die Ringe um seine Augen waren noch tiefer geworden. Langsam kam er zur Tür. Vor Daniel blieb er noch einmal stehen. Suchte nach Worten. Vergeblich.

»Wenn dir das nicht gelingt, werden sich unsere Wege trennen.« Dieser Satz fiel Dr. Norden nicht leicht. Aber er musste sein. »Zumindest die beruflichen«, fügte er hinzu, um seinen Worten ein wenig ihrer Schärfe zu nehmen.

Vergeblich. Wie unter einem Peitschenhieb zuckte Matthias Weigand zusammen. Ohne ein weiteres Wort lief er aus dem Zimmer.

Ganz so, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

*

Im Bauch der Klinik rumorte es schon eine Weile, als Milan Aydin aus bleischwerem Schlaf erwachte. Im Zimmer war es stockfinster. Nur durch den Spalt in der Tür fiel ein Streifen Licht. Er setzte sich im Bett auf und prallte zurück. Im nächsten Moment sah er Sternchen.

»Verdammter Mist!«, fluchte er und presste die Hand an die Stirn. »Welcher Idiot hat Stockbetten erfunden?« Erst jetzt kam er auf die Idee, auf den Lichtschalter zu drücken. Die Deckenlampe flammte auf. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das gleißende Licht gewöhnt hatten.

Schließlich schwang er die Beine über die Bettkante und angelte sich den Rollstuhl. Ein Schwung, eine Drehung und schon landete er auf dem Sitzpolster. »Und jetzt erst einmal ein schönes Frühstück im ›Allerlei‹.«

Der Kiosk in der Ladenzeile der Klinik war nicht nur ein Anziehungspunkt für Patienten, Pflegepersonal und Ärzte. Auch kerngesunde Menschen, die nichts mit der Klinik zu tun hatten, kamen vorbei, um Kaffee- und Teespezialitäten und den besten Kuchen der ganzen Stadt zu genießen. Oder lag die Beliebtheit des Kiosks in seiner Lage begründet? Schließlich gab es sonst keine Gelegenheit in der Stadt, seinen Kaffee unter Palmen in der Nähe eines Wasserfalls zu genießen.

Auch Milan schätzte diese besondere Atmosphäre. Und war selbst an diesem frühen Morgen nicht allein mit dieser Leidenschaft, wie er feststellen musste. Schon von Weitem hörte er das Summen der Stimmen. Vor dem Kiosk ging es zu wie einem Bienenstock. Es herrschte ein Kommen und Gehen. Stühle wurden gerückt, Geschirr klapperte. Über allem lag ein Duft nach Vanille und Kaffee. Milan sah sich um. Es war zum Haareraufen. Alle Tisch waren besetzt. Seine Laune näherte sich dem Nullpunkt, als er eine Stimme hörte, die sein Herz höher schlagen ließ. Egal, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. Mit einer geschickten Bewegung brachte er den Rollstuhl dazu, sich umzudrehen.

»Hier ist noch Platz.« Nicht weit entfernt von ihm saß Muriel an einem Tisch und lachte zu ihm herüber. »Einen Stuhl brauchst du ja nicht.«

»Es geht doch nichts über einen Happen Ecstasy zum Frühstück«, entfuhr es Milan, nachdem er sich einen Weg durch die Stühle gebahnt hatte.

Das Lachen blieb Muriel im Hals stecken.

»Du meine Güte. Hast du auf einer Boxerzeitung geschlafen?« Sie deutete auf den roten Fleck auf seiner Stirn.

Milan überging diese Frage geflissentlich.

»Was zum Teufel machst du hier? Du gehörst ins Bett.«

»Herumliegen und Löcher in die Luft zu starren, das ist nicht mein Ding«, erwiderte Muriel und schob ihm ihren Teller hin. »Ein Croissant? Die sind wirklich lecker.«

»Das, was ich jetzt brauche, ist ein dreifacher Espresso.« Er hob die Hand und rief die Kellnerin herbei, die seine Bestellung aufnahm. »Und danach bringe ich dich in die Radiologie«, verkündete er, als sie wieder allein waren.

Er sah Muriel dabei zu, wie sie ein Stück Croissant abriss und im Milchkaffee badete, ehe sie es in den Mund schob. Er war versucht, ihr den Brösel aus dem Mundwinkel zu küssen. Zum Glück war sein Verstand hellwach.

Muriel lachte.

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche. Aber ich habe hier nichts mehr zu tun. Nach dem Frühstück packe ich meine Sachen und verschwinde von hier.«

Gut, dass Aydin in seinem Rollstuhl saß. Andernfalls wäre er vermutlich umgefallen vor Schreck.

»Was denn? Du willst dich aus dem Staub machen? Einfach so?«

Muriel streckte die Hand aus und strich über Milans stoppelige Wange.

»Verlieb dich nicht in mich!« Mit diesen Worten schob sie den Teller von sich und stand auf.

Als Milan sich nach ihr umdrehte, war sie zwischen den anderen Besuchern untergetaucht.

*

Schon auf dem Flur hörte Dr. Weigand Stimmen. Weibliche Simmen. Eine davon gehörte zweifellos Sophie. Das erkannte sein Herz eher als sein Verstand. Wie auf Kommando begann es schneller zu schlagen. Ein kurzes Klopfen, und er trat ein. Schlagartig verstummten die Stimmen.

»Guten Morgen, die Damen«, begrüßte er Nina und Sophie, die ihre Tochter Lea auf dem Arm hatte.

Als die Kleine den Mann sah, der ein paar Monate lang ihr Stiefvater gewesen war, lachte sie übers ganze Gesicht und streckte die Ärmchen nach ihm aus.

Tränen stiegen ihm in die Augen.

»Hallo, du kleiner Spatz. Wie geht es dir?« Matthias konnte nicht widerstehen und nahm sie auf den Arm. Ein Duft nach Milch und Babycreme stieg ihm in die Nase.

»Grrrrdadadabababa«, brabbelte Lea und patschte auf Matthias’ Wangen.

Sophie wollte zerfließen vor Rührung. Warum nur waren sie so dumm, dass sie ihr Glück nicht mit beiden Händen festhielten, statt sich um des Kaisers Bart zu streiten?

»Bababababa«, plapperte Lea.

Matthias’ Miene wurde abweisend.

»Nein, mein Schatz. Ich bin nicht dein Papa.« Schnell drückte er einen Kuss auf die Babywange und gab das Kind seiner Mutter zurück.

Sophie nahm allen Mut zusammen.

»War die Nacht anstrengend?«, fragte sie mitfühlend. Die Verwunderung in Matthias’ Augen blieb ihr nicht verborgen. Kein Vorwurf? Er konnte es kaum glauben.

»Könnte man so sagen«, erwiderte er.

»Du solltest dich ausruhen.«

Fürsorge? Von ihr?

»Später. Zuhause wartet ja niemand auf mich. Ich kann mehr schlafen, als mir lieb ist.« Er hatte das nicht sagen wollen. Doch offenbar machte sich der Schlafmangel nun doch bemerkbar. Ehe Sophie Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, wandte er sich schnell an Nina. Schließlich war sie der Grund seines Besuchs.

»Wir denken, dass hinter deinen Beschwerden ein Insulinom steckt. Dabei handelt es sich um einen gutartigen Tumor der Bauchspeicheldrüse. Sicher sind wir aber noch nicht.«

Im Augenblick war Nina mit den Gedanken woanders. Nur selten hatte sie ein Paar gesehen, das schon rein optisch besser zusammenpasste als Sophie und Matthias. Und das so offensichtlich noch Gefühle füreinander hatte. Aber war es gut, sich in die Beziehung einzumischen? Nach kurzem Zögern entschied sie sich dagegen und konzentrierte sich auf das Naheliegende.

»›Tumor‹ klingt nicht gerade optimal«, bemerkte sie. »›Gutartig‹ schon besser. Wie willst du herausfinden, ob du richtig liegst?«

»Wir haben verschiedene Möglichkeiten.«

»Die gebräuchlichste Methode ist der sogenannte Hungerversuch.« Sophie nahm ihrem Ex-Freund das Wort aus dem Mund. »Bei diesem Verfahren muss der Patient 72 Stunden fasten. Da dieser Tumor für die vermehrte Produktion von Insulin verantwortlich ist, zeigt er sich durch einen erniedrigten Blutzuckerspiegel«, ratterte sie die Erklärung herunter.

Von Anfang an hatte sich die Assistenzärztin Sophie Petzold durch ihre neunmalkluge Art bei den Vorgesetzten nicht gerade beliebt gemacht. Matthias wusste nicht mehr, wie oft er deswegen mit ihr aneinandergeraten war. Doch an diesem Morgen schenkte er ihr ein anerkennendes Lächeln.

»Dem ist nichts hinzuzufügen.«

Nina war nicht halb so begeistert wie der Arzt. Sie riss die Augen auf.

»72 Stunden? Das ist nicht dein Ernst! Mir wird ja schon schwindlig, wenn ich drei Stunden nichts zwischen die Zähne bekomme.«

»Keine Sorge.« Wieder war es Sophie, die antwortete. »Wir haben auch andere Möglichkeiten, um dem Übeltäter auf die Spur zu kommen. Neben einem CT und einer Kernspintomographie der Bauchspeicheldrüse kommt auch eine Endosonographie in Frage. Hab keine Angst.« Ihre Blicke wanderten hinüber zu Matthias, der mit verschränkten Armen vor dem Bett stand. »Matthias ist einer der Besten. Er wird herausfinden, was dir fehlt.«

So ein Kompliment aus Sophies Mund? Das grenzte an ein Wunder. Dummerweise erinnerten ihn ihre Worte an die Standpauke seines Chefs Dr. Daniel Norden.

»Was noch zu beweisen wäre«, murmelte er. Und etwas lauter fügte er hinzu: »Ich schicke eine Schwester, die dich in die Radiologie bringt, Nina. Wir sehen uns später!«

*

Unermüdlich fuhren die Linien auf dem Überwachungsmonitor auf und ab. Im Gegensatz zum ständigen Gemecker ihres Mannes war das gleichmäßige Piepen richtiggehend beruhigend. Zumindest empfand Anette Pastor es so. Ihr Mann, der erst vor ein paar Minuten von den Vorkommnissen der Nacht erfahren hatte, sah es anders.

»Eine Notoperation? Heißt das, du hättest sterben können?«

Am liebsten hätte sich Anette die Ohren zugehalten. Doch dazu war sie noch zu schwach. Sie begnügte sich mit einem müden Lächeln.

»Das heißt, dass es eilig war. Nicht mehr und nicht weniger.«

Hartmut zog sich einen Stuhl ans Bett. Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, faltete die Hände und dachte nach.

»Bestimmt hängt diese Gallenblasen-Geschichte mit deinem Übergewicht zusammen«, teilte er ihr das Ergebnis seiner Überlegungen mit.

Anette schloss die Augen.

»Mein Übergewicht hat etwas mit deinen Ansprüchen zu tun«, seufzte sie.

Hartmut richtete sich kerzengerade auf dem Stuhl auf.

»Was soll denn das schon wieder heißen? Bin ich jetzt etwa schuld daran, dass du so viel isst?«

»Wer will denn jeden Tag Braten und Süßspeisen auf dem Teller haben? Ich jedenfalls nicht.«

Anette zuckte zusammen, als ihr Mann vom Stuhl aufsprang. Die Linie auf dem Monitor machte einen Satz.

»Sieh mich an!«, polterte er. »Bin ich etwa dick?«

»Du musst ja auch nicht ständig probieren und abschmecken und dann noch eine ordentliche Portion mitessen, weil ich mich sonst allein gelassen fühle«, verteidigte sich Anette mit all der Kraft, die nach den anstrengenden Stunden noch übrig geblieben war. Viel war es nicht.

Diese Schwäche nutzte Hartmut aus.

»Das war ja klar! Jetzt machst du mich wieder verantwortlich für all deine Probleme.«

Anette war den Tränen nahe.

»Es geht doch hier nicht um Schuld. Ich mache dir jedenfalls nicht ständig Vorwürfe.«

»Hauptsache, du hast einen Schuldigen. Das habe ich jetzt davon.« Hartmut wanderte im Zimmer auf und ab. »Dabei meine ich es nur gut mit dir.«

Unbemerkt von den beiden öffnete sich die Tür.

»Wenn Sie es wirklich gut mit Ihrer Frau meinen, dann lassen Sie uns jetzt bitte allein.«

Zwei Augenpaare richteten sich auf den Arzt, der eben das Zimmer betreten hatte. Vertieft in ihren Streit hatte das Ehepaar das Klopfen überhört.

Hartmut Pastor funkelte Dr. Weigand an.

»Ich bin der Ehemann. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was mit meiner Frau ist.«

»Das wird Anette Ihnen im Anschluss an meine Untersuchung bestimmt selbst sagen.« Selten war Matthias ein Lächeln schwerer gefallen.

Pastor ballte die Hände zu Fäusten und marschierte aus dem Zimmer. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Anette schickte ihm einen waidwunden Blick nach. Dr. Weigand dagegen trat an den Geräteturm und kontrollierte die Werte seiner Patientin. Nachdem er die Tropfgeschwindigkeit der Infusion reguliert hatte, untersuchte er die Operationswunden.

»Das sieht alles sehr gut aus. Trotzdem müssen wir Sie noch eine Weile hierbehalten.«

»Wirklich? Wie lange noch?«

Täuschte sich Matthias, oder schwang wirklich Freude in Anette Pastors Stimme? Tatsächlich! Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Er wiegte den Kopf. Dieses Verhalten war ganz und gar untypisch. Normalerweise konnten es die Patienten kaum erwarten, endlich wieder entlassen zu werden. Bei Anette schien das Gegenteil der Fall zu sein.

»Das kommt ganz darauf an, wie schnell Sie sich erholen. Aber eine Woche halte ich durchaus für realistisch.«

»Sind nicht auch zwei möglich?« Sie blinzelte ihn an, als hätte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Und das, obwohl er sie in Gefahr gebracht hatte.

Dr. Weigand verschränkte die Hände vor dem Oberkörper und musterte sie forschend.

»Was ist los, Frau Pastor? Warum wollen Sie nicht nach Hause?«

»Ach, wissen Sie …« Sie betrachtete das Pulsoximeter an ihrem linken Zeigefinger. »Unsere Ehe befindet sich in einer Sackgasse. In letzter Zeit reden mein Mann und ich ständig aneinander vorbei.«

»Das kenne ich irgendwoher«, entfuhr es Matthias.

Mit diesen Worten brachte er Anette Pastor zum Lachen.

»Ich bitte Sie, Herr Doktor. Ein Mann wie Sie hat doch bestimmt eine wunderschöne Frau, bezaubernde Kinder …« Sie hielt inne, sah ihn aus fragenden Augen an.

»Ich hatte eine wunderschöne Frau und eine bezaubernde Tochter.« Er seufzte tief. »Leider war ich zu dumm, um mein Glück zu bewahren.«

»Das klingt so, als ob Sie Ihre Frau noch lieben.«

»Und wie ich sie liebe! Das weiß ich jetzt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob dieses Gefühl noch auf Gegenseitigkeit beruht.«

»Dann fragen Sie sie.«

»Wie bitte?« Der Liebeskummer des Arztes lenkte Anette Pastor zumindest kurz von ihren eigenen Sorgen ab. »Gehen Sie zu ihr und reden Sie mit ihr, solange es noch möglich ist. Mein Mann und ich haben diese Chance verpasst. Seien Sie nicht genauso dumm.« Sie zwinkerte ihm zu, streckte die Hand nach seiner aus und drückte sie. »Nur Mut. Sie können das.«

Matthias spürte die Schwielen, die raue Haut der Hausfrauenhand. Gleichzeitig dachte er an Sophie. War es nicht genau das, was Daniel von ihm verlangt hatte? Und nun gab ihm sogar eine wildfremde Frau denselben Rat.

War das ein Zeichen? Ein Wink des Schicksals?

»Sie haben recht. Ich muss mit Sophie reden.« Plötzlich hatte Matthias es eilig. Er hatte schon viel zu viel Zeit verschwendet. »Vielen Dank, Frau Pastor. Wir sehen uns später.«

»Wie lange kann ich denn jetzt hierbleiben?«, rief sie ihm nach.

Doch da fiel die Tür schon hinter ihm ins Schloss.

*

»Sie können sich wohl gar nicht losreißen?«

Die ein wenig spöttische Stimme ließ Dr. Milan Aydin innehalten. Ein geübter Griff, und er drehte sich mitsamt Rollstuhl um. Sah hinauf zu seinem Chef, der vor ihm Halt gemacht hatte.

»Wieso?«

Daniel Nordens Lächeln wurde tiefer.

»Das muss Ihnen nicht peinlich sein. Ganz im Gegenteil. Eine Frau wie Muriel …«

Aydin fuchtelte mit der rechten Hand durch die Luft.

»Was reden Sie da? Natürlich kann ich mich losreißen. Sonst würde ich ja wohl kaum heimfahren.«

Dr. Norden sah sich um.

»Ich kenne die Klinik schon eine ganze Weile. Deshalb bin ich ganz sicher, dass hier kein Ausgang ist.«

»Was?« Milan fuhr herum. »Und was ist das hier, bittesch … ?« Das Wort blieb ihm im Hals stecken. Dort, wo er den Seiteneingang erwartet hatte, war nichts weiter als ein raumhohes Fenster. Seine Blicke wanderten weiter. Ohne es zu bemerken, war er in dem Gang gelandet, in dem Muriels Krankenzimmer lag. Er schlug sich an die Stirn. »O Mann, ich bin völlig übermüdet.«

Unvermittelt fühlte sich Daniel an seinen Freund Matthias erinnert.

»Ich glaube eher, dass der Grund für Ihre Verwirrung woanders liegt«, erklärte er mit vielsagendem Blick auf das Namensschild von Muriel, das draußen neben der Tür klebte. »Solange Ihr Privatleben keinen Einfluss auf Ihre berufliche Qualifikation hat, habe ich nichts dagegen.« Er zwinkerte dem Kollegen zu und wollte sich wieder auf den Weg machen.

»Halt!«, rief Milan ihm nach und beeilte sich, ihm zu folgen. Die Rollstuhlreifen quietschten auf dem Boden. »Wo wollen Sie hin?«

»Zu Frau Buri. Ich bringe ihr ein Medikament gegen ihren Husten.« Er hielt die Schachtel hoch. »Aber wenn Sie wollen, können Sie das gern übernehmen.«

Milan Aydin zögerte nur kurz. Dann streckte er sich nach der Schachtel und rollte davon.

Keine zwei Minuten später stand er in Muriels Zimmer. Sie saß auf dem Bettrand. Ihr rechtes Bein steckte zur Hälfte in der Jeans. Das Kliniknachthemd lag vor ihr auf dem Fußboden.

»Was machst du da?«, fragte Milan entgeistert.

Sie sah nur kurz hoch.

»Wonach sieht es denn aus?«

»Du kannst die Klinik noch nicht verlassen. Das wäre lebensgefährlich.« Milan sah ihr dabei zu, wie sie von der Bettkante rutschte und die Hose über die Hüften zog.

»Ach was!« Muriel schloss den Reißverschluss, schlüpfte in Glitzershirt und Pumps – das Outfit des vergangenen Abends, das Milan in weiser Voraussicht noch in der Nacht mitgenommen hatte – und stackste hinüber zum Stuhl, wo ihre Tasche lag. Sie hängte sie über die Schulter und sah sich um. »Lebensgefahr! Das behauptet ihr Ärzte doch nur, damit ihr die Patienten länger einsperren und mehr Geld an ihnen verdienen könnt.«

»Warum sollten wir? Mein Gehalt bleibt immer das Gleiche. Egal, ob ich drei oder zehn Operationen am Tag mache.«

»Meinetwegen. Ist ja auch egal.« Muriel warf das Haar in den Nacken und wollte an Milan vorbei zur Tür gehen.

Mit einer geschickten Drehung versperrte er ihr den Weg.

»Hey, was soll denn das?«, fauchte sie wie eine wütende Katze.

»Wo willst du hin?«

Sie stützte die rechte Hand in die Hüfte und musterte ihn von oben herab.

»Nach Hause. Ich stehe nicht so auf Krankenhäuser.«

»Niemand mag Kliniken. Aber das ist noch lange kein Grund, sein Leben aufs Spiel zu setzen.«

Muriel rollte mit den Augen.

»Es geht mir gut. Mir fehlt nichts. Ehrenwort.« Sie hob die rechte Hand und streckte Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Luft.

Milan Aydin musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Eine Frau wie diese Muriel Buri war ihm noch nie begegnet. Er hätte es nie zugegeben. Aber sie war die personifizierte Herausforderung.

»Tut mir leid«, erwiderte er. »Aber diesmal kann ich es dir nicht so leicht machen wie gestern Abend.«

Muriel überlegte kurz. Auf einmal machte sie kehrt. Mit Mannequinschritten ging sie zurück zum Bett und setzte sich auf die Bettkante. Schlug die Beine übereinander.

»Na schön.« Selbst mit Grimasse sah sie umwerfend aus. »Dass ich Muriel Buri heiße und 28 Jahre alt bin, weißt du ja schon. Was könnte ich noch interessieren? Vielleicht, dass ich nach dem Abitur Maschinenbau studiert habe.«

Milan verschluckte sich.

»Maschinenbau? Alles klar«, krächzte er. »Nicht gerade ein Klassiker für Frauen.«

»Was soll denn das jetzt heißen?« Ihre Augen feuerten wütende Blitze auf ihn ab. »Auf diesem Niveau brauchen wir uns gar nicht weiter unterhalten.«

»Schon gut. Es war nicht so gemeint«, versicherte er schnell und atmete auf, als sich ihre Miene entspannte. »Was hast du nach dem Studium gemacht?«

Muriel klemmte sich eine blonde Rapunzelsträhne hinters Ohr. Die Art, wie sie den Kopf neigte, raubte Milan Aydin den Atem.

»Im fünften Semester abgebrochen.« Sie lachte wie ein Mädchen. »Das Leben ist zu kurz, um es in stickigen Hörsälen zu verbringen. Ich habe meinen Rucksack gepackt, bin zum Flughafen gefahren und habe mir ein Ziel möglichst weit weg ausgesucht. Seitdem bin ich meistens unterwegs. Neuseeland, Australien, Papua Neuguinea, Philippinen.« Ihr Gesicht veränderte sich. Bekam ein besonderes Strahlen. Als leuchtete es von innen. »Als nächstes möchte ich den Kontinent wechseln und nach Südamerika gehen. Nach Patagonien.«

Milan Aydin sah sie an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, mit ihr zu kommen.

»Und wie finanzierst du das alles?«

»Ich schreibe im Internet über meine Erfahrungen, veröffentliche Fotos und Reiseberichte und verdiene Geld mit der Werbung, die Firmen auf meinen Seiten schalten«, erzählte sie unbeschwert. »Und wenn das Geld mal knapp wird, suche ich mir einen Job in einem Hostel oder auf einer Farm. Arbeit gibt es eigentlich immer irgendwo.«

Milan schwirrte der Kopf. Wie hatte er diese Frau nur so falsch einschätzen können? Dabei war er doch gerade auf seinen Ruf als Frauenkenner besonders stolz. Er sah ihr dabei zu, wie sie vom Bett rutschte.

»Bin ich jetzt entlassen, Herr Doktor?«, fragte sie keck.

Milan Aydin konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal sprachlos gewesen war.

»Ja … nein … ach, keine Ahnung.« Wütend rollte er zur Seite. Machte den Weg frei. Sah Muriel dabei zu, wie sie zur Tür ging. Sie hatte die Hand auf der Klinke, als er wenigstens einen klaren Gedanken zu fassen bekam.

»Und was, wenn ich dich bitte zu bleiben?«

*

Wie so oft, wenn eine schwierige Diagnose anstand, versammelten sich ein paar Kollegen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Gemeinsam eine Lösung zu finden. Diesmal hatten sich auf Matthias Weigands Bitte hin Dr. Daniel Norden und Christine Lekutat im Besprechungszimmer versammelt. Gemeinsam betrachteten sie die Bilder, die wie ein modernes Kunstwerk in Schwarzweiß von der Leinwand strahlten.

»Frau Schöns Bauchspeicheldrüse sieht völlig unauffällig aus.« Dr. Norden hatte die Bilder aus allen Perspektiven betrachtet. Ohne Ergebnis.

Auch Matthias war ratlos.

»Warum ist es so schwer, ein Insulinom zu finden?«, murmelte er vor sich hin. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Noch einen Fehler konnte und wollte er sich nicht erlauben.

Ein leises Krachen und Knirschen ließ ihn herumfahren. Christine Lekutat knabberte mit Vergnügen an einem Keks aus der Großpackung.

»Was denn?«, verteidigte sie sich gegen den stummen Vorwurf. »Besonders für einen Arzt ist es wichtig, immer auf eine ausreichende Kalorienzufuhr zu achten. Die Folgen einer Unterzuckerung sind ja hinlänglich bekannt.«

»Es wäre trotzdem nett, wenn Sie sich auf die Bilder konzentrieren könnten.«

Christine schob auch noch den letzten Rest Keks in den Mund.

»Daf habe if längft getan«, nuschelte sie mit vollem Mund und trank einen Schluck Wasser nach. »Und um Ihre Frage von vorhin zu beantworten: Ein Insulinom lässt sich deshalb so schwer lokalisieren, weil es aufgrund seiner geweblichen Struktur kaum von der Umgebung zu unterscheiden ist. Da hilft auch Kontrastmittel kaum weiter.«

»Ist denn sicher, dass die Patientin wirklich an einem Insulinom leidet?«, stellte Dr. Norden die alles entscheidende Frage.

»Wir konnten den Tumor durch einen intraarteriellen Kalziumstimulationstest nachweisen.« Dr. Weigand griff nach seinem Tablet und suchte in seinen Dateien nach dem Bericht. »Hier!« Er reichte Daniel das Gerät.

Der Klinikchef überflog die Werte.

»Hmmm. Du hast recht. Das Ergebnis spricht für sich.« Wieder ein Blick hinauf zu den Aufnahmen. »Dummerweise ist ein Insulinom häufig so klein, dass es über Jahre nicht gefunden werden kann.« Er schickte Matthias einen Blick, der Bände sprach. »Es tut mir sehr leid für deine Patientin.«

Matthias Weigand stemmte die Hände in die Hüften.

»Was soll das heißen? Dass wir nichts tun können, obwohl wir wissen, dass da ein Tumor ist? Wie soll ich Nina das bitteschön beibringen? Und Sophie?« Er raufte sich die Haare.

Christine Lekutat zuckte mit den Schultern.

»Das Leben ist hart und ungerecht.« Die Chirurgin war gleichermaßen bekannt und gefürchtet für ihre Sprüche. Diesmal konnte Daniel Norden ihr aber noch nicht einmal böse sein.

Er trat zu Matthias und klopfte ihm auf die Schulter.

»Nimm es dir nicht so zu Herzen. Wir können nicht immer gewinnen.«

Dr. Weigand drehte sich um. Sah seinem Freund und Chef ins Gesicht.

»Schon möglich«, erwiderte er bitter. »Aber warum habe ich das Gefühl, dass ich zur Zeit nur noch verliere?«

*

Als Nina müde wurde und schlafen wollte, beschloss ihre Freundin Sophie, dem Klinikkiosk einen Besuch abzustatten. Sie packte Lea in den Kinderwagen und machte sich auf den Weg.

Inzwischen hatte der erste Ansturm nachgelassen, sodass das Klingeln der altehrwürdigen Kasse das Murmeln und Plaudern übertönte. Der Inhaber Korbinian Windisch stand hinter dem Ladentisch und verkaufte Zahnpasta und Duschgel, Zeitschriften und Knabbereien, die der Arzt verboten hatte, auf die manch ein Patient aber trotzdem nicht verzichten wollte. Eine von mehreren Teilzeitkräften kümmerte sich um die Gäste, die ihre wohlverdiente Pause unter Palmen sichtlich genossen.

Nur ein Mann machte eine Ausnahme. Sophie entdeckte ihn, als ihre Augen den Platz vor dem Kiosk nach einem freien Tisch rasterten. Ganz allein saß Hartmut Pastor in einer Ecke und starrte vor sich hin. Ungewöhnlich genug, dass der Ausdruck in seinem Gesicht an Sophies Herz rührte. Empathie war normalerweise keine ihrer Stärken. Doch die Krise mit Matthias schien neue Seiten in ihr zum Klingen zu bringen. Sie hob Lea aus dem Kinderwagen. Mit der Kleinen auf dem Arm marschierte sie kurzentschlossen auf den einsamen Mann zu.

»Entschuldigung, ist hier noch frei?«

Hartmut blickte auf. Sah Sophie und ihre Tochter. Und sah sie doch nicht.

»Ja, ja. Setzen Sie sich«, erwiderte er nach einer gefühlten Ewigkeit.

Sophie setzte sich auf den freien Stuhl. Wie eine Prinzessin thronte Lea auf ihrem Schoß.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sie sich, nachdem sie Apfelkuchen und Tee bestellt hatte.

Hartmut kratzte die letzten Reste Sahne vom Teller und schob die Gabel in den Mund. Er trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse umständlich wieder zurück. Sophie wollte ihre Frage schon wiederholen, als er sich offenbar an sie erinnerte.

»Meine Frau und ich, wir sind schon seit 30 Jahren verheiratet.«

»Glückwunsch!« Sophie lächelte wehmütig.

Matthias und sie hatten noch nicht einmal ein Jahr Beziehung geschafft. Von Ehe ganz zu schweigen.

»Unsinn!« Er winkte ab. »Ich glaube, wir sind nur noch aus Gewohnheit zusammen. Warum ist mir das vorher nicht aufgefallen?« Er lehnte sich zurück. Ließ den Blick schweifen und nahm seine Umgebung doch nicht wahr. »Dabei waren wir einmal das, was andere ein Traumpaar nannten.« Er seufzte. »Ich glaube, wir haben beide nicht bemerkt, wie sehr wir uns verändert haben.«

Sophie hatte alle Hände voll damit zu tun, den Floh auf ihrem Schoß am Herunterspringen zu hindern. Trotzdem hörte sie aufmerksam zu.

»Vielleicht ist genau das das Problem«, mutmaßte sie. »Das Leben findet im Hier und Jetzt statt. Nicht vor zwanzig oder dreißig Jahren.«

Hartmut stützte das Kinn in die Hand.

»Es war trotzdem schöner damals. Das Einzige, das uns heute noch verbindet, ist Essen.« Diese Erkenntnis schmeckte bitter wie Galle. Hartmut Pastors Gesichtsausdruck bestätigte es.

Sophie bedankte sich bei der Bedienung. In letzter Sekunde rettete sie das Stück Kuchen davor, von zwei flinken Patschehänden in ein Schlachtfeld verwandelt zu werden.

»Wer ist denn der behandelnde Arzt?«, erkundigte sie sich und schob Lea ein Apfelstück in den Mund.

»Dr. Matthias Weigand«, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Hartmut Pastor legte den Kopf schief und sah Sophie an. »Hat er etwa Erfahrung in Eheberatung?«

Dieser Gedanke ließ sie auflachen.

»Das nicht«, gestand sie und trank einen Schluck Tee. Über den Rand der Tasse blinzelte sie Hartmut Pastor an. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

*

»So, jetzt weißt du es.« Muriel Buri hatte ihr Vorhaben nicht wahrgemacht. Sie hatte die Klinik nicht verlassen. Warum, wusste sie selbst nicht so genau. War der bittende Ausdruck in Milans Augen schuld daran gewesen? Jedenfalls war sie auf die Bettkante zurückgekehrt und hatte ihre Geschichte erzählt.

Milan Aydin musterte sie.

»Du glaubst also, dass du an ALD erkrankt bist.«

»Meine Mutter ist daran gestorben. Und glaube mir, das war nicht lustig.«

In diesem Moment war Dr. Aydin ganz Arzt.

»Soweit ich weiß, betrifft diese Erbkrankheit in der Regel männliche Nachkommen. Es kommt nur sehr selten vor, dass beide X-Chromosomen einer Frau den Defekt tragen, der dann zur Ausprägung der Krankheitssymptome führt.«

»Ein Lottogewinn sozusagen.« Muriel lachte. Es klang nicht froh. »Und glaube mir: So was zu erleben … wie jemand, den du liebst, nach und nach an so einer Krankheit kaputt geht …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das willst du nicht.«

»Natürlich nicht. Aber ist das ein Grund, ein Studium abzubrechen? Drogen zu nehmen? Eine Behandlung zu beenden?«

»Es ist ein guter Grund dafür, alles mitzunehmen, was uns dieses Leben zu bieten hat.« Muriel warf den Kopf in den Nacken. Sah ihn an, trotzig wie ein kleines Mädchen, das seinen Kopf durchsetzen wollte.

Auf Milans Stirn kräuselte sich ein Meer aus Falten. Täuschte er sich oder waren wirklich noch keine Krankheitssymptome zu erkennen?

»Wie weit ist die Erkrankung bei dir fortgeschritten?«

»Woher soll ich das wissen?«

Moment mal!

»Du hast dich nicht testen lassen?« War das denn zu fassen? »Die Chancen stehen 50 zu 50, dass du die Krankheit nicht in dir trägst. Und dann ist es auch noch nicht gesagt, dass sie so schwerwiegend verläuft.«

Muriel schürzte die Lippen.

»Ich will es nicht wissen, okay? Ich will mir keine unsinnige Hoffnung machen, nur um dann enttäuscht zu werden. Bei meiner Mutter haben uns die Ärzte Hoffnungen gemacht. Und? Was hat es gebracht?«, redete sie sich immer mehr in Rage. »Dass sie nach und nach alle neurologischen Fähigkeiten verloren hat. Ich will mich nicht an die trügerische Hoffnung klammern und alles verlieren, was ich jetzt habe.« Eine einsame Träne rann über ihre Pfirsichwange.

Milan konnte nur den Kopf schütteln.

»Was macht dein Leben denn jetzt aus? Drogen? Alkohol? Affären? Ist es das, was dich glücklich macht?« Seine Stimme war dunkel vor Bitterkeit.

»Und wenn schon?« Mit dem Handrücken wischte Muriel die Träne weg. Fast ärgerlich, wie es schien. »Wenigstens habe ich Spaß dabei.«

Eine Weile sagte keiner ein Wort. Im Zimmer war es still. So still, dass die Geräusche von draußen hereinwehten. Schritte näherten und entfernten sich wieder. Geschirr klapperte. Der spitze Schrei eines Kindes weckte Milan schließlich aus seinen Gedanken.

»Wovor hast du Angst, Muriel?«, fragte er rau. »Dass du gesund sein könntest und damit die Legitimation für dein Lotterleben verlierst? Dass du dir nicht mehr verbieten kannst, dich zu verlieben.« Erschrocken hielt er inne. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Doch es war zu spät, um die Worte zurückzunehmen.

Muriels Miene war der beste Beweis dafür.

*

Auf dem Weg in sein Büro kam Dr. Matthias Weigand am OP-Plan vorbei, der prominent an der Wand gegenüber dem Tresen hing. Die Lästerschwestern standen davor und tuschelten.

»Weigand … der Chef … gestrichen … suspendiert …« Die beiden gaben sich nicht gerade Mühe, leise zu reden.

Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Dummerweise gehörte Zaubern nicht zu seinen Stärken. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mannhaft einer möglichen Konfrontation zu stellen. Er straffte die Schultern und marschierte hoch erhobenen Hauptes vorbei.

Die Rettung kam von unerwarteter Seite.

»Matthias, da bist du ja endlich!«, rief Sophie schon von Weitem. Der Kinderwagen mit der schlafenden Lea darin blieb in seinem Büro zurück. Winkend lief sie auf ihren Ex-Freund zu. »Ich muss unbedingt mit dir reden.« Sie packte ihn am Arm und zog ihn mit sich.

Die Blicke der Lästerschwestern ließen Matthias kalt. Völlig überrumpelt stolperte er neben Sophie her. Er kam noch nicht einmal dazu, ihre lange vermisste Nähe zu genießen. Sie wartete, bis er das Zimmer betreten hatte. Dann schloss sie die Tür. Lehnte sich mit dem Rücken dagegen, als hätte sie Angst, er könnte die Flucht ergreifen.

»Sag mal, hast du eine übergewichtige Patientin?«, platzte sie heraus.

Matthias schüttelte sich.

»Wie bitte?«

»Eine Patientin, der Essen sehr wichtig ist.«

»Anette Pastor. Wieso fragst du?«

Sophies Augen leuchteten auf.

»Weil ich vorhin mit ihrem Mann gesprochen habe.«

In diesem Moment ahnte Matthias Weigand, woher der Wind wehte.

»Lass mich raten! Er hat sich bei dir darüber beschwert, dass seine Frau übergewichtig und deshalb krank geworden ist.«

Zu seiner Überraschung schüttelte Sophie den Kopf.

»Falsch. Er hat festgestellt, dass sie nur noch das Essen verbindet.«

»Das ist wahrscheinlich noch gar nicht mal so falsch.« Matthias ging hinüber zum Kinderwagen. Warf einen Blick auf Lea. Sie lächelte im Schlaf. »So viel ich weiß, haben die beiden noch nicht einmal Kinder.«

Mit verschränkten Armen lehnte Sophie an der Tür. Sie ließ Matthias nicht aus den Augen.

»Auch das wäre nicht genug für ein erfülltes Liebesleben.«

»Worauf willst du hinaus?«

Sophie stieß sich von der Tür ab und schlenderte zu ihm hinüber. Beugte sich über seine Schulter und betrachtete das Kind.

»Herr Pastor hat mir erzählt, dass er und seine Frau einmal das waren, was man ein Traumpaar nennt. Er vermisst diese Zeit schmerzlich.«

Ich auch!, schoss es Matthias durch den Kopf. Laut sagte er: »Mag sein. Aber was habe ich damit zu tun?«

»Meinst du nicht, du könntest mal mit Frau Pastor sprechen? Auf sie einwirken? Wenn sie wirklich übergewichtig ist, schadet ja ein bisschen Sport nicht.« Sophie lächelte. Streifte wie zufällig seine Schulter. »Wer weiß, vielleicht findet das Ehepaar über ein gemeinsames Hobby wieder zusammen.«

Dieser Augenaufschlag! Am liebsten hätte Matthias Sophie in seine Arme gezogen und geküsst, bis sie um Gnade flehte. Natürlich tat er es nicht.

»Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Du bist ein Schatz!« Ehe er es sich versah, spürte er ihre Lippen auf den seinen.

Doch bevor Matthias verstand, was gerade geschehen war, packte sie den Kinderwagen und verschwand aus dem Büro. Nur der Rest Lippenstift bewies, dass er nicht geträumt hatte.

*

»Dieser Krakowitz ist wirklich ein Stinkstiefel«, schimpfte Dr. Aydin und warf die Patientenakte auf den Tresen.

»Vorsicht!« Schwester Elena streckte die Hand aus und fing das Geschoss ab, ehe es einer Kollegin am Schreibtisch an den Kopf knallen konnte. »Du hast doch gehört, was der Chef gestern bei der Übergabe gesagt hat. Keine despektierlichen Äußerungen über unsere Patienten.« Sie verstaute die Akte an ihrem Platz im Hängeschrank. Legte den Kopf schief und musterte Aydin eingehend. »Sag mal, stimmt es, was so gemunkelt wird? Du hast eine neue Flamme hier?«

Es war nicht weiter schwer zu erraten, woher diese Information kam.

»Offenbar hat dir deine Informationsquelle verschwiegen, dass es schon wieder vorbei ist.«

Schwang da etwa Bedauern in seiner Stimme mit?

»Moment mal: Sie hat dich abserviert?« Schwer vorstellbar. Im Normalfall war Milan derjenige, der das zarte Pflänzchen der Liebe erbarmungslos zertrat. Das wusste sogar Elena.

»Musst du auch noch mit dem Messer in meiner Wunde bohren?«, fauchte er sichtlich verletzt. »Und so einfach, wie es aussieht, ist es übrigens nicht. Muriel hat ALD. ­Zumindest mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit.«

»Wie jetzt?«

»Ihre Mutter ist daran gestorben«, fuhr Milan fort. »Offenbar litt sie unter der schweren Version.«

Elena zählte eins und eins zusammen.

»Und jetzt lebt diese Muriel ihr Leben auf der Überholspur, um nur ja nichts zu verpassen.«

»Komisch. Heute begegnen mir nur kluge Blondinen«, witzelte Milan. »Heutzutage kann man sich auch auf gar nichts mehr verlassen.«

»Haha!« Elena drehte ihm eine Nase.

Im nächsten Atemzug war sie wieder ernst. »Weißt du was? Ich verstehe deine Flamme.«

Milan legte den Kopf schief.

»Was denn? Es ist doch gar nicht sicher, dass sie das Gen in sich trägt.«

»Sie hat sich nicht testen lassen?«

Milan seufzte.

»Ich habe alles versucht, um sie zu überzeugen. Vergeblich.«

Er bemerkte nicht, dass Elenas Blick abgelenkt wurde. Sie hatte die blonde Schönheit sofort erkannt, kaum dass sie um die Ecke gebogen war.

»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, erwiderte sie.

Milan sah sie fragend an.

»Wie meinst du das?«

Elena nickte mit dem Kinn Richtung Muriel.

»Ich wusste ja, dass du einen guten Geschmack hast …«

Endlich verstand Milan. Er legte die Hände auf die Greifreifen. Die Rollstuhlräder knirschten. Sah Muriel und blieb kurz stehen. Dann schob er an. Rollte direkt auf sie zu. Als sie schon befürchtete, überfahren zu werden, bremste er.

»Du bist ja immer noch hier.«

Muriel verzog den Mund.

»Du hast mich überzeugt.« Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter. »Ich möchte, dass ihr mich testet.«

*

Dr. Daniel Norden warf den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Aus persönlichen Gründen hatte Matthias Weigand ihn gebeten, den Fall Schön zu übernehmen. Es nützte nichts, die Patientin noch länger auf die Folter zu spannen. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg zu Nina und schob den Stuhl zurück, als von draußen Stimmen hereinwehten. Kein Zweifel: Seine Frau scherzte mit Andrea Sander.

Gleich darauf stand Fee vor ihm.

»Wohin des Wegs, schöner Mann?«, fragte sie und hielt ihm einen Teller unter die Nase.

Das Aroma war atemberaubend.

»Walderdbeerkuchen von Tatjana«, hauchte Daniel und sank auf den Stuhl zurück.

Fee setzte sich auf seinen Schoß. Sie stach ein Stück Kuchen ab und fütterte ihn damit.

»Eine Gabel für dich. Und eine für mich.« Während sie genüsslich kaute, ließ sie ihren Mann nicht aus den Augen. »Was ist? Du widersprichst ja gar nicht.«

»Ach, es macht mich fertig, dass wir das Insulinom von Nina Schön nicht finden können.«

Felicitas musste nur kurz nachdenken.

»Du meinst DIE Nina, Sophies Freundin?« Daniel und Fee waren gut mit Sophie und Matthias befreundet. Nina hatten sie bei einem Fest der beiden kennengelernt. »Das ist also die Frau, über die sich die Lästerschwestern den Mund zerreißen. Und ich wunderte mich schon, mit wem Matthias eine Affäre haben sollte.« Sie schüttelte den Kopf, ehe sie Daniel mit einem weiteren Happen Kuchen versorgte. »Nina leidet an einem Insulinom?«

»Der Kalziumstimulationstest spricht für sich. Leider verrät er uns nicht, wo genau sich dieses Ding befindet.«

Fee kratzte die letzten Krümel vom Teller. Sie schob die Gabel in den Mund und leckte sie gründlich ab. Danach legte sie sie aber nicht etwa auf den Teller zurück, sondern klopfte damit gegen die Lippen. Ihr Blick fiel durch das Fenster nach draußen.

Ein Windhauch spielte mit dem satten Grün der Bäume.

»Wenn ich mich recht erinnere, gibt es seit ein paar Jahren ein Verfahren, das solche Tumoren mit Hilfe von Radioaktivität markiert und so lokalisierbar macht.«

Ihre Worte fühlten sich an wie ein Guss eiskaltes Wasser.

»Du hast recht. Davon habe ich auch schon gehört. Warum ist mir das nicht eingefallen?« Daniel packte seine Frau um die Hüfte und stellte sie auf den Boden. »Entschuldige, Teuerste, ich muss an den Computer.« Seine Hände flogen über die Tastatur. Er musste eine Weile suchen, bis es ihm gelang, die Information aus den Tiefen des Internets zu fischen. »Da haben wir es!« Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er den Text überflog. Mit jedem Wort wanderten seine Mundwinkel ein Stück höher. »Sieh mal! Hier! Hier steht es!« Dr. Norden war aufgeregt wie ein Kind an Weihnachten. »In einer neuen Studie konnten mit diesem Verfahren 95 Prozent der Insulinome lokalisiert werden. 95 Prozent!« Daniel sprang vom Stuhl auf und umarmte seine Frau, dass sie nach Luft schnappte. »Du bist die Beste, Feelein. Wenn du nicht schon meine Frau wärst, würde ich dir jetzt einen Antrag machen.«

Felicitas schob ihren Mann ein Stück von sich und sah ihn an. Ihre Augen blitzten.

»Wir könnten unser Eheversprechen erneuern. Das macht man in Amerika häufiger.«

»Alles, was du willst, mein Liebling. Aber zuerst muss ich zu Nina Schön.«

Ehe Fee es sich versah, fand sie sich allein im Zimmer wieder.

»Na warte, Freundchen.« Je länger sie über ihre Idee nachdachte, umso mehr Gefallen fand sie daran. »So leicht kommst du mir nicht davon.«

*

Unterdessen stand Matthias Weigand am Bett seiner Patientin. Sophie hatte ihn überzeugt. Doch wie er das Gespräch beginnen sollte, davon hatte sie kein Wort gesagt. Um Zeit zu gewinnen, blätterte er in der elektronischen Patientenakte.

»Hmmm, das sieht ja alles ganz gut aus.«

»Das freut mich.«

Anettes Tonfall irritierte den Arzt. Er blickte vom Tablet auf.

»Stimmt was nicht?« Sein Blick fiel auf ihre Hände, die unablässig die Decke kneteten.

»Ich … ich habe nachgedacht, Herr Doktor. Aber bitte lachen Sie mich nicht aus.«

»Das würde ich nie tun.« Matthias Weigand schaltete das Gerät aus und legte es beiseite. Er setzte sich auf die Bettkante. »Worum geht es?«

»Ich habe Ihnen ja erzählt, dass mein Mann und ich … nun ja … Probleme haben. Glauben Sie, dass es Sinn hat, wenn ich mit Sport anfange?« Endlich war es heraus.

»Natürlich! Das ist eine hervorragende Idee. Es muss ja nicht gleich Hochleistungssport sein.«

Anette Pastor atmete auf.

»Und an was hatten Sie da gedacht? Ich kenne mich ja nicht so aus.«

Matthias überlegte kurz.

»Wie wäre es mit einer Walking-Gruppe? Da könnten Sie zusammen mit Ihrem Mann hingehen und neben dem gemeinsamen Spaß auch noch neue Leute kennenlernen.« Er bemerkte, wie sich Anettes Hände noch fester in die Decke wickelten. »Es ist nie zu spät, es noch einmal zu probieren. Nur eine Frage des Willens.«

»Da fängt das Problem schon an.«

»Fragen Sie Ihren Hartmut doch erst einmal, bevor Sie schon vorher die Flinte ins Korn werfen.« Fast hätte Matthias über sich selbst gelacht. Wer war er eigentlich, dass er solche Ratschläge erteilte? Er hatte doch selbst keine Ahnung. Bevor er aber Gelegenheit hatte, sich bei Anette Pastor zu entschuldigen, klickte es leise. Er drehte sich um.

»Herr Pastor!«, begrüßte er den Mann lächelnd.

»Hartmut«, sagte Anette leise und rutschte ein Stück tiefer unter die Decke.

Matthias Weigand ging zur Tür. Er hatte getan, was er tun konnte, um Sophies Wunsch zu erfüllen. Den Rest mussten Hartmut und Anette selbst erledigen.

»Ich komme später noch einmal wieder.«

Keiner der beiden beachtete ihn.

Hartmut trat ans Bett seiner Frau. Er haderte mit sich.

»Ich … in den letzten Monaten habe ich dich nicht so behandelt, wie du es verdient hast. Dafür wollte ich mich bei dir entschuldigen und dir versprechen, dass ich mich ändern werde.«

Anette traute ihren Ohren kaum. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Und verschwand gleich wieder.

»Das freut mich. Wirklich«, versicherte sie. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Trotzdem weiß ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll.«

»Ich habe mir da was ausgedacht.« Hartmut nahm die Hände hoch. »Aber nicht, dass du mir gleich wieder böse bist.«

»Sag’ schon!«

»Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam Sport machen? Ich meine, nur weil ich nicht dick werde, heißt das ja noch lange nicht, dass ich gesund lebe. Mir schadet ein bisschen Bewegung mit Sicherheit auch nicht.«

Anette riss die Augen auf. Mit allem hatte sie gerechnet. Nur damit nicht.

»Weißt du was? Dasselbe habe ich mir vorhin auch überlegt.«

»Wirklich?« Zum ersten Mal seit langer Zeit glätteten sich die Falten auf Hartmuts Stirn. »Dann haben wir uns vielleicht doch nicht so sehr auseinandergelebt, wie wir dachten.«

Anette sagte nichts mehr. Stattdessen lachte sie. Und als sie in Hartmuts Armen lag – die erste Umarmung seit Monaten – wischte sie sich heimlich eine Freudenträne aus dem Gesicht.

*

Wie ein Tiger im Käfig lief Muriel den Klinikflur auf und ab. Um ihre Hände am Zittern zu hindern, hatte sie sie kurzerhand in die Jeanstaschen verbannt. Wann immer sie ein Knirschen, das Quietschen von Gummi auf dem Boden hinter sich hörte, fuhr sie herum. Fehlalarm! Jedes Mal! Seit Milan Aydin ihr Blut abgenommen hatte, war er spurlos verschwunden. War das seine Art, sich an ihr zu rächen? An dieser Frage knabberte sie noch, als sie ihn endlich sah. Wendig wie ein Hindernisläufer bahnte er sich seinen Weg, vorbei an Klinikbetten und Kollegen, die in Zweier- oder Dreiergruppen über den Flur hasteten. Milan war schneller. Mit einer bemerkenswerten Drehung stoppte er den Rollstuhl exakt vor ihren Füßen.

»Wow! Kann man das irgendwo lernen?«

Aydin hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als zu gestehen, wie viele Stundung Übung, wie viele Stürze und blaue Flecken ihn dieses Kunststück gekostet hatte. Er winkte lässig ab.

»Ich bin ein Naturtalent.« Schmunzelnd griff er nach den Unterlagen in seinem Schoß und hielt sie hoch.

Muriel starrte die Papiere an, als hielte er ihr eine Vogelspinne vor die Nase.

»Sind das die Ergebnisse?«

»Exakt.«

Muriel haderte mit sich. Plötzlich drehte sie sich um. Trat ans Fenster und starrte hinaus auf den Platz vor der Klinik. Ein paar Kinder drehten auf Fahrrädern ihre Runden. Muriel sah sie nicht.

»Ich weiß nicht, ob ich das wirklich wissen will.« Ihr Herz trommelte in ihrer Brust. »Eigentlich war mir das alles ganz recht so. Im Gegensatz zu meinen Freunden musste ich keine großen Pläne schmieden. Studium, Beruf, Hochzeit, Haus bauen, Kinder … das war was für die anderen.«

»Bis jetzt«, verkündete Milan triumphierend.

Muriel fuhr zu ihm herum.

»Heißt das … heißt das, ich bin … ich bin …«

»Genau. Das heißt es. Du. Bist. Gesund.« Milan lachte über’s ganze Gesicht. Er breitete die Arme aus.

Muriel zögerte kurz. Dann stürzte sie sich auf ihn. Sprang rittlings in seinen Schoß. Zerzauste sein Haar. Küsste ihn, als gäbe es kein Morgen mehr.

Die Welt drehte sich noch um Milan, als sie sich von ihm löste. Sie kletterte von ihm herunter. Warf das Rapunzelhaar auf den Rücken und strich das Glitzershirt glatt. Was für eine Frau!, ging es Milan durch den Kopf. Für sie würde er glatt monogam werden. Wenigstens für ein paar Monate.

Aber was war das? Warum ging sie zur Tür?

»Wo gehst du hin?«, rief er ihr nach.

Die Hand auf der Klinke, drehte sie sich noch einmal um.

»Ich gehe nach Hause und packe meine Sachen.« Muriel zwinkerte ihm zu. »Weißt du nicht mehr? Patagonien.«

»Aber ich dachte, du bleibst hier. Ich meine, jetzt, da du gesund bist, könnten wir doch noch ein bisschen Spaß zusammen haben.«

»Ach ja?« Muriel warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Hast du dich etwa in mich verliebt?« Sie schickte ihm eine Kusshand.

Das Nächste, was Milan Aydin mitbekam, waren Muriels Schritte, die sich entfernten und schließlich auf dem Klinikflur verhallten.

*

Nach seinem Besuch bei Anette Pastor konnte Matthias es nicht erwarten, zwei gute Nachrichten an den Mann respektive die Frau zu bringen. Ob Sophie noch in der Klinik war? Er suchte und fand sie im Klinikgarten. Leas Kinderwagen stand neben der Parkbank.

»Ist es nicht ein herrlicher Tag?« Sie sah von ihrem Buch auf – Prüfungsvorbereitung Differenzialdiagnostik und Differenzialtherapie in der Inneren Medizin – und hielt das Gesicht in die Sonne. »Meinetwegen könnte das ganze Jahr über Sommer sein.«

Matthias setzte sich neben sie.

»Der Wechsel der Jahreszeiten hat aber durchaus seinen Charme«, gab er zu bedenken.

»Stimmt auch wieder.« Sophie öffnete die Augen wieder und drehte sich zu ihm.

»Wir könnten uns darauf einigen, dass der Winter kürzer sein sollte.«

»Einverstanden.«

Ihr gemeinsames Lachen wehte über den Rasen. Es klang wie Musik in Matthias’ Ohren. Aber empfand Sophie dasselbe?

»Übrigens hat Daniel gerade angerufen. Nina hat sehr gute Chancen, dass das Insulinom gefunden wird und sie operiert werden kann.«

Sophie presste die Hände aufs Herz und strahlte ihn an wie die Sonne persönlich.

»Ein Glück! Ich hatte solche Angst um sie.«

Aber Matthias war noch nicht fertig.

»Außerdem komme ich gerade von Anette Pastor.«

Sophies Pupillen weiteten sich.

»Und? Hast du mit ihr gesprochen? Was hat sie gesagt?«

»Dass sie ihrem Mann vorschlagen will, gemeinsam Sport zu treiben. Eine Walking-Gruppe zu besuchen, zum Beispiel.«

Sophie klatschte in die Hände wie ein kleines Kind beim Anblick einer Eiswaffel.

»Aber das ist ja großartig!« Mitten in der Bewegung hielt sie inne. »Warum machst du denn so ein Gesicht?«

»Ich habe mich gefragt, wer ich eigentlich bin, dass ich solche Ratschläge erteile«, gestand Matthias. »Wenn ich doch selbst nicht in der Lage bin, eine anständige Beziehung zu führen.«

Langsam ließ Sophie die Hände sinken.

»Dazu gehören immer noch zwei.« Tapfer widerstand sie der Versuchung, seinem Blick auszuweichen. »Ich wollte es ja lange nicht einsehen. Aber ich glaube, ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dass es nicht geklappt hat mit uns.«

Matthias’ Herz tanzte Tango. Aber was, wenn er sich täuschte? Wenn er die Signale, die Sophie aussandte, wieder einmal missverstand? Wie so oft. Andererseits: Was hatte er zu verlieren?

Ohne noch länger darüber nachzudenken, rutschte er von der Bank. Fand sich knieend vor Sophie wieder. Ihre Hand in seiner ruhend. Täuschte er sich, oder zitterte sie?

»Heißt das … ich meine … « Er schluckte und räusperte sich. »Willst du es noch einmal mit mir versuchen?« Aber was war das? Warum sah Sophie ihn an, als wollte sie ihn fressen?

»Ich dachte, du wiederholst deinen Heiratsantrag«, beantwortete sie seine stumme Frage postwendend.

War denn das die Möglichkeit? Adrenalin flutete Matthias’ Adern. Er rappelte sich hoch. Einen Moment lang war er versucht, Sophies Hand fallen zu lassen. Davonzulaufen und nie wieder zu kommen. Doch sein Herz war anderer Meinung. Statt sie loszulassen, riss er sie an sich. Nase an Nase standen sie voreinander. So eng, dass sie die Pünktchen in ihren Pupillen sehen konnten.

»Kannst du eigentlich ein Mal, nur ein einziges Mal, mir die Entscheidung überlassen?«, fragte Matthias mit bebender Stimme.

Wie bitte? Im Ernst? Sophie lachte?

»Na gut. Ein Mal«, raunte sie ihm zu. »Aber beschwer dich hinterher nicht«, drohte sie noch, ehe sie ihn küsste, bis Lea in ihrem Kinderwagen wütend protestierte.

Chefarzt Dr. Norden Box 7 – Arztroman

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