Читать книгу Familie Dr. Norden Box 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6
ОглавлениеMit düsterer Miene kam Dr. Graef aus einem Krankenzimmer und lief an Dr. Jenny Behnisch vorbei. Er schien sie gar nicht zu sehen, und sie blieb bestürzt stehen.
»Michael, was habe ich dir denn getan?« fragte sie. Jetzt drehte er sich erschrocken auf dem Absatz um und starrte sie geistesabwesend an.
»Entschuldige, Jenny, aber ich war mit meinen Gedanken ganz woanders.«
»Darf ich fragen, wo du warst? Es geht doch Frau Becher nicht etwa wieder schlechter?«
»Das nicht, aber sie ist die dritte Patientin, die sich über die Mellet beschwert, aber sie hat mich auch ganz direkt gefragt, wie wir auf die gekommen sind, sie passe doch gar nicht zu uns.«
Jenny Behnisch seufzte schwer. »Ich wollte Professor Schwerdt einen Gefallen tun. Er hat sich sehr für sie eingesetzt und ihr ein gutes Zeugnis ausgestellt.«
»Und warum beschäftigt er sie nicht selbst? Er hat doch alle Möglichkeiten«, sagte Michael Graef, entgegen aller Gewohnheit, aggressiv. »Was die Mellet für einen Ton anschlägt, ist unter aller Kritik. Du mußt etwas dagegen unternehmen, Jenny.«
Er verstand sich sehr gut mit Jenny Behnisch, und sie waren mit der Zeit Freunde geworden, obgleich Jenny sonst sehr zurückhaltend war. Sie waren immer sehr ehrlich zueinander und teilten auch alle Schwierigkeiten, wie sie in einer Klinik unvermeidbar waren.
Es ging um die Aushilfsärztin Bridget Mellet, die seit zwei Wochen an der Behnisch-Klinik arbeitete. Sie hatte in England studiert und wollte in Deutschland promovieren. Professor Schwerdt hatte sich für sie eingesetzt, warum, darüber rätselten Jenny Behnisch und Michael Graef jetzt sehr.
»Ich werde gleich mit ihr sprechen«, erklärte Jenny seufzend. »Wenn ich nur wüßte, warum Schwerdt soviel von ihr hält.«
»Wahrscheinlich hat sie ihn becirct. Mein Typ ist sie nicht, aber die Geschmäcker sind ja verschieden. Es könnte aber auch sein, daß er sie einfach nur loswerden wollte.«
»So was denken nur Männer«, meinte Jenny ironisch.
»Ich möchte lieber wissen, was die Mellet denkt.«
Jenny ließ die Ärztin zu sich kommen. Sie war hübsch, wenn man diesen blasierten Typ mochte, diese herablassende Art, die Jenny momentan auch aggressiv machte, und das wollte viel heißen.
»Wir müssen einmal miteinander reden, Frau Mellet«, sagte sie ruhig.
»Wenn Sie Zeit haben, bitte schön.« Bridget Mellets Augen funkelten eiskalt.
*
Zu gleicher Zeit erschien in der Praxis von Dr. Norden eine Dame, Anfang dreißig mochte sie sein und sehr dezent gekleidet. Sie sah blaß und erschöpft aus. Dr. Norden erkannte sie nicht gleich.
»Sie können sich nicht mehr an mich erinnern, Dr. Norden«, sagte sie enttäuscht. »Maximiliane Gambill…«
Er hörte die Stimme, eine weiche, wohlklingende Stimme.
»Geborene Dannenberg!« rief er aus. »Jetzt hab’ ich es. Ich hatte Sie aber als strahlende junge Frau in Erinnerung, die sich von mir verabschiedete, um auf ihre Hochzeitsreise in die Karibik zu gehen.«
Ihre Mundwinkel bogen sich abwärts. »Träume sind oft Schäume«, sagte sie gepreßt. »Ihnen brauche ich nichts vorzumachen.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Es genügt mir schon, wenn ich mich einmal aussprechen kann.«
»Das können Sie gern, wenn Sie noch Zeit haben. Ich muß zwei Patienten versorgen, dann werden wir ungestört sein.«
»Ich warte gern. Ich bin dankbar, wenn Sie mich nicht wegschicken.«
Es war sechs Jahre her, daß sie zum letzten Mal bei Dr. Norden gewesen war. Damals war Wendy noch nicht bei ihm gewesen. Das stellte Wendy fest, als sie Maximilianes Karte heraussuchte, die noch auf den Namen Dannenberg lautete. Wendy stellte fest, daß die Familie ganz in der Nähe gewohnt hatte. Sie fragte, ob die Adresse noch dieselbe sei.
»Nein, mein Vater ist inzwischen gestorben. Meine Mutter wohnt jetzt in Steinebach, und ich wohne zur Zeit bei ihr«, erklärte Maximiliane. »Sie können mich aber weiterhin unter meinem Mädchennamen führen. Ich habe ihn wieder angenommen.«
Wendy stellte keine indiskreten Fragen, die ihr taktlos erschienen. Sie spürte, wie bedrückt Maximiliane war.
»Ich hätte mich wohl besser anmelden sollen, aber es war ein spontaner Entschluß von mir, schon heute Dr. Norden zu besuchen«, erklärte sie.
»Es ist heute auch offizielle Sprechstunde«, erwiderte Wendy, »und Sie haben es gut getroffen. Die beiden Patienten bekommen nur Injektionen, Sie werden nicht lange warten müssen.«
Es dauerte wirklich nicht viel länger als zehn Minuten, dann verabschiedete Dr. Norden die letzte Patientin.
»Nun erzählen Sie mal, was Ihnen fehlt, Frau Dannenberg.«
»Bitte, sagen Sie doch wieder Maxi, es macht mir alles leichter.«
Er sah sie forschend an. Traurig konnte man ihren Gesichtsausdruck nicht nennen, eher gehetzt und gequält.
»Ich hätte nie für möglich gehalten, daß sich ein Mensch so ändern kann«, erklärte sie stockend, »aber vielleicht ist Ray auch ein Mann mit zwei Gesichtern, verdorben vom Geld und der Umgebung, in der er sich wohl fühlt, oder ich war nur die falsche Frau für ihn.«
»Hat er Sie mißhandelt?«
»Körperlich nicht, aber psychisch. Ich habe mit der Zeit immer mehr Angst vor ihm bekommen, und ich habe Angst, daß er mir meinen Sohn wegnehmen will. Momentan steht er noch unter dem Einfluß seiner Geliebten, aber er hat es ja nie lange mit einer Frau ausgehalten.«
»Und Sie haben es sechs Jahre mit ihm ausgehalten.«
»Nein, so war es nicht. Er war zeitweise monatelang weg, irgendwo, ohne daß ich etwas von ihm hörte. Ich habe als Übersetzerin für einen Verlag gearbeitet, das hat ihn auch nicht weiter interessiert, bis er herausfand, daß er Patrick als Druckmittel benutzen konnte, um für ihn undurchsichtige Geschäfte zu erledigen. Ich war nicht mehr ich selbst, und ich stand ständig unter Beobachtung. Da war diese Frau, die angeblich unseren Haushalt führen sollte. Vielleicht tat sie mir etwas ins Essen. Als ich einmal unterwegs war, wurde es mir schwindelig, jemand brachte mich, zu einem Arzt. Der fragte mich ob ich irgendwelche Mittel nehme. Da wurde ich erst auf den Gedanken gebracht, daß etwas im Essen sein könnte. Es gelang mir, etwas beiseite zu schaffen und es untersuchen zu lassen. Es war ein Betäubungsmittel, das mich willenlos machte. Ich hatte gerade noch soviel Energie, daß ich mit Patrick in einer Nacht, als wir allein im Haus waren, die Flucht ergreifen konnte. Ray war zu dieser Zeit in China, und Helen war an bestimmten Nächten nicht im Haus. Sie dachte, daß ich betäubt sei, aber ich wußte ja inzwischen, daß ich vorsichtig sein mußte. Patrick hat zuerst gar nicht begriffen, was los war. Ich sagte ihm, daß wir Ferien bei der Granny in Germany machen würden.«
Sie verharrte sekundenlang schweigend und verkrampfte die Hände ineinander. Dr. Norden betrachtete sie voller Mitgefühl und überlegte, wie er ihr helfen konnte. Aber sie erhob sich.
»Mein Gott, was müssen Sie von mir denken«, sagte sie tonlos. »Sie halten mich wahrscheinlich für verrückt oder total überdreht.«
»Das tue ich nicht, ich sehe doch, daß Sie verzweifelt sind, Maxi. Ich frage mich, wie es soweit kommen konnte. Sie waren vor sechs Jahren das Traumpaar des Jahres. Wie konnte diese Ehe einen solchen Verlauf nehmen? Es war doch nicht so, daß Sie nur einem Blender, einem Mitgiftjäger aufgesessen waren. Ihr Vater hatte genaue Erkundigungen über ihn eingezogen. Ich weiß das und erinnere mich jetzt wieder an alles.«
»Ich frage mich doch auch, wie sich das alles so entwickeln konnte! Drei Jahre ging es doch auch gut, dann starb sein Vater und hinterließ chaotische Zustände. Ray und seine Brüder zerstritten sich, weil kaum noch etwas vorhanden war. Einer schob es auf den anderen, dabei schien es so, als hätte der Senior die ganze Familie getäuscht. Ich habe nie einen Überblick gewonnen, aber Ray hat sich seit diesem Tag geändert. Ich merkte erst jetzt, welch ein Materialist er war. Von meinem Erbteil blieb letztlich auch nichts mehr, wie ich dann merken sollte. Obwohl er überall Geschäfte machte, mußte ich mich sehr einschränken. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn wir gemeinsam versucht hätten, wieder etwas aufzubauen. Mama wollte ich nichts mitteilen. Jetzt weiß sie natürlich Bescheid und kann es immer noch nicht fassen, daß Ray so ganz anders wurde, als sie ihn einschätzte. Aber wozu erzähle ich Ihnen das eigentlich?«
»Weil Sie sich mal aussprechen wollten, Maxi, und das ist gut so. Wie lange sind Sie schon bei Ihrer Mutter?«
»Drei Wochen, aber ich bin zum ersten Mal in die Stadt gefahren. Ich werde die Angst nicht los, daß er mich verfolgen läßt und Patrick wegholt. Ich habe schon ein paar Anrufe bekommen, aber immer, wenn ich mich gemeldet habe, wurde die Verbindung unterbrochen. Wenn Mama sich meldete, war eine Frau am Telefon, aber nur einmal fragte sie nach mir. Mama sagte, daß sie nicht wüßte, wo ich sei. Mir sitzt die Angst im Nacken, nicht um mich, sondern um Patrick. Er hat ein Loch in der Herzscheidewand und müßte operiert werden, aber ich traue mich nicht, ihn in eine Klinik zu bringen.«
»Wenn Sie wollen, setze ich mich mit einem Spezialisten in Verbindung. Man könnte ihn unter einem anderen Namen operieren lassen, wenn Sie keine Krankenversicherung in Anspruch nehmen.«
»Aber ich habe das Geld nicht und möchte auch Mama nicht zu sehr beanspruchen. Es ist alles so schwierig. Ich sehe schon überall Gespenster. Bevor ich zu Ihnen fuhr, machte ich bei der Behnisch-Klinik halt. Ich hatte gehört, daß Dr. Behnisch gestorben ist. Es ist mir sehr nahe gegangen. Er hat meinen Vater so lange behandelt, und ich wollte gern Jenny Behnisch besuchen. Aber da sah ich Bess Melvin, ich habe es mir wenigstens eingebildet, daß sie es sei… aber diese Ähnlichkeit… sie hat mich auch angestarrt. Ich habe gleich die Flucht ergriffen. Ich weiß ja nicht, wie sie herkommen konnte, was sie hier macht an der Klinik, aber sie trug einen weißen Kittel.«
»Wer ist diese Bess Melvin?« fragte Dr. Norden.
»Sie war Pflegerin bei meinem Schwiegervater und hatte auch eine Beziehung zu Ray. Ich weiß, daß alles verrückt klingt, aber ich kann es mir nicht nur einbilden. Manchmal zweifle ich schon selbst an meinem Verstand.«
Sie sah ihn so hilflos und voller Angst an, daß es ihn erschütterte.
Was hatte Ray Gambill aus dieser Frau gemacht? Aus einem bezaubernden Mädchen, das überall, wohin es auch kam, Frohsinn verbreitete. Dem außerdem alle Wege zu einer beruflichen Karriere offenstanden. Was Daniel Norden jetzt sah, war ein völlig verstörtes Geschöpf, dessen Augen um Hilfe flehten. Aber er wußte nicht, wie er helfen konnte.
Er überlegte kurz. »Ich könnte Sie und Patrick sofort auf der Insel der Hoffnung unterbringen«, erklärte er.
»Aber Patrick muß operiert werden, wenn er einmal ein normales Leben haben soll.«
»Ich kenne in der Schweiz einen Herzchirurgen, Dr. Dechy, mit dem ich sprechen könnte. Der Weg von der Insel ist nicht weit bis nach Zürich. Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen, besprechen Sie es mit Ihrer Mutter.«
Sie nickte zustimmend. »Ich möchte aber auch gern wissen, wer diese Frau in der Behnisch-Klinik ist, die so aussieht wie Bess Melvin.«
»Können Sie mir eine Beschreibung geben?«
»Sie ist blond, ganz attraktiv, wirkt sehr arrogant und hat grüngraue Augen, die kalt glitzern.«
Dr. Norden hielt den Atem an, denn danach konnte man Bridget Mellet erkennen, aber das wollte er lieber nicht sagen, denn Ähnlichkeiten gab es immer.
»Mit welcher Bekannten hat sie Ähnlichkeit?«
»Mit Bess Melvin, der Pflegerin meines Schwiegervaters. Wenn sie hier als Krankenschwester tätig ist, frage ich mich, warum sie ausgerechnet in München ist. Sie spricht allerdings sehr gut deutsch.«
»Und Sie haben vermutet, daß sie ein Verhältnis mit Ihrem Mann hatte?«
»Vielleicht ist das etwas übertrieben, er hatte mit manchen Frauen geflirtet. Ich neige wohl dazu, alles ganz schwarz zu sehen und bitte um Nachsicht, weil ich so am Boden zerstört bin.«
»Sie dürfen sich jetzt nicht unterkriegen lassen. Ich werde Ihnen ein Medikament geben, das beruhigend und auch aufmunternd wirkt.«
»Ich hatte schon eins verschrieben bekommen, aber ich habe den Eindruck, daß es mich noch nervöser macht.«
»Haben Sie es dabei?«
Sie nickte und entnahm es ihrer Handtasche. Das Glasfläschchen war halbvoll. Er schraubte es auf und roch daran.
»Lassen Sie es bitte mal hier, und nehmen Sie das von mir, Maxi. Mal sehen, ob das besser hilft. Und dann sagen Sie mir bald Bescheid, ob Sie mit Patrick auf die Insel oder in die Schweiz gehen wollen.«
»Das tue ich, und Sie sagen mir bitte, wie die Pflegerin heißt.«
»Ich werde mich erkundigen.« Er hatte ein unbehagliches Gefühl und eine Ahnung, daß Jenny Behnisch einigen Ärger bekommen könnte, den er ihr gern ersparen wollte. Er ertappte sich auch dabei, daß er Maxi nachschaute, um sich zu vergewissern, ob ihr jemand folgte, aber das war nicht der Fall.
Bevor er heimfuhr, hielt er beim Labor, mit dem er viel zusammenarbeitete. Er brachte Maxis Tabletten hin und bat, sie zu analysieren. Sie hatte ihn mit ihrem Mißtrauen tatsächlich bereits angesteckt.
*
Fee Norden betrachtete ihren Mann besorgt, weil er gar so wortkarg war. Den Kindern fiel es nicht so auf, denn sie waren lebhaft wie immer.
»Fehlt dir was, mein Schatz?« fragte sie, als sie ihren üblichen Kaffee tranken.
»Du wirst nicht glauben, wer heute bei mir war«, begann er geistesabwesend. »Maxi Dannenberg.«
»Heißt sie nicht Gambill, seit sie verheiratet ist?«
»Jetzt hat sie wieder ihren Mädchennamen angenommen und lebt bei ihrer Mutter.«
»Oh, das bedeutet also, daß auch diese Ehe schiefgelaufen ist.«
»Und wie schief!« Daniel erzählte, was er von Maxi erfahren hatte und Fee schüttelte ein über das andere Mal den Kopf. Er ließ auch ihren Kurzbesuch in der Behnisch-Klinik nicht aus und ihre Ängste.
Fee runzelte die Stirn.
»Wenn sie sich nicht getäuscht hat, könnte es sein, daß sich da jemand eingeschlichen hat, der Ärger machen könnte.«
»Der Gedanke ist mir auch gekommen, und es wäre besonders schlimm, wenn sie gar keine Ärztin wäre.«
»Aber sie wurde von Professor Schwerdt empfohlen.«
»Man müßte sich dann fragen, in welcher Beziehung sie zu ihm steht. Ich erinnere mich allerdings, daß er vor einigen Jahren in England tätig war. Viel weiß ich nicht über ihn.«
»Ich werde sie mir mal anschauen«, sagte Fee, schnell entschlossen. »Jenny kann wirklich keinen Ärger brauchen, und natürlich tut mir auch Maxi leid, wenn sie unter Druck gesetzt wird. Man hört ja oft genug, daß Kinder von ihren Vätern entführt werden und manchmal sogar getötet, um die Mutter an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen.«
»Soweit wollen wir lieber nicht denken, Feelein. Aber ich muß gestehen, daß ich ein ungutes Gefühl habe. Maxi redet sich das alles nicht nur ein. Sie ist verzweifelt.«
»Und was war das für eine Hochzeit! Ihre Eltern waren doch so zufrieden mit dem Schwiegersohn.«
»Es geht halt nicht immer so gut wie bei uns«, sagte Daniel nach längerem Schweigen. »Wie man immer wieder hört, folgt bei sehr vielen Paaren schnell die Ernüchterung. Der Alltag ist stärker als die Flitterwochen es sind.«
»Man kann auch sagen, der Lack ist ab, man sieht sich nicht mehr mit verklärtem Blick«, fügte Fee gedankenvoll hinzu.
»Und wenn dann noch andere Frauen im Spiel sind…« Fee riß die Augen auf. »Das auch noch«, seufzte sie, »vielleicht auch noch ein anderer Mann?«
»Maxi hat nur von anderen Frauen geredet und daß sie Angst um ihren Jungen hat. Ray könnte ihr Patrick wegnehmen, um sie zu treffen. Und das haben wir doch auch schon mal gehabt.«
»Schon öfter, mein Schatz.« Zwischen Fees Augenbrauen erschien die kleine steile Falte. »Wie alt ist der Junge jetzt?«
»Fünf Jahre, sie sind in einer Nacht- und Nebelaktion auf und davon, und jetzt fühlt sie sich verfolgt. Sie sieht Gespenster, sogar in der Behnisch-Klinik. Vielleicht hat diese Bess Melvin tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Bridget Mellet, aber…«
»Es ist mehr als eine Ähnlichkeit, sie hat auch die gleichen Initialen, B M, gibt das nicht zu denken? Ich fahre nachher gleich zu Jenny, am Telefon mag ich ihr solche Fragen nicht stellen. Sie könnte gleich in Panik geraten, daß man ihr ein Kuckucksei ins Nest gelegt hat.«
»Aber Schwerdt hat doch einen guten Ruf.«
»Was heißt guter Ruf, wenn er auch hereingelegt wird. Was wollte Maxi denn in der Klinik?«
»Sich bei Jenny bedanken, daß ihr Vater so gut betreut wurde. Sie hat so ein Dankbarkeitstrauma.«
»Oder auch ein Wunsch, wieder Freunde zu gewinnen«, sagte Fee leise.
Daniel nickte. »Sie machte einen völlig verstörten Eindruck. Ich habe das Gefühl, daß da mehr passiert ist, als sie zugeben will. Für sie muß das eine schreckliche Demütigung gewesen sein.«
»Eine solche Enttäuschung kann einen Menschen völlig aus der Bahn werfen«, sagte Fee gedankenvoll. »Immerhin scheint sie ja einen Neuanfang zu wagen. Also, ich fahre nachher zu Jenny, und dann sehen wir weiter.«
»Sieh dir diese Mellet mal genau an, Feelein.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
*
Fee hatte Jenny vorher angerufen, denn sie wollte nicht zu einer Zeit kommen, wo kein Gespräch möglich wurde, aber Jenny gab deutlich ihrer Freude Auskunft über den unverhofften Besuch, ahnte aber auch gleich, daß ein besonderer Grund vorlag. Das leugnete Fee auch nicht.
»Ich wollte mich mal nach deiner neuen Mitarbeiterin erkundigen, Jenny. Wie bist du zufrieden?«
»Ich möchte mich lieber noch nicht äußern. Eigentlich wollte ich erst mal mit Schwerdt sprechen, der sich so für sie eingesetzt hat, aber inzwischen ist mir der Gedanke gekommen, daß er sie einfach loswerden wollte. Sie hat eine Art, die nicht zu uns paßt, und ihre Qualifikation ist auch nicht die beste.«
»Dann schick sie weiter, bevor sie die Atmosphäre verdirbt.«
»Michael kommt auch nicht mit ihr aus. Sie hat vergeblich versucht, sich bei ihm einzuschmeicheln.«
»Wo war sie früher?«
»Zuletzt in England.«
Fee entfloh ein ›Aha‹, und Jenny schaute sie irritiert an.
»Dann könnte es doch stimmen«, meinte Fee.
»Was könnte stimmen?«
»Daß Maxi kein Gespenst gesehen hat. Maximiliane Dannenberg ist nämlich wieder im Lande.«
»Maxi? Was redest du von einem Gespenst?«
»Sie war hier, um dich zu besuchen und meint, in der Mellet eine gewisse Bess Melvin erkannt zu haben. Ich sage dir gleich, wie es ist, Jenny. Was weißt du über diese Mellet?«
»Sie wird mir von Professor Schwerdt empfohlen, sozusagen ans Herz gelegt, und ich konnte wieder mal nicht nein sagen, da wir ja tatsächlich Hilfe brauchten, aber es kommen dauernd Klagen über ihren Umgangston. Sie ist maßlos arrogant, und Michael sagt, daß sie auch keine gute Ärztin ist.«
»Und Maxi sagt, daß diese Melvin nur eine Krankenschwester war, die sie kennenlernte, als ihr Schwiegervater in der Klinik lag. Der ist übrigens gestorben, und seither ist es in Maxis Ehe bergab gegangen.«
Jenny war sichtlich konsterniert. »Sie hat sich für immer von ihrem Mann getrennt?«
Fee nickte. »Und sie hat Angst, daß er ihr den Jungen wegnehmen will, um sie fertigzumachen. Viel fehlt ohnehin nicht mehr dazu, den Eindruck hat Daniel. Sie hat sich bei ihm ausgesprochen. Aber alles hat sie wohl nicht gesagt. Ich würde gern diese Mellet kennenlernen, Jenny.«
»Das ist leicht zu machen, aber vom Gesicht kannst du ihr Seelenleben nicht ablesen. Sie ist kalt wie Hundeschnauze, würde Dieter sagen. Wenn er noch da wäre, wäre sie nicht hier. Ich habe noch immer viel zuviel Respekt vor den Herren Professoren.«
»Wenn da etwas faul ist, bekomme ich es heraus. Ich werde mit Maxi sprechen, von Frau zu Frau geht das besser. Und du solltest dich immer wieder daran erinnern, daß du Freunde hast, Jenny.«
»Ich kann euch doch nicht dauernd belästigen, Fee.«
»Davon kann keine Rede sein. Wann hast du schon mal ein Anliegen? Aber in solchen Fällen mußt du dich rühren. Michael will dir nicht dreinreden, wenn du etwas entscheiden mußt, das mußt du auch verstehen.«
»Er war aber gleich skeptisch und kommt mit ihr überhaupt nicht aus.«
»Was für ihn und gegen sie spricht. Aber ich kann meine Meinung erst sagen, wenn ich sie kenne.«
»Dann werden wir damit nicht warten. Reden können wir später noch.«
Sie gingen zum Ärztezimmer, in dem sich aber nur Michael Graef aufhielt, der gerade eine Tasse Kaffee trank. Er begrüßte Fee erfreut, und sie gab sich so, als sei sie zufällig auf dem Weg gewesen. Kurze Zeit später erschien Bridget Mellet und musterte Fee abschätzend.
»Frau Mellet, unsere neue Mitarbeiterin«, stellte Jenny vor. »Frau Dr. Norden.«
Fee ließ sich durch den stechenden Blick der anderen nicht irritieren.
»Wie gefällt es Ihnen in der Behnisch-Klinik, Frau Mellet?« fragte Fee.
»Es ist eine Umstellung für mich. Ich war an einer großen Klinik in London tätig.«
»An welcher? Ich kenne mich gut aus«, erklärte Fee. Sie hatte sich vorher schon ziemlich genau informiert.
»Im St. Williams.«
»Bei Professor Turner? Wir sind mit ihm befreundet. Er stellt hohe Anforderungen und…« Fee kam nicht weiter.
»Ich muß wieder an die Arbeit«, sagte die andere hastig und war schon im Gehen begriffen.
»Warum so eilig, Kollegin?« fragte Michael Graef. »Sie können ruhig eine Pause machen, ich übernehme die Station.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, erwiderte Bridget Mellet überstürzt.
Fee tauschte einen vielsagenden Blick mit Jenny. Sie hatte erreicht, was sie beabsichtigt hatte, Bridget Mellet war aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber wenn sich Maxi nicht täuschte und sie als Bess Melvin Krankenschwester gewesen war, Pflegerin bei Ray Gambills Vater, wie hatte ihr Professor Schwerdt dann Referenzen als Ärztin geben können? Da war etwas faul, und Fee wollte das geklärt wissen, denn es konnte für die Behnisch-Klinik Auswirkungen haben, wenn eine Krankenschwester hier als Ärztin praktizierte. Jenny und Michael Graef würden jetzt sehr wachsam sein, aber Fee meinte, daß dieser Frau schnellstens das Handwerk gelegt werden müsse.
Bevor sie ging, versprach sie Jenny, daß sie sich schnellstens mit dem St. Williams Hospital und Professor Turner in Verbindung setzen würden. Wenn sie einen Beweis hatten, daß da mit falschen Karten gespielt wurde, konnte man auch gegen Professor Schwerdt vorgehen. Rücksicht war dann nicht angebracht.
*
Fee fuhr zu ihrem Mann in die Praxis. Er ahnte gleich, daß ihr Erscheinen einen sehr triftigen Grund haben mußte, denn nur, um ihm etwas zu erzählen, störte sie ihn nicht.
»Es ist am besten, wir rufen Turners Privatnummer an«, meinte er. »Seine Frau weiß am besten, wo er zu erreichen ist«, meinte Daniel. »Hoffentlich ist er überhaupt in London, sonst wird es nicht einfach sein, eine Auskunft über die Mellet zu bekommen. Schwerdt kann man nicht unter Druck setzen, wenn wir gar nichts gegen sie in Händen haben.«
Fee überlegte kurz. »Hast du die Telefonnummer von Frau Dannenberg? Ich würde gern mit Maxi sprechen.«
»Die hat Wendy bestimmt notiert, aber ich rufe zuerst Turner an.«
Janet Turner gab ihrer Freude, Daniel am Telefon zu haben, wortreich Ausdruck, und es dauerte ein paar Minuten, bis er erfuhr, daß Steven bereits auf dem Heimweg sei, er würde bestimmt gleich zurückrufen. Sie hätten ja schon so lange nichts voneinander gehört.
Daniel kam endlich dazu, ihr zu erklären, daß er noch Patienten hätte, aber da es sich um eine sehr dringende Angelegenheit handele, wäre er dankbar, wenn Steven bald anrufen würde.
Janet versprach es, aber Daniel sollte auch versprechen, daß sie sich bald einmal wiedersehen würden. Sie wollte wissen, wie es Fee und den Kindern gehe.
»Fee ruft dich von zu Hause aus an, Janet. Aber Steven muß ich wegen einer Ärztin sprechen.«
Und er mußte sich um seine Patienten kümmern, die ungeduldig wurden.
Fee hatte indessen von Wendy die Telefonnummer von Monika Dannneberg bekommen und fuhr nach Hause, um von dort aus gleich bei ihr anzurufen. Sie hatte Glück, denn sie erreichte Frau Dannenberg gleich.
»Frau Norden«, rief sie erfreut aus, »wie nett, Sie mal wieder zu hören!«
»Durch Maxi haben wir Ihre Nummer erfahren, man sieht sich ja nicht mehr, seit Sie am Ammersee wohnen.«
»Es geht mir gesundheitlich gut, würde mir aber was fehlen, würde ich bestimmt zu keinem anderen Arzt gehen, und jetzt habe ich ja Maxi wieder bei mir, obgleich sie mir schon ziemliche Sorgen bereitet.« Sie sagte es so leise, daß Fee es kaum verstehen konnte.
»Ich hätte gern einmal mit Maxi gesprochen. Ist sie in der Nähe?«
»Sie kommen gerade zurück. Sie war mit Patrick beim Einkaufen. Könnten Sie uns mit Ihren Kleinen nicht mal besuchen, Frau Norden? Patrick würde sich freuen, wenn er mal mit anderen Kindern spielen könnte. Hier sind keine in der Nähe.«
»Ich komme gern, wir machen öfter mal Ausflüge, wenn schönes Wetter ist. Vielleicht schon morgen, wenn es nicht gleich wieder regnet.«
»Das wäre eine große Freude. Ich reichte das Telefon jetzt an Maxi weiter.«
Eigentlich hatte Fee jetzt nur eine Frage an Maxi, aber die freute sich so herzlich über Fees Anruf, daß sie nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Dann war Maxi sehr überrascht, als Fee fragte, seit wann Bridget Mellet am St. Williams Hospital angestellt war.
»Eine Bridget Mellet kenne ich nicht und auch nicht dieses Hospital, Frau Norden.«
»Sie arbeitet jetzt in der Behnisch-Klinik«, erklärte Fee. »Sie meinten doch, sie erkannt zu haben.« Fee hatte momentan tatsächlich vergessen, daß Maxi von einer Bess Melvin gesprochen hatte, aber das wurde schnell geklärt.
»Bess war bei Dad, bei meinem Schwiegervater, Pflegerin. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie Ärztin war. Sie ist viel zu eitel, um das zu leugnen. Jedenfalls bin ich mehr denn je überzeugt, sie nicht zu verwechseln. Ich kenne sie als Bess Melvin. Sie war vier Monate bei uns, aber wahrscheinlich kannte Ray sie schon vorher. Wenn sie Ärztin wäre, wäre sie niemals als Pflegerin tätig gewesen. Aber wie kommt es, daß sie als Ärztin angestellt wurde?«
»Das möchten wir auch gern wissen. Wir müssen uns eingehend unterhalten, Maxi. Ich komme morgen mit Anneka und den Zwillingen. Die Kinder können spielen, und wir haben Zeit, über alles zu reden.«
»Das wäre gut. Mir geht so vieles im Kopf herum, daß ich schon völlig verwirrt bin. Ich möchte mir gern Klarheit verschaffen.«
»Sind Sie rechtmäßig geschieden, Maxi?«
»Ja, das ging reibungslos. Ray wollte es so, und was er will, bekommt er auch. Jetzt bin ich froh darüber.«
»Wir sehen uns morgen. Denken Sie nach, was Ihnen alles zu Bess Melvin einfällt. Vielleicht ist das ihr richtiger Name.«
*
Leicht war Bridget Mellet nicht aus der Ruhe zu bringen, aber so langsam wurde sie an diesem Tag doch nervös, nachdem sie zweimal vergeblich versucht hatte, eine Telefonnummer in London zu erreichen. Sie sehnte das Ende ihres Tagesdienstes herbei, denn Professor Schwerdt wollte sie von der Klinik aus doch nicht anrufen. Sie mußte damit rechnen, daß auch seine Privatnummer bekannt war. Sie ahnte aber nicht, daß die hochmoderne Telefonanlage der Behnisch-Klinik auch die Londoner Nummer registriert hatte. Einmal wachsam geworden, nahm Jenny das bald zur Kenntnis und wieder einmal erhoffte sie Hilfe von Daniel Norden, der die besten Beziehungen zu allen Behörden hatte, denn sie selbst wußte nicht, wie sie in Erfahrung bringen sollte, wem der Anschluß in London gehörte.
So erfuhr Daniel noch am Abend von Bridgets Versuchen, jemand in London zu erreichen.
Eine Ahnung hatte er ja, aber die wurde von Maxi nicht bestätigt, die er gleich darauf anrief. Sie kannte diese Nummer nicht, räumte aber ein, daß Ray jetzt einen anderen Anschluß haben könnte.
Fee wählte die Nummer auch, aber auch sie bekam keinen Anschluß. Einfach war es nicht, eine Auskunft zu bekommen, wem die Nummer zugeordnet werden könnte, aber Daniel erinnerte sich an eine langjährige Patientin, die eine leitende Position bei der Telekom hatte. Aber inzwischen war es so spät geworden, daß er bei ihr nicht mehr anrufen wollte. Sie mußten sich bis zum nächsten Tag gedulden. Aber dann hatte Fee wieder einmal eine zündende Idee. Sie erkundigte sich beim Kundendienst, wie man in Erfahrung bringen könnte, ob das tatsächlich die richtige Nummer von Mr. Ray Gambill sei, da es sich um eine sehr wichtige Nachricht handelte, die ihm mitgeteilt werden würde, und es käme keine Verbindung zustande. Ihr Gesprächspartner war ein höflicher Mann, noch jung, der Stimme nach zu urteilen. Und Fee verstand mit Männern umzugehen, wenn sie etwas erreichen wollte. Er wollte sich bemühen, die gewünschte Auskunft zu erhalten, erklärte er und wollte dann zurückrufen.
»Aber nicht vergessen«, mahnte Fee in ihrem liebenswürdigsten Ton, der immer Eindruck machte.
Zufrieden lächelnd lehnte sie sich zurück und entriß Daniel seinen Gedankengängen.
»Meinst du nicht, daß es gut wäre, einmal mit Fechner über die Mellet zu sprechen, mein Schatz?« fragte sie.
»Ich weiß nicht, was er unternehmen könnte, solange wir keinen Beweis haben, daß sie sich eines falschen Namens bedient und gar keine Ärztin ist. Schwerdt ist immerhin Professor und hat sie empfohlen.«
»Vielleicht hat sie etwas gegen ihn in der Hand und erpreßt ihn. Ich traue ihr einiges zu, aber wie ein Mann sie einer Maxi vorziehen kann, begreife wer mag, ich kann es nicht.«
»Sie wird schon ihre Reize haben«, sagte Daniel spöttisch. Vielleicht ist er masochistisch veranlagt, da wäre Maxi natürlich die falsche Frau. Aber wer hätte das ahnen können, als sie geheiratet haben. Kannst du dich an die Hochzeit erinnern, Fee?«
»Ich habe sogar die Zeitungsausschnitte aufgehoben. Ich werde sie morgen heraussuchen. An seinen Vater kann ich mich sehr gut erinnern. Ein geistreicher Gentleman, ein echter Grandseigneur, und er war sehr angetan von Maxi und ihrem Elternhaus.«
»Vielleicht hat ihn die Mellet oder Melvin deshalb so schnell zu Tode gepflegt«, meinte Daniel sinnend.
Fees Augenbrauen hoben sich. »Da kommen mir tatsächlich immer neue Ideen. Man muß sie durchleuchten lassen, ihre ganze Vergangenheit.«
Das Läuten des Telefons hinderte sie, diese Gedanken weiter zu spinnen, aber was sie dann hörte, regte sie erst recht an und auf. Ihr Gesprächspartner von der Auskunft hatte schnell und gut recherchiert. Die Londoner Nummer gehörte tatsächlich Ray Gambill, jedoch erst seit wenigen Tagen. Ob ihr damit gedient sei, fragte der Mann höflich.
»Ja, Sie haben mir sehr geholfen, und ich danke Ihnen herzlich.«
»Wenn Sie wieder ein Anliegen haben, wenden Sie sich gleich an mich, mein Name ist Jens Klarwein.«
»Das werde ich gern tun, Herr Klarwein, nochmals vielen Dank.«
»Da hast du anscheinend eine drahtlose Eroberung gemacht«, wurde sie von ihrem Mann geneckt. Aber deine Stimme ist halt faszinierend, das habe ich dir auch schon mal gesagt.«
»Er hatte auch eine sehr sympathische Stimme«, sagte Fee mit einem hintergründigen Lächeln.
»Und du hast erfahren, was du wolltest. Jetzt sollten wir uns den nächsten Schritt überlegen. Ich denke, ich werde morgen Fechner anrufen.«
Den Kriminalkommissar Fechner kannten sie schon lange. Sie hatten ihn bereits kennengelernt, als er noch ein junger Inspektor gewesen war. Er war ein sehr kluger und besonnener Beamter, der ihnen schon öfter geholfen hatte. Sie konnten sich darauf verlassen, daß er sehr diskret vorging.
»Und ich werde mir überlegen, wie man am besten an Schwerdt herankommt.«
Sie konnte nicht wissen, daß die Mellet Professor Schwerdt inzwischen mit ihrem Anruf bei ihm in Angst und Schrecken versetzt hatte. Er lief unruhig in seiner Wohnung herum und überlegte, wie er sich schnell aus dieser drohenden Gefahr befreien könnte. Ihm wurde bewußt, daß man gar nicht vorsichtig genug sein konnte, wenn man sich aufs Glatteis begab, aber er hatte nicht einen Moment gedacht, daß dieses Doppelspiel so schnell durchschaut werden könnte. Jetzt, da er endlich gemeint hatte, eine sichere Stellung zu haben, wurde ihm ein dummer Fehler in der Vergangenheit zum Verhängnis, weil er eine Krankenschwester unterschätzt hatte.
Nach einem doppelten Whisky sah er klarer. Man konnte aber auch denken, daß er meinte, einen Ausweg gefunden zu haben, wenn er jetzt Bess unter Druck setzte.
*
Professor Turner rief Daniel nach neun Uhr noch einmal an. Er hatte ihm bei ihrem ersten Gespräch nur sagen können, daß er nie mit einer Ärztin Bridget Mellet zu tun gehabt hatte. Inzwischen hatte er über Robert Schwerdt nachgedacht, der damals nur einer von denen gewesen war, die sich profilieren wollten. Er hatte kurze Zeit am Elisabethen-Hospital gearbeitet, bis ihn eine Patientin beschuldigte, sie sexuell belästigt zu haben. Aber eine Krankenschwester hatte für ihn ausgesagt und erklärt, immer im Zimmer gewesen zu sein, wenn er bei der Patientin war und ihr nachgesagt, daß sie diejenige gewesen sei, die dem Arzt eindeutige Avancen machte. Da es sich um eine sehr labile Patientin handelte, die gerade einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte, weil ihr Mann die Scheidung eingereicht hatte, wurden die Vorwürfe gegen Schwerdt zurückgenommen. Er verließ die Klinik auf eigenen Wunsch. Die Krankenschwester, die ihn entlastet hatte, hieß Bess Melvin.
Fee hörte, wie Daniel sagte: »Und jetzt ist sie als Bridget Mellet Ärztin an der Behnisch-Klinik mit den besten Referenzen von Professor Schwerdt.«
Die Erregung stand ihm noch im Gesicht geschrieben, als er sich wieder zu Fee setzte.
»Das ist wahrlich ein starkes Stück!« stieß er hervor. »Wer von den beiden ist schlimmer, Fee? Steven sagt auch, daß ich sofort etwas gegen Schwerdt unternehmen muß. Er ist eine Schande für unseren Beruf.«
»Und diese Melvin kann sonst was anrichten, was Jenny und der Klinik schadet. Es ist schrecklich, was Jenny durchmachen muß.«
»Jedenfalls wird die Mellet morgen die Klinik nicht mehr betreten, dafür werde ich sorgen. Es ist zwar schon spät, aber ich versuche, Fechner noch zu erreichen.«
»Sagen wir doch lieber erst Jenny Bescheid. Sie ist ja nicht allein. Michael Graef ist der Mellet gewachsen. Was soll Fechner denn jetzt gleich unternehmen? Wir können jetzt doch nicht mit dem Kopf durch die Wand.«
Fee war vernünftig, und Daniel sah auch ein, daß sie recht hatte. »Rufst du Jenny an, oder soll ich es machen?«
»Das Beste wird sein, wir fahren zu ihr. Du erzählst ihr, was Steven in Erfahrung gebracht hat, und wir überlegen, wie sie sich verhalten soll, wenn die Mellet morgen früh ihren Dienst antreten will. Es ist ja nicht abzuschätzen, wozu diese Frau fähig ist, wenn sie sich durchschaut fühlen muß.«
»Der Dekan muß über Schwerdt informiert werden«, sagte Daniel heiser. Fee wußte, wie es ihn aufregte, wenn die Berufsehre ins Zwielicht geriet. Schließlich hatte sich Schwerdt nicht nur selbst geschadet, sondern auch Jenny Behnisch und den Ruf ihrer Klinik gefährdet.
Danny und Felix schliefen noch nicht. Fee sagte ihnen, daß sie noch mal zu Jenny fahren müßten.
»Ist was faul mit dieser Ärztin?« fragte Danny.
»Ihr erfahrt es morgen. Jenny braucht Hilfe.«
»Warum mußte Dieter auch so früh sterben«, sagte Felix traurig. »Es ist schwer für Jenny.«
Er hatte ein sehr mitfühlendes Gemüt. Danny war realistischer.
»Jenny ist eine gute Ärztin und macht ihre Sache auch gut. Es ist eine Gemeinheit, wenn falsches Spiel mit ihr getrieben wird. Aber ihr werdet es schon in Ordnung bringen«, meinte er zuversichtlich.
»Er setzt großes Vertrauen in uns«, sagte Fee mit einem tiefen Seufzer.
»Und wir werden unsere Kinder nicht enttäuschen und Jenny auch nicht«, fügte Daniel hinzu.
*
Jenny war wider Erwarten sehr gefaßt, aber auch dankbar, daß sich Daniel und Fee so für ihre Interessen engagierten.
»Ich habe mit Michael schon besprochen, daß wir eingehende Erkundigungen über die Mellet einziehen«, erklärte sie.
»Das ist nicht mehr nötig, Steven Turner hat mich schon eingehend informiert, und es ist so, wie wir vermutet haben. Bess Melvin, das ist der Name, unter dem sie als Krankenschwester im Elisabethen-Hospital tätig war, konnte Schwerdt mit dieser alten Geschichte erpressen. Vielleicht hatte sie selbst mit ihm eine Affäre. Was Männer anbetrifft, scheint sie ja keine Skrupel zu haben und vor nichts zurückzuschrecken. Jetzt bleibt nur die Frage, was sie möglicherweise gegen Maxi im Schilde führte.«
»Und wie konnte sich Schwerdt nur so die Hände schmutzig machen?« sagte Jenny tonlos.
»Es sind nicht die Hände, es ist ehrlos und erbärmlich, wie er sich verhalten hat und unentschuldbar«, sagte Daniel hart. »Er hat sich damit als Arzt disqualifiziert.«
»Was will sie hier?« Jennys Stimme bebte, sie war tatsächlich den Tränen nahe, aber Daniel und Fee wußten, daß sie nicht um ihr Leben bangte, sondern um den Ruf und die Existenz der Klinik. Sie hatte ihrem Mann Dieter auf dem Totenbett versprochen, sein Lebenswerk zu erhalten und nach seinen Prinzipien zu leiten. Jenny hatte nicht nur zu früh ihren geliebten Mann verloren, der ihr alles bedeutete, Daniel und Fee und Schorsch Leitner hatten einen echten langjährigen Freund verloren und geschworen, seiner Frau zu helfen. Sie hielten ihr Wort.
Fee nahm Jenny in den Arm. »Wir bringen das schon in Ordnung, Jenny. Du mußt das nicht allein durchstehen. Schwerdt wird dafür büßen, daß er dir das angetan hat. Ja, warum ist sie ausgerechnet hier? Vielleicht wegen Maxi. Gambill könnte das geplant haben. Vielleicht ist Patrick der Grund, aber aus Vaterliebe will er das Kind sicher nicht haben. Maxi hat aber Angst davor. Es könnte auch sein, daß die Melvin wegen Schwerdt nach München gekommen ist. Wir werden es in den nächsten Tagen erfahren, davon bin ich überzeugt. Sie wird reden, wenn sie von Fechner in die Zange genommen wird.«
Es sollte stimmen, daß sie am nächsten Tag mehr wissen würden, aber nicht das, was sie erhofft hatten, denn Bess Melvin, alias Bridget Mellet, war verschwunden. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
In die Zange genommen wurde allerdings Robert Schwerdt. Daniel Norden hatte Kommissar Fechner nicht umsonst um Hilfe gebeten. Da sich die angebliche Ärztin weder in der Behnisch-Klinik eingefunden hatte, noch in ihrer Wohnung zu erreichen war, suchte Fechner sofort den Professor auf, dem gleich der Angstschweiß auf die Stirn trat, als er zum Dekan geholt wurde. Dort wartete bereits Kommissar Fechner.
Mit den Tatsachen konfrontiert, die Fechner inzwischen bekannt geworden waren, brach Schwerdt fast zusammen. Er hatte genügend Verstand, um einzusehen, daß er sich da nicht hinter Ausreden verschanzen konnte. Er war das verkörperte schlechte Gewissen. Der erfahrene Kriminalbeamte, der auch ein guter Psychologe war, hatte es im Gefühl, daß er mehr zu verbergen hatte, als er zugeben mußte.
»Bess hat mich erpreßt«, erklärte Schwerdt mit zitternder Stimme. »Wir hatten damals eine enge Beziehung, und sie hat mich auf raffinierte Art ausspioniert. Ich glaubte, Ruhe vor ihr zu haben, als sie Gambill kennenlernte, von dem sie mehr erwartete, als sie von mir bekommen konnte. Als sich mir in München die Chance meines Lebens bot, dachte ich, ich würde sicher vor ihr sein. Aber dann kehrte Gambills Frau nach München zurück. Die Ehe war geschieden, sie lebt jetzt bei ihrer Mutter mit ihrem Sohn. Es ging Gambill sicher nicht um das Kind, sondern darum, seine Frau zu erpressen. Wahrscheinlich hat Bess ihn auf die Idee gebracht. Sie war ein Teufel.«
»Sie sagen ›war‹«, stellte Fechner fest, und Schwerdt zuckte zusammen. »Sie wird sich wahrscheinlich nie ändern«, sagte er überstürzt.
»Wann haben Sie Bess Melvin zuletzt gesehen?«
»Als sie vor zwei Wochen bei mir erschien und die Referenzen verlangte. Sie hatte einen Paß auf den Namen Bridget Mellet. Als ich sie fragte, woher sie den hätte, sagte sie lachend, daß Ray alles besorgen könnte, auch Dokumente über ein abgeschlossenes Medizinstudium. Ich müsse ihr nur Referenzen für die Behnisch-Klinik geben. Ich habe sie gefragt, weshalb es für diese Klinik sein müsse. Weil sie eine Ärztin suchen, erwiderte sie. Mein Name und meine Stellung wäre ausreichende Protektion, und alles andere wäre ihre Sache. Ich hätte wissen müssen, daß sie mir Schwierigkeiten macht. Es geht um meine Existenz.«
»Die haben Sie längst verspielt«, erklärte Kommissar Fechner. »Frau Dr. Behnisch, auch Dr. Norden und seine Frau sind über alles informiert. Gegen Sie wurde Anzeige erstattet.«
»Und Sie sind ab sofort suspendiert«, warf der Dekan ein.
»Aber sie konnte doch Dokumente über das Arztstudium vorlegen.«
»Unter anderem Namen, so dumm werden Sie doch nicht sein, immerhin haben Sie ein abgeschlossenes Studium«, sagte Kommissar Fechner sarkastisch.
»Sie kennen diese Frau nicht!« stöhnte Schwerdt.
»Wir werden sie schon finden«, erwiderte Fechner.
Schwerdt fuhr sich nervös mit dem Taschentuch über die Stirn.
»Sie verlassen sofort die Universität«, sagte der Dekan mit zornesrotem Gesicht.
»Aber Sie werden in München bleiben und sich zur Verfügung halten«, beendete Fechner dieses Gespräch.
*
Er fuhr zur Behnisch-Klinik. Bess Melvin hatte sich nicht blicken lassen und sich auch nicht gemeldet. Hatte sie bereits das Weite gesucht auf eine Ahnung hin? Eigentlich konnte sie nicht wissen, was inzwischen unternommen wurde. Aber in ihrer Wohnung fand man keinen Hinweis auf eine plötzliche Flucht. Ihre Kleidung war vorhanden, anscheinend fehlte auch kein Koffer, keine Tasche. Nur ihr Auto war nicht da, und ein paar Hausbewohner hatten sie gesehen, als sie gegen zehn Uhr wegfuhr. Ob sie sich irgendwo mit Gambill getroffen hatte? Doch das konnte man nur vermuten, einen Beweis dafür gab es auch nicht. Nichts ließ auf eine überstürzte Flucht schließen, und es sollte ziemlich lange dauern, bis man wieder etwas über Bess Melvin erfuhr.
In der Klinik ging der Betrieb ohne Zwischenfälle weiter, wenngleich Jenny und Michael auch kaum zum Schlafen kamen. Sie konnten sich nicht gleich für einen neuen Assistenten entscheiden. Ein paar Bewerbungen hatten sie vorliegen, aber diesmal wollten sie ganz sichergehen.
Fee hatte ihren Besuch bei Maxi verschoben und ihr nur telefonisch Bericht erstattet, was sich inzwischen getan hatte, aber Maxi machte sich jetzt erst recht Gedanken, wo Bess Melvin sich aufhalten könnte und ob sie jetzt vielleicht mit Gambill zusammen war und sie gemeinsam etwas ausheckten. Patrick merkte davon nichts. Er fühlte sich wohl bei der Muni, die auch von Maxi so genannt wurde. Monika Dannenberg war glücklich, ihren Enkel bei sich zu haben. Über seinen Vater wollte sie nicht nachdenken.
Daß Ray Gambill nichts mit dem Verschwinden von Bess Melvin zu tun hatte, erfuhr Kommissar Fechner, als er von dem Hausverwalter, der auch die Wohnung von Bess kontrollierte, benachrichtigt wurde, daß schon zweimal derselbe Herr dagewesen sei, der nach ihr gefragt hätte. Seinen Namen hätte er leider nicht genannt, aber er hatte ziemlich erregt reagiert, als ihm gesagt wurde, daß die Wohnungsinhaberin bereits von der Polizei gesucht würde.
Auf dem Anrufbeantworter in der Wohnung konnte Fechner dann hören, daß Ray dreimal bei Bess angerufen hatte und sehr verärgert gefragt hätte, wo sie sei, und warum sie sich nicht bei ihm melde. Er würde auf jeden Fall am dritten Mai nach München kommen und im Hotel Residence wohnen.
Danach mußte er bereits drei Tage in München sein und der Mann sein, der nach Bess gefragt hatte.
Fechner fuhr zum Hotel und fragte nach Mr. Gambill. Einen Gast dieses Namens hätten sie nicht, wurde ihm erklärt.
Mehrere Engländer wohnten hier oder hatten hier gewohnt in letzter Zeit. Jetzt sei nur ein Mr. Raymond gemeldet. Gary Raymond.
Er war auch anwesend, und es fiel Kommissar Fechner leicht, ihn nach dem Foto, das ihm Maxi überlassen hatte, als ihren geschiedenen Mann zu erkennen.
Er war sichtlich erschrocken, entdeckt worden zu sein, aber Fechner hatte es mit einem sehr kaltblütigen Mann zu tun, der behauptete, daß es ihm gestattet sei, unter diesem Pseudonym zu reisen.
Er gab unverblümt zu, daß er sich mit Bess Melvin treffen wollte, aber keine Ahnung hätte, wo sie sich aufhielt und auch nicht wußte, was sie in den letzten Wochen getrieben hätte.
»Aber es ist Ihnen bekannt, daß sich Ihre geschiedene Frau in München aufhält.«
»Natürlich ist mir das bekannt, ich möchte ja meinen Sohn besuchen und wüßte nicht, wer mich daran hindern könnte.«
»Zum Beispiel eine gerichtliche Verfügung, die Ihnen verbietet, sich Frau Dannenberg und ihrem Sohn zu nähern.«
»Ich bin englischer Staatsbürger und werde das von unserer Botschaft klären lassen«, erwiderte Ray kalt.
»Sie werden einiges erklären müssen, auch wann Sie Bess Melvin das letzte Mal gesehen haben und wieweit Sie ihr dazu verholfen haben, hier als Ärztin aufzutreten.«
»Keine Ahnung, wie sie das geschafft hat, aber raffiniert genug ist sie ja. Ich möchte selbst wissen, wo sie sich aufhält, sie ist mir manche Erklärung schuldig. Und Ihnen bin ich gar keine schuldig.«
»Wir werden sehen«, sagte Kommissar Fechner, aber momentan hatte er wirklich nichts gegen Ray Gambill in der Hand, außer daß er unter falschem Namen reiste, aber mit einem gültigen Paß.
Er war aber auch sicher, daß Maximiliane Dannenberg vor diesem Mann geschützt werden mußte.
*
Fee Norden hatte die Mappe, in der sie die verschiedensten Zeitungsausschnitte aufbewahrte, gefunden und betrachtete sie. Die meisten bezogen sich auf Hochzeiten in prominenten Kreisen, mit denen sie persönlich zu tun hatten und auch eingeladen worden waren. Auch über ein paar Todesfälle hatte sie Berichte aufgehoben, und manche Erinnerung erwachte.
Sie betrachtete lange die Fotos von Maxis Hochzeit. Sie waren ein wirklich attraktives Paar gewesen. Wieder fragte sich Fee, warum dieser Mann sich so verändern konnte. Ein Mann mit zwei Gesichtern, das gab es öfter, aber auch zwei unterschiedliche Charaktere in einem Menschen? Sein Vater wirkte ausgesprochen vornehm, und so war er ihr auch in Erinnerung. Konnte sein Sohn so ganz anders sein, oder was hatte ihn so verändert? Wie sollte sie darauf eine Erklärung finden, die auch Maxi nicht gefunden hatte, obgleich sie Jahre mit ihm verheiratet war und zusammengelebt hatte, und sie hatte ihn geliebt. Konnte Liebe denn so irren? Aber Maxi war nicht schuld an diesem Fiasko, es war allein Ray gewesen. Unter dem Einfluß von Bess Melvin? Konnte man sie eine Hexe nennen, die Menschen manipulieren konnte?
In der Behnisch-Klinik war sie schnell durchschaut worden, wenn man ihr den Betrug auch nicht nachweisen konnte, den sie mit Namen und Dokumenten begangen hatte. Professor Schwerdt hatte für sie gebürgt.
Jetzt wußten sie es besser, waren bestürzt, aber gleichzeitig auch erleichtert, von ihr befreit zu sein.
Fee klappte die Mappe zu und widmete sich den Bewerbungen, die Jenny ihr anvertraut hatte, um ihre Meinung zu hören. Eine fand gleich Gnade vor ihren Augen. Das Foto zeigte ein ernstes Gesicht, von ein paar Narben gezeichnet. Sein Name war Torsten Werling. Er war sechsunddreißig Jahre und hatte bereits vor neun Jahren seinen Doktor gemacht. Er war durch einen schweren Unfall, bei dem er seine Frau und seine Tochter vor vier Jahren verloren hatte, nicht mehr fähig gewesen, seinen Beruf auszuüben und suchte jetzt wieder einen Weg, Anschluß zu finden.
Aus diesen Gründen wäre er doppelt dankbar, wenn ihm eine Chance gegeben würde.
Fee überlegte nicht mehr lange, sie rief Jenny an und sagte ihr, auf wen ihre Entscheidung gefallen war.
»Man kann es ja versuchen«, meinte Jenny. »Ich möchte nur nicht, daß du meinst, daß mein Mitgefühl ausschlaggebend sei. Ich kann mich nämlich an diesen schrecklichen Unfall erinnern, weil einer der Beteiligten bei uns eingeliefert wurde. Es stellte sich heraus, daß er der eigentlich Schuldige war. Ich werde den Kollegen zu einem Gespräch bitten. Vielleicht könntest du dabeisein, Fee.«
»Selbstverständlich, du brauchst mir nur den Termin zu nennen.«
»Ich sage dir gleich Bescheid. Habt ihr schon etwas über die Melvin gehört?«
»Nein, sie ist verschollen, aber Gambill weiß anscheinend auch nichts über ihren Verbleib.«
Fee bekam allerdings am Nachmittag einen Anruf von Maxi. Bei ihr hatte sich Gambill gemeldet und angekündigt, daß er Patrick sehen wolle.
»Was soll ich nur machen?« fragte Maxi verzweifelt.
»Haben Sie mit ihm gesprochen, Maxi?«
»Nein, Muni war am Telefon. Sie hat gesagt, daß wir nicht im Haus sind.«
»Dann fahren Sie schnellstens mit Patrick weg.«
»Aber wohin?«
»Zur Insel der Hoffnung, da kommt er nicht an Sie heran. Ich rufe meinen Vater an.«
»Aber dann muß Muni das allein ausbaden.«
»Sie wird sich ihm gewachsen zeigen, wie ich sie kenne, und sie braucht ihm nicht die Tür zu öffnen.«
Patrick war ein hellwaches Kind, aber er war eben doch noch ein kleiner Junge, der nicht begriff, wie ihm geschah, als Maxi einen Koffer im Auto verstaute und er seiner Muni auf Wiedersehen sagen mußte.
»Ich will aber bei dir bleiben, Muni«, flehte er.
»Du kommst ja bald wieder«, erwiderte sie tapfer und nickte ihrer Tochter aufmunternd zu.
Sie stand noch minutenlang am Zaun und schaute, ob nicht ein anderer Wagen dem blauen Cabrio folgte. Sie konnte nichts Auffälliges beobachten.
»Warum fahren wir weg, Mami?« fragte Patrick. »Ist es wegen Dad?«
Maxi überlegte, daß es besser sei, dem Jungen die Wahrheit zu sagen. Er würde weiter fragen und begriff schon, daß sich so manches in seinem jungen Leben geändert hatte. Sein Vater hatte sich bisher nicht viel um ihm gekümmert, und so sehr sich Maxi auch bemüht hatte, alles von ihm fernzuhalten, was sein kindliches Gemüt verletzen konnte, war es ihm nicht entgangen, daß seine Mami Kummer hatte.
»Ich will aber nicht wieder nach England«, sagte er trotzig.
»Wir fahren zur Insel der Hoffnung, da ist es sehr schön.«
»Es klingt auch schön«, stellte er fest. »Aber Muni will, daß wir bald wieder zu ihr kommen.«
»Das werden wir auch, wenn endlich alles in Ordnung kommt. Du willst doch nicht, daß er dich von uns wegholt, Patty.«
»Will er das?« fragte der Junge entsetzt. »Das darf er doch nicht. Du hast gesagt, daß ich immer bei dir bleiben darf.«
»Daran wird sich auch nichts ändern. Ich weiß nur nicht, was er vorhat, und ob ihm nicht jemand hilft, dich mitzunehmen.«
»Ich gehe doch mit niemand mit, Mami, aber wenn du meinst, daß er uns nicht findet auf der Insel der Hoffnung, dann bleiben wir dort, bis er wieder fort ist. Er wird doch aber Muni nichts tun?« fragte er besorgt.
Unwillkürlich mußte Maxi daran denken, wie gut das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und Ray damals gewesen zu sein schien. Er hatte sich wirklich von seiner allerbesten Seite gezeigt. Es war ihr unerklärlich, was ihn so völlig verändert haben könnte. War das Testament seines Vaters daran schuld, in dem Patrick zum Alleinerben bestimmt wurde, aber was hatte den alten Herrn dazu bewogen? War es der frühe Tod seines zweiten Sohnes gewesen, den Maxi gar nicht kennengelernt hatte, daß er seine ganze Hoffnung auf seinen einzigen Enkel setzte? Womit Ray sein Geld verdiente, hatte Maxi eigentlich nie durchschaut, aber es hatte nie an Geld gemangelt.
Maxi ermahnte sich, sich besser zu konzentrieren, als sie merkte, daß sie die richtige Ausfahrt verpaßt hatte. Und Reminiszenzen sollte sie sich besser nicht hingeben. Es versetzte ihr immer wieder schmerzhafte Stiche, daß sie soviel Gefühl in diese Ehe investiert hatte, daß ihre erste und einzige Liebe so maßlos enttäuscht worden war. Sie war noch lange nicht darüber hinweg.
Jetzt war sie mit ihren Gedanken wieder in der Gegenwart. »Wir sind bald am Ziel, Patty«, erklärte sie ihrem Sohn, und dann sah sie schon das Schild ›Insel der Hoffnung‹.
Sie wurden von Johannes und Anne Cornelius herzlich empfangen. Von Fee hatten sie inzwischen schon erfahren, welche Sorgen Maxi mitbrachte, aber Patrick war hellauf begeistert, als sie von Anne durch den herrlichen Park zu einem der hübschen Häuschen geführt wurden, das für die nächste Zeit ihr Domizil sein sollte.
»Ganz für uns allein?« fragte er atemlos.
»Ganz für euch«, bestätigte Anne, »aber wir hoffen doch, daß ihr uns beim Essen Gesellschaft leistet.«
»Mit vielen Leuten?« fragte er ängstlich.
»Nein, nur mit uns.«
»Das ist okay, ich mag nur fremde Leute nicht.«
Anne sah Maxi forschend an. »Ich war wohl zuviel mit ihm allein«, sagte Maxi entschuldigend.
»Das ergab sich wohl aus der Situation«, meinte Anne verständnisvoll.
Patrick war schon ganz zutraulich geworden, und beim gemeinsamen Essen erkundigte er sich auch, wieviel Leute denn noch hier wären. Er meinte, daß er nur ein paar davon gesehen hätte.
»Sind die andern sehr krank?« fragte er.
»Nur ein paar von ihnen. Sie können nicht laufen, sie müssen im Rollstuhl gefahren werden.«
»Das ist traurig. Kannst du sie gesund machen, Doc?«
»Wir können ihren Zustand bessern, und manchmal werden sie auch ganz geheilt«, erklärte Hannes Cornelius.
»Das finde ich sehr schön. Hier kann man auch gesund werden«, stellte Patrick fest. »Mami ist schon nicht mehr so blaß.«
Sie muß bildschön gewesen sein, dachte Anne, hoffentlich kann sie sich mal wieder des Lebens freuen.
In dieser Nacht schlief Maxi jedenfalls zum ersten Mal seit langer Zeit wieder, ohne von Alpträumen gequält zu werden, bis in den lichten Morgen hinein. Als sie erwachte, stand Patrick an ihrem Bett und betrachtete sie tiefsinnig.
»Du hast nicht gemerkt, wie ich dich gekitzelt habe«, sagte er kichernd.
»Ich dachte, es wäre eine Fliege«, meinte sie.
»Hier gibt es keine Fliegen, die Sonne scheint, und ich habe Hunger.«
»Dem kann doch sicher abgeholfen werden«, sagte Maxi lächelnd.
»Ganz sicher. Anne hat schon angerufen, daß wir frühstücken können, wenn wir wollen, du hast das Klingeln auch nicht gehört.«
»Ich habe wundervoll geschlafen.«
»Das ist gut, da werden sich Anne und der Doc freuen.«
»Du kannst doch nicht einfach nur Anne sagen, Patty.«
»Sie hat es mir aber erlaubt, Frau Cornelius ist zu lang.«
»Ja, wenn sie es erlaubt hat! Ich gehe jetzt ins Bad. Willst du nicht auch duschen und Zähne putzen?«
»Hab’ ich doch schon, ich bin schon lange wach.«
Maxi erkannte ihren Sohn kaum wieder. Ob das an der Atmosphäre lag, die hier herrschte, an dem Frieden, der Wärme, dieser weichen Luft, die sie umschmeichelte?
Der Frühstückstisch war für sie gedeckt. Dr. Cornelius war schon bei seinen Patienten, Anne kam aus dem Büro und wünschte ihnen fröhlich einen guten Morgen.
Maxi sagte, daß sie so gut schon lange nicht mehr geschlafen hätte. »Man sieht es Ihnen an«, meinte Anne und lächelte zufrieden.
Maxi konnte sich auch nicht erinnern, wann ihr ein Frühstück jemals so gut geschmeckt hatte wie an diesem Morgen. Sie schuldete Daniel und Fee Norden soviel Dank, denn hier fühlte sie sich sicher, hier brauchte sie keine Angst um Patrick zu haben. Hier sammelte sie auch Kräfte, um Angriffen aus dem Hinterhalt widerstehen zu können.
*
Fee war beruhigt, gute Nachrichten von der Insel zu bekommen.
Von Bess Melvin gab es noch immer keine Spur. Robert Schwerdt hatte einen Selbstmordversuch unternommen durch einen Schuß in den Kopf. Er lag im Koma. Seine Vergangenheit war durchleuchtet worden, aber es gab nur ein paar Affären mit Frauen, die gegen ihn sprachen. Allein Bess Melvin schien ihn erpreßt zu haben. Über sie hatte man bei ihm auch Notizen gefunden, die er anscheinend gesammelt hatte, um seinerseits auch sie unter Druck setzen zu können.
Gambill war aus anderem Holz geschnitzt als Schwerdt. Er war nicht zu fassen. Er hatte zweimal Monika Dannenberg angerufen, sie aber nicht aufgesucht, als sie ihm sehr energisch erklärt hatte, daß Maxi und Patrick nicht mehr in ihrem Haus lebten und sie die Polizei rufen würde, wenn er es wagen sollte, bei ihr zu erscheinen. Wo er sich jetzt aufhielt, wußte auch Kommissar Fechner nicht.
Maxi weilte schon eine Woche auf der Insel der Hoffnung, als Wanderer zufällig eine Frauenleiche in einem Waldstück fanden, das zwanzig Kilometer von München entfernt lag. Sie wurde als Bess Melvin identifiziert. Sie war erschossen wurde und mußte etwa zwei Wochen dort gelegen haben.
Jetzt war es ein richtiger Fall, mit dem sich Kommissar Fechner beschäftigen konnte. Er fand bald heraus, daß sie mit derselben Waffe erschossen worden war, mit der Schwerdt sich hatte umbringen wollen.
Er konnte nicht verhört werden, es konnte nur kombiniert werden, was an jenem Tag vor Schwerdts Suspendierung geschehen war, an jenem Abend, als Bess Melvin die Behnisch-Klinik verlassen hatte, um dann spurlos zu verschwinden. Jetzt wußte man, daß sie die Nacht nicht überlebt hatte. Sie mußte sich mit Schwerdt getroffen oder ihn aufgesucht haben.
Was mochte sie von ihm verlangt haben, das ihn schließlich so aufbrachte, daß er zur Waffe griff? Eine Antwort darauf gab es nicht, und wenn Schwerdt auch am Leben blieb, er würde kein normaler Mensch mehr sein. Aber vielleicht hatte er schon genug gebüßt bis zu dem Augenblick, als er sein Leben beenden wollte. Das Schicksal war gnädig, er starb an dem Tag, als die Leiche von Bess Melvin gefunden war.
Über die Tote stand nur eine kurze Notiz in den Zeitungen, in der allerdings auch ihr voller Name erwähnt wurde. Ray Gambill las diese Notiz. Es war nicht so, daß er in Trauer erstarrte, aber er war doch so bestürzt, daß ihm die Zeitung aus der Hand fiel. Nach einigen Minuten der Besinnung überkam ihn jedoch eine gewisse Erleichterung, daß Bess ihm nun in keiner Weise mehr gefährlich werden konnte, denn sie wußte eine ganze Menge über seine Aktivitäten.
Aber wer konnte sie umgebracht haben? Jetzt versuchte er doch, Verbindung zu Schwerdt aufzunehmen, aber nun mußte er erfahren, was mit dem geschehen war.
Er war schlau genug, um diesen Selbstmordversuch mit dem Mord an Bess in Verbindung zu bringen. Er wußte, womit Bess den Professor erpreßt hatte. Es war aber eher beruhigend für ihn, daß Schwerdt jetzt an seinen Verletzungen gestorben war.
Er mußte allerdings seine Pläne aufgeben, doch noch an das Erbe seines Vaters zu gelangen, indem er Patrick in seine Gewalt bekam. Dazu hatte ihm Bess verhelfen sollen, denn er wußte, daß Maxi eher auf alles verzichten würde, als auf ihren Sohn. Er konnte jetzt nichts riskieren, es mußte erst Gras wachsen über diese Geschichten, die alles über den Haufen warfen, was er mit Bess ausgeklügelt hatte.
Er beschloß, vorerst nach England zurückzukehren und sich eine andere Strategie einfallen zu lassen.
Ein Ray Gambill gab so schnell nicht auf. Bess hatte ihn einmal als den Mann mit tausend Gesichtern und dem Leben von drei Katzen bezeichnet. Nun, sie übertrieb ja gern, aber irgendwie stimmte es ihn auch heute noch zufrieden, wenn er an diese Worte dachte. Sein Vater hatte ihn erst nach seiner Heirat mit Maximiliane durchschaut, weil sie dem alten Herrn so wichtig gewesen war und es ihm nicht entging, daß Ray nicht wie ein glücklicher und treuer Ehemann lebte, sondern auch Maxi etwas vorgaukelte. James Gambill war ein kränkelnder Mann gewesen, und als sich Ray von ihm durchschaut fühlte, war es beschlossen, daß sein Leben nicht durch ärztliches Können verlängert werden sollte, und dazu brauchte er Bess.
Sie hatte ihm gute Dienste geleistet, er würde sie doch wohl vermissen. Sie hatte immer eine Idee gehabt, wenn etwas nicht glattging, und ein Risiko hatte sie auch nie gescheut. Wieso war sie in bezug auf Schwerdt unvorsichtig geworden? Hatte sie ihn wirklich für einen kompletten Trottel gehalten?
Er überlegte, ob er es doch auf die sanfte Tour bei Maxi versuchen sollte. Sie war doch immer leicht zu täuschen gewesen und hatte ihn so bedingungslos geliebt. Ja, sie gehörte zu den Frauen, die ihre erste Liebe nie vergaßen. Mit einem süffisanten Lächeln betrachtete er sich im Spiegel. Er hatte immer Erfolg bei Frauen gehabt, er würde den auch weiterhin haben und ganz sicher auch bei reichen. Aber sollte er seine Freiheit verkaufen?
Mit Maxi hatte es Spaß gemacht, sie war so unerfahren, so unbedarft. Sie hatte ihn angehimmelt, und seinem Vater hatte diese Schwiegertochter so gefallen, daß er seinem Sohn manche Eskapaden verziehen hatte.
Er hatte endlich den Tod seines jüngeren Sohnes Nick verschmerzt, als Patrick geboren wurde. Aber wer und was hatte ihn auf den Gedanken gebracht, heimlich sein Testament ändern zu lassen, obgleich Ray ihn völlig unter Kontrolle zu haben meinte?
Was hatte ihn veranlaßt, ihn aus dem Testament streichen zu lassen? Das beschäftigte ihn wieder unentwegt.
Niemand war auf den Gedanken gekommen, daß ihm Medikamente verabreicht wurden, die sein Ende beschleunigten. Maxi schon gar nicht. Sie dachte nie etwas Schlechtes über andere, aber er hatte auch nicht erwartet, daß sie sich von ihm scheiden lassen würde, nicht, daß sie ihm überhaupt mißtraute. Es mußte das Testament seines Vaters gewesen sein, das sie mißtrauisch machte und hatte einen Privatdetektiv beauftragt, ihr Beweise für eine Untreue zu verschaffen, was er auch getan hatte. Sie hatte auch erreicht, daß ihr das alleinige Sorgerecht für Patrick zugesprochen wurde.
Ray ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen. Es machte ihn wütend, daß er nicht einen Augenblick gedacht hatte, daß sie auf solche Gedanken kommen würde, daß er sie für zu naiv hielt, so weittragende Entschlüsse zu treffen.
»Wir kriegen das schon wieder hin«, hatte Bess ihm versprochen. »Du wirst ihr Patrick wegnehmen, und sie wird jede Summe aus dem Erbe zahlen lassen, um ihn wiederzubekommen.« Sie war so fest davon überzeugt gewesen, daß er daran glaubte.
Jetzt war sie tot, ermordet, und ihr Mörder war auch tot. Schwerdt, dieser Einfaltspinsel, der nichts als seine Karriere im Sinn hatte und seine Seele dafür verkaufte.
Ray überlegte weiter, was Bess jetzt wohl tun würde, um ihm aus der Klemme zu helfen.
Ihm kam tatsächlich eine zündende Idee. Was konnte ihn eigentlich hindern, den Nordens einen Besuch abzustatten? Nicht ihm, sondern dieser bezaubernden Fee Norden, die ihm auf seiner Hochzeit zu verstehen gegeben hatte, daß er ihr sehr sympathisch war. Er legte sowieso alles zu seinen Gunsten aus. Alle waren sie von der Hochzeit begeistert gewesen, von dem Traumpaar. Es war ein gesellschaftliches Ereignis gewesen, und warum sollte er nicht auch Fee Norden davon überzeugen, daß die Trennung von Maxi nur auf Mißverständnissen beruhte, die sich ausräumen lassen konnten, wenn man ihm nur eine Chance dafür gäbe, Mißverständnisse, an denen auch Bess Schuld trug. Sie konnte sich ja nicht mehr wehren. Er wollte sich das ganz genau durch den Kopf gehen lassen.
*
Monika Dannenberg hatte ein langes Telefongespräch mit Fee Norden geführt. Sie wollte sich vergewissern, ob es ihrer Tochter wirklich so gutging auf der Insel der Hoffnung, daß sie wieder Freude am Leben gewann und zuversichtlich in die Zukunft schaute. Sie wollte Maxi und Patrick auch in Sicherheit wissen.
»Sie können ja auch hinfahren und sich selbst davon überzeugen, Frau Dannenberg«, meinte Fee.
Monika meinte, daß sie nichts unternehmen könne, solange Ray in der Nähe sein könnte. Sie wollte das Haus auch nicht allein lassen. Sie war immer eine mutige Frau gewesen und bereit, Ray Gambill die Stirn zu bieten. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm in der Vergangenheit vertraut hatte und anfangs auch meinte, daß Maxi die Scheidung überstürzt hätte. Ja, er hatte mit seinem
Charme die meisten Frauen eingewickelt, und sie hatte auch gemeint, daß ein Gentleman wie James Gambill keinen so charakterlosen Sohn haben konnte. Wie konnte das nur sein? Monika kam bei allem Nachdenken darüber die Erinnerung, daß Rays Mutter sehr früh verstorben war und James dann ein zweites Mal geheiratet hatte.
Sie hatte bisher vermieden, nach Maxis Scheidung die alten Fotos anzuschauen, die Maxi so liebevoll zu einem Album zusammengestellt hatte, mit Sprüchen und Gedichten versehen. Sie war ein romantisches Mädchen gewesen, auf Wolke sieben schwebend, da sie in Ray die Liebe ihres Lebens gefunden hatte. Sie war davon überzeugt gewesen.
Monika holte nach dem Telefonat mit Fee das Album aus seinem Versteck. Sie hatte es in Sicherheit gebracht, als Maxi kam, aber sie hatte es nicht über sich gebracht, es zu vernichten.
Es war kein übliches Fotoalbum, es hatte eine Familienchronik werden sollen. Es war in rotbraunes Leder gebunden, in das die Familienwappen der Dannenbergs und Gambills geprägt worden waren. Es war Maxis Geschenk für Ray zur Hochzeit gewesen. Sie hatte alle Fotos, die sie von ihm, seiner Kindheit und Jugend bekommen hatte und auch von ihrer gesammelt.
Mit einem eigenartigen, beklommenen Gefühl betrachtete Monika die ersten Seite. Ray als Baby im Arm seiner Mutter, mit seinen Eltern und Großeltern, desgleichen auch Maxi mit ihren Eltern und Großeltern.
Rays Mutter war eine zarte, unscheinbar zu nennende Frau gewesen, immer kränkelnd, wie James einmal beiläufig bemerkt hatte. Seine zweite Frau Jane, eine lebhafte mitteilsame Frau, hatte erzählt, daß Gladys in einem Nervensanatorium gestorben sei. Sie hatte nie einen richtigen Kontakt zu Ray gefunden, und als sie Nick zur Welt gebracht hatte, lehnte Ray sie noch mehr ab. Bei der Hochzeit ließ er sich das nicht anmerken.
Jetzt, nach den Erfahrungen, die Maxi in ihrer Ehe gemacht hatte und die zur Scheidung führten, kam Monika zu der Erkenntnis, daß Ray ein perfekter Schauspieler war und wohl nur seinen Beruf verfehlt hatte.
Nick war ein hochintelligenter junger Mann gewesen. Er war im Alter von einundzwanzig Jahren als Student in Oxford tödlich verunglückt, als sein Wagen wegen defekter Bremsen auf einer kurvenreichen Strecke über einen Abhang stürzte. James hatte seinen Tod nur schwer verwinden können.
Ray war ein bildhübsches Baby, ebenso hübsch als Junge und sehr attraktiv als junger Mann. Ja, rein äußerlich waren er und Maxi wirklich ein Traumpaar, sie war ein entzückendes junges Mädchen und eine bildschöne Braut.
Monika war immer mehr ins Grübeln geraten, und ihr kam der Gedanke, daß Gladys möglicherweise psychisch krank gewesen sein könnte und ihre Erbanlagen sich bei Ray in anderer Art auswirkten. Aber das bereitete ihr dann gleich ein angstvolles Erschrecken, denn sie dachte an Patrick, den man als introvertiertes Kind bezeichnen konnte, der kein fröhliches Kind war, wie sie es von Maxi gekannt hatte.
Es hätte sie getröstet, wenn sie den Jungen jetzt gesehen hätte, wie lebhaft er mit Anne und Johannes Cornelius sprach, wie er sich auch aufgeschlossen mit den Patienten unterhielt, denen er begegnete, wenn er allein seine Streifzüge auf der Insel unternahm.
Maxi hatte das zuerst mit Bedenken zur Kenntnis genommen, aber Anne hatte ihr zugeredet, ihm Freiheiten zu lassen. Hier brauchte sie keine Angst um ihn zu haben, und es war nur gut für seine Entwicklung, wenn er selbständiger wurde.
Patrick war ein sehr nachdenkliches Kind. Anne fragte sich, was in dem hübschen kleinen Kopf wohl vor sich gehen mochte. Er fragte nie nach seinem Vater. Sie hatte zufällig gehört, wie eine alte Patientin, die selbst mehrfache Großmutter war, ihn nach seinem Vater und seinen Großeltern fragte. Er hatte sehr lakonisch die Antwort gegeben, daß sie tot wären.
Die innige Liebe, die ihn mit seiner Mami verband, zeigte sich nicht darin, daß er gern mit ihr schmuste, das hatte Anne bisher noch nicht gesehen. Daß er ständig Tuchfühlung zu ihr hielt, hatte sich schon nach kurzer Zeit gelegt.
Er ging gern allein auf Entdeckungsreise, und das erinnerte Anne an Mario, ihren Adoptivsohn, der im Alter von knapp vier Jahren zu ihnen gekommen war und den sie wie einen eigenen Sohn liebten. Ihr kam auch der Gedanke, ob Patrick es akzeptieren würde, wenn Maxi einen Mann kennenlernte, dem sie wieder Liebe entgegenbringen konnte. Sicher nicht die schwärmerische Jungmädchenliebe, die blind gewesen war, sondern eine vertrauensvolle Liebe. Aber Maxi verschwendete daran keinen Gedanken. Ungefragt sagte sie einmal zu Anne, daß eine Bindung für sie nie mehr in Frage käme. Anne hatte gespürt, wie tief die Wunden waren, die Ray ihr geschlagen hatte.
Da die Polizei das Interesse
an ihm schon verloren zu haben schien, wiegte er sich so in Sicherheit, daß er seinen Plan verwirklichen wollte, jetzt auf die ganz sanfte Tour vorgehen zu wollen. So stand er eines Tages am späten Vormittag bei den Nordens vor der Tür und vor der momentan sprachlosen Frau.
Sie mußte zugeben, daß er eine unwiderstehliche Art hatte, auf die man leicht hereinfallen konnte, wenn man nicht über ihn Bescheid wußte. Da sie wissen wollte, was er vorhatte und warum er es wagte, sie aufzusuchen, verhielt sie sich diplomatisch und das machte ihn noch sicherer.
»Bitte, verzeihen Sie mir mein unangemeldetes Erscheinen, aber ich möchte Ihnen erklären, welche Mißverständnisse meine Frau veranlaßt haben, sich von mir zu trennen. Ich bin untröstlich darüber. Sie waren doch auf unserer Hochzeit und haben erlebt, wie glücklich wir waren. Es ist unvorstellbar für mich, daß eine intrigante, verlogene Frau solchen Einfluß auf Maxi hatte, daß sie mich verließ, ohne mir nur eine Chance zu einer Erklärung zu geben.«
Sehr gekonnt hatte er dies ausgedrückt und dabei auch die schmerzliche Miene nicht vergessen. Fee verstand es auch, Zweifel auszudrücken in ihrem Mienenspiel, aber kein deutliches Mißtrauen.
»Sie sehen mich überrascht, Mr. Gambill. Ich wußte bisher nichts von einer Trennung, nur, daß Maxi hier ihre Mutter besucht«, erklärte Fee, und jetzt war er der Überraschte.
»Sie haben noch nicht mit Maxi gesprochen? Sie hat nichts verlauten lassen von der Trennung und auch ihre Mutter nicht?« Er fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Er brauchte diesmal nicht den Fassungslosen zu spielen.
»Frau Dannenberg haben wir schon länger nicht mehr gesehen. Sie erfreut sich ja glücklicherweise einer guten Gesundheit. Ich bin momentan verunsichert, Mr. Gambill.«
»Das bin ich auch, denn meine Schwiegermutter weigert sich, mich zu empfangen. Sie behauptet, daß Maxi nicht bei ihr ist. Ich habe doch ein Recht, wenigstens meinen Sohn zu sehen. Das werden Sie als Mutter doch auch verstehen.«
Fee griff sich an die Stirn. »Sie sprachen von einer Intrigantin, einer verlogenen Frau? Wer soll das sein?«
»Sie heißt Bess Melvin, hat sich hier aber als Ärztin Bridget Mellet ausgegeben und auch eine Stellung in der Behnisch-Klinik gefunden. Es ist mir schleierhaft, wie sie das erreichen konnte.«
»Das ist mir allerdings auch unbegreiflich, aber da ich Dr. Jenny Behnisch kenne, wußte ich von der Ärztin, die eines unnatürlichen Todes gestorben sein soll. Ich weiß auch, daß sie auf Empfehlung von Professor Schwerdt angestellt wurde, den man ja als ihren Mörder bezeichnet.«
»Eine entsetzliche Geschichte! Ich kannte sie nur als Krankenschwester Bess Melvin, weil sie meinen kranken Vater pflegte. Sie hat es so raffiniert gedreht, daß Maxi glaubte, ich hätte zu ihr eine intime Beziehung gehabt. Ein schlimmer Verdacht, den sie sich nicht ausreden ließ, aber sie war so gutgläubig, leider auch in negativer Beziehung. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie es mich erklären lassen.«
»Ich möchte wirklich wissen, was tatsächlich geschehen ist. Als Ärztin hat sie sich keine Sympathie verschafft, vielleicht war sie auch eine unzuverlässige Krankenschwester, die bei der Pflege Ihres Vaters Fehler machte?«
Er sah sie irritiert an. »Daran habe ich noch nicht gedacht, aber man hätte ihr doch wohl Fehler nachweisen können.«
»Wenn man ihr solche hätte nachweisen können, Mr. Gambill, aber wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.«
Jetzt suchte er nach Worten und schien sich damit schwer zu tun, denn er wußte nicht, wie er das Gespräch fortführen sollte.
»Als ich durch Zufall erfuhr, daß sich Bess in München aufhält, kam mir der quälende Gedanke, daß sie Maxi weitere Lügen unterbreiten könnte. Deshalb bin ich gekommen, um mit Maxi eine Aussprache herbeizuführen, aber ich weiß nicht, wo sie ist und setze meine letzte Hoffnung auf Sie, da Sie eine so kluge, lebenserfahrene Frau sind. Ich weiß auch, daß Sie ein Vorbild für Maxi sind. Bitte, sagen Sie mir, wo ich meine Frau und meinen Sohn finde, damit ich Klarheit schaffen kann.«
Wie raffiniert er ist, dachte Fee. Jetzt, da Bess Melvin tot ist, meinte er, seine Chance bei Maxi zu bekommen. Für wie dumm hält er sie eigentlich?
»Es tut mir leid, Mr. Gambill«, erklärte sie, sich nur mühsam beherrschend, »aber ich weiß wirklich nicht, wo sich Maxi aufhält, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie es sich leichtgemacht hat, sich von Ihnen zu trennen. Sie hat Ihnen bedingungslos vertraut, davon bin ich überzeugt. Es hat wohl doch einiger Beweise bedurft, die endgültige Trennung zu rechtfertigen. Sie sollten darüber nachdenken.«
»Sie wollen mich auch als Ehebrecher hinstellen!« empörte er sich.
»Das will ich nicht, aber ich denke, daß bei dem Scheidungsrichter Beweise ausschlaggebend waren.«
»Immerhin gibt es Beweise, daß Bess Melvin eine Betrügerin war, die vor nichts zurückschreckte.«
»Und ich frage mich, was sie beabsichtigte, daß sie sich ausgerechnet München als Schauplatz aussuchte.«
»Woher soll ich das wissen?« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich verabschiede mich, Frau Dr. Norden. Ich werde Maxi auch ohne Ihre Hilfe finden.« Das klang in Fees Ohren drohend. Sie hatte auch ein unbehagliches Gefühl und atmete erst auf, als er aus dem Haus war. Lenni lehnte kreidebleich an der Küchentür, eine volle Wasserflasche in der Hand.
»Was wollte dieser Mann?« fragte sie. »Er hatte etwas Böses an sich.«
»Sie haben einen guten Instinkt, Lenni«, sagte Fee mit einem erleichterten Lächeln. »Sie fallen nicht auf diesen Charmeur herein. Wollten Sie etwa mit der Wasserflasche auf ihn losgehen?«
»Ich habe nichts anderes zur Hand gehabt, die ist aber ganz schön schwer«, meinte Lenni. »Ich hätte schon aufgepaßt, daß er Ihnen nichts tut.«
»Das hätte er wohl doch nicht gewagt, aber Sie haben recht, man muß sich vor ihm in acht nehmen.«
»Noch dazu, wo heute der Dreizehnte ist.«
»Du lieber Himmel, das hätte ich ja beinahe vergessen!« rief Fee aus. »Heute nachmittag muß ich in die Behnisch-Klinik. Ein Arzt stellt sich vor.«
Und hoffentlich ist der Dreizehnte nicht ein schlechtes Omen, dachte sie für sich.
*
Dr. Torsten Werling war es egal, welches Datum dieser Tag hatte, er hoffte nur, daß er endlich eine Stellung und somit einen Neuanfang finden würde.
Überwunden hatte er den Tod seiner Frau und seiner kleinen Tochter nicht, aber das Leben war trotzdem weitergegangen. Nutzlos wollte er es nicht verbringen, wenn es ihm schon bestimmt war zu leben.
Er konnte sich nicht an den Hergang des Unfalls erinnern. Er hatte lange im Koma gelegen und war nach dem Erwachen wochenlang mit starken schmerzlindernden Medikamenten behandelt worden, die sein Denkvermögen betäubten. Erst eine lange Therapie weckte wieder das Bewußtsein in ihm, was er selbst während seines Berufslebens als Arzt so oft zu den Patienten gesagt hatte, nämlich daß man niemals aufgeben dürfe. Aber es hatte Zeit gebraucht, bis er fähig war, sich zum Weitermachen durchzuringen. Immer und immer wieder hatten ihn die Gedanken gequält, daß er Patienten sterben sehen würde, durch Unfälle Schwerverletzte, denen nicht mehr zu helfen war.
Er hatte mehrmals Bewerbungen geschrieben, aber sie im letzten Augenblick doch nicht weggeschickt, bis er die Annonce von der Behnisch-Klinik gelesen hatte. Da hatte er den Mut dazu gehabt.
Es war drei Wochen her, daß er sich wieder hinter das Steuer eines Autos gesetzt hatte. Es war ein unauffälliger Wagen, den er von einem Gebrauchtwagenhändler gekauft hatte, aber er war gut in Schuß. Angst um sein Leben hatte er nicht, diese Angst verlor man wohl, wenn man dem Tod schon so nahe gewesen war. Es war auch nicht Geldmangel, was ihn zwang, eine Stellung anzunehmen. Er hatte von der Versicherung große Beträge bekommen, die ihm einen Lebensstandard ohne Sorgen gesichert hätten, aber es war für ihn bedrückend, daß der Tod seiner Frau ihm auch ein Vermögen brachte.
Seine Schwiegereltern hatten ihm das ziemlich taktlos vorgeworfen, aber sie waren selbst so vermögend, daß sie keine Hilfe brauchten, und ihr Verhalten hatten sie völlig entfremdet. Es waren auch die seelischen Schmerzen, die ihn oft peinigten, seine Eltern, die genug unter den Ereignissen gelitten hatten, wollte er nicht zusätzlich belasten. Er hatte keinen Menschen, mit dem er darüber reden konnte. Enge Freunde hatte er nicht mehr gehabt, weil seine Frau Susanne sehr eifersüchtig gewesen war und er neben seinem Beruf auch jede freie Minute mit ihr und dem Kind verbrachte.
Als er jetzt vor der Behnisch-Klinik aus dem Auto stieg und das helle, freundliche Gebäude betrachtete, hatte er nur noch den Wunsch, die Stellung zu bekommen. Hier würde er sich wohl fühlen können.
Auch Jenny Behnisch und Michael Graef blickten dem ersten Gespräch erwartungsvoll entgegen.
Sie warteten aber auch auf Fee Norden, die ebenfalls anwesend sein wollte, die aber ihrem Mann soviel zu erzählen gehabt hatte von Gambills Auftritt, daß sie sich verspätete.
Sie kam erst, als sich Torsten Werling vorgestellt hatte. So wirkte ihr Erscheinen fast zufällig, und Torsten dachte im ersten Augenblick, daß sie sich auch um die Stellung beworben hätte. Er rechnete sich schon keine Chance mehr aus, daß man ihn nehmen würde und war erleichtert, als Dr. Graef sie als Frau Dr. Norden vorstellte, denn der Name Norden war ihm bekannt.
»Wir hatten meine Freundin gebeten, uns bei der Auswahl der Bewerber behilflich zu sein«, gab Jenny Behnisch freimütig zu, und Fee übernahm es, ihm zu erklären, warum sie so vorsichtig geworden waren und sich nicht auf großartige Referenzen verlassen wollten.
Torsten machte in seiner zurückhaltenden Art einen sehr guten Eindruck auf alle drei, und gerade weil er ein so schweres Schicksal bewältigen mußte, war die Entscheidung schon auf ihn gefallen, bevor sie sich noch besprachen.
Torstens schmales, ernstes Gesicht entspannte sich, als Fee sagte, daß sie jetzt wohl gehen könne, damit Jenny und Michael sich mit ihrem zukünftigen Kollegen unterhalten und ihm die Klinik zeigen konnten.
»Ich danke Ihnen für das Vertrauen, daß Sie mir entgegenbringen und werde mich sehr bemühen, Sie nicht zu enttäuschen«, sagte er.
»Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit«, erklärte Michael
Graef, nachdem er schnell einen vielsagenden Blick mit Jenny getauscht hatte.
Neugierig, aber dezent musterten die Schwestern den schlanken Mann mit dem ausdrucksvollen Gesicht, das von drei Narben gezeichnet war, die trotz mehrerer Operationen sichtbar geblieben waren. Das dichte Haar war an den Schläfen bereits ergraut, aber Fee erzählte ihrem Mann später, daß Torsten Werling ein interessanter Mann sei.
Sie sprachen über sein Schicksal, denn sie hatten sich genau über ihn informiert.
»Arbeit wird für ihn die beste Medizin sein«, meinte Daniel.
»Aber auch eine Bewährungsprobe, wenn er es mit schweren Fällen zu tun hat«, stellte Fee fest. »Er ist sensibel und leidet noch.«
»Das spricht aber auch für ihn. Hoffen wir, daß Jenny endlich wieder ruhig schlafen kann.«
»Und daß Maxi Gambill nie mehr in ihrem Leben begegnen muß. Er ist abgebrüht und ohne jeden Skrupel. Er würde sein eigenes Kind entführen, um Lösegeld zu erpressen.«
Als sie es ausgesprochen hatte, wurde ihr erst bewußt, daß dies tatsächlich sein Plan sein könnte und wurde unruhig.
»Das könnte es sein«, fügte sie heiser hinzu. Ihre Stimme wollte ihr plötzlich nicht mehr gehorchen.
»Das traust du ihm zu?« Daniel war bestürzt. »Du warst mal sehr angetan von ihm.«
»Wie jeder andere auch, und wenn ich inzwischen nicht wüßte, was Maxi mitgemacht hat, wäre ich ihm wieder auf den Leim gegangen. Du hast ja nicht erlebt, wie kaltschnäuzig er all seinen Charme eingesetzt hat.«
»Maxi ist geheilt, davon bin ich überzeugt.«
»Aber wenn er an Patrick herankommen sollte… ich wage nicht daran zu denken, wie dieser kleine Junge auf diesen Schauspieler reagieren würde.«
Daniel schwieg, ohne sich dazu zu äußern. »Jedenfalls muß sie gewarnt werden«, sagte Fee mit ernstem Nachdruck.
»Nicht, solange sie auf der Insel ist. Wir werden sie doch nicht in Panik versetzen und ihre Genesung in Frage stellen.«
»Ich werde morgen Frau Dannenberg einen Besuch machen«, erklärte Fee. »Sie muß auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Ich glaube nicht, daß er aufgibt, ohne etwas erreicht zu haben, und die Polizei scheint an ihm nicht interessiert zu sein.«
Darin irrte er sich aber. Ray Gambill wurde im Auge behalten, da sein zweiter Paß von seiner Botschaft nicht anerkannt wurde. Es ging alles nur ein bißchen langsamer, wenn man mit einer anderen Nation zu tun hatte, die auch andere Gesetze hatte. Ein Gewaltverbrechen, das von Interpol geahndet wurde, war ihm nicht nachzuweisen. Seine Beziehung zu Bess Melvin war kein Verbrechen, da Schwerdt als ihr Mörder nicht angezweifelt werden konnte.
*
Fee rief am nächsten Morgen Monika Dannenberg an, die sich sehr über die Ankündigung ihres Besuches freute.
Fee wollte gleich nach fünfzehn Uhr bei ihr sein. Sie war vorsichtig und parkte neben einem anderen Grundstück, um sich zu überzeugen, ob Gambill ihr nachspionierte, aber sie konnte kein verdächtiges Auto bemerken, das dem ähnlich war, mit dem er bei ihr gewesen war. Es konnte immerhin möglich sein, daß er den Mietwagen wechselte.
Sie wurde aber unruhig, als Monika Dannenberg ihr nicht auf ihr Läuten die Tür öffnete. Sie wählte auf ihrem Handy die Telefonnummer, die sie glücklicherweise in ihrem Notizbuch notiert hatte.
Sie war ein Mensch, der nie gleich das Schlimmste vermutete, aber in diesem Fall geriet sie fast in Panik, weil Monika eine sehr zuverlässige Frau war, die die Verabredung bestimmt nicht vergessen hatte. Fee mußte an Ray Gambill denken, den sie erst gestern gesehen hatte mit diesem gefährlichen Blick, der Böses hinter der lächelnden Miene ahnen ließ.
Aber wie sollte sie ins Haus kommen, und vielleicht lauerte er darin?
Sie hielt das Handy in der Hand. Es hatte sich ausgeschaltet, aber sie wählte die Nummer erneut, hoffend, daß Monika die nicht lauten Ruftöne überhört hätte. Diesmal hörte sie ein Knistern, dann ein Ächzen und schließlich einen Laut von einer versagenden Stimme.
»Monika Dannenberg, was ist mit Ihnen, hier ist Fee Norden.«
»Hilfe«, sagte die heisere Stimme, dann herrschte Schweigen.
Fee zögerte nicht mehr, sie wählte den Notruf, nannte ihren Namen und sagte, daß in diesem Haus etwas Schlimmes passiert sein müsse, sie könne nicht hinein und hege aber den Verdacht, daß die Besitzerin verletzt worden sei.
Es folgten dann endlos scheinende Minuten, bis die Funkstreife und ein Notarztwagen eintrafen. Der Name Norden hatte ihr wieder einmal geholfen, obgleich ein Polizist sagte, sie würden leider öfter mal an der Nase herumgeführt mit falschen Hilferufen.
Fee war mehr als nervös, voller Angst. Ihr war es schwindelig, so daß sie nicht mehr klar sehen und denken konnte. Aber dann, als die Tür gewaltsam geöffnet worden war, fand sie ihren angstvollen Verdacht bestätigt. Monika lag bewußtlos in einer Blutlache auf den Keramikfliesen der Diele.
»Sie muß schnellstens in die Klinik«, sagte der Notarzt, der nur Erste Hilfe leisten konnte und die Bewußtlosen notdürftig versorgte.
»Bitte gleich in die Behnisch-Klinik. Ich werde Frau Dr. Behnisch anrufen. Sie kennt Frau Dannenberg.«
Der noch junge Notarzt schien froh, von der Verantwortung bald entbunden zu werden. Fee mußte alle Kraft zusammennehmen, um sich wieder ans Steuer setzen zu können. Der Funkstreifenbeamte forderte Verstärkung an, die das Haus untersuchen und auch bewachen sollte. Fee schickte Stoßgebete zum Himmel, daß die Hilfe für Monika noch rechtzeitig kam.
Sie fuhr zur Behnisch-Klinik. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, aber jetzt war sie dennoch konzentriert. Sie hatte schon oft genug ihre Geistesgegenwart bewiesen, aber dann huschte auch der Gedanke durch ihren Kopf, daß ihre Verabredung mit Monika ihr das Leben gerettet haben könnte.
Sie hatte nicht viel von den Verletzungen gesehen, vermutete aber, daß der Überfall nicht lange vor ihrem Kommen erfolgt sein mußte.
Sie konnte nur mit Michael
Graef sprechen, da Jenny bei einem Frischoperierten war. Er war natürlich entsetzt über das, was sie ihm sagte.
Zehn Minuten später hatte sie die Klinik erreicht und noch Zeit, auch mit Jenny zu sprechen, bevor der Notarztwagen mit Monika eintraf.
Sie war mit einem Notverband und mit Sauerstoff versorgt worden. Wenngleich ihr Puls auch schwach war, sie lebte, und nun konnten alle lebensrettenden Maßnahmen ergriffen werden.
Während Jenny die Kopfwunde behandelte, stellte Dr. Graef fest, daß sich Monika heftig gewehrt haben müßte, da er unter ihren Fingernägeln Hautpartikel fand, die diese Vermutung bestätigten.
»Es muß Gambill gewesen sein«, murmelte Fee. »Aber sie ist doch eine so vorsichtige Frau. Wie könnte er nur ins Haus gelangt sein?«
»Jedenfalls bist du noch zur rechten Zeit gekommen, Fee«, stellte Jenny fest. »Sie wird leben und kann uns erzählen, was geschehen ist.«
»Er kann nicht gewußt haben, daß ich sie besuchen will«, überlegte Fee. »Es ist ein Zufall, daß er sich diesen Tag ausgesucht hat. Gestern war er bei mir.«
»Er war bei dir«, fragte Jenny staunend. »Du hast mit ihm geredet?«
»Ich war neugierig zu hören, was er mit seinem Erscheinen bezweckte. Seine Dreistigkeit ist kaum zu überbieten. Er hält sich immer noch für unwiderstehlich.«
»Und ist er es noch?« fragte Jenny ironisch.
»Wir wissen, wie er wirklich ist, aber andere, die es nicht wissen, fallen sicher auf ihn herein.«
»Erschreckt es dich nicht, daß er zu solchen Brutalitäten fähig ist, Fee?«
»Natürlich erschreckt es mich, aber vor allem bereitet mir Sorgen, in welcher Gefahr Maxi immer noch ist und erst recht Patrick.«
»Er würde doch seinem Sohn nichts antun!« Jennys Stimme klang sehr gepreßt.
»Nicht, solange er Aussicht auf einige Millionen hat, aber wenn er die nicht bekäme! Für ihn ist es ein Nervenkitzel und auch ein Vergnügen, andere in Angst zu versetzen.«
»Nimm du dich auch in acht, Fee«, warnte Jenny. »Wenn er Monika Dannenberg das angetan hat… aber wenn er fürchten muß, daß sie darüber reden kann, könnte es allerhand bei ihm auslösen.«
»Er braucht ja nicht zu erfahren, daß sie gerettet wird. Ich werde dafür sorgen, daß in den Zeitungen steht, daß an ihrem Überleben gezweifelt wird.«
»Und Totgesagte haben ein langes Leben, heißt es.«
Fee lächelte zufrieden. »Ich fahre jetzt heim. Sorgt gut für Monika Dannenberg, es wird bestimmt honoriert werden. Ich muß mit Anne telefonieren, damit Maxi nicht möglicherweise in Angst versetzt wird.«
»Und ich muß Werling anrufen, daß wir ihn doch schon morgen gebrauchen könnten.«
Fee meinte, daß sie von ihm sicher nicht enttäuscht würden.
»Er paßt ins Team«, erklärte Jenny.
*
Anne Cornelius regte sich schon ziemlich auf, als sie die Neuigkeit erfuhr, und sie machte sich auch Sorgen um Fee. Sie sprach mit ihrem Mann, wie sie es Maxi am diplomatischsten beibringen sollten, denn sagen mußten sie es ihr auch, daß ihre Mutter jetzt einige Zeit in der Klinik bleiben mußte.
Maxi reagierte fassungslos und entsetzt. »Jetzt habe ich Muni auch noch Unglück gebracht!« schluchzte sie auf. »Wozu ist er denn noch fähig?«
Sie brauchte Minuten, um Fassung zu gewinnen. »Patrick«, flüsterte sie tonlos, »er wird doch nicht wagen, ihm auch etwas anzutun?«
»Ihr seid hier sicher, Maxi«, wurde sie von Anne beruhigt.
»Aber ich muß mich um Muni kümmern. Ich kann sie nicht so allein in der Klinik lassen.«
»Sie ist noch nicht wieder bei Bewußtsein, und ihr wird es bestimmt lieber sein, wenn sie euch in Sicherheit weiß. Wir werden laufend informiert, Maxi, und wenn es ihr bessergeht, kannst du mit ihr telefonieren. Solange Gambill in München sein Unwesen treibt, ist es besser, wenn ihr hierbleibt.«
Maxi hatte schnell ein vertrauensvollen Verhältnis zu ihr und ihrem Mann gefunden und für Patrick waren sie seine ›großen Freunde‹.
»Gibt es eigentlich mehr Ehen, die so enden wie meine?« fragte Maxi gequält.
»Ich will dich nicht erschrecken, aber manche enden noch gewalttätiger. Es sind auch nicht immer Männer, die ihre Frauen umbringen, sondern auch Frauen, die zu allem fähig sind.«
»Aber doch nicht ohne Grund«, sagte Maxi leise.
»Da kommt eins zum anderen, aber ausschlaggebend ist doch der Charakter, der Drang zur Gewalt oder zur Resignation. Zorn oder Rachegefühle sind vorhanden, aber sie entladen sich im entscheidenden Augenblick doch nicht. Und dann vergeht eine Zeit, in der man die Erkenntnis gewinnt, daß es nicht gut ist, sein eigenes Leben zu zerstören wegen dieser negativen Gefühle.« Sie legte eine kleine Pause ein. »Ich rede schlau daher und weiß doch, daß manchmal ein Augenblick genügt, in dem man die Kontrolle über sich verliert, wenn man es auch hinterher bereut.«
»Ich hatte keine Haßgefühle, als ich mich zur Trennung entschloß, Anne. Ich habe mir die Schuld gegeben, weil ich ihn so blind geliebt habe und mich seiner Liebe so
sicher fühlte. Ich war wirklich naiv.«
»Es tut sehr weh, so enttäuscht zu werden, Maxi. Hier waren schon öfter Patientinnen, die das auch erlebt hatten.«
»Sind sie ganz darüber hinweggekommen?«
»Nicht alle, aber ein paar sind mit einem anderen Partner sehr glücklich geworden.«
»Ich werde nie mehr einem Mann vertrauen.«
»Man sollte niemals nie sagen«, erwiderte Anne mit einem vielsagenden Lächeln.
*
Monika kam am späten Abend kurz zu Bewußtsein. Sie begriff nicht, wo sie war, als sich Jenny zu ihr beugte.
»Ray«, murmelte sie.
»Er hat Sie verletzt, er war es.«
»Ja«, hauchte sie. Dann fiel sie in tiefen, ruhigen Schlummer. Jenny blieb noch fünf Minuten bei ihr, dann ging sie zum Ärztezimmer, wo sich Michael Graef mit einer Tasse Kaffee für den Nachtdienst bereit machte.
»Sie hat gesagt, daß es Gambill war«, erklärte Jenny. »Sie schläft jetzt. Sie ist eine starke Frau.«
»Hoffentlich ist ihre Tochter ihr ähnlich«, meinte er.
»Sie war blind vor Liebe zu diesem Kerl. Es ist traurig, daß solche Frauen so oft an herzlose Männer geraten.«
»Und hoffentlich gerät das Kind nicht nach ihm, das wäre tragisch.«
»Denken wir lieber nicht darüber nach. Ich werde jetzt versuchen zu schlafen. Bist du zufrieden, daß wir uns für Werling entschieden haben?«
»Sonst hätte ich doch nicht für ihn gestimmt, Jenny.«
»Wieso haben wir eigentlich Schwerdt vertraut?«
»Vertraut ist nicht das richtige Wort. Du wolltest ihm halt gefällig sein, weil ein Professor Respekt verdient«, sagte Michael scherzhaft.
»Schön blöd von mir. Hoffentlich verläuft die Nacht einigermaßen ruhig. Morgen kommt Werling, da kannst du dich auch mal wieder richtig ausschlafen.«
Er nickte ihr zu. Sie kannten sich jetzt schon sehr gut und waren Freunde geworden, ehrliche Freunde, die einander auch respektierten.
Er wollte gerade die Runde machen, als das Telefon läutete. Es war Daniel Norden, der sich erkundigen wollte, ob alles in Ordnung sei.
»Frau Dannenberg schläft jetzt ruhig. Sie war kurz bei Bewußtsein und hat bestätigt, daß es Gambill war. Jenny hat sich auch hingelegt, und morgen tritt Werling an.«
»Das wird gut für euch sein. Auf der Insel ist auch alles in Ordnung. Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht, Michael.«
»Ihnen und Ihrer Frau auch.«
Daniel gab es an Fee weiter, was er gehört hatte.
Sie nickte. »Ich habe nicht daran gezweifelt, daß er es war. Hoffentlich wird er bald gefaßt, daß wir wieder ruhig schlafen können, aber skrupellos wie er ist, wird er schon wieder neue Pläne schmieden.«
Diese Vermutung stimmte aber nicht, dann Ray Gambill betrachtete sein Gesicht im Spiegel.
Bei dem Anblick kam kein Triumphgefühl in ihm auf, denn auf der rechten Wange hatte er drei tiefe Kratzer, die geblutet hatten. Es ging ihm wieder durch den Sinn, mit welcher tödlichen Verachtung ihn Monika angesehen hatte, als er sich mit dem Trick, er bringe Blumen von ihrer Tochter, Eintritt in die Diele verschafft hatte. Sie hatte schon zum Telefon gegriffen und er hatte gewußt, daß sie die Polizei rufen würde. Man konnte sie so leicht nicht einschüchtern, aber er hatte nicht gedacht, daß sie so feindselig sein würde, und ihn hatte die Wut gepackt.
Daß sie seine Stimme nicht erkannte, hatte ihn in Sicherheit gewiegt. Erst einmal im Haus, war er überzeugt, sie versöhnlich stimmen zu können, aber dann griff sie sofort zum Telefon, und er sah rot.
Er schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse. Es machte ihn wütend, daß sie ihn so gezeichnet hatte. Es verursachte ihm brennende Schmerzen, und es waren nicht die sichtbaren Wunden allein. »Verschwinde, du Bastard!« hatte sie gesagt, und es schien in seinen Ohren als vielfaches Echo zu dröhnen.
Sie war wie sein Vater, ja, sie waren sich so ähnlich im Wesen, unnachgiebig und nur auf die Familienehre bedacht.
Was war das schon: ›Familienehre‹? Was bedeutete schon Tradition, auf die sein Vater immer gepocht hatte. Geld regierte die Welt, und ihm hatte er es nicht gegönnt, dieses Geld, das er gehortet und kontrolliert hatte. Es durfte sich vermehren, bis Patrick mal erwachsen sein würde, und nach den Richtlinien von James Gambill erzogen, ein ehrbarer Gambill zu werden.
Die Stimme seines Vaters schien aus dem All zu kommen und mahnend zu wiederholen, was er am Tag vor der Hochzeit sagte: »Durch diese Heirat stimmst du mich versöhnlich, aber ich sage dir, daß ich dir niemals verzeihen würde, wenn du Maximiliane betrügst. Du würdest es bitter bereuen.«
Während die Wunden auf seinem Gesicht noch stärker zu brennen begannen, fraß sich der Haß auf alle, die sich ihm in den Weg stellten, in ihn hinein. Er wollte sie alle vernichten.
Ein teuflisches Grinsen verzerrte bei dem Gedanken sein Gesicht.
*
Fee hatte in dieser Nacht sehr unruhig geschlafen, von wilden Träumen geplagt.
Gleich am Morgen, nachdem eine kalte Dusche sie munter gemacht hatte, rief sie in der Behnisch-Klinik an und fragte nach Monikas Befinden.
Schwester Klara erklärte, daß ihr Zustand stabil sei. »Du hast dich wohl im Schlaf mit diesem Kerl herumgeschlagen, mein Schatz«, sagte Daniel. »Du hast dich herumgeworfen und gestöhnt, wie ich es noch nicht erlebt habe.«
»Was beweist, daß du auch nicht so tief geschlafen hast wie sonst. Du hättest mich wecken sollen.«
»Damit du dann ganz wach geworden wärest und zu grübeln angefangen hättest. Wir wollen froh sein, daß ihr noch zu helfen war.«
»Wie ist es ihm nur gelungen, ins Haus zu kommen?« überlegte Fee. »Sie war doch gewarnt.«
»Er ist ein Schlitzohr, und wahrscheinlich dachte er, er könnte Frau Dannenberg genauso überraschen wie dich.«
»Monika hat auf mich gewartet. Sie muß arglos die Tür geöffnet haben, und wahrscheinlich hat sie aggressiver reagiert als ich.«
»Ich werde nachher nach ihr schauen«, sagte Daniel. »Wir wollen jetzt lieber nicht mehr davon reden. Die Kinder müssen zur Schule.«
Sie waren ahnungslos und merkten auch nicht, daß ihre Eltern andere Sorgen hatten als sie. Felix mußte in der zweiten Stunde eine Mathearbeit schreiben, und davor grauste es ihm. Danny hatte mal wieder Probleme mit einem Mädchen, das ihm nachlief und sich nicht abschütteln ließ. Darüber wollte er auch seinen Eltern gegenüber nichts verlauten lassen, weil sie ihn schon damit neckten, daß diese Conni nicht die Einzige war, die häufig anrief. Fee wiederum ärgerte Daniel, weil sie dann meinte, daß Danny ihm wohl auch darin ähnlich geworden sei.
»Der arme Junge sei daran genau so wenig schuld wie er auch, und er wisse sehr gut, daß solche Mädchen wie Kletten sein konnten«, nahm Daniel seinen Sohn in Schutz. »Und wenn er auch mal so eine Frau bekommt wie sein Vater, können wir allesamt froh sein.«
Beim Frühstück ging es ruhig zu, bis die Zwillinge erschienen. Die stritten sich erst um den Platz neben dem Papi.
»Ihr könntet doch noch schlafen«, meinte Fee.
»Wir haben aber Hunger«, erklärte Jan. »Mein Bauch knurrt ganz laut.«
»Es ist der Magen«, sagte Danny.
»Gell, du hörst das auch«, freute sich Jan.
»Was möchtest du für ein Brötchen?« fragte Anneka.
»Kann ich doch allein. Du mußt zur Schule.«
»Soviel Zeit habe ich schon noch.«
»Mir kannst du eins machen, mit Erdbeermarmelade«, schmeichelte Désirée.
»Ich mag lieber Käse«, sagte Jan.
Jedenfalls wurden Fee und Daniel abgelenkt und dachten nicht daran, was noch geschehen könnte, solange Gambill nicht gefaßt war.
Die Großen gingen zur Schule, Daniel fuhr in die Praxis und Fee nahm die Zwillinge mit auf den Markt, da die Vorschule noch wegen Keuchhusten geschlossen war.
*
Dr. Torsten Werling trat um acht Uhr seinen ersten Dienst in der Behnisch-Klinik an. Er wurde von Jenny über den Überfall auf Monika Dannenberg informiert. Es ergab sich von selbst, daß sie auch Maximiliane erwähnen mußte.
»Ich kann mich flüchtig an diese Hochzeit erinnern«, sagte Torsten nachdenklich. »Wir haben auch in diesem Sommer geheiratet. Susanne wollte genauso eine Hochzeit haben. Die Fotos gingen ja durch alle Zeitungen. Es ist traurig, wenn eine Ehe so endet und das Glück nur eine Illusion war.«
Jenny sah ihn nachdenklich an. »Es ist in diesem Fall wohl am schlimmsten, weil sie nicht weiß, was sie einmal ihrem Sohn erzählen soll. Jetzt hat sie auch noch erleben müssen, daß er ihre Mutter beinahe umgebracht hätte.«
»Es kann Wunden hinterlassen, die sich niemals schließen«, sagte er leise.
Bei ihm anscheinend auch nicht, dachte Jenny. Torsten sprach aber nicht über seine Frau und seine Ehe und erwähnte auch das Kind nicht. Er fragte, was er für Frau Dannenberg tun könnte, und Jenny erklärte ihm, worauf es nach der Diagnose, die sie gemeinsam mit Michael gestellt hatte, ankam.
»Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an mich, denn Michael braucht unbedingt ein paar Stunden Schlaf.« Sie ließ sich vor ihrem Schreibtisch nieder. »Ach ja, das sollte ich auch noch erwähnen: Diese Melvin, die als Protegé von Schwerdt in unsere Klinik kam, war schon lange mit Gambill sehr eng liiert. Er wußte, daß sie hier als Ärztin arbeitete, aber was sie damit bezweckten, ist noch völlig unklar. Es war doch nicht vorauszusehen, was jetzt geschehen ist.«
»Aber sie brachte soviel Wissen mit, daß sie als Ärztin tätig sein konnte?«
»Sie war sicher mal eine gute Krankenschwester, und man sagt solchen ja nach, daß sie oft über mehr praktisches Wissen verfügen als Ärzte. Allerdings war an ihr viel auszusetzen, besonders auch ihr Umgangston mit den Patientinnen, während sie es mit Männern recht gut verstand, aber das lag wohl in ihrer Natur. Daß sie Gambill gefiel, stimmt mich sehr nachdenklich, denn sie hatte eine herrische, dominante Art. Was ihn betrifft, rätseln wir, ob er durch seine Mutter erblich belastet sein könnte. Sie starb in einem Nervensanatorium. James Gambill war dann nochmals verheiratet und hatte einen Sohn aus dieser Ehe, den er sehr liebte, aber Nick hatte als Student einen tödlichen Autounfall. James Gambill setzte alle Zukunftshoffnung auf seine Schwiegertochter Maxi und den Enkel Patrick. Für ihn war es wohl besser, daß er das Ende dieser Ehe nicht mehr erlebte. So, jetzt wissen Sie das Wichtigste, was Frau Dannenberg betrifft. Sie brauchen nur noch ihr Vertrauen zu erringen, denn sie ist wahrscheinlich auch mißtrauisch gegen jeden Fremden.«
»Dann kann ich nur hoffen, daß ich nicht angsteinflößend auf sie wirke.«
»Auf uns haben Sie sehr vertrauenerweckend gewirkt, Kollege«, meinte Jenny lächelnd.
»Danke, ich hoffe, Ihr Vertrauen rechtfertigen zu können.«
Die Arbeit konnte beginnen. Ein paar Schwestern lernte er noch kennen, den anderen war er gestern schon vorgestellt worden. Er war nicht der Typ, der Frauenherzen höher schlagen ließ, aber allgemein stellten vor allem die älteren Schwestern fest, daß er ein interessanter Mann war, doch alle hatten sie bereits die Erfahrung gemacht, daß auch nicht eine einzige von ihnen auch nur ein bißchen näher an Michael Graef herangekommen war, trotz so mancher Bemühungen, und so kam schon gar nicht der Gedanke auf, daß es ein lohnendes Bemühen bei Torsten Werling sein könnte.
Monika war noch nicht aufgewacht. Bei der Visite, die ziemlich früh stattfand, weil Jenny auch Ruhe gegönnt werden sollte, wurde Torsten teils abschätzend, teils wohlwollend gemustert. Eine ältere Patientin sagte, das sie ihn kenne.
»Sie waren doch vor vier Jahren in der Uni-Klinik«, stellte sie fest. »Das weiß ich, weil da mein erster Enkel zur Welt gekommen ist. Meine Tochter hatte kurz vor der Geburt einen Hexenschuß bekommen, den Sie behoben haben. Wir haben oft über Sie gesprochen, und Roni hat es leid getan, daß sie sich nicht mehr richtig bei Ihnen bedanken konnte.«
»Es war doch selbstverständlich, ihr zu helfen.«
»Aber ein herzliches Dankeschön wäre doch angebracht. Sie wird sich freuen, daß sie es jetzt so unerwartet nachholen kann.« Sie seufzte. »Es ist so ein müdes Wetter, kann man was dagegen machen?«
»Schlafen«, erwiderte er, »einfach nur schlafen, hier haben Sie doch Zeit dafür.«
»Aber Frau Koch läßt mich nicht schlafen.«
»Haben Sie das gehört, Frau Koch?« fragte Torsten mahnend.
»Wenn sie tagsüber schläft ist sie nachts putzmunter, und da will ich schlafen«, erklärte Frau Koch.
»Zwei so vernünftige Damen werden sich einigen können«, meinte Torsten nachsichtig.
Andere Patienten waren auch müde, wie Torsten feststellen konnte, aber ihn wunderte das nicht, denn dieses untätige im Bett liegen ließ keine Unternehmungslust aufkommen.
Er dagegen war übermotiviert, richtig froh, wieder Arzt sein zu können und dankbar, in dieser Klinik diese Chance bekommen zu haben.
Er hielt sich nach der Visite länger in Monika Dannenbergs Zimmer auf. Ihr Schicksal und das ihrer Tochter beschäftigten ihn sehr.
Die Traumhochzeit, von der Susanne so geschwärmt hatte! Was war davon geblieben? Da waren wohl alle überzeugt gewesen, daß dieses Glück ewig währen würde, und die Dannenbergs waren mit ihrem Schwiegersohn völlig einverstanden gewesen.
Susannes Eltern hatten einen anderen Schwiegersohn im Auge gehabt, einen reichen und dazu adligen Industriellen, aber dieses eine Mal hatte sie sich nicht beeinflussen lassen. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte Susanne geliebt. Die Geburt ihrer Tochter Sandrina war die Krönung ihres Glückes. Die Sticheleien seiner Schwiegermutter hatten ihm auch nichts mehr ausgemacht, aber dann nach dieser kurzen Zeit des Glückes blieb nur die Frage, warum es so jäh beendet worden war. So viele Ehen zerbrachen schon nach kurzer Zeit, warum mußte diese glückliche Ehe zerstört werden? Torsten wußte, daß er darauf nie eine Antwort bekommen würde, aber für Susannes Eltern war es, als hätte diese Ehe und er nie existiert. Sie hatten das Grab gekauft, während er im Koma lag, und später, als er bei Bewußtsein war, hatten sie es damit gerechtfertigt, daß es ja nicht sicher gewesen sei, daß er überleben würde. Ja, sie hätten ihn lieber tot gesehen.
All dies ging ihm durch den Sinn, während er Monikas schmales Gesicht betrachtete. Plötzlich schlug sie die Augen auf, so unerwartet, daß er leicht zusammenzuckte.
»Wer sind Sie?« fragte sie leise, aber erstaunlich deutlich.
»Dr. Werling, ein neuer Arzt an der Behnisch-Klinik«, erwiderte er.
Ein Zucken lief über ihr Gesicht. »Ich dachte, ich bin in einem anderen Leben. Ich kenne Sie. Es war der schreckliche Unfall. Ich war dort und wollte Erste Hilfe leisten. O Gott…«, ihre Lippen zuckten. »Bin ich vielleicht doch bereits im Jenseits?«
»Nein, nein, bitte, regen Sie sich nicht auf.« Er griff nach ihren Händen, umschloß sie mit sanftem Griff. »Es stimmt schon, ich hatte einen Unfall vor mehr als zwei Jahren, aber ich selbst kann mich an diesen nicht erinnern.«
»Sie leben, das grenzt an ein Wunder.«
»Ich bin froh«, flüsterte er. »Aber wie konnten Sie mich gleich erkennen?«
»Ich weiß es nicht. Es hat mir so leid getan, weil sonst keiner überlebt hat. Ich dachte, wie man damit fertig werden kann – aber was ist jetzt mit mir?«
»Sie wurden überfallen.«
»Es war Ray, dieser Bastard. Zur Hölle mit ihm!« Aber dann versagte ihr die Stimme. Sie hatte ihre Kraft verausgabt. »Nichts Maxi sagen«, brachte sie noch mühsam über die Lippen, dann sank sie wieder in tiefen Schlummer.
Gedankenverloren streichelte er ihre Hand. Irgendwie fühlte er sich ihr verbunden, angerührt, weil sie ihn erkannt hatte. Oder war es eine Vision gewesen, und sie verwechselte den Unfall mit einem anderen? Es schien so merkwürdig, daß sie sich erinnern sollte, denn er mußte ja schrecklich zugerichtet gewesen sein. Jetzt war sie selbst ein Opfer, aber ihr war das bewußt angetan worden.
Er erzählte Jenny nichts von diesem Gespräch, sagte nur, daß Monika kurze Zeit bei Bewußtsein gewesen sei und gesagt hätte, daß es Gambill gewesen sei, der sie angegriffen hatte.
»Wie gut, daß sie sich erinnern kann«, meinte Jenny. »Schließlich soll Gambill überführt werden und das möglichst bald.«
»Und Ihre Tochter soll davon nichts erfahren.«
»Was völlig falsch wäre, aber das war leider ihre Erziehungsmethode, alles Ungute von Maxi fernzuhalten, was letztlich dazu führte, daß sie glaubte, daß ihr nichts Böses widerfahren konnte, weil sie selbst nichts Böses tat. Inzwischen hat sie die bittere Erkenntnis gewonnen, daß sie nicht verschont wird und sie sich wehren muß. Natürlich ist es schrecklich, daß der Mann, den sie aus Liebe geheiratet hat, der der Vater ihres Kindes ist, nicht nur fähig war, sie zu betrügen, sondern daß er sogar dazu fähig ist, skrupellos und brutal gegen andere zu sein. Es ist ihr vorsichtig erklärt worden, was er ihrer Mutter angetan hat, und sie ist gewarnt.«
»Ich kann mir vorstellen, daß sie leidet«, sagte Torsten tonlos. »Es ist schlimm genug, wenn man einen geliebten Menschen durch den Tod verliert, aber man behält dann schließlich eine gute Erinnerung an ihn, aber in diesem Fall ist da ein Kind, das Fragen stellen wird nach seinem Vater. Was wird man ihm antworten?«
»Ich weiß es nicht, wie Maximiliane Dannenberg das meistert. Ich kann nur hoffen, daß sie genügend Kraft aufbringt, auch das zu bewältigen.«
*
Maxi ging mit Patrick Hand in Hand auf stillen Wegen den Pfad, der zur Quelle führte, die sagenumwoben war.
Geheime Wünsche sollten in Erfüllung gehen, wenn man in bestimmten Nächten bei Vollmond und genau um Mitternacht daraus trank. Quelle der Liebe wurde sie von manchen genannt, von anderen Quelle der Hoffnung.
Jetzt war ein sonniger Nachmittag, und Patrick war fröhlich. Aber er wurde immer stiller und nachdenklicher, wenn er seine Mami anschaute.
»Warum bist du heute traurig, Mami?« fragte er schließlich doch, obgleich er solche Fragen nicht mehr gern stellte, seit sie auf der Insel der Hoffnung waren.
Maxi gab sich einen Ruck. Sie wollte den Jungen nicht erschrecken und erklärte ihm, daß die Muni in der Klinik sei, weil sie einen Unfall gehabt hatte.
»Mit dem Auto?« fragte er sofort.
»Sie ist gestürzt.« Es kam schwer über Maxis Lippen, denn der Schock saß tief, seit Anne ihr schonend beigebracht hatte, was geschehen war.
»Im Garten?« fragte er leise.
»Nein, im Haus. Sie ist ausgerutscht.« Endlich hatte sie sich diese Ausrede abgerungen.
»Hat sich Muni sehr weh getan?«
»Sie muß jedenfalls in der Klinik bleiben – vorerst«, erwiderte Maxi.
»Aber wir können doch hierbleiben, Mami? Oder will Muni, daß du kommst?«
»Nein, das will sie nicht. Ich mache mir aber Sorgen, das verstehst du doch?«
»Kann sie nicht herkommen?«
»Vielleicht ist das in einiger Zeit möglich.«
»Wie lange ist ›einige Zeit‹?«
»Nächste Woche vielleicht. – Komm, setzen wir uns.«
»Es ist nicht mehr weit bis zur Quelle, Mami. Ich höre sie schon, und dann können wir uns etwas wünschen.«
»Es ist aber nicht Nacht, und die Sonne scheint«, sagte Patrick nachdenklich. Anne hat mir erzählt, daß Nacht sein muß und Vollmond, wenn ein Wunsch in Erfüllung gehen soll. Wann ist Vollmond?«
»Da muß ich erst in den Kalender schauen. Aber wünschen kann man sich doch trotzdem etwas, wenn es auch nicht Nacht ist.«
»Aber kein Geld. Es ist ja schon lange her, als die Leute reich werden wollten, und da ist die Quelle versiegt. Es hat sehr lange gedauert, bis sie wieder gesprudelt ist. Ich habe mir die Geschichte gemerkt. Sie ist schön. Ich wünsche mir nur, daß du mich immer lieb hast, Mami, auch wenn ich groß bin. – Und daß wir oft hierher fahren«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.«
»Ich werde dich immer sehr liebhaben, Patty«, versprach Maxi, »und wir können auch öfter herfahren, wenn du es so gern möchtest.«
»Muni wird es bestimmt auch gefallen. Schnupper doch mal, Mami, es riecht so gut.«
Maxi strich ihm über das lockige Haar. Sie atmete jetzt auch
tief durch und fühlte sich erleichtert. Es gab doch nichts Wichtigeres für sie, als daß Patrick sich wohl fühlte und nichts merkte von all den Problemen, mit denen sie noch nicht klar kam. Ihre Mutter würde dafür Verständnis haben. Jetzt wußte sie auch, daß Ray schuld war an dem ganzen Dilemma.
Sie hätte es wohl noch länger ertragen, wenn sie nicht an Patrick gedacht hätte, aber die kindliche Seele durfte keinen Schaden nehmen. Sie hatte fürchten müssen, daß Ray keine Rücksicht nehmen würde auf das Kind, wenn sie sich weigerte, seine Forderungen zu erfüllen. Es war die schlimmste Demütigung, die ihr widerfahren konnte, als sie erfuhr, daß Ray sie entmündigen lassen wollte, weil sie angeblich das Geld, das monatlich für Patricks Unterhalt zur Verfügung stand, für sich verpraßte und den Jungen vernachlässigte. Ray hatte nicht mit ihrem Widerstand gerechnet, hatte sie doch nie zuvor einen eigenen Willen bekundet. Daß er mit Bess unter einer Decke steckte, hatte sie durch einen Zufall erfahren, als sie einmal versehentlich ihren Tee, den sie abends zu trinken pflegte, verschüttet hatte und noch nicht schlief, als Ray mit Bess darüber sprach, daß sie die Dosis jetzt wohl erhöhen müsse, da er nicht ewig auf den Augenblick warten wolle, daß ihm das Sorgerecht für den Jungen übertragen würde. Schlagartig war ihr bewußt geworden, was sie planten und wie taub und blind sie selbst gewesen war seit dem Tod ihres Schwiegervaters und auch schon vorher. Sie hatte in einem Wolkenkuckucksheim gelebt und sich eingeredet, eine glückliche und geliebte Frau zu sein und ihr Mann nur durch die Krankheit und Tod seines Vaters verändert war.
Ihre Welt war ein einziger Trümmerhaufen geworden, aber daraus wuchs ein Widerstand, den sie nie besessen hatte.
Ray hatte nicht mit diesem Testament gerechnet. Es mußte ihn aus der Bahn geworfen haben, daß sein Vater ihn enterbt hatte, so hatte sie zuerst gedacht, bis sie dann auch begriff, daß James Gambill seinen Sohn schon lange durchschaut gehabt hatte.
Dann erfuhr sie auch, woher ihre Willenlosigkeit kam, als sie eine Probe des Tees an sich brachte und analysieren ließ. Das hatten Bess und Ray ihr nicht zugetraut. Bess war dann sehr schnell verschwunden, bevor sie dazu befragt werden konnte. Ray gelang es, sich damit herauszureden, daß er keine Ahnung von den Machenschaften der Krankenschwester gehabt hätte. Es war ihm nicht zu beweisen, aber gegen die Scheidung unternahm er nichts. Es sprach auch zuviel gegen ihn, vor allem auch die Tatsache, daß er von seinem Vater enterbt worden war.
Maxi wollte sich jetzt nicht zuviel in vage Vermutungen verlieren, aber so manches blieb rätselhaft. Was hatte Bess vorgehabt, warum war sie nach München gegangen? Aber es war auch unklar, wo sie sich in der Zeit nach ihrem Verschwinden aus England aufgehalten hatte, bis sie dann in München auftauchte und die Stellung in der Behnisch-Klinik mit anderem Namen angenommen hatte. War sie da irgendwo mit Ray zusammen gewesen? Hatten sie Pläne geschmiedet, wie er doch an Patricks Erbe herankommen konnte? War die freie Stellung in der Behnisch-Klinik wirklich nur eine zufällige Gelegenheit gewesen, in München Fuß zu fassen?
Maxi sah ein, daß es sinnlos war, sich den Kopf zu zermartern. Wer sollte ihr denn eine Antwort darauf geben?
Jedenfalls war Bess tot und Ray auf sich allein gestellt. Jetzt mußte er damit rechnen, nach dem Überfall auf Monika von der Polizei gejagt zu werden.
Patricks Jauchzen rief Maxi endgültig in die Gegenwart zurück. Er hatte das Gesicht unter den Wasserstrahl der Quelle gehalten und das kühle Wasser getrunken.
»Trink auch, Mami, das ist so gut!« rief er. »Du brauchst nur die Hände aufzuhalten. Ich zeig’ dir, wie du das machen mußt.«
Das kühle Naß belebte Maxi, ihr Gesicht entspannte sich, und Patrick war zufrieden.
Anne sah sie kommen. Sie hatte schon Ausschau nach ihnen gehalten, weil sie lange wegblieben, aber sie lächelte erleichtert, als Patrick so munter an Maxis Hand hopste.
Sie hatte gerade mit Fee telefoniert, weil sie wissen wollte, ob Gambill schon gefaßt worden sei, aber da hatte Fee ihr keine positive Antwort geben können. Wenigstens konnte sie berichten, daß Monika Dannenberg schon bei Bewußtsein gewesen sei.
Das konnte sie Maxi erzählen. »Vielleicht können Sie schon morgen mit ihr telefonieren, Maxi. Haben Sie Patrick gesagt, daß Ihre Mutter in der Klinik ist?«
»Ich habe gesagt, daß sie einen Unfall hatte. Er ist ganz vernünftig, aber er macht sich auch keine schweren Gedanken.«
»Er wird später überhaupt nicht mehr daran denken. Kinder vergessen schnell. Ich habe diese Erfahrung auch bei Mario gemacht. Er konnte sich schon ein paar Wochen später nicht mehr erinnern, daß seine Eltern bei dem Bootsunfall ertrunken waren. Man soll Kinder auch nicht an dramatische Geschehnisse erinnern.«
»Ich fürchte, daß er trotzdem Fragen über seinen Vater stellen wird, auch wenn er sich nicht mehr an ihn erinnern kann.«
»Wenn der eine Bedeutung für ihn hatte, würde er jetzt schon nach ihm fragen«, meinte Anne.
»Jetzt kommt er nicht mit Kindern zusammen, die einen Vater und auch Großeltern haben, aber wenn er zur Schule kommt, könnte das anders werden. Und ich kann doch nicht einfach sagen, daß er tot ist, wenn das gar nicht der Fall ist.«
Wie hätte sie ahnen können, daß dies an diesem Tag schon der Fall sein würde.
Ray Gambill war ziellos herumgeirrt und in einer Kneipe gelandet, hatte Bier und Whisky getrunken und wußte nicht, wohin er eigentlich wollte. Sein Geld ging langsam zur Neige, und er wagte nicht, irgendwo mit einer seiner Kreditkarten zu zahlen, da er doch eine Ahnung hatte, daß man ihn suchte. Nach dem Kneipenbesuch wußte er auch nicht mehr, wo er seinen Leihwagen geparkt hatte. Dann wurde es dunkel, und er landete in einer düsteren Bar, in der es schon turbulent und hitzig zuging. Er war leicht erregbar. Ihn brauchte nur ein anderer beiseite zu drücken, dann schlug er schnell zu. Er hatte damit schon Schwierigkeiten auf den Schulen gehabt und deshalb öfter auch das Internat wechseln müssen. Das hatte Maxi nie erfahren.
Nachdem er weiter zwei Whisky getrunken hatte, gegessen hatte er fast gar nichts an diesem Tag, brauste er schon auf, als ihm ein anderer, bulliger Mann, der auch schon einiges getrunken hatte, sein Glas wegnahm. Ein paar Stöße hin und her, andere begannen zu pöbeln und schon bekam Ray einen Kinnhaken, daß er hintenüber flog, über einen Tisch hinweg. Bewegungslos blieb er am Boden liegen. Mit einem Schlag herrschte atemlose Stille.
»Er ist hinüber«, sagte schließlich einer, der sich über ihn gebeugt hatte.
»Das hat noch gefehlt!« knurrte der Wirt, aber er rief sofort die Polizei. Der bullige Mann hatte sich gleich verdrückt, andere starrten mit glasigen Augen auf den leblosen Körper. Jeder sagte, er sei es nicht gewesen.
Die Funkstreife kam. »Ich will keinen Ärger mit der Polizei haben«, erklärte der Wirt. »Ich habe den Burschen schon x-mal gesagt, daß sie nicht raufen sollen. Das ist ein Fremder, der anscheinend keinen Spaß versteht, er hatte auch schon genug, als er kam.«
Der Notarzt war jetzt eingetroffen und stellte schwache Lebenszeichen fest. Der Polizist hatte einen Paß bei dem Bewußtlosen gefunden und festgestellt, daß es ein Engländer war.
»Das auch noch«, stöhnte der Wirt, »aber gesehen habe ich nicht, wie das passiert ist.«
Keiner hatte es genau gesehen, darin waren alle einer Meinung. Polizisten wußten, wie das bei Raufereien war. Daß der dicke ›Paulke‹ sich verdrückt hatte, sagte keiner, den kannten die meisten schließlich. Den ›Engländer‹ kannte keiner. Es dauerte ein paar Stunden, bis man festgestellt hatte, um wen es sich bei diesem Mann handelte, weil das Kommissariat Fechner die Meldung auf den Tisch bekommen und bald festgestellt hatte, daß es sich um den polizeilich gesuchten Ray Gambill handelte. Da war dieser bereits tot, gestorben an einer Gehirnblutung, die er sich bei seinem Sturz zugezogen hatte, aber bei der Obduktion sollte dann festgestellt werden, daß er schon lange ein bedrohliches Aneurysma hatte.
Dr. Norden erfuhr es noch vor Mitternacht.
»Jetzt können wir wieder ruhig schlafen, mein Schätzchen«, sagte er zu Fee, und sie meinte, daß dies für Maxi erst recht zutreffen würde.
Sie kuschelte sich in Daniels Arm und schnurrte wie ein Kätzchen. Es brachte ihn immer zum Lachen.
»Siehst du, mein Herzallerliebster, jetzt können wir auch wieder lachen. Auf Regen folgt Sonnenschein, man muß nur optimistisch sein.«
»Wird Maxi auch eines Tages wieder richtig lachen können?« meinte er nachdenklich. »Werden nicht immer wieder bittere Erinnerungen kommen, wenn Patrick heranwächst und sie an seinen Vater erinnert?«
»Warum sollte er das? Er hat doch jetzt schon keine Erinnerung an ihn. Nun kann sie guten Gewissens und ohne zu lügen sagen, daß er tot ist. Sie kann ihm von seinem Großvater erzählen, der ein großherziger, vom Schicksal geschlagener Mann war und den Glauben an das Gute nicht verlieren wollte, wie Maxi auch. Es liegt in ihrer Hand, ihren Sohn in dem Glauben zu erziehen, daß er zwei große Vorbilder in seinen beiden Großvätern hat. Ich denke, daß Maxi aus ihren Erfahrungen gelernt hat. Vielleicht begegnet ihr eines Tages auch ein Mann, vor dem sie wieder Achtung haben kann, der ihr ein verständnisvoller Freund werden könnte. Sie ist noch so jung, und das, was sie erlebt hat, ließ sie reifen. Wenn sie vor der Ehe schon Erfahrungen gesammelt hätte, wäre sicher alles anders gekommen.«
»Ich weiß aber nicht, ob es so gut ist, negative Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln. Es kommt immer auf die Menschen selbst an. Man soll Kinder nicht zu sehr behüten und abschirmen. Sie sollten beizeiten lernen, daß sie mit den unterschiedlichsten Menschen auskommen und auch abschätzen müssen, wie man Gefahren erkennt.«
»Ich meine, daß die Schulen schon ein breites Feld dafür bieten, daß Geld und Designer-Kleidung kein Freibrief und ganz gewiß keine Empfehlung sind. Das haben unsere Kinder ja hoffentlich schon begriffen, wenn sie manches auch sehr gern haben würden.«
»Zum Beispiel ein Cabrio am achtzehnten Geburtstag«, sagte Fee mit leisem Lachen. »Felix hat wenigstens schon eingesehen, daß er nicht das teuerste Fahrrad bekommen wird. Man darf jetzt nämlich auch handeln.«
»Du wirst doch nicht handeln?« staunte Daniel.
»Warum denn nicht, es ist sowieso alles viel teurer geworden, seit wir den Euro haben. Da können sie uns sonst was erzählen, ich vergleiche die Preise, und andere tun es auch. Sag nur, daß das nicht in Ordnung sei.«
»Es ist in Ordnung. Merkst du, daß wir uns jetzt auch wieder ganz normal unterhalten können, daß nicht immer dieser schwarze Schatten namens Gambill uns beunruhigt?«
»Er wird in der Hölle schmoren. Er ist so unwürdig gestorben, wie er gelebt hat. Wie viele Menschen mögen sich hinter einer Maske verbergen und manchmal gar nicht zu durchschauen sein?«
»Es ist wie mit manchen Krankheiten, mein Liebes. Es gibt irreführende Symptome, und dahinter verbirgt sich etwas ganz anderes. Morgen früh müssen wir gleich Anne anrufen, damit Maxi einen neuen Lebensabschnitt beginnen kann.«
»Hätten wir das nicht gleich tun sollen?«
»Auf der Insel schlafen sie doch längst«, meinte er lächelnd. »Nächtliche Anrufe bedeuten meistens nichts Gutes. Außerdem hat schon der neue Tag begonnen. Es ist gut, daß wir ausschlafen können.«
Fee gab ihm einen zärtlichen Kuß. »Wir werden den Tag genießen, mein Liebster.«
Es sollte ein strahlender Tag werden. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab, und die Luft war mild und voller Blütenduft.
Fee war früh auf den Beinen, obgleich sie hätte ausschlafen können, weil die Kinder nicht zur Schule brauchten. Aber sie konnte die Neuigkeiten nicht schnell genug weitergeben.
Lenni schickte gleich ein Dankgebet zum Himmel, Anne stieß am Telefon einen erleichterten Seufzer aus, und wenig später konnte Fee auch Jenny Behnischs Erleichterung durchs Telefon deutlich hören.
Daß eine Todesnachricht Erleichterung und Dankbarkeit verbreiten konnte, mochte selten genug der Fall sein, aber Ray Gambill würde keine Lücke hinterlassen. Der Himmel meinte es gut mit denen, die durch ihn gelitten hatten, denn ihnen wurde viel erspart.
Anne hatte Maxie einen Strauß noch nicht ganz erblühter Pfingstrosen auf den Frühstückstisch gestellt. Sie setzte aber keine triumphierende Miene auf, sondern brachte es Maxi schonend bei, da sie sehr gut wußte, in welchem Zwiespalt sich die junge Mutter noch immer befunden hatte.
»Er ist tot?« wiederholte Maxi ungläubig.
»Die genauen Umstände kenne ich auch noch nicht, aber es war ein Unfall bei einer Rauferei.«
Maxis Gesicht versteinerte. »Auf Raufereien hat er sich auch eingelassen – mein Gott – habe ich diesen Mann überhaupt gekannt? Er hat doch eine erstklassige Erziehung genossen, Anne.«
»Was aber nicht besagt, daß dies auch von Erfolg gekrönt wird.«
Maxi nickte. »Aber ich kann Patrick jetzt sagen, daß sein Vater tot ist«, flüsterte sie. »Aber wie soll ich es ihm sagen?«
»Sie werden die richtigen Worte finden.«
Patrick kam mit Dr. Cornelius vom Schwimmen zurück. Er erzählte stolz, daß er die Bahn dreimal hin und zurück geschafft hätte. »Und nun habe ich mächtigen Hunger, Mami.«
»Es ist genug da«, lachte Anne.
Er setzte sich und bewunderte die Blumen. »Gibt es was Besonderes heute?« fragte er.
»Es ist ein wunderschöner Tag«, erwiderte Maxi.
»Eigentlich ist doch jeder Tag schön, seit wir hier sind«, meinte er. »Wir müssen doch nicht schon wieder weg?«
»Ich müßte eigentlich Muni besuchen«, erklärte Maxi beiläufig.
Sein Gesichtchen überschattete sich. »Kann ich nicht hierbleiben, und du kommst dann mit Muni?« sagte er bittend.
»Du würdest allein hierbleiben?« fragte sie stockend.
»Ich bin doch nicht allein, Mami. Ich bin bei Anne und dem Doc Hannes.«
»Und er könnte bei uns schlafen im Gästezimmer«, sagte Anne sofort.
»Ich werde erst mit Dr. Behnisch telefonieren«, erklärte Maxi. »Erst sehen, wie es Muni geht, und ob sie es schon weiß.«
»Was soll Muni wissen?« fragte Patrick, der immer hellwach war.
»Darüber wollte ich jetzt auch mit dir sprechen, wenn du satt bist.«
»Jetzt bin ich satt. Schau mal, wieviel ich gegessen habe, und ich kann meine Brötchen ganz allein schmieren.«
Darüber konnte Maxi auch nur staunen und auch, wieviel er essen konnte. Er hatte sich schon sehr entwickelt in den zwei Wochen. Jetzt wurde ihr erst bewußt, wie schnell die Zeit vergangen war. Was war da schon wieder passiert! Sie erfuhr von Jenny Behnisch, daß Monika noch sehr schwach sei und sie es ihr langsam beibringen wollten, wie Gambill umgekommen war. Das erfuhr jetzt Maxi auch genauer, und ein Frösteln kroch durch ihren Körper.
»Dr. Werling ist ein sehr einfühlsamer Arzt, er wird Ihre Mutter ganz diplomatisch unterrichten«, erklärte Jenny. »Wir sind uns einig geworden, daß sie erst schildern soll, was geschehen ist, wenn sie dazu Kraft hat. Das muß sie loswerden, der Meinung ist Dr. Norden auch, und Dr. Werling versteht es wirklich sehr gut, mit ihr umzugehen.«
»Er ist mir nicht bekannt. Er ist doch hoffentlich kein so gutaussehender Typ, darauf fällt Muni leider schnell herein.«
»Er ist das Gegenteil. Er hat ein schweres Schicksal. Sie werden ihn kennenlernen, aber kommen Sie erst nächste Woche. Wir telefonieren vorher noch. Wie geht es Patrick?«
»Sehr gut, er will gar nicht von hier weg. Ich soll Muni holen, er will inzwischen hierbleiben. Es ist auch alles wunderschön und so harmonisch.«
»Dann genießen Sie es noch, Maxi, wir passen schon auf Ihre Muni auf. Wegen Dr. Werling brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, er ist ein sehr kluger, tüchtiger Arzt und charaktervoller Mann.«
Maxi gab sich damit zufrieden und sprach mit Anne über diesen neuen Arzt.
»Ich kenne ihn auch nicht persönlich, aber ich weiß von Fee, daß er seine Frau und seine Tochter bei einem schweren Autounfall verloren hat, den er als einziger überlebte. Er lag lange im Koma und mußte fast Jahre therapiert werden. Es ist jetzt wieder seine erste Anstellung, aber er paßt in die Behnisch-Klinik. Jenny hat viel Verständnis für leidgeplagte Menschen, es ist ja noch nicht so lange her, daß sie ihren Mann verloren hat, da ist es gut, wenn sie wenigstens ein paar Ärzte zur Seite hat, auf die sie sich verlassen kann, denn das Fiasko mit der Melvin wird ihr nachhängen.«
»Ich grübele darüber nach, was Bess damit bezweckte, aber ich komme zu keinem Ergebnis.«
»Wir meinen, daß sie sich in München etablieren wollte, weil etwas mit Gambill geplant wurde. Es war purer Zufall, daß in der Behnisch-Klinik die Stellung frei war und Schwerdt seinen Einfluß geltend machen konnte. Es hat ihr kein Glück gebracht und Schwerdt erst recht nicht. Nun hat sich Gambill in München auch noch das Genick gebrochen.«
»Im wahrsten Sinn des Wortes«, sagte Maxi tonlos.
Die Schicksalsgöttin hat die Karten gut gemischt, dachte Anne. Dieses Trauma hat ein Ende.
Patrick war schon wieder unterwegs. Er schaute bei der Wassergymnastik zu und hätte auch gern mitgemacht, aber dazu war er noch zu klein. Er interessierte sich für alles, und als Maxi kam, um ihn zu holen, meinte er, daß er auch mal solch ein Doktor werden wolle wie der Hannes.
»Dir wird manch anderer Beruf sicher auch noch gefallen, bis du erwachsen bist, Patty, aber das soll besser nicht so schnell gehen. Ich möchte dich gern noch bei mir haben.«
»Du meinst, ich laß dich allein, wenn ich groß bin? Das tue ich bestimmt nicht.«
»Das ergibt sich von selbst. Du findest dann auch eine Frau, die dir gefällt und wirst selbst Kinder haben.«
Für ein paar Sekunden schwieg er. »Aber ich lasse sie dann nicht allein«, sagte er sehr bestimmt. »Er kommt auch nicht wieder.«
Das war das Stichwort für Maxi, für das sie ihm dankbar war.
»Er kommt nicht wieder, Patty, er ist tot«, sagte sie gepreßt.
»Bestimmt? Sagst du das nicht nur, damit ich nicht frage?«
Sie hielt den Atem an. Er war fünf Jahre und stellte eine solche Frage! Was war in diesem kleinen Kopf schon lange vorgegangen?
»Es ist so, ich habe jetzt die Nachricht bekommen. Er hatte einen Unfall.«
»Und jetzt ist er tot. Wirst du nun wieder traurig, Mami?«
»Nein, ich werde nicht mehr traurig, Patty.«
»Das brauchst du auch nicht. Er war ja nie da, und ich hab’ nie etwas von ihm bekommen, das mich an ihn erinnert, wie das Jonny-Bärle an Grandpa, und von Muni habe ich soviel bekommen, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll, aber sie soll lieber gesund werden und bei uns bleiben.«
Er machte sich schon so viele Gedanken, daß Maxi tief gerührt war. Sie nahm ihn in die Arme und blickte ihm tief in die Augen, die das Blaugrau mit dem dunklen Ring ihrer Augen hatten. Vielleicht hatte Ray das gestört, auch von ihm so angesehen zu werden.
Warum hatte sie ihn nur geheiratet? Hatte sie ihn denn wirklich so geliebt? Aber sie hatte ja keinen anderen Mann kennengelernt, und Ray konnte seine Gefühle auf den Augenblick, auf den es ankam, programmieren. Auch das hatte sie inzwischen begriffen. Er hatte jeweils die Rolle gespielt, die ihm angebracht schien, die die Wirkung erzielte, die er beabsichtigte. Und sie hatte sich von ihm formen lassen, wie er sie brauchte, solange er sie brauchte, vor allem, um bei seinem Vater den Eindruck zu erwecken, daß er sich geändert hatte. Aber wodurch hatte James Gambill ihn dann doch durchschaut, daß er sein Testament geändert hatte?
»Jetzt bist du wieder ernst, Mami«, stellte Patrick besorgt fest.
»Ich denke nur nach. Nächste Woche werde ich zu Muni fahren, und vielleicht geht es ihr dann bald so gut, daß ich sie mitbringen kann.«
»Und hier kann sie sich erholen, hier wird sie ganz gesund«, erklärte er in voller Überzeugung.
»Ja, hier wird sie ganz gesund«, bestätigte Maxi mit einem weichen Lächeln.
»Und wir können sehr gut ohne einen Dad auskommen.« Er wußte es ja nicht anders. Für ein Kind war es schlimmer, wenn es einen lieben, fürsorglichen Vater verlor.
Maxi konnte es nicht verhindern, daß sie über ihre Ehe nachdachte und über sich selbst. Eigentlich hatte sie sich ja nie Gedanken gemacht, wenn Ray auf Gesellschaften mit anderen Frauen flirtete. Ihm wurden ja auch genug Avancen gemacht, wie ihr allerdings auch, aber sie hatte andere Prinzipien, da ihre Mutter ihr diese als verheiratete Frau vorgelebt hatte. Sie meinte, daß es wohl das Recht der Männer sei, Kontakte zu pflegen, weil es ihr Vater auch getan hatte.
Es war ihr nie zu Ohren gekommen, daß Ray eine Affäre gehabt hatte, man hatte sie damit verschont, aber sie fragte sich, welchen Einfluß Bess auf ihn hatte, daß er ihr regelrecht hörig geworden sein mußte. Er hatte doch immer der Bestimmende sein wollen, das stünde ihm zu, aber Bess hatte den Ton bestimmt, als sie James pflegte. Sie war Maxi gegenüber distanziert höflich gewesen, aber auch sehr konsequent. Maxi hatte öfter gehört, daß sie im Befehlston mit Ray sprach. War das auch James aufgefallen, obgleich er schon die meiste Zeit lethargisch war?
Es nützte wirklich nichts, sich immer wieder den Kopf darüber zu zerbrechen, sie würde Patrick damit nur irritieren. Für ihn war das Nachdenken vorbei. Sein Vater war Vergangenheit, er war tot. Patrick wußte, daß Tote in ihren Gräbern auf dem Friedhof lagen. Er hatte mit seiner Mami die Gräber seiner Großväter besucht, eins in England, eins in München, aber das in München hatte ihm besser gefallen, weil viele Blumen darauf blühten und das in England sich in einer dunklen Gruft befand. Er wollte gar nicht wissen, wo das Grab seines Vaters war, das war kein Dad, das war nur Ray gewesen.
*
In der Behnisch-Klinik gab es auch andere Patienten als Monika Dannenberg, und somit auch andere Schicksale. Man überließ es Torsten Werling gern, mit Monika zu sprechen, wenn sie ansprechbar war. Sie war noch immer schwach, wußte scheinbar auch nicht, was sie schon gesagt haben könnte, denn sie schien geistesabwesend zu sein, wenn sich Worte von ihren Lippen lösten. An Torsten hatte sie sich schon gewöhnt, ihn erkannte sie sofort, wenn er sich an ihr Bett setzte, während sie sich bei den Schwestern noch hart tat und sich die Namen nicht merken konnte. Allzuviel hatte Torsten noch nicht von ihr erfahren, denn was sie bisher gesagt hatte, war anscheinend nur traumhafte Erinnerung.
»Ihre Tochter hat angerufen, Frau Dannenberg. Sie wird Sie bald besuchen«, erklärte Torsten bedächtig.
»Sie soll bei Patrick bleiben und ihn nicht herbringen. Er soll nicht erfahren, daß Ray mich so zugerichtet hat.«
Es war der erste zusammenhängende Satz, den sie sagte.
»Sie sind ganz sicher, daß er es war?« fragte Torsten.
»Natürlich, er hat es doch erst wieder auf die schleimige Tour versucht. Er konnte ja so charmant sein – alles gespielt. Er wurde auch gleich aggressiv, als ich sagte, daß er verschwinden soll. Ich war so wütend, ich habe mich gewehrt, aber er hat Kräfte, die man ihm gar nicht zutraut. Er konnte alle Menschen täuschen, und meine arme Maxi war so naiv. Ich wollte ja auch nicht glauben, wie gemein Ray sein kann.« Sie hielt erschöpft inne.
»Es ist genug, Frau Dannenberg, Sie dürfen sich nicht anstrengen und erst recht nicht so aufregen. Es war alles schlimm genug für Sie.«
»Doch erst recht für meine Kleine. Ich habe sie immer behütet und nicht daran gedacht, wie hart die Wirklichkeit sein kann. Sie war unser Prinzeßchen, und wir dachten, sie hätte ihren Prinzen bekommen.« Ein paar Tränen stahlen sich jetzt aus ihren Augen. Sie war eine Frau, die nicht so leicht weinte und ihren Gefühlen nicht freien Lauf ließ. Aber es war gut so, daß sie weinen konnte, daß sie sich nicht selbst verleugnete. Torsten hatte durch seine lange Krankheit ein feines Gespür für die innersten Regungen anderer Menschen bekommen, und das Schicksal von Mutter und Tochter Dannenberg weckte sein ganzes Mitgefühl.
Monika hatte ihre Hand nach ihm ausgestreckt, und er hielt sie jetzt fest, bis sie wieder einschlief. Morgen wollte er ihr sagen, daß auch Maxi sich nicht mehr vor Ray Gambill fürchten mußte.
*
Daniel Norden hatte Ray Gambill identifiziert. Es hatte sich niemand sonst gefunden, der ihn persönlich gekannt hatte. Maxi sollte deshalb nicht nach München gerufen werden. Das hatte er verhindern können, und für ihn war es tatsächlich eine Beruhigung, Ray tot zu sehen, mit einem verwunderten Ausdruck in dem Gesicht. Daniel hatte schon viele Tote gesehen, friedliche Gesichter und auch welche mit grimmigem Ausdruck. Er hatte auch in toten Gesichtern lesen gelernt und war zu der Überzeugung gekommen, daß die letzten Gedanken sie geprägt hatten.
Konnte man einem Toten alles verzeihen, was er Unrecht getan hatte? Nein, wenn man ehrlich mit sich selbst war, konnte man es nicht, wenn es solche Wunden geschlagen hatte. Aber vielleicht gelang es Maxi doch zu vergessen, um Patricks willen. Es würde ihr zumindest innere Ruhe geben, daß er nicht mehr lebte und sie das dem Jungen gutes Gewissens sagen konnte, ohne ihn einmal mit Ausreden abspeisen zu müssen.
Daniel konnte sich diesen Mann aber auch nicht mehr in der Rolle des glücklichen Ehemannes vorstellen, den er zumindest an seinem Hochzeitstag so perfekt gespielt hatte.
Mit dem Gedanken, daß Ray Gambill keinem anderen mehr etwas zuleide tun konnte, fuhr Dr. Norden heim, zu seiner Frau und seinen Kindern. Lenni wartete schon mit frischgebackenem Kuchen, und der Kaffeeduft zog durchs Haus.
»Jetzt wissen wir es genau, Feelein. Ich werde Maxi fragen, ob er nach England überführt werden soll.«
Aber darüber hatte Maxi schon nachgedacht. Ihre Gedanken trafen sich, und sie rief wenig später an. Sie wollte ihren Anwalt damit beauftragen, alles für die Überführung in die Wege zu leiten. Es ist besser so, da sie nie nach England zurückkehren würde, aber in der Familiengruft solle er auch nicht beigesetzt werden, um James’ Ruhe nicht zu stören.
»Sie meint wohl, daß Rays Seele keine Ruhe findet und die seines Vaters stören könnte«, meinte Fee nachdenklich.
»Ich frage mich, ob er eine Seele hatte.«
»Die hat jeder Mensch, wie sie auch sei.«
»Auf seinem Gesicht liegt Staunen«, sagte Daniel gedankenvoll, »was er sich wohl gedacht haben mag, als er durch die Luft flog?«
»Er hatte fast drei Promille im Blut«, sagte Fee sarkastisch. »Kann man da noch denken?«
»Alkoholiker sehen oft klarer als nüchtern. Na ja, ich will mich nicht als Psychoanalytiker betätigen. Man macht sich nur seine Gedanken, und ich habe schon manches Mal gestaunt, wen man als Alkoholiker einstufen mußte. Leugnen tun es die meisten, bis es zu spät ist. Es ist wie mit dem Rauchen, es ist auch eine Sucht, aber Raucher sind überzeugt, daß es ihnen nicht schadet, bis sie Lungenkrebs haben.«
»Manche kriegen aber keinen Krebs.«
»Dann sterben sie an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall oder an Asthma.«
»Und sie merken nicht, wie der Rauch in ihren Wohnungen und in ihrer Kleidung bleibt.«
»Wendy sagt es ihnen, aber es sind zum Glück nur ein paar Patienten, und denen ist es dann doch peinlich.«
»Wenn sie es sich zu Herzen nehmen, ist es doch gut, und du bist dann wenigstens auch nicht schuld, wenn sie die Folgen zu spüren bekommen.«
Sie konnten noch auf der Terrasse sitzen und die frische würzige Luft einatmen. Danny und Felix hatten den Rasen gemäht, und das rochen sie besonders gern. Daniel dachte nicht mehr an die Pathologie. Er ließ sich Lennis guten Kuchen schmecken. Sie strahlte, wenn sie dafür ein Extralob bekam. Die Kinder spielten jetzt Kricket, Danny und Felix fuhren noch eine Stunde zum Schwimmen vor dem Abendessen.
»Wolltest du mitgehen?« fragte Fee.
»Ich habe vier Stücke Kuchen gegessen«, meinte er lachend. »Mit vollem Magen geht man leicht unter.«
»Die Buben auch. Hoffentlich passiert nichts.«
»Die strampeln es sich auf den Rädern wieder ab, und Rasen gemäht haben sie auch. Ist doch nett von ihnen.«
»Ich denke, das wird uns was kosten.«
»Sie kriegen genug Taschengeld.«
»Ich meine, sie haben einen anderen Wunsch in petto. Da kommt doch so eine Band in den nächsten Wochen, die Karten sind ziemlich teuer.«
»Und du hast schon wieder so eine Ahnung.«
»Ich kenne doch unsere Pappenheimer«, lachte Fee. Man sah es ihr an, daß sie von Sorgen befreit war. Sie hatte sich tatsächlich viele Gedanken gemacht, wie es für Maxi und Patrick weitergehen sollte.
»Gut, daß die Kleinen noch nicht so anspruchsvoll sind«, meinte Daniel.
»Na, warte nur, lange dauert das auch nicht mehr. Meinst du, daß ich auch dazuverdienen sollte?«
»Was hast du denn im Auge?« scherzte er.
»Vielleicht Praxisvertretungen?«
»Schluß mit lustig, mein Schätzchen.«
»Oder ich könnte mal bei einem Quiz mitmachen. Ich weiß doch eine ganze Menge.«
»Und wenn du ein Blackout hast, lachen sie dich aus.«
»Alles ist menschlich. Zuhause am Bildschirm ist alles leichter. So aus Spaß würde ich das schon mal probieren.«
»Erspar mir bitte solche Aufregungen. Vertreten wir uns lieber noch die Füße.«
Da waren Anneka und die Zwillinge auch gleich dabei, und als sie von einem langen Spaziergang zurückkamen, waren Danny und Felix auch wieder daheim. Es war Zeit für das Abendessen.
*
Am Dienstag kam Maxi nach München. Patrick blieb auf der Insel. Sie hatte ihm auch nicht zugeredet, doch mitzukommen, sondern war Anne und Hannes Cornelius dankbar, daß sie sich so um den Jungen kümmerten. Für sie war es besser, allein mit ihrer Mutter sprechen zu können, denn es würde doch manches erörtert werden, was Patrick nicht hören mußte.
Mit Herzklopfen betrat sie die Behnisch-Klinik. Jenny war schon vorbereitet und nahm sich auch die Zeit, Maxi selbst zu begrüßen.
»Sie haben sich wenigstens schon gut erholt«, stellte sie fest. »Ihre Mutter wird es auch brauchen können. Jetzt ist sie aber auf dem Weg der Genesung. Sie hatte viel Blut verloren, und der Schock saß tief.«
»Es ist schrecklich, daß sie das meinetwegen durchmachen mußte.«
»So sollten Sie nicht denken! Sie sind eine Familie, und Gambill hatte seine Pläne. Er hatte es sich wohl so gedacht, daß er ihre Mutter auf seine Seite bringen konnte. So denkt sie es, aber Sie werden selbst mit ihr sprechen. Dr. Werling hat gute Vorarbeit geleistet. Sie werden ihn gleich kennenlernen.«
Er war bei Monika im Zimmer.
Als Maxi eintrat, hielt er Monikas Hand.
»Das ist meine Tochter, Dr. Werling«, sagte Monika. Er kam Maxi zwei Schritte entgegen.
Sie reichte ihm jetzt die Hand.
»Ich freue mich, Sie nun auch kennenzulernen«, sagte sie stockend. »Jetzt möchte ich erst Muni begrüßen.«
Sie hatte Hemmungen, weil ihre sonst so distanzierte Mutter so vertraut mit ihm schien. Aber er war so ganz anderes, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Wie hatte sie ihn sich denn eigentlich vorgestellt?
»Ich war immer der Meinung, daß dich nur sehr attraktive Männer beeindrucken können, Muni«, sagte sie im scherzhaften Ton.
»Und du meinst, daß Dr. Werling nicht beeindruckend ist?«
»Vielleicht auf eine andere Art.«
»Weil er ein paar Narben hat? Er hatte einen schweren Unfall.«
»Ich weiß, Anne hat es mir erzählt. Ich wäre enttäuscht, wenn er so ein glatter Typ wäre, aber ist er nicht ein bißchen jung für dich?«
Monika lachte herzhaft. »Wenn er das jetzt hören würde! Ich habe keine solche Absichten, Maxi, ich mag ihn einfach. Er ist sehr einfühlsam und ich konnte mit ihm über alles reden.«
»Über alles?«
Monika nickte. »Über meine Ängste, daß er dir und Patrick etwas antun wollte. Er wollte das Kind, um an das Erbe zu kommen, Maxi. Er hätte dich irgendwie aus dem Weg geräumt, davon bin ich überzeugt. Der Tod zählt nicht alle Schulden. Du mußt ihn einfach ganz aus deinem Leben streichen.«
»Wenn du das sagst! Ich habe es bereits getan, Muni. Für ihn war alles ein Spiel, aber es war ein ganz böses Spiel.«
»Und du bist so verwirrt, daß du deiner Mutter zutraust, sie würde mit einem jungen Arzt anbandeln«, scherzte Monika nun.
»Wenn du so von einem Mann angetan bist, muß es mich doch nachdenklich stimmen.«
»Ich habe auch dazugelernt, Maxi. Ich lasse mich nicht mehr von Äußerlichkeiten bestechen. Ray hat wohl gemeint, er könnte mich wieder um den Finger wickeln, wenn er vor mir stünde und seinen Schmus anbringt. Das war einmal, und ich schäme mich dafür genug.«
»Du brauchst dich doch nicht zu schämen, Muni.«
»Doch, weil ich nicht glauben konnte, daß alles so war, wie du erzähltest. Ich dachte, du wärest überempfindlich. Da ich so erzogen wurde, daß man nicht einfach aus einer Ehe ausbricht, habe ich leider geschwankt.«
»Es war doch gar nicht einfach für mich, Muni, ich habe mit mir gerungen und wollte es lange selbst nicht glauben. Aber im Hinblick auf James’ Tod hat er die Maske bald ganz fallenlassen, allerdings nichtahnend, daß er nicht der Alleinerbe war. Er wollte alles für sich allein haben, natürlich auch Patrick. Aber James hat es wohl geahnt, vielleicht hatte er im Angesicht des Todes auch den sechsten Sinn. Es muß für Ray eine schreckliche Ernüchterung gewesen sein, als das Testament verlesen wurde. Ich sah sein Gesicht. Sein Blick war plötzlich so voller Haß auf mich gerichtet, daß ich keinen Zweifel mehr hegen konnte an seinen Gefühlen für mich. Er hat mich nur geheiratet, um seinen Vater versöhnlich zu stimmen. Ich habe doch erst nachher erfahren, wieviel Kummer ihm Ray bereitet hat, was er schon als Teenager alles verbrochen hat. Es wurde vertuscht, weil James auf seinen guten Namen bedacht war. Wäre Nick am Leben geblieben, wäre sowieso alles anders gekommen, aber dann hätte Nick einen schlimmen Feind im Nacken gehabt. Ich kann jetzt nur aufatmen, daß Patrick ohne Angst aufwachsen kann.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Daß Ray tot ist. Er hat gleichgültig reagiert, weil er ihn ja nie kannte und auch nie etwas von ihm bekam, was an ihn erinnert. Er meint, daß wir sehr gut ohne einen Dad auskommen.«
»Du solltest dich nicht zu sehr darauf versteifen, Maxi. Es gibt auch wertvolle Männer. Dr. Werling und Dr. Graef sind gute Beispiele. Dr. Norden ist mit seiner Fee jetzt schon fast zwanzig Jahre glücklich. Es tut mir leid, daß du so tief enttäuscht wurdest, und daran fühle ich mich auch mitschuldig, weil ich mich so für Ray begeistert hatte.«
»Du warst da nicht allein, er hat alle getäuscht, vorübergehend sogar seinen Vater, der auch meinte, er hätte sich positiv verändert. Aber was sollte ich jetzt noch hadern, es ist vorbei, und ich fühle mich befreit.«
»Es ist gut, daß du so denken kannst, meine Kleine.«
Sie hatten schon lange nicht so offen miteinander gesprochen, eigentlich noch nie über intime Empfindungen. Plötzlich erschien Maxi die Ältere mehr wie eine Freundin, die auch nicht ohne Fehler war.
Ob sie nicht Angst hätte allein im Haus, fragte Monika, vom vielen Reden müde.
»Wovor sollte ich jetzt noch Angst haben, Muni? Ich werde es mir gemütlich machen, im Hotel könnte ich das nicht.«
»Aber es wird nichts zu essen da sein. Geh zu Paco, da ist es jetzt recht gut.«
»Ich werde schon nicht verhungern, Muni. Jetzt wünsche ich dir einen guten, erholsamen Schlaf.«
»Ich dir auch, Maxi. Ich bin froh, daß wir reden konnten.«
Maxi gab ihr einen innigen Kuß, auch das hatte sie lange nicht getan. Es war immer so gewesen, als stünde Ray trennend zwischen ihnen, aber jetzt war auch sein Schatten gewichen.
Sie traf Dr. Werling auf dem Gang. Er unterhielt sich gerade mit einem Besucher, der sich aber jetzt verabschiedete.
»Darf ich fragen, ob Sie jetzt beruhigt sind?« fragte er zögernd.
»Das bin ich. Ich habe gehört, daß Sie meiner Mutter sehr geholfen haben.«
»Geholfen hat sie sich selbst mit ihrem starken Willen. Sie hat zum Glück eine sehr positive Einstellung zum Leben. Sie hat sich mehr um Sie und ihren Enkel gesorgt als um sich selbst.«
»Wir hatten schon eine schöne Zeit auf der Insel der Hoffnung, und Patrick will gar nicht wieder weg. Wann kann ich Muni mitnehmen, damit sie sich dort auch erholt?«
»Vielleicht schon Ende der Woche.«
»Dann will ich Sie jetzt auch nicht länger aufhalten. Wir werden uns ja noch öfter sehen«, sagte sie.
Sie hatte ihm gegenüber tatsächlich Hemmungen, aber wahrscheinlich lag es auch daran, daß sie schon lange jedem Mann ausgewichen war. Bei ihm mußte sie das Gefühl haben, daß er schon sehr viel über sie wußte.
Das war allerdings der Fall. Nicht nur, daß Monika sehr viel über sie erzählt hatte, er hatte sich auch über Gambill und Bess Melvin informiert. Das war ja auch
für Jenny Behnisch und Michael
Graef immer noch ein Thema, wenn sie auch erleichtert waren, daß es keine nachhaltigen Folgen für die Klinik hatte. Zum Glück war davon nichts an die Öffentlichkeit gedrungen.
Torsten Werling hatte den Tod seiner Frau und seiner Tochter noch immer nicht verkraftet, aber er vergaß darüber nicht andere, die auch böse vom Schicksal geschlagen worden waren.
Er hatte in Maxis Gesicht gelesen, welch schwere Zeit sie hatte bewältigen müssen, aber sie beklagte sich nicht. Sie trafen sich auch am nächsten Tag kurz in der Klinik und wechselten ein paar Worte, er setzte sich auch auf Monikas Bitte eine kurze Zeit zu ihnen.
Monika hatte erfahren, daß sie noch bis zur nächsten Woche in der Klinik bleiben mußte, da sie noch an starken Durchblutungsstörungen und Kreislaufbeschwerden litt, wenn sie für kurze Zeit das Bett verließ.
So lange wollte Maxi den kleinen Patrick doch nicht Annes Obhut überlassen, denn Dr. Cornelius mußte sich ja vor allem um seine Patienten kümmern.
»Mach dir nur keine Gedanken, Maxi, ich finde schon jemand, der mich zur Insel bringt«, sagte Monika mit einem Blitzen in den Augen, das Maxi eigentlich hätte stutzig machen müssen, wenn sie darauf geachtet hätte. »Es bringt ja nichts, wenn du die Zeit hier vertrödelst, amüsant ist es nicht gerade, und Patrick wird doch Sehnsucht nach dir haben.«
Das stimmte allerdings, denn der Junge war es nicht gewöhnt, so lange von seiner Mami getrennt zu sein.
Maxi machte noch einen Besuch bei den Nordens. Fee fragte sie, ob sie Pläne für die Zukunft hätte.
»Auf jeden Fall bleibe ich hier«, erklärte Maxi. »England wird mich nicht wiedersehen, und mit Muni werde ich schon gut auskommen. Wir brauchen uns ja nicht auf die Füße zu treten, das Haus ist groß genug. Wir haben schon beschlossen, daß ich mir eine separate Wohnung einrichte. Ich werde mir dann auch eine Beschäftigung suchen und mich weiterbilden. Ich muß doch noch viel dazulernen und möchte auch etwas Nützliches tun.«
»Es wird nicht einfach sein, das Richtige zu finden«, meinte Fee. »Patrick kommt bald zur Schule, da werden Sie sich auch engagieren müssen, vielleicht im Elternbeirat. Sie müssen immer denken, daß das Kind den Vorrang hat. Es ist das Beste, was man für seine Kinder tun kann, wenn man ganz an ihrem Leben teilnimmt und immer für sie da ist. Ich habe mal gemeint, ich könnte meinen Beruf nebenbei ausüben, aber es ist nicht so einfach, Maxi, wenn man nur mit halbem Herzen dabeisein kann. Es ist für die Mütter, die mitverdienen müssen, schwer genug, aber wenn man das Glück hat, finanziell unabhängig zu sein, sollte man für seine Kinder und die Familie leben.«
»Ich habe auch mal davon geträumt, eine große Familie zu haben«, sagte Maxi leise, aber mehr sagte sie dazu nicht.
*
Am Nachmittag machte sie einen langen Spaziergang, sah sich genau an, was sich in der Zeit, als sie in England war, verändert hatte, wie weit es Patrick zur Schule haben würde und wo die Sportanlagen waren. Sie fühlte sich schon wieder heimisch.
Sie gelangte zufällig zu dem Waldrestaurant, das es damals noch nicht gegeben hatte und das sehr romantisch lag.
Sie konnte noch auf der Terrasse sitzen, und was an Speisen geboten wurde, klang vielversprechend. Sie hatte sich bald entschieden und träumte vor sich hin, als plötzlich ein Schatten über den Tisch fiel.
Es war noch nicht lange her, daß sie vor jedem Schatten erschrak, aber das war jetzt auch vorbei, erst recht, als sie aufblickte und Dr. Werling erkannte.
»Das ist aber eine Überraschung«, sagte er mit dunkler Stimme.
Ein heller Schein flog über ihr Gesicht, sie war nur leicht verwundert und fragte, wie er sich denn hierher verirrt hätte.
»Ich habe diesen romantischen Platz schnell entdeckt gehabt«, erwiderte er. »Ich bin gern hier, und das Essen schmeckt sehr gut. Wenn man einen anstrengenden Tag hinter sich hat, ist die Umgebung die richtige Entspannung. Es freut mich, Sie hier zu treffen, Frau Dannenberg.«
»Ich bin herumgelaufen und nur durch Zufall hier gelandet«, erwiderte sie leicht errötend. »Es gefällt mir aber auch sehr gut. Morgen fahre ich zurück zur Insel.«
»Schade, aber ich hoffe, daß wir uns doch öfter mal treffen, wenn Sie wieder hier wohnen. Vielleicht hier im Tannenhäusel.«
»Wie ich Muni kenne, wird sie nicht locker lassen«, lächelte Maxi. »Wenn sie einmal jemand ins Herz geschlossen hat, pflegt sie den Kontakt. – Ich bin sehr froh, daß sie einen Arzt hat, der soviel Verständnis für sie aufbrachte. Sie hat sich mit argen Selbstvorwürfen geplagt.«
»Am meisten wohl damit, daß Sie ihr Vorwürfe machen würden.«
»Für meine eigenen Fehler? Ich bin doch nicht ungerecht.«
»Aber sie meinte, Sie falsch erzogen zu haben, indem sie Sie vor allem Übel bewahren wollte.«
Maxi sah ihn sinnend an. »In einem gewissen Alter sollte man soviel Verstand haben, in die Menschen hineinzuhorchen, nicht nur die Oberfläche zu sehen. Ich war längst für mich selbst verantwortlich.«
»Man kann nicht sagen, daß das Alter dabei eine Rolle spielt. Ich kenne Menschen, die doppelt und dreimal so alt sind und kein bißchen klüger wurden. Es ist alles menschlich.«
Sie unterhielten sich über dies und jenes, und plötzlich begann er über seine Frau Susanne zu sprechen und über Betsy, die jetzt sechs Jahre wäre.
»Meine Schwiegereltern haben mir zum Vorwurf gemacht, daß ich überlebt habe. Das hat mir fast allen Lebensmut genommen«, sagte er gedankenverloren. »Jetzt weiß ich, daß mir das nicht bestimmt war und ich meinen Platz im Leben gefunden habe.«
»Und das wird gut sein. Sie können vielen anderen Menschen helfen. Ich freue mich, daß wir uns kennengelernt haben.«
»Und ich würde mich freuen, wenn wir uns noch besser kennenlernen würden. Ihre Mutter hat mir den Anfang in der Behnisch-Klinik sehr erleichtert.«
»Und sie wird bestimmt dafür sorgen, daß Sie uns öfter besuchen«, meinte Maxi. »Ich muß jetzt leider gehen, da ich zu Fuß bin, und es wird dunkel.«
»Und ich bin mit dem Auto da und werde Sie heimbringen, wenn Sie gestatten.«
Sie tranken noch einen Espresso, dann brachte Torsten sie nach Hause. Er verabschiedete sich herzlich von ihr, und sie hatte das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben einen wahren Freund gefunden zu haben.
*
Torsten brachte Monika am Sonntag auch zur Insel der Hoffnung. Nicht nur Patrick war neugierig, den ›neuen Freund‹ kennenzulernen, auch Anne und Johannes Cornelius waren gespannt, ihn kennenzulernen, und Patrick teilte seine Aufmerksamkeit auch gleich zwischen seiner Muni und Torsten, mit dem er sich bald zutraulich unterhielt.
»Er ist ein netter Doktor«, sagte er, als Maxi ihn zu Bett brachte. »Findest du das auch, Mami?«
»Ja, er ist sehr nett«, erwiderte sie.
»Dann kann er uns ja öfter mal besuchen.«
Er war tatsächlich enttäuscht, daß Torsten nicht auf Besuch kam in den drei Wochen, die sie noch mit Muni auf der Insel verbrachten. Monika erholte sich sehr schnell, und es gefiel ihr genauso gut wie Maxi und Patrick. Der Abschied fiel ihnen schwer, aber sie meinte, sie könnten ja öfter mal hier sein, denn es war ja keine große Reise.
Sie hatten Kraft geschöpft für ein neues Leben, und zu diesem gehörten auch bald Torsten Werlings regelmäßige Besuche, wie auch Maxis Treffen mit Fee Norden und den Zwillingen, mit denen Patrick gern spielte. Er war ein lebhaftes, kontaktfreudiges Kind geworden. Sie konnten einen schönen Sommer genießen, und wann immer Torsten Zeit hatte, machten sie Ausflüge oder verbrachten wenigstens noch ein paar Abendstunden im Tannenhäusel.
Ganz sanft spannen sich zarte Bande zwischen Maxi und Torsten, die von Patrick durch seine Zuneigung für Torsten gefestigt wurden. Irgendwie schien ein Kind in seinem Alter doch einen Mann als Vorbild zu suchen. Monika meinte, daß er kein besseres als Torsten haben könnte.
Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Patrick war tief enttäuscht, weil er noch nicht zur Schule gehen durfte.
»Warum muß ich unbedingt sechs Jahre sein, Torsten?« fragte er.
»Weil es besser ist, wenn du nicht der Kleinste bist«, meinte Torsten tröstend. »Es ist doch schön, wenn du noch zu Hause sein kannst.«
»Ich will aber mal so gescheit werden wie du.«
»Als ich so klein war wie du, bin ich nicht gern in die Schule gegangen«, gab Torsten zu, »da wollte ich lieber spielen.«
»Ich gehe aber lieber mit dir spazieren und rede mit dir.« Er seufzte anhaltend. »Und außerdem wäre es sehr schön, wenn du mein Papi wärest.«
»Meinst du?« fragte Torsten weich.
»Meinst du nicht?«
»Du könntest ja mal deine Mami fragen, was sie darüber denkt.«
Patrick rieb seine Wange an Torstens Hand. »Das werde ich auch mal. Wenn ich dann zur Schule komme, kann ich auch sagen, daß ich einen Papi habe, einen ganz tollen Papi.«
Torsten lachte leise. »Na, toll bin ich nicht gerade, Patty.«
»Bist du doch. Du bist immer lieb.«
Maxi hörte es, aber sie trat lieber nicht in Erscheinung. Sie hatte Herzklopfen bekommen. Es dauerte auch ein bißchen, bis Patrick den Mut fand, seine Mami zu fragen, was sie von Torsten als Papi halten würde.
»Warum willst du einen Papi haben?« fragte sie. »Du hast doch gesagt, daß wir gut allein zurechtkommen«, meinte sie.
»Weiß ich nicht mehr, da kannte ich Torsten sicher noch nicht. Muni mag ihn auch, und dich schaut er immer so lieb an, merkst du das nicht?«
»Vielleicht redet er mal mit mir darüber.«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Das Ergebnis dieser Unterredung war höchst befriedigend für ihn, für Maxi und Torsten aber auch, und Munis geheimste Wünsche sollten in Erfüllung gehen. Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte Maxi, als Torsten sie zum ersten Mal in die Arme nahm und küßte. Ihr Herz schlug für ihn, und Dankbarkeit erfüllte sie, daß sie solche Gefühle erleben konnte. Die Schatten der Vergangenheit waren verblichen, die Zukunft lag vor ihnen. Bevor Patrick in die Schule kam, trug er den Namen Werling. Er war überglücklich, daß ihn Papi und Mami an diesem Tag begleiteten und das große Ereignis fotografierten und filmten. Muni faltete die Hände und dankte dem Himmel, daß er so gnädig mit ihnen war.
»Man soll den Glauben nie verlieren«, sagte auch Fee Norden. »Manchmal gibt es doch eine Gerechtigkeit.«