Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Was denn? Ihr wollt noch einmal heiraten?« Mit offenem Mund starrte Dési Norden über Kaffeetassen und Marmeladengläser zu ihren Eltern hinüber. »Warum das denn?«

»Warum nicht?«, fragte ihre Mutter Felicitas und nahm noch eine Scheibe Brot aus dem Brotkorb.

Die Fotos, die sie im Internet gesehen hatte, gaukelten durch ihren Kopf. Eine provisorische Kapelle an einem Karibikstrand. Die Familientafel unter einer alten Linde vor einer grandiosen Bergkulisse. Ein Rosenbogen inmitten eines Bauerngartens.

»Gründe gibt es genug«, erklärte eine männliche Stimme.

Fees Traumbilder zerplatzten wie Seifenblasen. Sie sah hinüber zu Désis Zwillingsbruder Jan, der die schwarz umrandete Brille auf der Nase zurechtrückte. Sie wusste, was jetzt kam.

»Für viele Paare ist es die romantischste Liebeserklärung der Welt. Andere wollen eine überstandene Krise mit einer Erneuerung des Eheversprechens abschließen. Das ist ein sehr emotionaler, symbolischer Akt, der die Zusammengehörigkeit zweier Ehepartner noch einmal unterstreichen soll.«

»Vielen Dank für die ausführliche Erläuterung.« Über den Tisch hinweg zwinkerte Daniel Norden seinem jüngsten Sohn zu, ehe er sich an seine Frau wandte. »Aber ein bisschen enttäuschend finde ich es schon, dass du einen Beweis meiner Liebe brauchst.«

»Du bist ein alter Spielverderber, Daniel Norden«, schimpfte Fee und ließ einen extragroßen Klecks Marmelade auf die Brotscheibe fallen. Zucker beruhigte bekanntlich die Nerven. »Ich finde es einfach schön, dir noch einmal das Jawort zu geben.«

»Warum habt ihr das nicht mit Danny und Tatjana gemacht?« Als letzte der noch verbliebenen Hausbewohner gesellte sich Anneka zu ihrer Familie an den Frühstückstisch. »So eine Doppelhochzeit wäre doch schick gewesen.«

Ein Klingeln mischte sich in die Radioklänge. Fee stand auf.

»Nein, nein. Das war schon alles gut so.« Mit Schrecken erinnerte sie sich an das Chaos, das die Hochzeit ihres Ältesten um ein Haar vereitelt hätte. »Das war der Ehrentag der beiden. Und wenn, dann suchen euer Vater und ich uns die Zeremonie aus, die uns vorschwebt.« Mit diesen Worten verließ sie das Esszimmer.

»Sieht so aus, als hättest du keine Chance. Armer Dad.« Dési streichelte ihrem Vater den Rücken. Das Zucken um ihre Mundwinkel verriet sie.

Dagegen war Jans Mitgefühl echt.

»Keine Sorge, Dad. Irgendeine Ausrede fällt uns schon ein. Und im Zweifel entführe ich dich auf eine LAN-Party. Da vermutet Mum dich nie und nimmer.«

»Kann man das essen?«, fragte Anneka und schob sich ein Stück Croissant in den Mund.

Janni schnaubte. Was hatte er verbrochen, dass er sein Leben zwischen Unwissenden fristen musste?

»Bei einer LAN-Party werden private Computer durch ein lokales Netzwerk miteinander verbunden, um gemeinsam Computerspiele zu spielen.«

Daniel leerte seine Tasse. Mit einem Blick auf die Armbanduhr folgte er dem Beispiel seiner Frau.

»Vielen Dank für das Angebot. Aber bevor ich an so einer Veranstaltung teilnehme, gebe ich deiner Mutter lieber noch einmal das Ja-Wort.«

Dési und Anneka prusteten gleichzeitig los.

»Was gibt es da zu lachen?« Mit dem Telefon in der Hand kehrte Fee ins Esszimmer zurück.

»Das erkläre ich dir ein andermal.« Daniel gab ihr einen Kuss. »Ich muss los. Der Kollege Maurer holt mich in einer Stunde von der Klinik ab. Bis dahin will ich unbedingt noch einmal bei dem Patienten auf der Quarantänestation vorbeischauen, der in den frühen Morgenstunden eingeliefert wurde.«

Die Schilderung des Notarztes Matthias Weigand am Telefon besorgte den Klinikchef nachhaltig. Fee dagegen hatte andere Sorgen.

»Ach, du bist ja bis morgen auf dem Kongress.« Ihre Mundwinkel wanderten nach unten. »Das hatte ich völlig vergessen.«

»Warum schaust du denn so traurig? Bisher bin ich noch jedes Mal wiedergekommen.«

»Darum geht es doch gar nicht. Es ist wegen Felix.« Felicitas hielt das Telefon hoch. »Er ist heute Nacht in München gelandet und kommt für zwei, drei Tage vorbei. Ich habe Tatjana zwar versprochen, heute auf Fynn aufzupassen. Trotzdem hätten wir am Abend eine kleine Familienfeier organisieren können.«

»Das geht leider nicht.« Daniel schüttelte den Kopf. »Und morgen Abend ist es auch schlecht. Da haben wir eine Schulung für das neue Röntgengerät.«

»Ich habe weder heute noch morgen Zeit. Bin für die Abendschicht an der Tankstelle eingeteilt«, erklärte Jan.

»Bei mir ist es auch schlecht. Ich habe eine Informationsveranstaltung von der Uni«, musste auch Dési dem Plan ihrer Mutter eine Absage erteilen.

»Warum sagt der Herr nicht ein bisschen früher Bescheid? Denkt er, die ganze Welt wartet nur auf ihn?« Annekas Frage war berechtigt.

»Ich denke, er weiß selbst nie so genau, wann er für welchen Flug eingeteilt wird.« Felicitas seufzte. »Auf jeden Fall wird er traurig sein, dass er euch nicht sieht.«

»Dann musst du uns eben würdig vertreten und das Familienfest vertagen.« Es nützte nichts. Daniel musste aufbrechen. Wenig später machte es ihm seine Familie nach und zerstreute sich in alle Himmelsrichtungen.

*

Zwanzig Minuten später betrat der Klinikchef die Quarantänestation. Eingehüllt in einen Overall, stand Schwester Elena am Bett und versorgte den Patienten. Dr. Weigand stand draußen vor der Scheibe und verfolgte die Bemühungen seiner Freundin und Kollegin.

Als er die Schritte hörte, warf er einen Blick über die Schulter. Dr. Norden trat neben ihn.

»Und? Wie geht es unserem Patienten?«, erkundigte er sich.

»Wie heißt es so schön? Den Umständen entsprechend.«

»Wisst ihr schon, was ihm fehlt?«

»Er ist gestern am späten Abend mit einer Maschine aus Mexiko gekommen. Aus einer Gegend, in der gerade der Grippevirus A/ H1N1 wütet. Noch haben wir keine Beweise. Aber der Verdacht liegt nahe, dass er sich angesteckt hat.«

»Schweinegrippe.« Daniel erinnerte sich gut an die letzte Pandemie, die damals als einfache Grippewelle in Südamerika begonnen und sich schnell über die ganze Welt ausgebreitet hatte. Das veränderte A-Virus H1N1 wies Teile des Erbguts von menschlichen, aber auch von Influenzaviren aus Schweinen und Vögeln auf. Daher der Name. »Kein sehr schönes Souvenir.«

»Du sagst es.«

»Habt ihr schon Kontaktpersonen ausfindig gemacht?«, erkundigte sich Dr. Norden.

»Eine Kollegin saß während des Flugs neben Herrn Budai. Die beiden sind als Archäologen an Ausgrabungen der Templo-Mayor-Anlage beteiligt.«

Die zweite Information interessierte den Klinikchef im Augenblick weniger.

»Wie heißt die Dame?«

Matthias zwinkerte Daniel zu.

»Das weiß ich nicht. Aber mach’ dir keine Hoffnungen. Der Kollege Aydin hat sich schon bereit erklärt, deine Assistentin bei der Suche zu unterstützen.«

»Schade«, erwiderte Daniel. Es war ihm anzusehen, dass er es nicht ernst meinte. »Na, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich auf den Weg zum Kongress zu machen. Bitte haltet mich auf dem Laufenden.« Er nickte den Kollegen zu und verließ das Zimmer und schließlich die Quarantänestation. Vor der Klinik wartete bereits der Kollege Axel Maurer auf ihn.

»Es geht ja schon wieder hoch her bei euch.« Während Axel auf eine Lücke im Verkehr wartete, deutete er auf den Notarztwagen, der mit Blaulicht in die Einfahrt zur Notaufnahme einbog. »Gut, dass ich dich jetzt entführe. Diese Verschnaufpause hast du dir redlich verdient.«

*

»So, mein Süßer. Wasch’ dir schon einmal die Hände! Gleich gibt es Mittagessen.«

Dieser Hinweis war eigentlich überflüssig. Die Fischstäbchen zischten in der Pfanne mit den Bratkartoffeln um die Wette. Nur der Salat stand stumm auf dem Tisch und wartete geduldig auf seinen großen Auftritt.

Fynn hatte seiner Oma Fee fleißig bei den Vorbereitungen geholfen. Jetzt kletterte er von seinem Schemel und watschelte Richtung Gästetoilette davon. Sein Windelpopo wackelte im Takt mit seinen Schritten.

»Fynni Ände wascht«, plapperte er vor sich hin.

Fee sah ihm lächelnd nach. In Gesellschaft ihres ersten Enkelkindes fühlte sie sich um Jahre zurückversetzt. In eine Zeit, in der sie eine junge Mutter gewesen war. Mehrere Leben schienen seitdem vergangen zu sein. Und obwohl sie ihren Beruf als Leiterin der Pädiatrie der Behnisch-Klinik über alles liebte, bedauerte sie es manchmal, nicht mehr Zeit mit Fynn zu verbringen, nicht öfter in den Erinnerungen schwelgen zu können.

Gedankenverloren wendete sie die Fischstäbchen und schaltete den Ofen aus. In das Zischen mischten sich Stimmen. Fee erschrak. Hatte sie etwa vergessen, die Tür abzuschließen?

»Nicht weglaufen, Fynn!«, rief sie auf dem Weg in den Flur. Ein paar Meter weiter blieb sie stehen. Unwillkürlich hielt sie die Luft an, so schön war das Bild vor ihren Augen. Ein junger Mann, die markanten Zügen halb verdeckt von einem gepflegten Bart, auf Knien vor dem Kind, das eine Pilotenmütze auf dem Kopf trug. Sie erwachte erst aus ihrer Erstarrung, als Fynn sich zu ihr umdrehte.

»Fynni Pilot Fuzleug fliegt«, plapperte der Kleine und hielt die Mütze mit beiden Händen fest, als fürchtete er, sie könnte ohne ihn davonfliegen.

Lachend sah Felix seinem Neffen dabei zu, wie er die Arme ausbreitete und mit Motorgeräuschen ins Esszimmer flog. Erst jetzt war Zeit für alles andere.

»Hallo, Mum.« Felix umarmte seine Mutter, blickte von oben auf sie hinab. »Bist du schon in dem Alter, in dem man wieder schrumpft?«

»Frechdachs!« Lachend versetzte Felicitas ihrem Zweitältesten einen Klaps. »Ich glaube eher, dass du in den vergangenen Monaten gewachsen bist. Wenn nicht an Körpergröße, so doch an Selbstbewusstsein.« Sie drückte ihn noch einmal an sich. War das wirklich der kleine Kerl, der die Schokoladenostereier entdeckt und schon vor Ostern verputzt hatte? Der über den Lenker des Fahrrads abgestiegen war und mit Krokodilstränen und blutendem Knie bei ihr Schutz und Trost gesucht hatte?

»Kann schon sein«, erwiderte Felix und schlenderte Arm in Arm mit seiner Mutter ins Esszimmer, wo Fynn noch immer brummend seine Kreise zog. »Stell dir vor: Ich habe meinen Termin für den Final Check bekommen. Viel früher als erwartet.«

»Final Check?« Fee komplimentierte Fynn auf den Kinderstuhl.

»Die letzte Prüfung auf dem Weg vom Copiloten zum Piloten.« Sein Husten mischte sich mit Fees Klatschen.

»Das ist ja großartig.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Gratuliere, Felix.«

»Danke, Mum. Aber wenn ich nicht langsam etwas zu essen bekomme, kommt es nicht mehr so weit. Dann bin ich nämlich verhungert.«

Felicitas vertrat ihm den Weg zum Herd.

»Setz’ dich! Zur Feier des Tages bekommst du dein Essen ausnahmsweise serviert. Aber nur heute!«, fügte sie hinzu und stellte die Pfanne auf den Tisch.

»Hmm, lecker. Fischstäbchen.«

Für den Griff in die Pfanne erntete er einen Klaps auf die Finger. »Du bist mir ein schönes Vorbild. Verteil’ lieber den Salat«, sprach Fee ein Machtwort.

Felix legte den Kopf schief und lächelte so unwiderstehlich, wie nur er es konnte.

»Ich dachte, ich werde heute bedient.«

»Jetzt weiß ich wieder, was mir gefehlt hat.« Wasser sprudelte in die Gläser. Während Felicitas trank, ließ sie ihren Sohn nicht aus den Augen. »Aber was ist mit dir? Du siehst müde aus.«

»Der Klassiker. Unter Stress funktioniert der Körper wie eine Maschine. Aber wehe, der Druck lässt nach, schon fahren die Systeme herunter.«

»Deinem Appetit scheint es zumindest nicht zu schaden.« Ein vielsagender Blick traf seinen Teller. »Nimm noch mehr Salat. Vitamine sind gesund. Dann bist du bald wieder fit.«

»Sehr gut. Sonst überstehe ich den Ansturm meiner Familie nicht.« Felix ließ sich sie Salatschüssel noch einmal füllen. »Wann sehen wir uns?«

»Heute und morgen jedenfalls nicht.« Fees Bedauern war aufrichtig. »Dein Besuch kommt ein bisschen überraschend.«

»Macht nichts.« Felix lehnte sich zurück und strich sich über den vollen Bauch. »Dann muss ich dich wenigstens nur mit dem kleinen Rowdy teilen.« Die Bezeichnung kam nicht von ungefähr. Rein optisch hatte Fynns Teller Ähnlichkeit mit einem Schlachtfeld voll unschuldiger Fischstäbchen. »Und den stecken wir jetzt gleich ins Bett.«

Eine Viertelstunde später war Felix mit Fynn im oberen Stockwerk verschwunden.

Sinnend sah Felicitas den beiden nach. Genoss das Plaudern und Plappern, das langsam verebbte. Schließlich war es still im Haus. Es sah alles danach aus, als wäre nicht nur der kleine Mann eingeschlafen.

*

»Der Radfahrer … Ich weiß nicht, wo er herkam. Aber plötzlich war er da. Mein Fahrer hatte keine Chance.« Die Frau lag auf der Liege. Sie sah aus, als hätte sie einen Boxkampf ausgefochten.

»Silje Johannson, 32 Jahre alt, sie saß auf der Rückbank des Taxis. Kreislauf und Blutdruck stabil. Innere Blutungen unwahrscheinlich. Verdacht auf Fraktur im rechten Knie«, informierte der Notarzt Dr. Erwin Huber den anwesenden Arzt.

Dr. Weigands Wangen leuchteten. Er hatte gefühlt zehn Kilometer Dauerlauf von der Quarantänestation bis hinunter in die Notaufnahme hinter sich.

Er keuchte einen Dank und nahm das Klemmbrett entgegen. Warf einen schnellen Blick auf die Informationen.

»Keine Angst, Frau Johannson. Wir kümmern uns um Sie. Jetzt geht es erst einmal in den Schockraum. Dort untersuchen wir Sie gründlich.« Schon wieder musste er laufen. Diesmal neben der Liege her. Kurz, ganz kurz nur erwischte sich Matthias bei dem Wunsch, ein Patient zu sein, bequem durch die Gegend geschoben zu werden, statt ständig auf den Beinen zu sein.

Auf den Fluren der Notaufnahme herrschte eilige Betriebsamkeit. Befehle übertönten das Piepen der Überwachungsgeräte. Dazwischen schnauften Beatmungsgeräte. In einer Ecke weinte eine Frau. Von anderen Angehörigen waren nur rastlose Schritte zu hören. Eine Schiebetür öffnete sich vor dem Krankentransport und schloss sich wieder. Mit einem Schlag verstummten die Geräusche. Dr. Weigand atmete auf. Endlich Ruhe.

»Bei dem Lärm da draußen kann man ja keinen klaren Gedanken fassen«, murmelte er und beugte sich über die Patientin. »Nicht erschrecken. Wir machen jetzt einen Ultraschall, um innere Verletzungen auszuschließen.«

Silje zuckte trotzdem zusammen, als er den Schallkopf mit dem kühlen Gel auf ihrem Bauch aufsetzte. Eine Weile herrschte konzentriertes Schweigen. Matthias’ Miene entspannte sich.

»Alles gut. Ich kann keine freien Flüssigkeiten entdecken.« Während er die Ergebnisse seiner Untersuchung auf einem Formular festhielt, wischte der Pfleger Sebastian mit einem Papiertuch das Gel von Silje Johannsons Haut. Er knüllte es zu einem Ball, zielte und versenkte ihn im Abfalleimer.

»Im nächsten Leben werde ich Basketballer, verdiene einen Haufen Geld und kaufe ein schönes Haus für Anneka und mich.«

Dr. Weigand hob noch nicht einmal den Kopf. Er begnügte sich damit, eine Augenbraue hochzuziehen.

»Bis es so weit ist, besorgst du mir einen Termin in der Radiologie. Frau …« Matthias hatte den Namen vergessen. Er suchte auf dem Formular des Notarztes danach. »Frau Johannson …« Irgendwie kam ihm dieser Name bekannt vor. Wo hatte er ihn nur schon einmal gehört? Es wollte ihm einfach nicht einfallen. »Ich brauche Aufnahmen vom rechten Kniegelenk der Patientin. Und Beeilung, wenn ich bitten darf.«

Die Schritte des Pflegers waren noch nicht auf dem Flur verhallt, als ein Piepen die Luft zerriss.

»Ja, Weigand.« Matthias lauschte in den Apparat. »Gut, ich komme.« Er entschuldigte sich bei Silje und machte sich auf den Weg.

Manchmal war es nicht gerade angenehm, ein derart begehrter Mann zu sein.

*

Im Garten flatterte die frisch gewaschene Wäsche auf der Leine. Drinnen erstrahlten die Holzböden in neuem Glanz. Kein Staubkörnchen lag mehr auf den Möbeln. Zeitungen und Zeitschriften warteten im Altpapierkorb darauf, entsorgt zu werden.

Nach getaner Arbeit stand Felicitas Norden auf der Terrasse und sah sich um. Bäume und Sträucher warfen lange Schatten. So hatte sie sich ihren freien Tag wahrlich nicht vorgestellt. Hausputz und Zeitung lesen, statt Spaß zu haben mit Fynn und Felix. Ein paar Mal war sie oben im Kinderzimmer gewesen, um nach dem Rechten zu sehen. Die beiden schliefen den Schlaf des Gerechten. Egal, wie laut der Staubsauger dröhnte. Als die nahe Kirchturmuhr fünf Mal schlug, traf sie eine Entscheidung.

Die Treppe ächzte unter ihren stampfenden Schritten. Irgendwie mussten die beiden doch wach zu bekommen sein. Sie rumpelte ins Zimmer. Tatsächlich schreckte Felix aus todesähnlichem Schlaf hoch.

»Wo bin ich? Was ist passiert?« Er saß kerzengerade im Bett und sah sich um.

»Du bist zu Hause und hast stundenlang wie ein Murmeltier geschlafen.«

Felix ließ sich zurück in die Kissen fallen.

»Und warum fühle ich mich dann, als hätte ich drei Tage durchgefeiert?«

»Ganz einfach. Ohne Wecker passiert es schnell, dass wir den richtigen Zeitpunkt zum Aufwachen verpassen und in tiefere Schlafphasen geraten. Außerdem spielt der Kreislauf eine Rolle. Langes Liegen senkt nämlich den Blutdruck.«

»Oh, wie habe ich das vermisst.«

Fee lachte.

»Na, wenigstens kannst du noch frech sein. Das ist ein gutes Zeichen.« Sie ging hinüber zum Kinderbett.

Das Gespräch hatte Fynn nicht gestört. Er schlief noch immer wie ein Engel. Oder vielmehr wie eine Putte. Mit Bäckchen, rund und rot wie zwei Äpfel. Eine böse Ahnung überkam Fee. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf die Kinderstirn.

»Du liebe Zeit, du bist ja das reinste Glühwürmchen.«

Sie packte Fynn an den Schultern und schüttelte ihn.

Er wollte einfach nicht aufwachen. Eine eiskalte Hand griff nach Fees Herz. »Ruf` den Krankenwagen, Felix! Schnell!«

*

»Hier können Sie es sehen.« Dr. Weigand zeigte seiner Patientin das Tablet. »Wir haben es mit einer lateralen Tibiakopfimpressionsfraktur zu tun.«

Silje starrte auf den Bildschirm.

»Aha.«

»Wir werden versuchen, die Gelenkfläche mit einer Schrauben- oder Plattenosteosynthese zu rekonstruieren.«

»Und was heißt das Ganze auf Deutsch?«

Dr. Weigand ärgerte sich über sich selbst. Ermahnte er nicht selbst seine Assistenzärzte immer, in einer verständlichen Sprache mit den Patienten zu sprechen?

»Tut mir leid.« Er räusperte sich. »Sehen Sie hier. Die Gelenkfläche Ihres Knies wurde bei dem Aufprall eingedrückt. Um einen Ausgleich zu schaffen, entnehmen wir Knochenmaterial aus Ihrem Becken und befestigen es mittels Schrauben und Platten an dieser Stelle.« Er umkreiste den Knochen, der grell vor dem dunklen Hintergrund herausstach.

Silje sah alles andere als glücklich aus.

»Da habe ich mich so darauf gefreut, endlich wieder nach Hause zu kommen und meinen Freund zu sehen. Und jetzt das.«

»Sehen Sie es positiv. In den nächsten Wochen können Sie sich guten Gewissens nach Strich und Faden verwöhnen lassen.« Dr. Weigand legte das Tablet zur Seite und griff nach der Einverständniserklärung. »Sollen wir Ihren Freund benachrichtigen?«

Silje sah auf die silberne Armbanduhr.

»Noch ist er in einer Besprechung mit einem Kurator. Aber Sie könnten ihm zumindest eine Nachricht hinterlassen.«

Matthias notierte die Telefonnummer, die sie ihm nannte.

»Gut. Dann können wir uns ja jetzt mit der Patientenaufklärung beschäftigen. Ich gehe davon aus, dass die Kollegin Lekutat Sie noch heute Abend operiert.«

»Je schneller, desto besser.« Ihre Stimme war noch nicht verhallt, als die Tür zum Behandlungszimmer aufgerissen wurde.

»Ah, hier stecken Sie also!«

Dr. Weigand fuhr herum und starrte den Verwaltungsdirektor an. Ungewöhnlich genug, dass er sich hier herumtrieb. Das war aber nicht der Grund, warum sich Matthias wunderte.

Dieter Fuchs zeichnete sich durch seine besondere Sparsamkeit aus, die gewöhnlich auch vor seinen Gefühlen nicht Halt machte. Umso mehr wunderte sich Dr. Weigand über diesen emotionalen Ausbruch.

»Wenn ich nicht irre, ist das hier die Ambulanz. Ich bin Chef hier. Wo sonst sollte ich also sein?«

»Zum Beispiel auf der Quarantänestation«, herrschte Fuchs. »Dort waren Sie heute nämlich schon.«

»Seit wann bin ich Ihnen Rechenschaft schuldig? Abgesehen davon befinde ich mich mitten in einem Patientengespräch. Wenn Sie bitte draußen warten wollen.«

Fuchs hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er presste die Lippen aufeinander. Schließlich machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Zimmer.

»Es tut mir leid«, wandte sich Dr. Weigand wieder an seine Patientin.

»Warum ist er denn so wütend?«

»Das werde ich später herausfinden. Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um die wirklich wichtigen Dinge.«

*

Natürlich hatte Felicitas Norden es sich nicht nehmen lassen, den Krankentransport zu begleiten. Höchstpersönlich bettete sie ihren Enkel auf die Untersuchungsliege. Schwester Elena beugte sich über Fynn.

»Sieh mal einer an. Du hast ja eine richtige Pilotenmütze dabei.«

»Fynni Fuzleug fliegt.« Mit beiden Händchen presste er die Mütze fest auf seinen Bauch.

Fee hielt ein Thermometer in den Gehörgang. Draußen waren Schritte zu hören. Sie näherten sich schnell. Fee wusste sofort, wer den Gang entlang eilte.

»Wann lernen diese Versager von Eltern endlich, dass die kleinen Rotznasen nicht den ganzen Tag im Planschbecken verbringen sollen?«

»Ein echter Lammers!« Felicitas schickte ihrer Freundin und Kollegin einen bedeutsamen Blick. Das Thermometer piepte. »Das ist übrigens mein Enkel Fynn«, sagte sie zu ihrem Stellvertreter.

»Lassen Sie mal sehen!« Er nahm ihr das Thermometer aus der Hand. »41,2 Grad. Ziemlich hoch. Wie haben Sie das denn hingekriegt? Den Balg in den Ofen geschoben?«

»Wenn Sie nur dumme Reden schwingen, übernehme ich die Behandlung selbst.«

»Was denn? Wer wird denn gleich so empfindlich sein?« Lammers schob Fee zur Seite und beugte sich über den Kleinen. »Weitere Symptome?«

»Im Wagen hat er gesagt, dass Kopf, Arme und Beine weh tun.«

»Klingt nach einer simplen Grippe. Also doch zu lange ­geplantscht«, knurrte Volker. »Schwester Elena nimmt dir jetzt Blut ab. Da kannst du dich bei deiner Oma bedanken. Die hat nicht richtig auf dich aufgepasst.«

Es fehlte nicht viel, und Felicitas wäre ihrem Stellvertreter an die Gurgel gegangen. Warum nur hatte sie ihn rufen lassen? Eigentlich kannte sie die Antwort. Ihr Mann Daniel schätzte es nicht, wenn Ärzte ihnen nahestehende Personen selbst behandelten. Zu groß war die Gefahr, sich bei der Behandlung von Gefühlen statt dem Verstand leiten zu lassen. Trotzdem bedauerte Fee ihren Entschluss in diesem Moment.

Elena schien die Gedanken ihrer Freundin lesen zu können.

»Keine Angst, mein Kleiner. Zusammen schaffen wir das. Versprochen. Das Spray hier«, sie hielt eine Sprühflasche hoch, »macht deine Haut ganz kalt. Danach spürst du den Pieks mit der Nadel gar nicht mehr. Achtung! Es geht los.«

Fynn bewunderte noch das Kältespray, als die mit Blut gefüllten Röhrchen schon in der Nierenschale landeten.

»Bringen Sie das ins Labor«, wies Dr. Lammers die Schwester an. »Den Bengel nehmen wir stationär auf. Die übliche Medikation in solchen Fällen. In ein, zwei Tagen ist er wieder fit. Sonst noch was? Nein? Gut.« Er drehte sich um und marschierte aus dem Zimmer. Sein Kittel wehte hinter ihm her wie eine Fahne.

Felicitas und Elena sahen sich an. Jeder weitere Kommentar war überflüssig.

*

Dieter Fuchs hasste jede Art von Verschwendung. Dazu gehörte auch Zeit. Doch an diesem Abend hatte er keine Wahl. Wohl oder übel musste er warten, bis Dr. Weigand das Behandlungszimmer verließ. Endlich öffnete sich die Tür. Mit einem Satz stand der Verwaltungsdirektor bereit.

»Stimmt es, dass wir einen Fall von Schweinegrippe in der Klinik haben?«

Matthias Weigand blieb kurz stehen.

»Warum fragen Sie? Wenn Sie auf der Quarantänestation waren, wissen Sie doch Bescheid.« Er nickte Dieter Fuchs zu und machte sich auf den Weg in sein Büro. Für ihn war der Fall abgeschlossen.

Der Verwaltungsdirektor heftete sich an seine Fersen.

»Und warum haben Sie mich nicht informiert?«

Matthias stieß eine Glastür auf.

»Weil ich selbst nicht viel über den Fall weiß. Die Kollegin Maurer hat den Patienten heute Nacht aufgenommen.«

Fuchs schlüpfte durch die zufallende Tür.

»Aber wir müssen nach Kontaktpersonen suchen.«

»Mit dieser Aufgabe sind der Kollege Aydin und Frau Sander betraut. Wenn Sie nähere Informationen brauchen, setzen Sie sich bitte mit ihnen in Verbindung.« Vor seinem Büro blieb Matthias Weigand stehen. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich habe zu tun. Und Zeit ist schließlich Geld. Nicht wahr?« Er deutete eine Verbeugung an.

Dem Verwaltungsdirektor blieb nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu Milan Aydin zu machen. Er fand den Neurologen im Aufenthaltsraum der Ärzte. Seine Stimme hallte hinaus auf den Flur. Fuchs spähte durch den Spalt in der Tür und hielt die Luft an. Aydins Rollstuhl war umringt von einer Schar Schwestern.

»Als du geboren wurdest, weinte der Himmel, weil er seinen schönsten Stern verlor.«

Die Schwestern brachen in prustendes Gelächter aus.

»Manchmal frage ich mich, wie es dir gelingt, eine Frau nach der andere rumzukriegen. Bei diesen blöden Sprüchen«, bemerkte Schwester Astrid und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

Statt beleidigt zu sein, lachte Milan mit ihnen.

»Deshalb frage ich euch doch.« Er strich den Satz auf der Liste in seiner Hand aus. »Aber ich habe noch mehr Auswahl. Was haltet ihr von diesem hier?«

Er holte Luft, als Fuchs die Tür aufstieß.

Beim Anblick des Verwaltungsdirektors stieben die Schwestern auseinander wie eine Schar Hühner. Plötzlich hatte jede eine unaufschiebbare Aufgabe zu erledigen. Der Aufenthaltsraum leerte sich in Windeseile.

»Ich denke, Sie kümmern sich um die Schweinepest!«, zischte Fuchs. »Stattdessen machen Sie sich hier zum Affen.«

»Falsch!« Dr. Aydin fasste an die Greifräder und fuhr auf den Verwaltungsdirektor zu. »Im Gegensatz zu Ihnen bringe ich die Menschen zum Lachen, lerne nebenbei noch etwas und sorge so dafür, dass die Welt ein etwas besserer Ort wird.«

Fuchs bebte am ganzen Körper.

»Ihr Lachen wird Ihnen schon noch vergehen«, drohte er. »Haben Sie die Kontaktpersonen des Schweinegrippen-Patienten ausfindig gemacht? Wenn nicht, können Sie sich einer Abmahnung sicher sein.«

Entspannt lehnte sich Milan im Rollstuhl zurück.

»Erstens kann ich nach achtzehnstündigem Dienst in meiner Pause machen, was ich will. Und zweitens habe ich mit der Fluggesellschaft telefoniert, mit der der Patient nach Deutschland gekommen ist. Die Dame am Telefon – reizend übrigens – hat versprochen, sich mit sämtlichen Passagieren des Flugs in Verbindung zu setzen und sie über das Risiko aufzuklären. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an Nordens Assistentin Andrea Sander.«

Er schenkte dem Verwaltungsdirektor ein strahlendes Lächeln, ehe er an ihm vorbei aus dem Zimmer fuhr. Dieter Fuchs starrte ihm nach. Er wusste nicht, worüber er sich mehr ärgerte: über diese Antwort oder über die verschwendete Zeit.

*

Dienste mit einer Dauer von 36 oder 48 Stunden waren auch in der Behnisch-Klinik an der Tagesordnung. Um sich den Patienten trotzdem noch mit aller Sorgfalt und Aufmerksamkeit widmen zu können, waren Ruhepausen unerlässlich. Nach dem wohlverdienten Kaffee im Klinikkiosk machte sich Dr. Weigand auf den Rückweg in die Notaufnahme.

»Was machst du denn hier?«, fragte er seine Freundin und Kollegin Fee Norden, die ihm auf dem Flur entgegenkam. »Ich dachte, du hast heute Oma-Tag, während sich dein Mann auf dem Kongress herumtreibt.«

»Fynn liegt auf der Kinderstation. Vermutlich ein viraler Infekt.« Fee klang, als schwebte ihr Enkel in Lebensgefahr.

Matthias hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Die erfahrene Chefärztin, die tagtäglich mit Unfällen, Autoimmunerkrankungen, Krebs und dergleichen zu tun hatte, schickte ihren Enkelsohn mit einem Infekt in die Klinik?

»Das tut mir ja wirklich leid. Aber ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Er hat über 41 Grad Fieber.«

Das änderte die Sachlage natürlich.

»Wissen die Eltern schon Bescheid?«

»Noch nicht. Aber viel länger werde ich es nicht für mich behalten können.« Felicitas sah auf die Uhr über der Tür. »In zwei Stunden kommen Tatjana und Danny bei uns vorbei, um Fynn abzuholen.«

Der Flur gabelte sich. Matthias blieb stehen. Fee musste nach rechts, er nach links abbiegen. Sie bemerkte einen Schatten im Augenwinkel und trat beiseite, um den Weg frei zu machen.

Doch Volker Lammers dachte nicht daran, weiterzugehen. Er blieb vor ihr stehen und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich möchte mal wissen, was Sie mit dem Schreihals angestellt haben. Bis jetzt ist das Fieber kaum gesunken.«

Plötzlich hatte Fee es eilig.

»Ich gehe noch einmal zu ihm.«

»Das ist mein Fall!«, rief Lammers ihr nach.

»Keine Angst, ich mische mich schon nicht in Ihre Therapie ein«, rief sie über die Schulter und verschwand um die Ecke.

Lammers und Weigand blieben allein zurück.

»Verzogener Fratz. Hat sogar eine echte Pilotenmütze dabei. Als ob so ein Spielzeugteil nicht ausreichen würde.«

Matthias sah den Kollegen verwundert an.

»Die Mütze gehört bestimmt dem zweitältesten Sohn der Nordens. Felix, er ist Pilot und meines Wissens gestern am späten Abend aus Südamerika gekommen.«

Natürlich wusste Volker Lammers, wer Felix Norden war. Gern erinnere er sich allerdings nicht an ihre Bekanntschaft.

»Ist er nicht schon mal abgestürzt? Die armen Passagiere.« Volker grinste breit.

Doch Weigand hörte ihm gar nicht zu. Ein anderer Gedanke war ihm in den Kopf geschossen. Ein schrecklicher Gedanke. Unvermittelt packte er den Kollegen am Arm.

»Meine Güte!«, echauffierte sich Lammers. »Seit wann so empfindlich. Man wird doch wohl noch einen kleinen Scherz machen dürfen.«

»Südamerika …«, presste Matthias durch die Lippen. »Unser Quarantäne-Patient. Der kam auch aus Mexiko. Gestern am späten Abend.«

Dr. Lammers Mundwinkel wanderten nach unten.

»Welche Diagnose?«

»H1N1.«

»Schweinegrippe«, murmelte der Kinderarzt, wandte sich ab und lief los.

*

Mit einem Schlag tauchte Silja Johannson aus den Tiefen ihres Bewusstseins hoch an die Oberfläche. Als hätte jemand den Ton angedreht, hörte sie wieder die Geräusche im Zimmer. Das Piepen des Monitors. Schritte und leise Stimmen. Ihre Augen brauchten etwas länger, bis sie sich wieder an das Licht gewöhnten. Erst nach und nach wurde die Welt um sie herum klarer. Eine Schwester trat ans Bett und drehte am roten Rädchen der Infusion.

»Wo …« Warum kratzte ihr Hals nur so? Silje räusperte sich. »Wo ist mein Handy? Ich … ich muss meinen Freund anrufen.«

Schwester Camilla lächelte.

»Er war die ganze Zeit da und ist nur kurz in den Kiosk gegangen, um einen Happen zu essen. Wissen Sie das nicht mehr? Er saß die ganze Zeit an Ihrem Bett. Sie haben sich sogar unterhalten.« Camilla notierte die Werte des Geräteturms im Krankenblatt.

»Wirklich?«

»Warum sollte ich lügen?«

»Entschuldigung.«

»Schon gut.« Camilla lächelte. Hier hatte sie nichts mehr zu tun. Trotzdem blieb sie am Bett stehen. »Wie fühlen Sie sich?«

Silje lauschte in sich hinein.

»Ich weiß nicht genau.«

»Ich habe gehört, dass Sie als Archäologin arbeiten.«

»Stimmt. Zur Zeit sind wir in Mexiko-Stadt.« Siljes Augen begannen zu glänzen. »Am Templo Mayor. Er war der größte und wichtigste Tempel der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán, des heutigen Mexiko-Stadt.«

»Ich habe es leider nur bis Pompej geschafft. Sie wissen schon, die Stadt bei Neapel, die 79 vor Christus vom Ascheregen des Vesuvs begraben wurde.«

»Da habe ich auch schon gearbeitet.« Silje nickte versonnen. »Hoffentlich wird mein Knie wieder gut. Wenn ich nicht mehr arbeiten kann … Außerdem wollen Niko und ich in zwei Wochen heiraten. Deshalb bin ich zurückgekommen.« Ihr Atem ging schneller. Sie hustete.

»Frau Johannson?« Schwester Camilla beugte sich über die Patientin. Sie legte die Hand auf ihre Stirn. Feucht und heiß fühlte sie sich an. »Ist alles gut?«

»Ich weiß nicht«, keuchte Silje. »Mir ist auf einmal so kalt.«

Camilla warf einen Blick auf die Geräte.

»Sie haben Fieber.« Sie zog die Decke hoch und steckte sie unter dem Kinn der Patientin fest. »Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen. Ich hole inzwischen einen Arzt.«

*

In ihrer Eigenschaft als Pflegedienstleitung saß Schwester Elena am Computer in ihrem Büro und erfasste die geplanten Patientenaufnahmen und -entlassungen für den kommenden Tag. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie nicht hörte, wie Dr. Lammers hereinkam.

»Ich brauche Sie!«

Elena zuckte zusammen. Presste die Hand aufs Herz und starrte Volker mit weit aufgerissenen Augen an.

»Können Sie nicht anklopfen wie jeder andere normale Mensch auch?«

»Stellen Sie sich nicht so an! Was ist jetzt? Helfen Sie mir oder nicht?«

Elena atmete ein paar Mal tief ein und aus, bis sich ihr wild schlagendes Herz beruhigt hatte.

»Worum geht es?«

»Machen Sie einen Abstrich bei dem kleinen Norden. Außerdem brauche ich noch eine Blutprobe.« Er wandte sich ab und wollte das Zimmer wieder verlassen, als ihm noch etwas einfiel. »Und sehen Sie zu, dass die Norden nicht im Zimmer ist. Sonst haben Sie auch noch eine Wiederbelebung am Hals.«

Jeden anderen hätte Elena für so eine Bemerkung ausgelacht. Bei Volker Lammers gruselte sie sich.

»Ich verstehe nicht …«

»Das wundert mich nicht. Deshalb sind Sie ja Schwester und kein Arzt.« Er meinte es ernst. »Das Blut muss ins Institut für Mikrobiologie. Oder verstehen Sie das auch nicht?«

Elena war zu erschrocken, um sich gegen diesen Ton, diese Wortwahl zu wehren.

»Was stimmt nicht mit Fynn?«, fragte sie atemlos.

Lammers verdrehte die Augen gen Himmel.

»Sie sind doch mit diesem penetranten Volk befreundet, oder? Dann sollten Sie wissen, dass Felix Bruchpilot aus Mexiko zurückgekommen ist. Mit demselben Flug wie unser Quarantänepatient.«

»Die Schweinegrippe«, hauchte Elena.

»Jetzt schauen Sie doch nicht wie eine Meise, wenn es blitzt.«

»Schwalbe.«

»Wie bitte?« Lammers sah sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank.

»Es heißt Schwalbe. Wie eine Schwalbe, wenn es blitzt.«

»Meinetwegen«, brummte Lammers. »Im Augenblick ist es nicht mehr als ein Verdacht. Kein Wort zu niemandem. Haben wir uns verstanden?«

Elena nickte stumm. Sie hätte sowieso nicht gewusst, was sie dazu sagen sollte.

*

»Die Leukos sind erhöht, aber ansonsten ist das Blutbild unauffällig«, erklärte Dr. Weigand auf dem Weg zu der Patientin. »Keine Ahnung, warum es ihr auf einmal so schlecht geht.«

Die Chirurgin Christine Lekutat war bei ihm.

»Ich würde ja nichts sagen, wenn ich ihr aus Versehen das Bein abgenomen hätte.« Ihr Lachen erinnerte an das Grunzen eines Schweins.

Matthias schickte einen Blick in den Himmel. So kompetent die Kollegin auch war, so schwer war manchmal ihr seltsamer Sinn für Humor zu ertragen. Er konzentrierte sich wieder auf das Klemmbrett mit den Notizen in seiner Hand.

»Keine Rötung, keine Schwellung. Die Wunde sieht auch ganz gut aus.«

»Trotzdem stimmt was nicht.« Christine hielt ihm eine Tüte Gummibärchen hin. Er schüttelte den Kopf. »Sonst hätte sie ja wohl kein Fieber.« Sie warf sich eine Handvoll Bären in den Mund.

Matthias wunderte sich, dass sie noch nicht an Diabetes litt angesichts der Zuckermengen, die sie in sich hinein stopfte.

Zum Glück war das nicht sein Problem. Die Sorgen um seine Patienten genügten ihm.

»Wir erweitern auf jeden Fall die Antibiotikatherapie und schließen die Pseudomonadenlücke.«

Christine betrachtete die nächste Ladung Gummibärchen in ihrer Hand.

»Pseudomonaden.« Sie verzog das Gesicht. »Können Sie sich vorstellen, dass sich diese Bakterien quasi überall tummeln? Sogar auf diesen unschuldigen Gummibären?«

»In diesem Fall sollten Sie vielleicht darauf verzichten.«

Für diesen Rat erntete er belustigtes Lachen.

»Sie machen wirklich gute Witze, Kollege Weigand.« Christine ließ die Süßigkeiten im Mund verschwinden. »Und jetzt geben Sie schon her! Ich übernehme das. Ist ja schließlich meine Patientin.« Sprach’s und verschwand mit dem Klemmbrett in Silje Johannsons Zimmer.

*

Der Mann hatte den Kopf auf die Arme am Bettrand gelegt und schlief. Ein Schnauben weckte ihn.

»Was machen Sie denn um diese Uhrzeit noch hier?«

Nico Arzfeldt rieb sich die Augen.

»Ich will einfach bei Silje sein. Wir haben uns so lange nicht gesehen.« Er richtete sich auf und lockerte die Schultern. Legte den Kopf nach links und rechts.

»Haben Sie Urlaub gemacht?« Christine hatte die Bettdecke zurückgezogen und begutachtete die Operationswunde. Keine Schwellung, wie Weigand gesagt hatte.

»Silje ist beruflich viel unterwegs.«

»Warum fahren Sie nicht mit ihr?«, fragte die Lekutat, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.

»Wie stellen Sie sich das vor? Ich arbeite als Ägyptologe am Ägyptischen Museum in München. Außerdem halte ich Vorlesungen an der Universität. Da kann ich nicht einfach monatelang nach Südamerika verschwinden. Mal abgesehen davon, dass ich dort keine Beschäftigung hätte.« Niko sah der Ärztin dabei zu, wie sie sich mühte, einen weiteren Beutel an den Infusionsständer zu hängen. Ein schwieriges Unterfangen, klein und beleibt, wie sie war. Er haderte mit sich. War es verletzend, seine Hilfe anzubieten? »Wissen Sie schon, was meiner Frau fehlt?«

»Moment.« Christine hatte es auch allein geschafft. Sie ließ die Arme fallen. Auf ihrer Stirn glänzten feine Schweißperlen. »Sie lügen. Sie sind nicht verheiratet.«

Statt beschämt die Augen zu senken, lächelte Niko.

»Wir heiraten in zwei Wochen. Sie können also Gnade vor Recht ergehen lassen und mir sagen, was Silje fehlt.«

»Selbst wenn wir es wüssten, dürfte ich es Ihnen trotzdem nicht sagen. Geplante Hochzeit hin oder her.« Sie stöpselte die Infusion an Siljes Zugang am Arm an. Die Patientin hustete im Schlaf. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Herzblatt hat eine anstrengende Operation hinter sich. Da ist Fieber nichts Ungewöhnliches.«

»Und der Husten?«

Die Lekutat verdrehte die Augen. Fast trotzig griff sie nach dem Stethoskop und schob das Kliniknachthemd hoch.

Niko beobachtete jeden ihrer Handgriffe.

»Die Lunge ist frei«, erklärte sie kurz darauf.

»Ein Glück.«

Christine Lekutat musterte Niko Arzfeld eingehend.

»Sie sollten sich ausruhen. Wenn Sie bei der Hochzeit so aussehen wie jetzt, heiratet Ihre Freundin Sie womöglich nicht.«

»So schlimm?« Niko lachte. Mit einem Blick auf die schlafende Silje stand er auf. »Also gut. Aber Sie sagen mir Bescheid, falls sich an ihrem Zustand etwas ändern sollte, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Christine und schob ihn kurzerhand zur Tür hinaus.

*

Volker Lammers saß am Schreibtisch in seinem Büro und starrte auf die E-Mail, die gerade vom mikrobiologischen Institut eingetroffen war.

Die Tür stand halb offen. Dr. Weigand trat ein.

»Und? Schon was Neues?«

Lammers zuckte zusammen.

»Können Sie nicht anklopfen wie jeder andere normale Mensch auch?«

Ausgerechnet Lammers, der jeden menschlichen Anstand vermissen ließ! Der sich einen Spaß daraus machte, seine Mitmenschen zu düpieren, wann immer sich die Gelegenheit bot.

»Die Tür stand offen«, brachte Matthias zu seiner Verteidigung vor. »Gibt es schon etwas Neues wegen Fynn?«

Volker drehte den Monitor.

»Lesen Sie selbst!«

Dr. Weigand sah ihn fragend an, ehe er sich in die Nachricht vertiefte.

»Verdammt! Genau das, was ich befürchtet habe.« Er richtete sich auf. »Kommen Sie! Wir müssen Fee Bescheid sagen.«

Felicitas hörte die Schritte schon von Weitem.

Sie saß am Bett ihres Enkels und betupfte seine glühende Stirn mit einem feuchten Tuch. Die Haut an ihren Händen war aufgequollen. Mit geschlossenen Augen warf Fynn den Kopf hin und her. Murmelte unverständliche Worte im Fiebertraum. Als die Tür aufgerissen wurde, hob Fee den Kopf. Sah Lammers und Weigand an, die das Zimmer betreten hatten. Der Kummer hatte ihre Augen dunkel gefärbt.

»Die Temperatur ist unverändert hoch. Kein einziges der Virostatika hat bisher angeschlagen. Wenn ich nur wüsste, was das für ein Virus ist.«

Matthias suchte nach den passenden Worten, um Felicitas die furchtbare Neuigkeit so schonend wie möglich beizubringen.

Doch Lammers kam ihm zuvor.

»Schweinegrippe.«

Fees Pupillen weiteten sich.

»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»Ich habe Proben ins Institut für Mikrobiologie schicken lassen. Es gibt keinen Zweifel.«

»Ich verstehe nicht.« Das konnte nicht wahr sein! Wahrscheinlich fantasierte sie schon vor Sorge. Sie zwickte sich in den Arm. Nichts geschah. »Aber wo sollte er sich damit angesteckt haben?«

Matthias’ Herz war schwer. Er wollte gar nicht daran denken, wie er sich – Stiefvater einer kleinen Tochter – in dieser Situation fühlen würde.

»Ich tippe auf Felix.«

»Wieso Felix?« Fee legte den Kopf schief. Eine blonde Strähne fiel ihr ins Gesicht. Geistesabwesend schob sie sie zurück. »Er ist gesund.«

»Wir haben einen Patienten mit Schweinegrippe auf der Quarantänestation. Er kam gestern Abend mit derselben Maschine aus Mexico wie Felix. Hat er denn noch keinen Anruf bekommen von seiner Fluggesellschaft? Die wollten sich darum kümmern, die Passagiere zu informieren.«

Fees Kehle war trocken geworden.

»Ich … ich weiß nicht.« Sie nestelte das Handy aus der Tasche der Strickjacke. Im Telefonbuch klickte sie auf den Namen ihres Sohnes. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf Antwort.

»Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal«, sagte eine elektronische Stimme.

»Das Telefon ist aus.« Felicitas legte auf und wählte die Nummer von Zuhause. Diesmal hatte sie Glück. Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Felix hat vergessen, das Telefon zu laden«, erwiderte sie tonlos. »Er steckt es an und meldet sich, sobald er mehr weiß.«

Lammers trat vor. Genug geplaudert!

»Gut. Inzwischen verlegen wir die kleine Rotznase auf die Quarantänestation.«

Felicitas war wie versteinert. Sie konnte sich noch nicht einmal über diese Bezeichnung aufregen. Die Gedanken in ihrem Kopf fuhren Karussell. Einen davon bekam sie zu fassen.

»Tatjana, Danny, ich muss zu Ihnen und ihnen die Wahrheit sagen.«

»Ausgeschlossen!«, meldet sich Matthias zu Wort. »Du bist potenzielle Trägerin des Virus. Zuerst müssen wir dich testen. Bis dahin bist du am besten bei Fynn aufgehoben.«

Konnte es noch schlimmer kommen?

»Gut. Aber ich muss sie wenigstens anrufen.«

»Tu das. Im Anschluss daran werden wir dich und Felix testen«, fuhr Matthias fort, während sich Lammers mit Mundschutz und Spezialkleidung um den kleinen Patienten kümmerte. »Hatte sonst noch jemand aus eurer Familie Kontakt mit Felix?«

Um ein Haar hätte Fee gelächelt. Der Umstand, der sie so traurig gemacht hatte, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall.

»Zum Glück nicht. Sie sind alle unterwegs.«

»Gut. Sie müssen informiert werden und sollten das Haus nicht betreten. Wie du weißt, verbreitet sich das Virus schnell von Mensch zu Mensch, beispielsweise bei nahem Körperkontakt und in geschlossenen Räumen.« Matthias sprach streng. »Außerdem sind kleine Kinder stärker ansteckend, da sie mehr Viren für eine längere Zeit ausscheiden können als Erwachsene.«

Fee nickte mehrmals hintereinander. Natürlich wusste sie das alles! Nur eines war ihr nicht klar.

»Warum so schnell? Obwohl Felix keine Symptome hat.«

»Möglich, dass Fynns Immunsystem schon vorher geschwächt war«, gab Dr. Weigand zu bedenken. »Und dass Felix keine oder kaum Symptome zeigt, kann durchaus vorkommen.« Er legte die Hand auf die Schulter seiner Freundin. »Nicht verzweifeln, Fee. Du bist nicht allein.«

Er wusste selbst, wie schwach dieser Trost war.

*

Ein paar Minuten später war Felicitas Norden allein im Zimmer. Für den Weg zur Isolierstation hatte eine Schwester Mundschutz und sterile Kleidung bereit gelegt. Aber Fee war noch nicht bereit. Die schwierigste Aufgabe lag noch vor ihr. Sie starrte das Mobiltelefon in ihrer Hand an. Tatjanas Konterfei auf dem Display lachte sie an. Fee musste das Foto nur antippen, und das Gerät würde eine Verbindung aufbauen. Ihr rechter Zeigefinger schwebte über dem Handy. Sie schloss die Augen, holte tief Lufs und berührte den Bildschirm.

»Tatjana?«

»Fee, es tut mir leid, dass es später geworden ist.« Tatjanas muntere Stimme schnitt in Fees Herz. »Aber du weißt ja, wie das so ist, mit einem Arzt verheiratet zu sein. Bei Danny ist es mal wieder später geworden. Er hat versprochen, in ein paar Minuten hier zu sein.«

Felicitas schluckte.

»Deshalb rufe ich an. Ihr dürft nicht zu uns kommen.« Sie konnte vor sich sehen, wie ihre Schwiegertochter stutzte.

»Stimmt was nicht?«

»Fynn …« Fee räusperte sich. »Er hat sich bei Felix mit der Schweinegrippe angesteckt. Aber keine Sorge, wir haben alles im Griff.« Keine Sorge? Was für ein Hohn! Aber was hätte sie sonst sagen sollen? »Ihr könnt nur nicht zu ihm. Die Gefahr, dass ihr euch auch ansteckt, ist viel zu groß.«

»Was redest du denn da?« Tatjanas Stimme klingelte in Fees Ohren. »Ich kann euch doch nicht allein lassen. Ich sage Danny, dass er mich in die Klinik bringen soll.«

»Auf gar keinen Fall. Tatjana, hör mir zu! Kein Mensch hat etwas davon, wenn ihr euch auch noch ansteckt. Ich bleibe bei ihm. Genau wie der Kollege Lammers. Fynn wird von den besten Ärzten versorgt. Wir bringen ihn durch, das verspreche ich dir. Ich melde mich wieder.« Ohne ein Wort des Abschieds legte Felicitas auf. Es war ihr schleierhaft, wie sie das alles überstehen sollte. Sie hatte schon jetzt keine Kraft mehr.

*

Auch die längste Nacht hatte einmal ein Ende. Die Sonne kletterte über den Horizont und tauchte die Stadt in ein mildes Licht. Wie eine Insel der Ruhe lag die Klinik inmitten des Verkehrs, der selbst um diese frühe Uhrzeit schon pulsierte. Langsam begann es auch im Bauch des imposanten Gebäudes zu rumoren. Die gedimmten Lampen in den Fluren schalteten in den Tagesmodus. Turnschuhe und Gummiclogs bevölkerten die Gänge, lange bevor sich Pumps, Sandalen und Flipflops dazu gesellten. »Guten Morgen, die Herrschaften«, begrüßte Dr. Matthias Weigand die Kollegen zur Morgenbesprechung. Für die Dauer des Kongresses hatte Dr. Norden ihm die Leitung der Klinik übertragen. »Angenehme Nachtruhe gehabt?« Er setzte sich auf die Schreibtischkante und warf einen Blick in die Runde.

Wie die Hühner auf der Leiter saßen die Kollegen nebeneinander auf der Couch. Nur Milan Aydin hatte es vorgezogen, im Rollstuhl sitzen zu bleiben. Eine Dose mit selbstgebackenen Keksen machte die Runde.

»Schön wär’s! Aydin hat geschnarcht wie ein altes Walross«, beschwerte sich Christine Lekutat und nahm gleich zwei Plätzchen. »Kein Wunder, dass er einen so großen Frauenverschleiß hat.«

Matthias sah von den Unterlagen in seinen Händen hoch. Er zog eine Augenbraue hoch.

»Ich verstehe nicht. Die Bereitschaftsräume sind nach Geschlechtern getrennt.«

»Vielleicht hatte sie Sehnsucht nach dem Kollegen«, bemerkte Pfleger Sascha vorlaut.

Seine Kollegin Camilla kicherte.

»So weit kommt es noch«, schnaubte die Lekutat. »Die Wände sind dünn wie Karton.«

Allgemeines Gelächter.

»Wenn wir das jetzt geklärt hätten, können wir uns den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden«, beschloss Dr. Weigand und sah hinunter auf die Patientenakten in seinen Händen.

»Silje Johannsen. Trotz Erweiterung der Antibiose zeigt die Patientin weiterhin einen Temperaturanstieg und steigende Retentionswerte. Irgendwelche Ideen?«

Dr. Aydin zuckte mit den Schultern.

»Klingt nach multiresistentem Problemkeim.«

»Die intraoperativen Abstriche waren negativ«, erwiderte Christine Lekutat.«

»Wie wäre es mit einer Endokarditis?«, schlug Sascha vor, der ein Medizinstudium absolvierte, das er mit dem Pflegergehalt der Behnisch-Klinik finanzierte. »Vielleicht haben wir es auch mit einer HIV-Infektion zu tun.«

Dr. Weigand wiegte den Kopf.

»Wenn Frau Johannson demnächst eine Gelbsucht entwickelt, könnten wir es auch mit Gelbfieber oder einer Hepatitis A bis C zu tun haben«, dachte er laut nach.

»Das glaube ich nicht. In Mexiko gibt es kein Gelbfieber«, entfuhr es Schwester Camilla.

Matthias zuckte zusammen. Schon wieder Südamerika!

»Wieso Mexiko?«, fragte er.

»Frau Johannson arbeitet als Archäologin im Templo Mayor in Mexiko-Stadt.« Camillas Augen leuchteten. »Sie ist nur wegen ihrer Hochzeit zurückgekommen.« Sie legte die Hände aneinander und lächelte selig. »Das ist so romantisch.«

Dr. Weigand rutschte von der Tischkante.

»Ich wüsste nicht, was an A/H1N1 romantisch sein sollte.«

»Schweinegrippe?«, hauchte Camilla. Schlagartig war das Blut aus ihren Wangen gewichen.

»Wie unser Quarantäne-Patient?«, hakte Milan Aydin nach. »Aber das wüssten wir doch inzwischen. Die Fluggesellschaft hat versprochen, sämtliche Passagiere zu informieren.«

»Offenbar ist ihnen das nicht gelungen.« Matthias wanderte vor dem Schreibtisch auf und ab. Ein ganzes Meer an Falten krauste seine Stirn. Was war jetzt zu tun? »Kollegin Lekutat, Sie nehmen der Patientin Blut ab und schicken es ans mikrobiologische Institut. Wer hatte außer mir Kontakt zu Frau Johannson? Schwester Camilla!«

»Und ich natürlich«, meldete sich Christine zu Wort.

»Ich nicht.« Aydin grinste und erntete einen vernichtenden Blick seiner Kollegin.

»Es grenzt an ein Wunder, dass Sie sich zurückgehalten haben.«

»Nur kein Neid.«

»Neidisch? Auf eine Frau, die Sie flachlegen wollen?« Die Lekutat lachte. »Träumen Sie weiter.«

Ein Blick von Dr. Weigand beendete diese unsinnige Diskussion.

»Sascha, du hattest vermutlich auch keinen Kontakt, oder?«

Der Pfleger verneinte.

»Gut. Schwester Camilla, Kollegin Lekutat, Sie gehen zu unserer Patientin.« Matthias Weigand hatte eine Entscheidung getroffen. »Bis ein Ergebnis vorliegt, verlassen Sie das Zimmer nicht.« Dasselbe galt für ihn. Solange er nicht sicher sein konnte, gesund zu sein, würde er weder seine Verlobte noch sein Stiefkind wiedersehen.

*

Mucksmäuschenstill lag Felicitas Norden im Bett und blinzelte ins fahle Licht des Morgens. Sie war erst vor ein paar Minuten erwacht und wusste nicht, wo sie war. Erst, als ihr Blick auf das Kind im Bett nebenan fiel, schoss ihr die Wahrheit ins Bewusstsein.

»Fynn, mein Kleiner.« Die Maske vor ihrem Mund blähte sich, als sie sich über ihn beugte. »Wie geht es dir?«

Eigentlich erübrigte sich diese Frage. Seine Wangen waren knallrot vom Fieber. Die Augen glänzten wie zwei Glaskugeln.

»Fynni Mütse baucht. Fynni Fuzleug fliegt«, murmelte er.

Nicht weinen! Nicht weinen! Nicht weinen!, wiederholte Felicitas im Geiste immer und immer wieder. Tränen waren das Letzte, was der Kleine jetzt brauchen konnte.

»Ich gehe deine Mütze suchen, ja? Hab’ keine Angst. Ich bin gleich zurück.« Fee schickte ihrem Enkel eine Kusshand, ehe sie aus dem Zimmer schlüpfte.

Ein Fan von Science-Fiction-Filmen wäre auf der Quarantänestation der Behnisch-Klinik auf seine Kosten gekommen. Dieser Ort hatte etwas von einer Raumfahrtkapsel. Überall begegnete sie Menschen in sterilen Overalls, Mund- und Augenschutz im Gesicht. Wahrscheinlich sah sie selbst nicht viel besser aus.

»Guten Morgen, Frau Dr. Norden«, wurde sie von einem der Astronauten begrüßt. Wenn sie nur gewusst hätte, wer sich hinter der Verkleidung verbarg. Doch bevor sie auf die Idee kam nachzufragen, war er schon hinter einer Tür verschwunden.

Fee wanderte weiter.

»Was machen Sie denn schon wieder hier?«

Diese Stimme erkannte sie sofort.

»Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Kollege Lammers.« Die Haut um ihre Augen kräuselte sich. Aber nur kurz. »Gibt es schon irgendwelche Ergebnisse von meinen Blutproben?«

»Wir warten darauf.« Lammers setzte seinen Weg fort.

Fee heftete sich an seine Fersen.

»Und was ist mit Fynn? Wie geht es ihm?«

Volker Lammers blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre. Er drehte sich zu seiner Chefin um und musterte sie von oben herab. Was für ein erhebendes Gefühl, sie so hilflos zu sehen!

»Der Bengel ist ziemlich schwach.«, erwiderte er. »Wenn sich sein Zustand nicht langsam bessert, werden wir ihn in ein künstliches Koma versetzen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« Die Maske dämpfte Fees Stimme. Dafür sprach der Ausdruck in ihren Augen eine klare Sprache. »Dann können wir überhaupt nicht mehr einschätzen, wie es ihm geht.«

Lammers Augen wurden schmal wie die Klinge eines Messers.

»Ich bin der behandelnde Arzt, nicht Sie.«

»Ich verbiete Ihnen dieses Vorgehen.«

»Sie sind nicht sein Vormund. Oder habe ich da etwas falsch verstanden.«

Felicitas bebte am ganzen Körper. Warum nur regte sie sich so auf? War das schlechte Gewissen für ihre Verfassung verantwortlich? Schließlich hatte sie Felix und Fynn zusammen gebracht.

»Glauben Sie im Ernst, Sie bekommen von Danny die Einverständniserklärung?«, fragte sie.

Wenigstens zitterte ihre Stimme kaum.

Doch lange konnte sie sich nicht über diesen Triumph freuen.

Nur ein, zwei Atemzüge später landete eine Patientenakte klatschend vor ihren Füßen.

»Machen Sie, was Sie wollen«, herrschte Dr. Lammers sie an. »Aber kommen Sie mir später nicht mit Vorwürfen.«

Seine Schritte verhallten auf dem Flur. Angezogen von dem Lärm steckte Schwester Elena den Kopf aus einer Tür. Mit einem Blick erfasste sie die Situation.

»Oh, Fee.« Ihr Seufzen kam aus tiefstem Herzen. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war.«

*

»Margeriten sind die Lieblingsblumen meiner Freundin.« Niko Arzfeld legte das abgezählte Kleingeld auf den Tresen der Blumenhändlerin Hanna Bäuml.

Seit ein paar Jahren schon betrieb sie das Blumengeschäft in der Ladenzeile der Behnisch-Klinik. Ihre Sträuße von romantisch bis modern erfreuten sich großer Beliebtheit und ließen Patientenherzen höher schlagen. Nicht selten kamen die Beschenkten nach ihrer Entlassung wieder und wurden zu treuen Stammkunden. Hannas Art spielte dabei eine nicht unerhebliche Rolle.

»Ihre Freundin hat einen guten Geschmack. Margeriten stehen für Natürlichkeit und unverfälschtes Glück.« Das Kleingeld klimperte, als sie es in die Fächer sortierte. »Allerdings muss ich Sie warnen. Liebende drücken mit Margeriten auch Unsicherheit aus. Überreichen Sie Ihrer Freundin diesen Strauß mit einer Liebeserklärung! Dann sind Missverständnisse von vornherein ausgeschlossen.«

Mit diesen Worten im Ohr machte sich Niko auf den Weg zu Silje. Mit welchem Kompliment konnte er ihr eine besonders große Freude machen?

Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er das gedämpfte Klingeln aus seiner Hosentasche überhörte. Am Ziel angekommen, drückte er schwungvoll die Klinke herunter. Und prallte zurück. Blütenblätter regneten zu Boden.

Eine Schwester eilte herbei.

»Sind Sie ein Bekannter von Frau Johannson?«

»Ich bin ihr Verlobter. Was ist hier los? Warum ist die Tür abgeschlossen?«

»Das verstehe ich nicht.« Schwester Agnes legte den Kopf schief. »Wurden Sie denn nicht angerufen? Na ja, ist ja jetzt auch egal«, winkte sie ab, verschwand kurz und kam mit einem Paket zurück. »Bitte ziehen Sie das hier an.« Sie drückte ihm Overall und Mundschutz in die freie Hand. »Hatten Sie von gestern auf heute Kontakt mit anderen Personen?«

»Nur mit der Blumenhändlerin.« Niklas wusste nicht, wie ihm geschah.

»Gut. Darum kümmere ich mich gleich.« Agnes nahm ihm den Strauß ab und sah ihm dabei zu, wie er den Overall über Jeans und Hemd zog. »Es besteht die Möglichkeit, dass sich Ihre Freundin mit Schweinegrippe angesteckt hat. Da auch Sie als Kontaktperson zur Risikogruppe gehören, muss ich Sie bitten hierzubleiben, bis die Ergebnisse aus dem mikrobiologischen Institut vorliegen.«

Daher also wehte der Wind! Bevor Niko aber auch nur eine Frage stellen konnte, klopfte Schwester Agnes drei Mal an die Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit.

Eine Hand packte Niko am Ärmel und zog ihn ins Zimmer.

»Da sind Sie ja endlich! Ich dachte schon, Sie hätten sich aus dem Staub gemacht«, begrüßte Christine Lekutat ihn in ihrer charmanten Art.

»Warum sollte ich? Und was ist eigentlich hier los?« Niko trat an Siljes Bett. Unter der Maske lächelte sie. Die Fältchen um ihre Augen verriet es. »Wieso Schweinegrippe?«

»Ich habe dir doch von Hans Budai erzählt, meinem Kollegen?« Sie tastete nach seiner Hand.

»Ja. Nein. Kann sein.« Niko erinnerte sich nicht wirklich.

»Er liegt seit gestern früh mit Schweinegrippe hier auf der Quarantänestation.«

»Hast du denn nicht bemerkt, dass er krank ist?«

»Doch. Schon. Aber wer denkt denn an so etwas? Ich jedenfalls nicht.« Das Sprechen fiel ihr schwer. Die Maske vor ihrem Mund blähte sich. Hin und wieder hustete sie. Silje sah ihren Verlobten an und wieder weg. »Es tut mir so leid, Niko.«

Sein Herz wurde schwer.

»Das muss es nicht, Liebling«, versicherte er. »Du kannst doch nichts dafür.« Der Ausdruck in ihren Augen machte ihm Angst. Er beugte sich über sie. Strich ihr die blonden Strähnen aus der Stirn. »Das wird schon wieder. Und in zwei Wochen stehen wir vor dem Traualtar und geben uns das Ja-Wort.«

Ein Leuchten huschte über das, was von ihrem Gesicht zu sehen war.

»Zwei Wochen nur noch.« Wieder ein Husten. »Ich wollte etwas ganz Besonderes für dich …«

Er legte den Zeigefinger auf die Maske, dorthin, wo er ihre Lippen vermutete.

»Du darfst dich nicht anstrengen, Liebling. Wir sind zusammen und stehen das gemeinsam durch.« Er legte seine Wange an ihre.

Silje schloss die Augen. Sie wollte ihm so gern glauben.

*

Obwohl ihr kleiner Adoptivsohn Fynn erst seit ein paar Monaten bei ihnen lebte, fühlte sich Tatjana an diesem Morgen wie amputiert.

»Es ist, als würde ein Stück von mir fehlen«, versuchte sie, dieses seltsame Gefühl in Worte zu fassen. Sie saß am Tisch. Um die ungewöhnliche Stille zu übertönen, rührte sie krampfhaft in der Kaffeetasse. Doch was war dieses Geklimper im Vergleich zu Fynns pausenlosem Geplapper? Zu seinem Singen und Springen. Und dann erst dieses Lachen! Tatjana war sicher, nie mehr wieder glücklich zu sein ohne dieses grundlose Kichern und Glucksen.

»Offenbar fehlt ein Stück von deinem Ohr«, bemerkte Danny und hielt ihre Hand fest.

Keine Sekunde länger hätte er das schrille Klirren des Löffels am Porzellan ertragen.

»Haha.« Sie verzog den großen Mund. »Hast du schon mit der Klinik telefoniert?«

»Fynns Zustand ist unverändert. Ernst, aber nicht lebensbedrohlich.« Danny legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er wusste, was sie dachte. »Glaub mir! Für mich ist das genauso schwer wie für dich.«

»Warum bist du dann so verdammt ruhig, während ich die Wände hochgehen könnte?«, platzte sie heraus.

Sie riss sich los und sprang vom Stuhl auf. Trat ans Fenster und blickte hinab auf die belebte Straße, als könnte sie genau sehen, was sich dort unten abspielte.

Bei einem Unfall vor vielen Jahren hatte sie ihr Augenlicht verloren. Danny war es zu verdanken, dass sie wenigstens einen Teil ihrer Sehfähigkeit zurückerhalten hatte. Trotzdem wollte sie die Zeit absoluter Dunkelheit nicht missen. Ihr hatte sie die Sensibilität ihrer übrigen Sinne zu verdanken, die sich auf fast unheimliche Art und Weise geschärft hatten. Tatjana erspürte mehr, als andere Menschen mit den Augen erfassten konnten. Sie fühlte, wenn sich ein Mensch näherte. Erkannte ihn am Klang seines Schrittes. Am Geruch seiner Haut. Sie erahnte seine Stimmung. Deshalb wusste sie, dass Danny hinter sie getreten war. Sie spürte auch, wie hilflos er war.

»Das Haus … unser Wolkenkuckucksheim … das wollen wir doch nur für ihn kaufen.« Tränen wollten ihre Stimme ersticken. Trotzdem fuhr sie fort. »Mit einem großen Garten zum Spielen. Bäumen, um darauf herumzuklettern. Einem Turm, den der kleine Ritter gegen böse Drachen verteidigen, in den er sein Burgfräulein entführen kann.«

Danny legte die Hände auf ihre Schultern und das Kinn auf ihren Kopf. Das weißblonde Streichholzhaar kitzelte ihn in der Nase. Es lenkte ihn wenigstens kurz ab. Sonst wäre er womöglich auch noch in Tränen ausgebrochen.

»Ich muss jetzt leider in die Praxis«, sagte er heiser. »Soll ich dich in Klinik bringen? Dort warten bestimmt noch mehr Angehörige auf ihre Lieben.«

Tatjana dachte kurz nach. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, danke. Ich gehe arbeiten. Das ist immer noch das beste Mittel gegen Herzschmerz.« Sie drehte sich um und sah Danny an. Täuschte er sich oder waren ihre Augen an diesem Morgen noch größer, noch blauer als sonst? »Nimmst du mich mit?«

Statt einer Antwort schloss er sie in die Arme und gab ihr einen verzweifelten Kuss.

*

»Nein, Erik, es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.« Schwester Elena saß im Dienstzimmer der Quarantänestation und hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. Eine männliche Stimme hallte durch den Raum. Sie wartete, bis sie verstummte. »Natürlich melde ich mich bei dir, sobald ich etwas Neues weiß.« Sie sah hinüber zu Dr. Lammers, der gerade ins Zimmer kam. »Jetzt reg’ dich doch bitte nicht so auf. Ich bin doch nicht erst seit gestern Krankenschwester. Das hier ist nicht die erste kritische Situation, in die ich gerate. Und bisher ist doch auch immer alles gut gegangen.« Sie lauschte in den Apparat und nickte. »Ja, ich liebe dich auch. Kuss.« Seufzend legte sie den Hörer auf.

»Ein Glück, dass ich keine Familie am Hals habe«, bemerkte der Kollege Lammers. »Diese ständigen Rechtfertigungen würden mir gehörig auf die Nerven gehen.«

»Ach, so schlimm ist es gar nicht. Nur manchmal ein bisschen anstrengend.«

Elena ging hinüber zur Küchenzeile und schenkte sich Kaffee ein. Sie hielt Lammers die Tasse hin. »Auch einen?«

Dankend nahm er sie an.

»Mir ist es trotzdem lieber so.« Er nippte am Kaffee. Schwarz wie seine Seele und genauso bitter. »Ärgerlich nur, dass ich jetzt zum Nichtstun verdammt bin.«

Elena erinnerte sich an die Szene auf dem Flur.

»Nehmen Sie es nicht persönlich. Fee hat Angst um ihren Enkel und fühlt sich schuldig.«

»Ein Grund mehr, sich keine Familie anzuschaffen.«

»Sie wissen doch, dass sie in letzter Zeit eine Menge durchgemacht hat. Der Herzinfarkt hat ihr ganz schön lange zu schaffen gemacht.«

»Was soll das? Soll ich jetzt auch noch Mitleid haben? Meinetwegen kann sie gern aufhören zu arbeiten. Ich brauche sie hier nicht.« Der Rest seines Satzes schwebte noch in der Luft, als Fee um die Ecke bog.

Elena hielt die Luft an. Aber ihre Freundin und Kollegin zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sie war mit den Gedanken woanders.

»Na, wie ist es um Ihre Zauberkräfte bestellt?«, fragte Volker. »Ist der Bengel schon gesund?«

Fee schüttelte den Kopf.

»Ihm ist übel und er hat offenbar Ohrenschmerzen. Außerdem ist seine Atmung unregelmäßig.«

»Wenn ich nicht irre, sind das alles Symptome einer H1N1-Infektion.«

Fee fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Ich werde das schon in den Griff bekommen. Im Augenblick ist Schwester Gesine bei ihm.«

Elena musterte ihre Freundin mit schief gelegtem Kopf. Sie trat zu ihr, legte die Hand auf die rechte Wange.

»Du liebe Zeit! Du hast ja Fieber.«

Felicitas trat einen Schritt zur Seite. Die Hand ihrer Freundin fiel ins Leere.

»Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen.«

Das Telefon klingelte. Volker ging dran.

»Dr. Lammers!«, hauchte Schwester Gesine an seinem Ohr. »Fynns Atmung ist insuffizient.«

»Ich komme!« Lammers stürmte los.

Felicitas und Elena sahen sich an. Sie dachten dasselbe und folgten ihm.

*

Dr. Matthias Weigand saß im Labor und starrte durch das Okular eines Mikroskops. Neben ihm standen – aufgereiht wie Soldaten – Glasröhrchen in einem Ständer. Er blickte nicht auf, als Christine Lekutat zu ihm trat.

»Was treiben Sie denn da?« Sie steckte ein Stück Schokolade in den Mund und leckte sich die Finger ab.

Matthias richtete sich auf. Er lockerte die schmerzenden Schultern, rieb sich die Tränen aus den Augen.

»Ich mache einen Schnelltest mit einem Abstrich der Rachenviren. Diese Diagnostik hat sich als sehr hilfreich erwiesen, da ein positiver Schnelltest eine hohe Aussagekraft besitzt. Dummerweise kann ich bei Frau Johannson keine Influenzaviren nachweisen.«

»Negative Tests schließen eine Influenza nicht aus. Das lernen schon die Studenten an der Uni.« Die Lekutat zwinkerte ihrem Kollegen zu. »Oder haben Sie diese Vorlesung geschwänzt?«

»Natürlich nicht.« Nie im Leben hätte Matthias seiner Kollegin die Wahrheit gesagt. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als das Ergebnis des mikrobiologischen Instituts abzuwarten.« Er rollte mit dem Hocker zurück und stand auf. »Wie geht es der Patientin?«

Ein schrilles Geräusch zerriss die Luft. Die Lekutat zog den Pieps vom Gürtel.

»Nicht sehr gut, wenn Sie mich fragen.« Sie wetzte los, so schnell es ihre kurzen, dicken Beine erlaubten. Das hatte sie nun davon, dass weder Kekse noch Gummibärchen oder Schokolade vor ihr sicher waren, ging es Matthias durch den Kopf, als er ihr folgte. Der Alarm des Überwachungsmonitors kreischte bis auf den Flur hinaus.

Silje lag im Bett und warf den Kopf hin und her. Sie hatte die Augen geschlossen und rang nach Luft. Wie versteinert stand ihr Verlobter da und starrte sie an.

Dr. Lekutat schob Niko zur Seite.

»Frau Johannson, können Sie mich hören?« Sie klopfte auf Siljes Wangen.

Das ziehende Geräusch ihres Atems jagte Niko einen Schauer über den Rücken.

»Was ist mit ihr?«, fragte er heiser.

»Nichts für ungut. Aber wir können jetzt keine Cheerleader brauchen«, schnauzte Christine ihn an.

»Bitte gehen Sie in die Ecke, Herr Arzfeld«, verlangte auch Dr. Weigand.

Er trat an den Monitor.

»Blutdruck systolisch unter 100.«

Inzwischen hatte Dr. Lekutat das Stethoskop gezückt.

»Deutliche Atemgeräusche. Beide Lungenflügel sind betroffen. Für mich klingt das nach einer atypischen Pneumonie.«

»Was sagt die Serologie?«

»Nichts«, erwiderte Schwester Camilla aus dem Hintergrund. »Die Sachen sind noch im Labor.«

»Zeigen Sie mal her!« Dr. Weigand deutete auf das Tablet in ihren Händen. Während er sich durch die Seiten klickte, verabreichte Dr. Lekutat der Patientin ein Beruhigungsmittel. »Das hier sind die durchgeführten Tests?«, erkundigte er sich bei Schwester Camilla.

»Ja.« Sie tippte mit der Fingerspitze auf die rechte Seite des Bildschirms. »Und hier drüben sind die möglichen Erreger aufgelistet. Pneumokokken wurden ausgeschlossen.«

Dr. Lekutat raschelte und klapperte im Hintergrund. Matthias Weigand dagegen starrte auf das Tablet. Seine bewegte Miene verriet, dass er nachdachte.

»Das ist der Beweis! Eine Lungenentzündung ist eine der häufigsten Komplikationen einer Schweinegrippe«, murmelte er schließlich. Egal, wie er es drehte und wendete: Er kam zu keinem anderen Schluss.

An der Krankenzimmertür klopfte es drei Mal. Schwester Camilla öffnete und kehrte mit einem braunen Umschlag zurück.

»Das Ergebnis aus dem mikrobiologischen Institut ist da.«

Matthias nahm ihr das Kuvert aus der Hand und riss es auf. Der Brief zitterte in seinen Händen.

»Das glaube ich jetzt nicht.«

»Was ist los?« Die Lekutat zog seine Hände herunter. »Das MERS-Corona-Virus? Sieht so aus, als hätte sie in Mexiko keine Ruinen, sondern einen hübschen Scheich ausgegraben«, scherzte sie unverdrossen.

Ein Räuspern ließ sie herumfahren. Niko Arzfeld. Ihn hatte sie vollkommen vergessen. Matthias rollte mit den Augen.

»Bitte entschuldigen Sie, Herr Arzfeld. Die Kollegin hat das nicht so gemeint. Sie ist manchmal …«, Matthias schickte Christine einen bösen Blick, »etwas ungeschickt in ihrer Ausdrucksweise.«

Niko war blass geworden. Seine Augen wanderten von Matthias Weigand zu seiner zukünftigen Frau und wieder zurück.

»Und was, wenn Silje gar nicht in Mexiko war?«, fragte er tonlos. »Zumindest nicht die ganze Zeit?«

*

Schwester Gesine drückte Fynn eine Atemmaske auf Mund und Nase. Mit großen Augen verfolgte sie die Linien auf dem Überwachungsmonitor. Von Atemzug zu Atemzug ging es dem Kleinen schlechter.

»Wann kommt denn endlich jemand!« Wie immer, wenn Gefahr in Verzug war, dehnten sich Minuten zu Stunden. »So lange kann das doch nicht dauern.«

Endlich zeugten Schritte auf dem Flur davon, dass die Erlösung nahte.

Als Felicitas Norden gefolgt von Schwester Elena und Dr. Lammers hereinstürzte, atmete Gesine auf. »Ein Glück, dass Sie hier sind. Ich hatte schon Angst, dass er mir erstickt.«

Ein Blick auf die blauen Lippen ihres Enkels genügte Felicitas.

»Schnell! Wir müssen intubieren.«

»Kollegin Norden, wollen Sie nicht lieber …«

»Laryngoskop, Elena, schnell!«, fiel Fee ihrem Stellvertreter ins Wort.

»Beeilung. Der Blutdruck fällt!«, erklärte Lammers mit einem Blick auf den Monitor.

Felicitas beugte sich über ihren Enkel. Sie ließ sich das Laryngoskop in die linke Hand geben. Etwas klirrte.

»Sie zittern ja!« Außer sich vor Wut packte Lammers seine Chefin an den Oberarmen. »Lassen Sie gefälligst das Kind in Ruhe. Oder wollen Sie es umbringen?«

Fee stand da und starrte ihn noch an, als er sich längst um Fynn kümmerte. Ihre Brust hob und senkte sich wie nach einem Sprint. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.

Sie sah ihrem Stellvertreter dabei zu, wie er den Tubus – er sah aus wie das Innere einer Wasserpistole – in Fynns Hals schob. Aber warum wurde es plötzlich neblig im Raum? Sie blinzelte mehrmals hintereinander. Vergeblich.

Schwester Elenas Gesicht wurde deshalb nicht klarer.

»Fee?« Elenas Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. In Zeitlupe bewegte sich ihre Hand vor Felicitas’ Gesicht hin und her. »Ich bringe dich in ein anderes Zimmer. Halte dich an mir fest!«

*

»War das eine dröge Veranstaltung. Findest du nicht?« Dr. Axel Maurer drehte das Radio leiser. »Dann doch lieber die Hektik in der Klinik. Da vergeht die Zeit wenigstens.« Vor ihm leuchteten rote Lichter auf.

Er trat auf die Bremse und schaltete erst einen und dann noch einen Gang hinunter.

Wie schon fast die ganze Fahrt lang saß sein Begleiter Dr. Daniel Norden auf dem Beifahrersitz und starrte aus der Windschutzscheibe.

Axel klopfte ihm auf den Oberschenkel.

»Eigentlich könnten wir beide noch mit unseren Frauen einen Happen essen gehen. Maria hat heute auch Dienst. Ich rufe sie mal schnell in der Rettungsleitstelle an.« Er drückte auf einen Knopf am Lenkrad. Im Lautsprecher ertönte ein Tuten.

Der freundschaftliche Schlag hatte Daniel aus seinen Gedanken geweckt.

»Keine schlechte Idee. Aber leider heute unmöglich. Fee hat mich gestern Abend noch angerufen. Wir haben zwei Fälle von Schweinegrippe in der Klinik.«

Axel drückte noch einmal auf den Knopf. Der Rufaufbau wurde abgebrochen.

»Deshalb bist du so still. Warum hast du das nicht gleich gesagt. Du Armer! Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Das bedeutet eine Menge Stress.«

Wenn es nur das gewesen wäre! An Stress war der Klinikchef Dr. Daniel Norden gewöhnt. An die Angst um seine Lieben würde er sich jedoch nie gewöhnen. Lust, darüber zu sprechen, hatte er keine.

»Ich kann nur hoffen, dass wir jede Kontaktperson erwischt haben und dass das Virus keine Kreise zieht.«

Axel setzte den rechten Blinker und wartete, bis eine Fahrrad­fahrerin mit wehendem Pferdeschwanz auf dem Radweg vorbeigefahren war. Dann bog er in die Auffahrt zur Klinik ein und ließ seinen Kollegen aussteigen.

»Vielen Dank fürs Fahren. Ich melde mich, wenn die Gefahr vorüber ist.«

»Und dann gehen wir essen. Nicht vergessen!«

»Natürlich nicht. Du hörst von mir.« Daniel klopfte auf das Wagendach.

Ganz entgegen seiner Gewohnheit sah er dem Wagen nicht nach. Die Nachrichten aus der Klinik hatten alles andere als beruhigend geklungen. Er hatte es eilig, nach dem Rechten zu sehen. Weit kam er allerdings nicht.

»Daniel!« Eine Stimme hallte durch die Lobby der Klinik.

»Tatjana!« Er kam seiner Schwiegertochter ein paar Schritte entgegen. Schloss sie in seine Arme. Ihr Herz flatterte an seiner Brust wie ein aufgeregter Vogel. »Bitte reg’ dich nicht so auf.«

»Ich habe ja versucht, mich mit Arbeit abzulenken. Nachdem mir ein Blech mit Brezen verbrannt ist und ich eine ganze Torte fallengelassen habe, hat mich Titus aus der Bäckerei verbannt«, gestand sie. »Ich habe versucht, Fee zu erreichen. Vergeblich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir diese Warterei an die Nerven geht.« Seite an Seite hatten sie die Eingangshalle durchquert.

Das Rauschen des Wasserfalls brachte Daniel auf eine Idee.

»Leider habe ich auch noch keine Neuigkeiten. Ich komme gerade von einem Kongress. Aber wenn du im ›Allerlei‹ auf mich wartest, kann ich dir mit Sicherheit gleich mehr sagen.«

Daniel hielt sein Versprechen. Nur zehn Minuten später setzte er sich zu Tatjana an einen Tisch neben einen baumhohen Rhododendron. Anders als die mickrigen Zimmerpflanzen waren diese Exemplare ähnlich stattlich wie ihre wildlebenden Verwandten in den neotropischen Regenwäldern. Viel lieber als über die Neuigkeiten hätte er sich mit ihr über das Geschick der Klinik-Gärtner unterhalten. Doch Daniel war sich fast sicher, dass er seine Schwiegertochter im Augenblick nicht für solche Themen begeistern konnte.

»Und? Hast du etwas herausgefunden?«, fragte sie, kaum dass er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte. »Wie geht es Fynn?«

»Die Situation ist so weit unter Kontrolle.« Unnötig, sie mit zu vielen Details zu beunruhigen. Aber es war wie immer. Tatjana spürte seine Sorgen.

»Du musst mich nicht schonen. Ich verkrafte die Wahrheit.«

»Das weiß ich.« Daniel Norden unterdrückte ein tiefes Seufzen. »Fynn musste intubiert werden. Im Augenblick ist er stabil.« Doch das war nicht er einzige Grund zur Sorge. »Fee hat einen leichten Schwächeanfall erlitten.«

Tatjana schlug die Hände an die Wangen. Ausgerechnet Fee. Ihre Fee, die ihr im Laufe der Jahre wie die Mutter ans Herz gewachsen war, die sie bei dem Unfall verloren hatte. Noch einmal würde sie so etwas nicht verkraften.

»O Dan, das tut mir leid. Hat sie sich angesteckt?«

»Das wissen wir noch nicht. Die Ergebnisse aus dem mikrobiologischen Institut liegen noch nicht vor.«

Tatjana saß am Tisch und starrte in die Tasse, in der ein Rest Kakao schwamm. Wie kleine Inseln thronten Sahnekleckse auf der hellbraunen Oberfläche. Als sie aufsprang, stieß sie an die Platte. Die Inseln versanken im Meer.

»O Dan, ich muss doch irgendetwas tun können.«

Sie konnte nicht ermessen, wie gut er sie verstand. Er sah sie von unten herauf an.

»Im Augenblick kann noch nicht einmal ich etwas tun«, gestand er leise.

*

Nach einer gründlichen Desinfektion konnte Niko Arzfeld das Krankenzimmer seiner Verlobten verlassen. Dr. Weigand und seine Kollegin Christine Lekutat folgten seinem Beispiel. Schwester Camilla blieb bei ihrer Patientin und versprach, Alarm zu schlagen, sobald sich ihr Zustand veränderte.

Eine Weile war Niko von der Bildfläche verschwunden. Matthias dachte schon, er wäre nach Hause gefahren, als er ihn auf einem Loungesofa in der Lobby entdeckte. Im ersten Moment wollte er weitergehen. Doch der Mann machte einen so unglücklichen Eindruck, dass er seinen Entschluss änderte.

»Herr Arzfeld.«

Wie unter einem Peitschenhieb zuckte Niko zusammen.

»Gibt es Neuigkeiten von Silje?«

»Nein, keine Sorge.« Er garnierte seine Worte mit einem, wie er hoffte, beruhigenden Lächeln. »Ich habe gerade Pause und dachte, ein bisschen Gesellschaft wäre nett.«

»Bitte.« Niko deutete auf den freien Platz gegenüber. »Tun Sie sich keinen Zwang an.« Er lächelte Dr. Weigand zu, um wieder in Schweigen zu versinken.

Matthias trank einen Schluck Wasser aus der kleinen Flasche vom Automaten. Sein Gegenüber ließ er nicht aus den Augen.

»Archäologin. Interessanter Beruf«, brach er das Schweigen. »Arbeitet Ihre Verlobte viel im Ausland?«

»Die meiste Zeit«, antwortete Niko ohne hochzusehen. »Silje hat eine Schwäche für versunkene Hochkulturen. Zuerst die alten Ägypter, dann die Maya-Kultur. Inzwischen ist sie bei den Azteken angekommen.« Er fuhr sich durch die Haare und schob die Brille mit den runden Gläsern zurück auf die Nase.

»Dann haben Sie sich vermutlich auf der Uni kennengelernt.« Nicht, dass sich Dr. Weigand brennend für das Privatleben seiner Patienten interessierte. Ihn trieb allein ein berufliches Interesse.

»Nein. In Ägypten.« Ein Lächeln huschte über Nikos Züge. »Sie arbeitete bei den Pyramiden von Gizeh, die ich im Zuge einer Studienreise mit einer Gruppe Forschern besucht habe. Silje hatte sich bereit erklärt, die Fremdenführerin für uns zu spielen.«

»Wie romantisch.« Sofort hatte Matthias ein Bild vor Augen. Ein braungebranntes Frauengesicht mit blitzend blauen Augen, das Haar unter einem weißen Tuch versteckt. Eine vorwitzige, hellblonde Strähne flatterte im Wind. Der bodenlange Kaftan umspielte ihre Gestalt.

Nikos Lachen ließ das Bild verschwimmen wie eine Fata Morgana.

»Das war es am Anfang wirklich.« Sein Gesicht nahm einen versonnen Ausdruck an. »Wir schliefen in Zelten bei den Pyramiden, um Zeit zu sparen. Ich erwachte früh und trat hinaus. Nie werde ich Siljes Anblick vergessen. Sie saß am Lagerfeuer. Innerhalb der größten Dunkelheit. Über uns standen die letzten Sterne. Sie reichte mir ein Glas mit heißem Tee. Die Kamele in der Nähe schnaubten und kauten schlaftrunken auf Datteln. Stunden später erst gesellten sich die anderen zu uns.« Niko kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er sah Dr. Weigand an. »An diesem frühen Morgen habe ich mich unsterblich in Silje verliebt.« Er seufzte und betrachtete die ineinander verschlungenen Hände. »Was dann kam, war leider nicht so romantisch. Zu dieser Zeit war Silje schon eine Weile in Ägypten und mit einem Araber liiert.« Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. »Ich kann es ihm nicht verdenken, dass er hart um sie gekämpft hat.«

»Ich verstehe.« Matthias nickte mehrmals hintereinander. Eifersucht war ihm ein guter Bekannter. »Und nun fürchten Sie, dass Silje ihre Liaison aufgewärmt haben könnte.«

»Was für einen anderen Grund sollte sie haben, um in den vorderen Orient zu reisen? Noch dazu, ohne mir etwas davon zu sagen.« Niko dachte nicht daran, mit seinem Verdacht hinter dem Berg zu halten. Er suchte Dr. Weigands Blick und hielt ihn fest. »Nicht, dass Sie mich für hysterisch halten. Aber eine Fernbeziehung auf diese Distanz ist eine der schwierigsten Übungen der Welt.« Wieder zauste er sich das ohnehin schon wirre Haar. »Wenn dann noch Geheimnisse dazu kommen, Ausreden, Heimlichkeiten, wie bei uns in letzter Zeit, dann wird die Luft dünn.«

»Ich verstehe.«

Niko Arzfeld sprang auf und begann, vor dem dunkelbraunen Sofa mit den niedrigen Metallbeinen auf und ab zu laufen. Zwei Meter in die eine Richtung, den gleichen Weg wieder zurück.

Eine Weile sah sich Dr. Weigand die Wanderung an. Dachte über seine eigene Beziehung zur Assistenzärztin Sophie Petzold nach, die um ein Haar Opfer seiner Eifersuchtsdramen geworden war.

»Darf ich Ihnen einen Rat aus eigener Erfahrung geben?«, fragte er, ehe er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte. »Treffen Sie keine voreilige Entscheidung. Gehen Sie ganz sicher, dass sie keinen riesigen Fehler machen.« Er lächelte. »Und glauben Sie mir: Ich würde das nicht sagen, wenn ich nicht genau wüsste, wovon ich spreche.«

*

Das eintönige Piepen der Überwachungsmonitore vermischte sich mit dem Zischen und Ballern, das aus Dr. Lammers Handy kam. Seit Stunden gab es nichts weiter zu tun als abzuwarten. Schwester Elena und der Kinderarzt saßen am Tisch im Dienstzimmer. Lammers tippte auf seinem Handy herum. Das Licht des Displays malte bunte Flecken auf sein Gesicht. Fast so, als hätte er eine ansteckende Krankheit.

»Das so etwas ausgerechnet bei uns passieren muss«, murmelte Elena vor sich hin. Über der Tür hing eine Uhr. Groß und rund wie eine Bahnhofsuhr. War der Sekundenzeiger schon immer so langsam im Kreis gewandert?

»Treffer! Versenkt!«, frohlockte Lammers. »Wussten Sie, dass ich ein Superheld bin!«

Sie musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich habe so etwas befürchtet.«

»Was denn? Warum machen Sie denn ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«

»Weil ich viel dafür gäbe, diese Station wieder verlassen zu dürfen. So ähnlich muss sich ein Häftling fühlen.«

»Typisch Frau. Statt sich über bezahltes Nichtstun zu freuen, jammert ihr herum.«

Endlich erreichte der Sekundenzeiger die Zwölf.

»Was die Kollegen wohl gerade machen?«, murmelte Elena vor sich hin.

»Das, was sie immer tun. Blut abnehmen, Patienten mit Tabletten füttern, operieren.«

»Ich finde es jedenfalls schwer vorstellbar, dass das Leben da draußen einfach so weitergeht, während wir hier zur Untätigkeit verdammt sind.« Sie sah hinüber zu Schwester Gesine, die das Zimmer gerade betreten hatte. Ihr Anblick erschreckte Elena.

»Warum bin ich eigentlich Krankenschwester geworden?«, brach es aus der jungen Schwester heraus. »Was ist das für ein Beruf, bei dem man wegen anderer Leute Krankheiten sterben kann?«

»Weiber!« Ohne den Kopf zu heben, rollte Lammers mit den Augen. »Nur zur Erinnerung: Wir haben es hier nicht mit der Pest zu tun.«

»Trotzdem sitzen wir hier fest und dürfen die Station nicht verlassen«, schluchzte Gesine. »Wer füttert jetzt meine Katze? Wenn ich nicht mehr da bin, muss sie jämmerlich verhungern.« Zwei schwarze Streifen bahnten sich den Weg über ihre Wangen. »Ich will noch nicht sterben. Ich hatte doch noch so viel vor.«

Ein Donnern erschütterte den Raum. Volkers Faust war auf dem Tisch gelandet. Sein Mobiltelefon schlitterte auf die Kante zu. Nur Elenas schneller Reaktion war es zu verdanken, dass es nicht abstürzte.

Lammers achtete nicht darauf.

»Halten Sie den Mund, Sie hysterische Henne!«, herrschte er Gesine an.

Schlagartig war es still im Zimmer. Die junge Schwester wagte noch nicht einmal mehr, Luft zu holen. In diese Stille hinein klingelte es an der Schleuse.

Elena reichte Lammers sein Telefon und verließ das Zimmer. Endlich gab es etwas zu tun.

*

Das Gespräch mit dem Arzt war nicht ohne Wirkung auf Niko Arzfeld geblieben. Dr. Weigand hatte recht. Bestimmt gab es eine einfache Erklärung für Siljes Krankheit und die Heimlichkeiten der vergangenen Wochen. Es lag an ihm, die richtigen Fragen zu stellen. Ohne Vorwurf und Verdächtigungen. Dann würde er auch eine ehrliche Antwort bekommen.

Voller Hoffnung machte er sich auf den Weg zu Silje. Die Prozedur an der Tür kannte er bereits und legte sterile Kleidung und Mundschutz an. Dann betrat er das Zimmer.

Seine Verlobte war allein. Mit geschlossenen Augen lag sie im Bett. Die roten Flecken auf ihren Wangen wirkten wie aufgemalt. Als sie die Schritte hörte, öffnete sie die Augen. Beim Nikos Anblick lächelte sie.

»Da bist du ja endlich, mein Lieblingsmann. Ich habe so lange auf dich gewartet.« Sie tastete nach seiner Hand. Er nahm sie. Es war, als fasste er ein Bügeleisen an.

Niko zuckte zurück.

»Ich war doch nur eine Stunde weg.«

Siljes Kopf auf dem Kissen wackelte hin und her. »Wirklich? Es ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Du darfst mich nicht mehr so lange allein lassen.«

»Zumindest in den nächsten vier Wochen nicht.« Dieses Versprechen konnte er guten Gewissens geben. So lange wollte Silje bei ihm im Deutschland bleiben, bevor sie wieder nach Mexiko flog.

Er zog sich einen Hocker heran und setzte sich ans Bett. Griff auch noch nach der anderen Hand seiner Verlobten. Suchte ihren Blick.

»Liebling, ich muss dich etwas fragen.«

Das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasste und kehrte wieder zurück. Sie blinzelte ein paar Mal, als sähe sie nicht mehr klar.

»Warum hast du deinen Bart abrasiert, Abdul? Ich hätte dich fast nicht erkannt.«

Niko schnappte nach Luft. Er ließ Siljes Hände fallen, als hätten sie sich in Eisblöcke verwandelt.

Also doch Abdul! Er hatte es geahnt.

»Ich bin nicht Abdul. Mein Name ist Niko.« Wie ein Peitschenhieb zuckte seine Stimme durch das Zimmer.

»Du nimmst mich auf den Arm.« Silje kicherte.

Dieses Geräusch hatte Niko nie zuvor gehört. Nicht von ihr. Nicht von der Frau, die er liebte.

Er sprang auf. Der Hocker rollte zurück und stieß an die Wand. Niko achtete nicht darauf. Er stürmte aus dem Zimmer und direkt in die Arme von Matthias Weigand.

»Hoppla! Herr Arzfeld, was ist passiert?«

Niko bebte am ganzen Körper.

»Silje … es ist vorbei. Sie hat mich mit ihrem Araber verwechselt. Mich Abdul genannt«, stieß er hervor und wollte weiterstürmen.

Doch er hatte die Rechnung ohne den Arzt gemacht. Matthias hielt ihn am Ärmel fest.

»Wo wollen Sie hin?«

»Genügt das nicht als Beweis? Was soll ich dann noch hier? Silje anbetteln, dass sie bei mir bleibt?«

Matthias Weigand warf einen Blick ins Krankenzimmer. Silje Johannson brauchte seine Hilfe. Genau wie Niko.

»Bleiben Sie!«, befahl er und rief Schwester Camilla zu Hilfe.

Sie übernahm den geschockten Mann, während Dr. Weigand ans Bett seiner Patientin trat und die Werte des Geräteturms überprüfte.

»Dachte ich es mir doch.« Er griff nach einer Plastikspritze. Über den Zugang an Siljes Arm entnahm er Blut. »Analysieren Sie die Probe im Biochip-System.«

Camilla wusste Bescheid. Ohne eine weitere Frage lief sie davon. Niko Arzfeld sah ihr nach.

»Was macht sie?«

»Sie führt einen Schnelltest durch«, erklärte Matthias, während er sich weiter um Silje kümmerte. »Man gibt die Blutprobe in das System, das dann vollautomatisch alle weiteren Schritte bewältigt. Vorbereitung des Testmaterials, das eigentliche Analyseverfahren, die Auswertung. Innerhalb von zwanzig Minuten wissen wir Bescheid.«

»Verstehe.« Niko nickte. »Aber was wollen wir denn überhaupt wissen?«

Im Augenblick konnte Dr. Weigand für seine Patientin nichts mehr tun. Er stand am Bett und betrachtete sie. Ihr Blick war wirr, ihre Stimme verwaschen. Sie warf den Kopf hin und her und murmelte unverständliche Worte.

»Eine gefürchtete Komplikation der MERS-Corona-Infektion ist eine Blutvergiftung, ausgehend von der Lungenentzündung. Verwirrung ist eines von mehreren Alarmsignalen.«

Niko Arzfeld neigte den Kopf.

»Ist eine Blutvergiftung heute noch so gefährlich?«

»Durch Beatmung, Blutwäsche, Gerinnungstherapie und Kreislaufunterstützung können wir Mediziner viele Organfunktionen zumindest vorübergehend unterstützen oder sogar ersetzen.« Dr. Weigand hielt inne. Er musterte seinen Gesprächspartner. Wie viel Wahrheit konnte er Niko Arzfeld zumuten? »Trotzdem ist die Sepsis bis heute eine sehr schwere Erkrankung, die jeder dritte Betroffene trotz Maximaltherapie nicht überlebt.«

*

Als Schwester Elena an die Schleuse trat, traute sie ihren Augen kaum. Durch die beiden Glastüren hindurch sah sie den Besucher an.

»Daniel, was machst du denn hier?«

Er deutete auf seine Lippen und griff zum Telefonhörer, der neben der Tür an der Wand hing. Elena tat es ihm gleich.

»Daniel …«

»Machst du mir bitte die Tür auf!«

»Das geht nicht. Das ist viel zu gefährlich.«

»Das spielt keine Rolle. Glaub’ mir, ich habe lange genug darüber nachgedacht. Fee braucht mich. Und Fynn auch. Mein Platz ist bei meiner Familie.«

»Aber du hast noch mehr Kinder …«

»Dési, Janni und Anneka sind bei Freunden untergekommen. Felix hat sich zu Hause verbarrikadiert. Er erfreut sich übrigens bester Gesundheit, futtert die Vorratskammer leer und hat endlich genug Zeit für seine Lieblingsserie. Und jetzt lass’ mich bitte rein.«

Elena haderte mit sich.

»Aber was, wenn du auch krank wirst? Du bist der Klinikchef.«

»Die Kollegen hier draußen machen einen hervorragenden Job. Und jetzt haben wir genug diskutiert. Lass mich bitte endlich rein. Ich übernehme die volle Verantwortung.« Daniel durchbohrte sie mit Blicken. »Bitte, Elena.« Um jede weitere Diskussion im Keim zu ersticken, hängte er das Telefon zurück an seinen Platz. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und wartete.

Auch Schwester Elena legte den Hörer zurück. Sie zögerte. Dann drückte sie auf den Schalter neben der Tür. Ein Summen ertönte. Die Glastür vor Daniel Norden schob sich auf und schloss sich wieder, kaum dass er hindurchgetreten war. Erst dann gab die zweite Tür den Weg frei. Daniel betrat die Raumkapsel.

»Danke.«

Sein Lächeln wärmte Elenas Seele. Sie führte ihn in ein Zimmer, in dem alles bereit lag, was er für seinen Schutz benötigte.

Dr. Nordens erster Weg führte ihn zu Fynn. Äußerlich nicht mehr von den anderen Astronauten in Overall und Gesichtsschutz zu unterscheiden, betrat er das Zimmer seines Enkelsohns.

Volker Lammers stand am Geräteturm und notierte die Werte im Krankenblatt. Als die Klinke heruntergedrückt wurde, drehte er sich um und stutzte. Er erkannte den Klinikchef an den Augen.

»Noch ein Wahnsinniger!«, entfuhr es ihm.

»Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf.«

Lammers drehte sich wieder um.

»Was wollen Sie hier? Reicht es nicht, dass Ihre Frau zusammengeklappt ist? Oder denken Sie, dass ein bisschen Händchenhalten sie wieder gesund macht?«

Solche Reden waren es, die Daniel Norden immer wieder ins Grübeln brachten. War es wirklich richtig, an dem Kinderarzt festzuhalten, Sozialphobiker, der er war? Lammers hatte es einzig seinen herausragenden Fähigkeiten im chirurgischen Bereich zu verdanken, dass er nicht längst der Klinik verwiesen worden war. Wie lange seine Geduld noch reichte, wusste der Klinikchef nicht. Doch dies war nicht der Zeitpunkt, um über so weitreichende Entscheidungen nachzudenken.

Daniel trat ans Bett und beugte sich über den schlafenden Fynn.

»Hallo, Fynn, hörst du mich?« Er musste lauter sprechen, um das Schnaufen des Beatmungsgeräts zu übertönen. Trotzdem reagierte der Kleine nicht. Dr. Norden richtete sich auf und nahm den Kollegen ins Visier. »Wie geht es ihm?«

»Wenn er bei Ihnen aufwachsen müsste, würde ich mir ernsthafte Sorgen machen«, erwiderte Volker Lammers. »Nachdem er aber nach seiner Genesung zu seiner Mutter zurückkehrt, besteht Hoffnung.«

Diesmal hörte Daniel nur auf die Zwischentöne.

»Das heißt, er wird wieder gesund?«

»Seitdem ich ihn ins künstliche Koma versetzt habe, hat sich sein Zustand stabilisiert.« Volker Lammers reichte seinem Chef das Klemmbrett. »Das letzte Blutbild war deutlich besser. Die Temperatur ist leicht gesunken. Wenn das so weitergeht, kann ich ihn morgen früh aufwachen lassen.«

Daniel schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Er war eindeutig zu alt für solche Aufregungen. Dummerweise interessierte sich das Schicksal nicht für seine Befindlichkeiten.

»Und Fee?«, fragte er heiser.

»Wenn es nach mir ginge, hätte ich sie längst auch ins Reich der Träume geschickt. Aber mich fragt ja keiner.« Lammers wandte sich wieder seinem kleinen Patienten zu. Schlafend waren sie ihm am liebsten. Diese Gelegenheit musste er auskosten, bis der wunderbare Frieden ein Ende hatte.

*

Bis jetzt hatte Niko Arzfeld eine Intensivstation immer für einen Ort der Ruhe gehalten. Mit dem Lärm, dem die Patienten tagein, tagaus dort konfrontiert waren, hatte er nicht gerechnet. Das Problem war Dr. Norden durchaus bekannt. Seit kurzem regelte eine Ampel den Lärmpegel. Sprang sie auf rot, wusste das Pflegepersonal: Es war zu laut. Trotzdem ließen sich manche Geräusche einfach nicht vermeiden. Alle paar Minuten ertönte ein Alarm. Die Überwachungsgeräte piepten unablässig. Das Schnaufen der Beatmungsgeräte mischte sich mit dem Gurgeln der Sekretabsauger. Dazwischen fielen Schranktüren zu, klapperten Glasflaschen und Geschirr, wenn die Spülmaschine ausgeräumt wurde. Am meisten nervten Niko aber die Gespräche auf den Fluren, die erst leiser wurden, als die Ampel auf rot sprang. Ging es darum, ein Leben zu retten, vergaß das Pflegepersonal schon einmal die Lautstärke. Niko Arzfeld konnte es den Schwestern und Pflegern nicht verdenken. Und eigentlich war er ja froh darüber, von seinen düsteren Gedanken, von seinen Sorgen um Silje abgelenkt zu werden. Wenn es nur geklappt hätte …

»Herr Arzfeld!«

Dr. Weigands Stimme ließ ihn herumfahren.

Mit wenigen Schritten erreichte er den Arzt.

»Wie geht es Silje?«

»Leider können wir noch keine Entwarnung geben. Neben einer Antibiotikatherapie haben wir uns zur künstlichen Beatmung entschlossen, um die Lungen zu entlasten und einem möglichen Lungenversagen vorzubeugen. Unterstützend bekommt sie verschiedene Medikamente.« Dr. Weigand klappte die Hülle des Tablets zu und klemmte es unter den Arm. Er sah Niko mitfühlend an. »Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«

Niko nahm die Brille ab und fuhr sich über die brennenden Augen.

»Das alles ist meine Schuld.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Doch. Doch, das stimmt schon.« Niko setzte die Brille wieder auf. »Bestimmt ist Silje nur zu dem Kerl gefahren, um sich an mir zu rächen.«

Trotz seiner Sorge um die Patienten musste Matthias lächeln.

»Silje macht nicht gerade den Eindruck, als wäre sie ein Racheengel.«

Niko Arzfeld winkte ab.

»Rache ist der falsche Ausdruck. Aber vielleicht habe ich sie durch meine ständigen Nachfragen erst an ihn erinnert. Sie in seine Arme getrieben.«

»Das finden Sie nur heraus, wenn Sie mit ihr sprechen.«

Nikos Gesicht spiegelte all das wider, was sich in seinem Kopf, in seinem Herzen abspielte. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit. Das ganze Unglück.

Matthias Weigands Magen zog sich zusammen. Niemand wusste besser als er, was Niko gerade durchmachte. Er selbst hatte den gleichen Fehler begangen. Hatte seine Freundin Sophie mit seinen ständigen Verdächtigungen in die Arme eines anderen getrieben. Doch anders als bei Niko und seiner Verlobten hatte Sophie nicht in Lebensgefahr geschwebt. Allein die Vorstellung, sie hätte sterben können, bevor er sich bei ihr entschuldigt hatte, trieb Matthias den Schweiß auf die Stirn. Er suchte noch nach Worten, um den unglücklichen Mann zu trösten, als Niko ihn ansah.

»Und was, wenn ich keine Gelegenheit habe, die Wahrheit herauszufinden? Was, wenn sie vorher stirbt?«

*

Dr. Daniel Norden war auf dem Weg zu seiner Frau, als er Schritte hinter sich hörte.

Er drehte sich um und musterte den Astronauten, der vor ihm stehenblieb. Er wusste nicht sofort, wen er vor sich hatte. Schwester Gesine? Elena?

»Dem Patienten, der mit der Maschine aus Mexiko gekommen ist, geht es schlechter.«

»Ach, Elena, du bist es.« Daniel zögerte. Schickte einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Fees Zimmer. Er wusste genau, dass er – besonders als Chef dieser Klinik – keine Wahl hatte. Sein Hauptaugenmerk lag auf den Patienten. Egal, wie sehr ihn sein Herz auch in eine andere Richtung diktierte.

»Ich sehe nach ihm. Und sonst?«

»Alle anderen zeigen bis jetzt keine Grippesymptome.« Wenigstens eine gute Nachricht.

»Trotzdem sollen alle eine immunmodulatorische Therapie erhalten«, beschloss Daniel. Elena versprach, sich darum zu kümmern, und wollte sich auf den Weg machen. Doch Daniel hatte noch eine Frage. »Sind Fees Laborergebnisse inzwischen da?«

»Ich fürchte, wir müssen uns noch ein wenig gedulden. Die Herrschaften vom Mikrobiologischen Institut legen inzwischen auf, wenn ich anrufe.«

Die Fältchen um Daniels Augen verrieten, dass er lächelte.

»Ich wusste gar nicht, dass du so penetrant sein kannst.«

»Wenn mir etwas wichtig ist, kenne ich keine Gnade.« Elena zwinkerte ihm zu und drückte ihm das Tablet in die Hand.

Die elektronische Krankenakte von Hans Budai war aufgeschlagen. Damit machte sich Daniel auf den Weg an das Krankenbett des Patienten. Sein Zustand war besorgniserregend.

Doch außer den bereits eingeleiteten vorbildlichen Maßnahmen konnte Dr. Norden nichts für den Patienten tun. So sehr er es auch bedauerte: Manche Dinge lagen nicht in seiner Hand.

Zutiefst bedrückt machte er sich auf den Weg zu seiner Frau. An der Tür zu ihrem Krankenzimmer blieb er stehen. Nahm sich Zeit, um die Frau zu betrachten, mit der er schon ein gefühltes Leben verbrachte. Unvorstellbar, dass sie einmal nicht mehr da sein könnte. Dass er sein Leben allein weiterleben musste. Daniel fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als könnte er mit dieser Geste die dunklen Gedanken vertreiben, die ihn überfielen wie ein Orkan eine friedliche Landschaft.

»Reiß dich zusammen!«, murmelte er sich selbst zu und trat ans Bett seiner Frau.

Fee blinzelte ins fahle Licht des Nachmittags. Es grenzte an ein Wunder, dass sie ihren Mann hinter der Verkleidung erkannte. Oder hatte sie etwa seine Stimme gehört?

»Oh, Dan, wie gut dich zu sehen«, murmelte sie verschlafen. Nur einen Augenblick später saß sie kerzengerade im Bett. Der Überwachungsmonitor schlug Alarm. »Was machst du denn hier? Bist du wahnsinnig geworden?«

»Das nenne ich mal eine freundliche Begrüßung!« Er stellte den nervtötenden Ton ab und drückte sie zurück in die Kissen.

»Aber es ist gefährlich hier. Das habe ich dir doch gesagt. Schlimm genug, dass ich auch flach liege.«

»Wenn du geglaubt hast, ich lasse dich allein, hast du dich geirrt.«

Fee atmete schwer.

»Ich hätte nie gedacht, dass du so unvernünftig bist.«

Genug Diskussion!

»Fynn geht es übrigens besser. Sein Fieber ist gesunken. Und du bist auch bald wieder auf den Beinen.« Daniel legte die behandschuhte Hand an die Wange seiner Frau.

Endlich gab Fee ihren Widerstand auf. Sie schloss die Augen und genoss seine Berührung, seine unverhoffte Nähe. Wieder einmal hatte das Schicksal sie daran erinnerte, wie schnell das Glück vorbei sein konnte. Sie musste es genießen, solange sie dazu in der Lage war.

*

Dass Felix Norden in seelischen Krisenzeiten Heißhunger auf Karotten, Kohlrabi oder Äpfel entwickelte, war so gut wie ausgeschlossen. Nicht umsonst hatte die Natur den Menschen so eingerichtet, dass er sich instinktiv mit Zucker und Fett für schlechte Zeiten versorgen wollte, um die gereizten Nerven einzuhüllen und ruhig zu stellen.

So kam es, dass der zweitälteste Sohn der Familie Norden am Ende des Tages auf der Wolkencouch lümmelte und auf leere Chipstüten, zerknülltes Schokoladenpapier und Gläser mit Kakaoresten starrte. Im Fernsehen lief gerade Werbung für eine neue Eiscreme. Zartes Vanilleeis am Stiel, umhüllt von knackiger Schokolade mit einem Kern aus Himbeerkompott. Eine Komposition, die ihn an seine Schwägerin Tatjana erinnerte. Dabei wollte er gar nicht an sie denken. Das lag nicht daran, dass er sie nicht mochte. Ganz im Gegenteil hatten sie sich bisher immer gut verstanden. So gut, dass sein älterer Bruder Danny sogar ab und zu eifersüchtig gewesen war. Doch diese Zeiten wären ein für alle Mal vorbei, wenn dem kleinen Fynn ein Leid geschähe. So ein Unglück würde sich Felix niemals verzeihen. Selbst wenn er nichts dafür konnte. Keinerlei Anzeichen einer Grippe an sich bemerkt hatte. Nicht das kleinste Kratzen im Hals. Nicht den Anflug einer verstopften Nase. Einfach nichts. Und trotzdem war es passiert.

Er sprang von der Couch auf. Genug nachgedacht. Wenn schon Fett und Süßigkeiten nicht gegen die Weltuntergangsstimmung halfen, tat es vielleicht die Arbeit. Die Chipstüten knisterten in seinen Händen, als das Telefon klingelte. Felix stand vor der Kommode und sah ratlos zwischen seinen vollen Händen und dem Apparat hin und her. Die Hälfte des Mülls rauschte zu Boden, als er ihn unter den Arm klemmte, um das Gespräch anzunehmen.

»Norden, hallo!«

»Felix, mein Lieber, wie geht es dir?«

Um ein Haar hätte er den Hörer fallen gelassen. »Jana!« Die Haut in Felix’ Nacken prickelte. Wie sollte er ihr erklären, was passiert war? »Es tut mir so unglaublich leid. Wenn ich gewusst hätte, dass ich krank bin, hätte ich natürlich nicht mit Fynn gespielt. Aber ich hatte keine Ahnung. Ehrlich nicht. Ich weiß auch nicht, wie das …«

»Felix!«

»… passieren konnte. Wenn Fynn oder Mum nicht mehr gesund werden … Oh, mein Gott, ich darf gar nicht daran denken …«

»Felix, kannst du mal bitte kurz Luft holen!«, rief Tatjana in den Hörer.

Endlich hörte er auf zu reden.

»Entschuldige. Ich bin so aufgeregt.«

»Das musst du nicht sein. Dein Vater hat gerade aus der Klinik angerufen. Zumindest Fynn geht es besser.«

Felix war so erleichtert, dass er auf den Boden sank. Die Chipstüten knisterten unter seinem Gewicht.

Am anderen Ende der Leitung spitzte Tatjana die Ohren.

»Was ist das? Bist du in den Mülleimer gefallen?«

»So ähnlich. Aber das ist nicht so wichtig. Erzähl mir lieber alles über Fynn. Und wie geht es Mum? Hat Dad auch etwas über sie gesagt?«

»Fee liegt wohl noch mit leichtem Fieber auf der Quarantänestation. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung müssen jeden Moment kommen.«

»Hoffentlich wird alles gut.«

»Wir müssen nur fest daran glauben.« Fynns Zustand machte Tatjana Hoffnung. Wenn er es geschafft hatte, würde Fee es auch tun. »Stell dir vor: Daniel hat erzählt, dass Fynn schon wieder nach der Pilotenmütze gefragt hat.« Ein Gedanke kam ihr in den Sinn. »Aber sag, wann musst du wieder fliegen? Dann brauchst du die Mütze doch bestimmt.«

»Ich bin für den Rest der Woche krankgeschrieben. Dad will heute Abend Blut abnehmen und ins Labor schicken. Ich bin erst wieder gesellschaftsfähig, wenn ich kein Überträger mehr bin.«

»Und so lange musst du in Einzelhaft leben?«

»Es gibt Schlimmeres.« Langsam konnte Felix wieder lachen.

»Hoffentlich wird dir nicht zu langweilig.«

»Keine Angst. Ich habe einen Fernseher. Und außerdem eine gute Idee.«

»Und welche?«

»Sei nicht so neugierig! Das erfährst du schon noch früh genug«, lachte Felix und legte auf, bevor ihn Tatjana um den kleinen Finger wickelte und ihm sein Geheimnis entlockte.

*

Die Schatten im Klinikgarten wurden lang. Das Kinderlachen auf dem Spielplatz war schon vor einer Weile verklungen. Gedämpft von den Mauern des Klinikgebäudes klang das Rauschen des Verkehrs hier hinten fast wie ein Fluss. Eine Amsel saß auf einem Laternenmast und sang ihr melancholisches Abendlied. Die Tagschicht in der Klinik endete. Nach achtunddreißig Stunden Dienst machte sich auch Matthias Weigand auf den Heimweg. Die Kollegen übernahmen seine Arbeit. Wachten über Silje Johannson und all die anderen, die in der Klinik auf Heilung hofften. Doch nicht immer gelang es den Ärzten, diese Hoffnungen zu erfüllen.

In den vergangenen 150 Jahren hatte sich die Lebensspanne verdoppelt. Viele Krankheiten, die früher ein sicheres Todesurteil bedeuteten, konnten inzwischen geheilt werden. Und wenn nicht, wurden zumindest die Leiden der Patienten gelindert. Dennoch mussten sowohl Mediziner als auch Kranke einsehen, dass die ärztliche Kunst begrenzt war. Die menschliche Lebenszeit war endlich. Schwer einzusehen für Menschen, deren Liebste in Gefahr waren.

Daran musste Matthias wieder denken, als er vor die Tür trat und die Besucher sah, die sich draußen die Beine vertraten, frische Luft schnappten, Abstand suchten oder einfach nur eine Zigarette rauchten.

Ein lauer Wind strich über sein erhitzte Gesicht. Die Luft roch nach Sonne, gemähtem Gras und Blumen, mischte sich mit einem Hauch von Abgasen von der nahen Straße. Er ging an einer Menschengruppe vorbei, die sich leise unterhielt. Dahinter bemerkte er einen Mann, der allein auf einer der Bänke neben dem Fahrradständer saß.

»Herr Arzfeld, Sie sollten auch langsam nach Hause gehen.« Matthias wusste, dass Niko den ganzen Nachmittag an Siljes Bett gewacht hatte in der Hoffnung, es möge ihr besser gehen.

Niko blickte zu Dr. Weigand auf.

»Ich weiß nicht …«

»Heute können Sie nichts mehr für Ihre Verlobte tun«, versicherte Matthias schweren Herzens. »Wenn Silje aufwacht, braucht sie einen ausgeruhten Mann, der sie in der Zeit der Rekonvaleszenz unterstützt.«

»WENN sie wieder aufwacht.« Niko hob die Brille und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Versprechen Sie mir, dass sie heute Nacht nicht stirbt, und ich gehe nach Hause.«

Es gab durchaus Situationen, in denen Matthias eine Erpressung als legitimes Mittel ansah, seinen Willen durchzusetzen. Diese gehörte nicht dazu. Doch Niko Arzfeld genoss einen Sonderstatus.

»Sie wissen selbst, dass ich Ihnen dieses Versprechen nicht geben kann. Ich kann nur an Ihren gesunden Menschenverstand appellieren und Ihnen Ruhe empfehlen. Was Sie mit diesem Ratschlag anfangen, bleibt Ihnen überlassen.« Er nickte und machte Anstalten zu gehen.

Niko stand auf. Seine Ledersohlen knirschten auf dem Asphalt.

»Natürlich. Bitte verzeihen Sie mir. Normalerweise ist das nicht meine Art. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.«

Matthias drehte sich noch einmal um. Ein Lächeln kräuselte die feine Haut um die Augen.

»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Emotionale Ausnahmesituationen machen andere Menschen aus uns. Ich kenne niemanden, der das nicht schon einmal erlebt hat.«

»Sie sind ein sehr verständnisvoller Mann«, lobte Niko. Seine Stimme vibrierte noch vor Anerkennung, als Matthias den Kopf in den Nacken warf und herzlich lachte.

»Sagen Sie das mal meiner Freundin. Die wird mindestens genauso lachen wie ich jetzt.«

»Vordergründig vielleicht.«

Auch Nikos Mundwinkel zuckten. »Aber tief in ihrem Inneren weiß sie ganz sicher, was sie an Ihnen hat.« Er nickte dem Arzt zu. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging über den Platz vor der Klinik davon.

Matthias sah ihm sinnend nach, bis sich seine Silhouette zwischen Bäumen und anderen Passanten auflöste.

*

Im Gegensatz zu seinen Kollegen konnte sich Dr. Daniel Norden nicht entschließen, die Klinik zu verlassen. Er wanderte von Zimmer zu Zimmer, erkundigte sich nach dem Wohlergehen seiner Patienten. Bei Hans Budai blieb er länger. Trotz intensivmedizinischer Betreuung ging es ihm nicht besser. Es stand in den Sternen, ob er die Nacht überstehen würde.

Schweren Herzens ließ er Schwester Gesine mit dem Patienten allein. Nach der Desinfektionsdusche machte er sich auf den Weg zu seiner Frau. Vielleicht gab es wenigstens dort gute Nachrichten.

Tatsächlich saß Fee halb aufrecht im Bett und telefonierte.

»Ich warne dich. Wenn ich nach Hause zurückkomme, will ich das Haus im Urzustand wiederhaben!«

Unschwer zu erkennen, mit wem sie sprach. Sie bemerkte Daniel an der Tür und winkte ihn zu sich.

»Das ist nicht ungerecht«, sagte sie gleichzeitig in den Hörer. »Ich kenne dich gut genug. Ja, ich dich auch. Schlaf gut.« Sie schickte einen Kuss durch den Äther und drückte auf den Knopf mit dem roten Hörer.

Daniel setzte sich auf die Bettkante.

»Lass mich raten! Du hast Felix die rote Karte gezeigt.«

»Ich habe ihn nur gewarnt. Schließlich kenne ich meine Pappenheimer. Lenni hat sie früher viel zu sehr verwöhnt. Und ich habe keine Lust auf eine komplette Haussanierung, nur weil unser Sohn bei uns campiert hat.«

Ihr Mann betrachtete sie lächelnd.

»Wenn du dich schon wieder um­ so profane Dinge kümmern kannst, scheint es dir wieder besser zu gehen.«

Sichtlich überrascht lauschte Fee in sich hinein.

»Du hast recht. Das habe ich noch gar nicht bemerkt.« Ein Klopfen an der Tür lenkte sie ab. Beim Anblick ihrer Freundin tanzten kleine Fältchen um ihre Augen. »Elena, du bist ja auch noch hier.«

»Nachdem wir schlecht noch mehr Kollegen in die Höhle des Löwen schicken können, bleibt mir ja gar nichts anderes übrig.«

»Und ich dachte schon, du bleibst wegen mir«, scherzte Felicitas und wunderte sich selbst darüber, wie schnell sich so ein Körper erholen konnte. »Was hast du denn da Schönes?« Sie deutete auf das Blatt Papier, das in Elenas Hand zitterte.

»Die Auswertung des Mikrobiologischen Instituts ist endlich da.« Elena zog die Gesichtsmaske vom Kopf. Erst jetzt sahen Daniel und Fee, dass ihre Freundin strahlte wie die Sonne persönlich. »Negativ. Du hast keine Schweinegrippe und auch sonst keine ansteckenden Krankheiten.«

In einem Anfall von Euphorie beugte sich Daniel über seine Frau und wollte sie küssen. Die Plastikmaske traf auf den Mundschutz.

Fee lachte.

»Nicht sehr romantisch, so ein Astronautenkuss.« Sie nahm den Mundschutz ab, half Daniel, seinen Schutz abzustreifen. Endlich war der Weg frei.

Diskret senkte Elena den Blick. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Mann, ihrer Familie. Ein Wiedersehen war in greifbare Nähe gerückt. Nicht, dass sie Fee und Daniel ihr Glück nicht gönnte. Trotzdem wünschte auch sie sich nichts sehnlicher, als diesem Gefängnis endlich zu entkommen.

Zum Glück ging der schwache Moment vorüber, und sie konnte schon wieder lächeln, als sich Fee und Daniel voneinander lösten.

»Und woher kam dann das Fieber?«, erkundigte sich Felicitas.

»Wer von uns beiden hat den Facharzt in Kinder- und Jugendpsychiatrie?«

Fee neigte den Kopf. Eine blonde Strähne fiel ihr ins Gesicht. Abwesend wischte sie sie weg.

»Du meinst, das war eine psychosomatische Reaktion?« Um ein Haar hätte sie laut herausgelacht. »Entschuldige bitte, aber so ein zartes Pflänzchen bin ich nun auch wieder nicht.«

»Offenbar doch«, widersprach Daniel. »Wahrscheinlich hast du so sehr mit Fynn mitgelitten, dir solche Vorwürfe gemacht, dass du die gleichen Symptome wie er entwickelt hast.«

Fee verzog den Mund.

»Richtig. Jetzt erinnere ich mich, Studien zu diesem Thema gelesen zu haben. Aber ehrlich gesagt habe ich das für Geschichten aus dem Märchenreich gehalten.« Sie seufzte. »Ein Glück, dass mir das nicht bei jedem meiner Patienten passiert. Sonst könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als eine Stimme vom Flur hereinwehte.

»Sie wollen aufhören?« Die Hoffnung färbte Lammers Stimme warm.

Seine Miene war fast freundlich, als er den Kopf durch die Tür steckte.

»Das mit dem Lauschen müssen Sie noch üben«, entfuhr es Dr. Norden.

Er hatte die Lacher auf seiner Seite.

Lammers dagegen stieß einen unfeinen Fluch aus und wollte schon die Flucht antreten. Doch Felicitas war noch nicht fertig.

»Im Übrigen möchte ich mit bei Ihnen bedanken, Kollege Lammers.« Bei jedem anderen Kollegen wären ihr diese Worte leicht über die Lippen gekommen. Zu dumm, dass ausgerechnet ihr ungeliebter Stellvertreter Fynn gerettet hatte. Sie griff nach Daniels Hand und hielt sie fest. »Sie haben unserem Enkel das Leben gerettet. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unglaublich dankbar ich Ihnen dafür bin.«

Volker Lammers witterte seine Chance.

»Habe ich jetzt einen Wunsch frei?«

»Nein!«, riefen drei Stimmen gleichzeitig.

*

Nach einer schlaflosen Nacht voller Bangen und Hoffen machte sich Niko Arzfeld am nächsten Morgen zu Fuß auf den Weg in die Klinik. Der Wind wehte die Stimme des Bahnhofansagers über die Straße. Gleich darauf ruckelte die Trambahn vorbei. Ein orangefarbener Wagen der Stadtgärtnerei parkte am Straßenrand. Die Motorsäge fraß sich stotternd durch die Büsche auf dem Mittelstreifen. Die Fußgängerampel wechselte auf rot. Niko sprang noch schnell über die Straße, ehe die Motoren der wartenden Autos neben ihm aufheulten. Er wanderte an einer Reihe Wohnblöcken vorbei. Ein Rasenmäher ratterte über die Wiese zwischen Wäschespinnen und Kinderspielplatz. Zwei weiße Tauben flogen mit synchronem Flügelschlag Richtung Klinik. Niko nahm es als gutes Omen, zumal auch der Anruf aus der Klinik in der Nacht ausgeblieben war. Das Klinikum kam in Sicht, und kurz darauf betrat er die Lobby. Ein Summen wie in einem Bienenstock schlug ihm entgegen. Zielstrebig schlängelte er sich an einem Paketboten vorbei, grüßte lächelnd das Personal hinter dem Tresen und bog nach rechts in den Flur ab, der zur Intensivstation führte.

Wenig später betrat er Siljes Zimmer. Sie war wach. Und auch Matthias Weigand war schon wieder im Dienst. Bewaffnet mit seinem Tablet stand er vor dem Geräteturm und kontrollierte die Werte.

»Das sieht alles sehr gut aus«, sagte er zu Silje und winkte Niko herein, der an der Tür stehen geblieben war. »Natürlich wird es noch eine Weile dauern, bis Sie sich von diesen Strapazen erholt haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass einer Hochzeit nichts im Wege stehen wird.« Er nickte dem Paar zu und verabschiedete sich fürs Erste.

Auf diesen Augenblick hatte Silje nur gewartet. Sie streckte die Hand nach ihrem Liebsten aus. Ihr Lächeln war nur ein schwacher Abglanz ihres früheren Strahlens. Aber zumindest war es zurückgekehrt.

»Mein Liebling«, murmelte Niko und presste ihre Hand an seine Wange. »Wie fühlst du dich?«

»Als hätte ich mir eine schwere Virusinfektion eingefangen.«

Niko lachte pflichtschuldig. Er nahm ihre Hand herunter. Betrachtete versonnen jeden einzelnen Finger.

Die Nägel, die sie kurz schnitt, damit sie beim Graben, Kratzen und Pinseln zwischen alten Steinen nicht abbrachen. Hatten diese Finger wirklich einen anderen berührt?

»Silje, ich will …«

»Ich weiß, was du mich fragen willst«, fiel sie ihm ins Wort. »Bist du mir sehr böse, wenn ich es dir nicht sagen kann? Noch nicht.«

Da war es wieder, dieses Gefühl in seiner Mitte, einer Magenverstimmung nicht unähnlich.

»Das kannst du mir nicht antun. Ich muss wissen, warum du irgendwo im Vorderen Orient warst statt in Mexiko, wie du mir erzählt hast.« Niko spürte, wie sich die Finger in seiner Hand zurückzogen.

Er hob den Blick.

Silje starrte ihn an. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem Klinikhemd. Bei jedem Atemzug entwich ihrem Mund ein ziehendes Geräusch.

»Du denkst, ich war in Ägypten? Bei Abdul?«

Niko zuckte mit den Schultern.

»Dieser Gedanke liegt doch nahe, findest du nicht?«

»Aber Nikolaus!« So nannte sie ihn immer, wenn sie verstimmt war. »Wie kannst du so etwas denken? Das ist Jahre her. Vertraust du mir denn nicht?« Silje hustete.

»Doch. Schon.«

»Aber?«

»Na ja.« Er hielt ihrem bohrenden Blick nicht länger stand. »Denkst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du in den letzten Wochen irgendwie anders warst, wenn wir geskypt haben? Dass du meinen Fragen ausgewichen bist? Denkst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du etwas vor mir verbergen wolltest.«

Eine steile Falte war zwischen Siljes Augen aufgetaucht. Wie eine Pfeilspitze deutete sie auf ihre Nase.

»Stimmt. Ich habe Geheimnisse vor dir«, presste sie keuchend durch die Lippen. »Aber ich hatte gehofft, dass du mir vertraust. Immerhin wollen wir bald heiraten.«

Niko suchte noch nach einer Rechtfertigung, als sie den Kopf wegdrehte.

»Bitte lass mich jetzt allein. Ich bin müde.«

»Aber …«

»Hast du mich nicht verstanden?« Wieder dieser furchteinflößende Husten, wie das Bellen eines Hundes.

Niko fürchtete um ihre Gesundheit, wenn er noch länger blieb und Silje sich aufregte. Er stand am Bett, wollte gehen und konnte sich doch nicht losreißen.

»Gut. Dann … ja, dann gehe ich mal.«

Erst als Silje die Augen schloss und ihr Atem ruhiger wurde, machte er ernst und verließ das Zimmer mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern.

*

Als Dr. Daniel Norden an diesem Tag die Quarantänestation betrat, hallte ihm schon das Plappern und Brabbeln von Fynn entgegen. Seit der Kleine das Sprechen für sich entdeckt hatte, stand sein Mundwerk keine Sekunde still. Auch dann nicht, wenn er keinen menschlichen Zuhörer hatte. Dann musste eben sein Spielzeugelefant mit dem angelutschten Rüssel daran glauben. Oder seine Puppe, die Bauernhoftiere aus Holz oder der große, gelbe Bagger, der so schön knatterte, wenn er ihn über den Boden schob. Daran war natürlich im Augenblick noch nicht zu denken. Noch musste Fynn brav das Bett hüten und sich die Zeit mit Bilderbüchern und Liederkassetten vertreiben. Zu gern hätte Daniel sich zu seinem Enkel gesetzt und gemeinsam Kinderlieder gesungen. Geschichten vorgelesen. Heute hätte er noch nicht einmal etwas dagegen gehabt, sich Löcher in den Bauch fragen zu lassen. Im Gegensatz zu Hans Budai konnte er noch Fragen beantworten.

»Dr. Lammers hat alles in seiner Macht stehende getan«, berichtete Schwester Elena und betrachtete sinnend die Kerze auf dem Tisch. Wann immer irgendwo eine Tür geöffnet oder geschlossen wurde, flackerte die Flamme. »Trotzdem hat Herr Budai es leider nicht geschafft. Sein Organismus war schon zu geschwächt.« Gemeinsam mit ihrem Chef stand sie im Dienstzimmer.

Der Verstorbene war noch in der Nacht abgeholt, das Zimmer geräumt und desinfiziert worden. Wie immer in der Klinik blieb in solchen Fällen nur wenig Zeit für ein Innehalten.

»Wenigstens hat er von alledem nichts mehr mitbekommen.« Daniel hatte es schon am Abend vorher geahnt und reagierte entsprechend gefasst.

Ganz im Gegensatz zu Schwester Gesine, die immer wieder in Tränen ausbrach und vor sich hin jammerte. Eine Weile hatte Elena Verständnis dafür. Doch irgendwann platzte ihr der Kragen.

»Sie sollten sich überlegen, ob Sie für diese Arbeit geeignet sind, Schwester«, schimpfte sie in Daniels Beisein.

Gesine japste wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Natürlich ist es schlimm, wenn uns ein Patient verlässt«, fuhr Elena etwas milder fort. »Wenn wir mit all unseren Bemühungen scheitern. Und natürlich darf man trauern. Aber zu nah dürfen wir das Leid unserer Patienten nicht an uns heranlassen. Sonst können wir nicht mehr das sein, wofür wir hier sind: Hilfe und Unterstützung in schweren Zeiten. Haben Sie das verstanden?«

Schwester Gesine biss sich auf die Unterlippe und nickte. Sie nahm das Taschentuch, das Daniel Norden ihr reichte und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus, gönnen Sie sich etwas Schönes, das Ihnen Freude macht«, sagte der Klinikchef.

»Aber ich habe heute Dienst.«

»Ich regle das für Sie.« Daniel lächelte. »Sie bekommen einen Tag Sonderurlaub.«

»Wirklich?« Mit einem Schlag vergaß Gesine ihren Kummer. Einen Moment lang sah sie so aus, als wollte sie dem Klinikchef um den Hals fallen.

Schon wappnete sich Daniel gegen den Überfall, als sie an ihm vorbei aus dem Zimmer sprang.

»Desinfektionsdusche nicht vergessen!«, rief er ihr nach.

Mit verschränkten Armen lehnte Elena am Tisch und schüttelte den Kopf.

»Warum nur habe ich manchmal das Gefühl, dass ich auf den Arm genommen werde?«

»Weil du auch müde bist.« Daniel legte den Arm um die Schultern der Freundin und zog sie an sich. »Aber du musst leider noch ein bisschen durchhalten.«

»Und wenn ich auch weine?« Elena zwinkerte ihm zu.

Daniel warf den Kopf in den Nacken und lachte. Und die Kerzenflamme tanzte, als wollte sie sich mit ihm freuen.

*

Wie ein Tiger im Käfig wanderte Niko Arzfeld in der Lobby auf und ab. Tief versunken in seine Gedanken bemerkte er nicht den Arzt, der, bis oben hin beladen mit Päckchen, direkt auf ihn zusteuerte. Ein Zusammenstoß war unvermeidlich.

»Hoppla!« Hilflos musste Matthias dabei zusehen, wie die kleinen Pakete über den Boden sprangen und sich in alle Himmelsrichtungen verteilten.

»Dr. Weigand!« Niko erkannte den Arzt seiner Verlobten sofort. »Es tut mir leid. Warten Sie! Ich helfe Ihnen.« Gemeinsam bückten sie sich und sammelten die Päckchen wieder ein. Kurzentschlossen bot er seine Hilfe beim Transport an.

»Sehr gern!« Matthias nahm das Angebot an. Der Verlobte seiner Patientin lag ihm inzwischen fast so sehr am Herzen wie Silje selbst. »Das waren doch ein paar zu viel.«

»Nicht umsonst gelten wir Männer als Meister der Selbstüberschätzung.«

Dr. Weigand schickte seinem Begleiter einen Seitenblick.

»Das meinen Sie hoffentlich nicht in Bezug auf Ihre Verlobte.«

Einen Moment lang liebäugelte Niko mit einer Lüge.

»Leider doch«, seufzte er. »Dabei war ich so sicher, die Sache richtig anzupacken. Ich wollte Silje nach diesem Kerl fragen. Aber sie hat mich von vornherein durchschaut.«

Mit dem Ellbogen drückte Matthias auf den Türöffner. Schmatzend ließ die Glastür die beiden Männer passieren.

»Sophie, also meine Freundin, wittert den Braten auch immer einen Kilometer gegen den Wind«, gestand Matthias Weigand. Er bog in sein Büro ein und lud die Pakete auf dem Schreibtisch ab. »Offenbar haben unsere Frauen einen eingebauten Empfänger für Männergedanken.«

Sein Plan ging auf. Trotz seiner Verzweiflung musste Niko über diese Vorstellung lachen. Allerdings nur kurz. Zu drängend waren seine Sorgen. Er sah Matthias dabei zu, wie er Schachtel um Schachtel öffnete und einen Blick hinein warf.

»Dummerweise weiß ich jetzt nicht, was ich machen soll.«

»Ganz einfach.« Matthias hielt in seiner Arbeit inne und drehte sich um. »Sie gehen zu ihr und fangen noch einmal von vorn an.«

Niko zog eine Augenbraue hoch.

»Sicher?«

»Ganz sicher.« Matthias nickte ihm zu. »Das, was Sophie letztlich überzeugt hat, war meine Hartnäckigkeit. Wir haben uns zwar die meiste Zeit gestritten. Aber zumindest haben wir nie aufgehört, miteinander zu reden.«

Niko legte das letzte Päckchen zu den verbliebenen auf den Tisch.

»Also gut. Sie haben mich überzeugt.« Er ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie meine Wunden verarzten, falls es schief gehen sollte.«

Matthias lachte.

»Sie haben mein Wort.«

*

Silje hatte gelogen, als sie behauptet hatte, müde zu sein. Mit weit geöffneten Augen lag sie im Bett und starrte aus dem Fenster. Noch nicht einmal der zwitschernden Bande Spatzen gelang es, sie von ihrem Ärger, ihrer Enttäuschung abzulenken.

»Schade nur, dass ich noch nicht aufstehen kann. Sonst könnte er sein blaues Wunder erleben.«

»Nur zu, tu dir keinen Zwang an.«

Siljes Kopf flog auf dem Kissen herum.

»Niko!«

Ihr Tonfall verriet sie. Niko wusste sofort, dass Dr. Weigand mit seinem Rat richtig lag. Derart ermutigt trat er ans Bett.

»Es tut mir leid, wie das Gespräch vorhin gelaufen ist. Das lag nicht in meiner Absicht.«

Silje sah ihren Verlobten an. Plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen. Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie.

»Warum vertraust du mir nicht?«, schluchzte sie. Ein eindeutiges Zeichen ihrer Schwäche. Sie war keine Frau, die nah am Wasser gebaut war. »Habe ich dir jemals Anlass zur Eifersucht gegeben?«

Niko senkte den Kopf. Starrte auf ihre ineinander verschlungenen Finger.

»Nein, nie«, gestand er leise. »Sonst hätte ich diese Fernbeziehung niemals ertragen. Aber in den letzten Wochen …«

»Meine Geheimnisse, ich weiß.« Silje lächelte unter Tränen. »Dort drüben liegt meine Tasche. Holst du sie bitte.«

Niko folgte ihrem Fingerzeig und brachte die Handtasche vom Stuhl in der Ecke. Eine Weile kramte Silje darin herum, bis sie schließlich ein Kästchen zutage förderte. Sie reichte es ihrem Verlobten.

»Hier, für dich. Dein Hochzeitsgeschenk.«

Das Kästchen fühlte sich warm an und bot seiner zitternden Hand Halt. Sein Hochzeitsgeschenk? Na­türlich!

»Mach’ es auf!«, verlangte Silje.

Niko klappte den Deckel auf. Eine schlichte Tonscherbe lag darin. Darauf ein eingeritzter Text. Hieroglyphen natürlich.

»Ein Ostrakon.« Diese Scherben, billiges Schreibmaterial in grauer Vorzeit, hatten ihn schon damals auf seiner Forschungsreise fasziniert. Eine davon zu besitzen, war sein größter Traum gewesen. Silje hatte es nicht vergessen. »Deshalb bist du extra nach Ägypten gereist?«, fragte er heiser.

»Einer meiner ehemaligen Kollegen hat es für mich besorgt. Er wollte es mit der Post nach Mexiko schicken. Aber das war mir zu gefährlich. Deshalb habe ich mich für die Reise entschieden.«

»Und dich mit diesem furchtbaren Virus angesteckt.«

»Du siehst, für dich ist mir kein Risiko zu groß.« Die Tränen waren versiegt. Silje konnte wieder lächeln. »Das hätte ich für keinen anderen Mann getan.« Und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Noch nicht einmal für …«

Weiter kam sie nicht.

Den Rest ihres Satzes erstickte Niko mit einem Kuss auf den Mundschutz. Lachend setzte sich Silje zur Wehr. »Aber die Ansteckungsgefahr …«

»Für dich ist mir kein Risiko zu groß!«

Das Lachen der beiden hallte hinaus auf den Flur. Schwester Camilla, die gerade ins Zimmer kommen wollte, drehte ab. Hier wurde sie im Augenblick nicht gebraucht.

*

Eine milde Brise wehte durch den Garten, den der Himmel in alle Nuancen von Blau tauchte. Dunkelblau die Bäume und Sträucher. Davor, etwas heller, das Haus der Nordens mit leuchtenden Fensteraugen. Wie bei einer perfekt geplanten Theaterkulisse fiel das Licht aus dem Wohnzimmer genau auf den Gartentisch. Platten mit Käsespezialitäten, garniert mit frischen Früchten standen neben Rohkosttellern und Garnelenspießen. Getrocknete Tomaten lockten neben Oliven und marinierten Karotten. Artischockentarte und Gorgonzolatorte machten ebenso Appetit wie der geräucherte Lachs mit Ingwerhobeln. Dazwischen thronten Brotkörbe, randvoll mit Spezialitäten aus Tatjanas Bäckerei. Sie war es auch, die sich um das Dessertbuffet gekümmert hatte. Keine Frage, dass es keine Wünsche offenließ.

Fee Norden stand neben ihrem Sohn Felix in der Terrassentür, ein Glas Sekt in der Hand, und bewunderte die Pracht.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du das alles wirklich selbst gemacht hast.«

»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich war doch über eine Woche ans Haus gefesselt.« Felix grinste. »Mal abgesehen davon ist mir meine Familie jede Mühe wert.«

Das Kompliment ging in Fees Misstrauen unter.

»Und wer hat die ganzen Zutaten eingekauft?«

»Dad natürlich«, erwiderte Felix ohne Zögern. Er breitete die Arme aus. »Ohne meinen großartigen Vater wäre das alles nicht möglich gewesen.«

»Kindskopf.« Fee stieß ihren Zweitältesten in die Seite. Inzwischen hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass er jemals erwachsen werden würde. »Wo steckt er denn eigentlich, dein toller Vater?« Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über die Menschen gleiten, die sich im Wohnzimmer versammelt hatten.

Anneka saß am Klavier und spielte selbstvergessen ihre Lieblingslieder. Ihr Freund Sascha stand daneben und himmelte sie an. Janni lümmelte neben seiner Schwester Dési auf der Couch und ärgerte sie. Neben Computerspielen nach wie vor eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Tatjana diskutierte mit der ehemaligen Haushälterin Lenni über die neuesten Rezeptideen, während ihr Lebensgefährte Oskar sich mit Danny über die Anschaffung eines neuen Wagens unterhielt. Kein Maler hätte diese ganz normale, etwas langweilige Familienszene auf Leinwand festgehalten. Doch für Felicitas war dieses Treffen etwas ganz Besonderes. Der überstandene Schrecken hatte sie wieder einmal daran erinnert, wie kostbar das Leben war. So kostbar, dass es in jedem Augenblick in vollen Zügen genossen werden wollte. Genau wie ein Kind, das im Hier und Jetzt lebte, wie Fynn wieder einmal bewies.

Felix’ Pilotenmütze auf dem Kopf, stieg er in den Armen seines Opas hinauf in die Lüfte. Schwebte mit ausgebreiteten Armen über den Köpfen seiner Familie. Er juchzte und kreischte vor Freude, als Daniel sich im Kreis drehte und er sich mit ihm.

»Sieh dir den kleinen Racker an!« Fee wusste nicht, wer sich mehr über die Lebensfreude ihres Enkels freute. Die Eltern oder sie selbst. »Aber was hält er denn da in der Hand?«

»Sieht aus wie ein Papierflieger«, schlussfolgerte Felix messerscharf.

Bevor Fynn zur Landung ansetzte, schickte er das Papierflugzeug auf die Reise. Es zog ein paar Kreise, ehe es zielsicher vor Fees Füßen landete. Sie bückte sich danach. Bewunderte die geniale Konstruktion, als ihr die Worte und Zahlen auf dem Papier ins Auge stachen.

»Moment mal. Das ist doch …«

Während sich Felix hinter ihr aus dem Staub machte, faltete sie das Flugzeug auseinander.

»… die Rechnung eines Catering-Service.« Sie fuhr zu ihrem Sohn herum.

Auf diesen Moment hatte Felix nur gewartet.

»Das Buffet ist eröffnet«, rief er und zwinkerte seiner Mutter zu.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman

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