Читать книгу Dr. Norden Bestseller Box 15 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Ihr Name

ist Katrin

Roman von Patricia Vandenberg

»Notruf, Herr Doktor«, sagte Loni, Dr. Nordens Praxishelferin, aufgeregt. »Die Wagen sind im Einsatz.«

»Wo?« fragte er.

»Bei der Unterführung.«

»Entschuldigung, Herr Mayer, bitte, haben Sie Verständnis«, sagte Dr. Norden zu seinem Patienten.

Der alte Herr nickte nur, und Dr. Norden war schon an der Tür. Bis zur Unterführung war es nicht weit, schon sechs Minuten später war er da.

Mühsam mußte er sich einen Weg durch die Neugierigen bahnen, die sich um die Unfallstelle scharten, und wieder einmal packte ihn der Zorn.

»Ich bin Arzt«, sagte er so barsch, wie es kein Patient von ihm gewohnt war. »Haben Sie nichts anderes zu tun, als hier herumzustehen?«

Man machte ihm Platz. Einige Passanten erkannten ihn und verzogen sich schnell.

Auf der Straße lag ein Mädchen, neben ihr ein Fahrrad. Ein paar Schritte entfernt standen ein Auto und ein Funkstreifenwagen. Ein junges Paar kniete bei der Verletzten, die bewußtlos war.

»Ich war es nicht«, sagte der junge Mann gerade, als Dr. Norden näher trat. »Der Kerl ist einfach weitergefahren.«

Dr. Norden hörte es, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Er beugte sich zu dem Mädchen hinab.

»Katrin«, sagte er bestürzt.

»Sie kennen die Verletzte?« fragte der Polizist.

»Ja«, erwiderte er kurz. Er fühlte den Puls, zog leicht die Augenlider empor, und da hob schon ein tiefer Atemzug ihre Brust. Benommen sahen die graublauen Augen ihn an.

»Dr. Norden«, flüsterte Katrin Pflüger.

»Wird alles wieder gut, Katrin«, sagte er beruhigend. Dann sah er den Polizisten an.

»Ich bringe sie in die Klinik. Sie ist nicht schwer verletzt. Ihr Name ist Katrin Pflüger. Ich bin Dr. Norden. Sorgen Sie bitte dafür, daß ich mit der Verletzten wenigstens ungehindert zum Wagen komme.«

Er hob die leichte Gestalt auf. Die Passanten verzogen sich. Es ist doch unglaublich, dachte Dr. Norden, immer haben sie es eilig, aber zum Gaffen haben sie Zeit. Tröstlich war es nur, daß die kleine Katrin nicht schwer verletzt war.

Er kannte ihre Eltern, nette, einfache Leute, die immer besorgt um das Mädchen waren. Er kannte auch Katrin, die er mehrmals behandelt hatte.

Behutsam bettete er sie auf den Rücksitz. »Ganz ruhig sein, Katrin«, sagte er. »Ich bringe dich nur vorsichtshalber in die Klinik.«

»Ich muß ins Geschäft«, murmelte sie. »Der Direktor ist so streng.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen«, erwiderte er. »Sie bekommen ja ein Attest.«

Dr. Daniel Norden wußte, wie gewissenhaft Katrin war und wie bedacht auf ihr Fortkommen, froh, ihre Eltern endlich entlasten zu können.

Hermann Pflüger war vor zwei Jahren durch einen Betriebsunfall Halbinvalide geworden und konnte seither nur durch Gelegenheitsarbeiten etwas zu seiner nicht gerade üppigen Rente hinzuverdienen. Lotte Pflüger hatte eine Halbtagsstellung in einem Lebensmittelgeschäft angenommen. Katrin hatte ihre Lehre als Verkäuferin gerade beendet und wurde nun besser bezahlt. Dr. Norden hatte immer bedauert, daß diesem intelligenten Mädchen keine anderen Startchancen geboten werden konnten, aber wenigstens waren die Familienverhältnisse sonst intakt. Die Pflügers hingen mit abgöttischer Liebe an ihrer Tochter, und Katrin erwiderte diese Liebe gleichermaßen.

Daniel Norden brachte Katrin zur Behnisch-Klinik. Auf seinen Freund Dieter Behnisch konnte er sich verlassen. Er würde sich sofort der Verletzten annehmen.

Dr. Dieter Behnisch kannte Katrin ebenfalls. In seiner Klinik hatte Hermann Pflüger drei Monate zugebracht, bis er wieder halbwegs genesen war.

Katrin rollten nun doch Tränen über die Wangen. Sie hatte Schmerzen.

»Es wird gleich besser, Kleine«, sagte Dr. Behnisch. Er gab ihr eine Injektion, dann sah er Dr. Norden an.

»Ich untersuche sie und erstatte dir Bericht, Daniel. Wie ist es denn passiert?«

»Sie ist angefahren worden. Genaues weiß ich noch nicht. Anscheinend hat der Schuldige Fahrerflucht begangen.«

»Diese Lumpen«, knurrte Dr. Behnisch.

*

An der Unfallstelle waren die Personalien der Zeugen aufgenommen worden. Zuverlässig war nur das junge Ehepaar, das hinter dem Wagen gefahren war, der Katrin gestreift und dann auch noch geschnitten hatte. Sie hatten glücklicherweise noch bremsen können, da sie schon gesehen hatten, daß die Ampel auf Gelb gewesen war.

Sie hießen Gerd und Renate Büchner. Der Schreck saß ihnen noch gewaltig in den Gliedern.

Es sei ein grauer Mercedes gewesen, erklärten sie. Die Nummer hätten sie sich leider nicht merken können. Sie hatten ja auch nicht geahnt, daß so etwas passieren würde.

Im Wagen hätte nur ein Mann gesessen, erklärte Renate Büchner. Zuerst hätten sie sich geärgert, daß er gar so langsam fuhr, aber dann hätte er plötzlich Gas gegeben, als das Mädchen auf die Kreuzung zufuhr.

Sie wollten sich gern als Zeugen zur Verfügung stellen, wenn der Schuldige gefunden würde, wollten dann aber gern schnell fort. Sie betrieben eine Lottoannahmestelle mit Tabakwaren und Zeitschriftenhandel, und am Freitag war da immer besonders viel zu tun.

Die Personalien waren aufgenommen, sie konnten weiterfahren. Nun hatten sie sich halbwegs beruhigt.

Im Kaufhaus Heller wurde Katrin vermißt. Zuerst von dem jungen Abteilungsleiter Robert Brehm, der Katrin nicht nur als Angestellte betrachtete, wenngleich er dies niemandem zeigte, auch ihr nicht. Er blickte immer wieder auf die Uhr. Katrin war sonst überpünktlich.

Der Geschäftsführer Rainer John kam daher. »Fräulein Pflüger immer noch nicht da?« fragte er in seiner herablassenden Art.

»Nein«, erwiderte Robert.

»Und keine Entschuldigung?« fragte der andere.

Robert schüttelte besorgt den Kopf. »Sie ist sonst sehr zuverlässig«, erklärte er, bemüht, Katrin zu verteidigen.

»Bummelei lassen wir gar nicht erst einreißen«, sagte der Geschäftsführer. »Sie soll sich bei mir melden, wenn sie kommt.«

Robert sandte ihm einen zornigen Blick nach. Er mochte diesen Mann nicht. Er war ihm von Anfang an unsympathisch gewesen. Niemand mochte ihn so recht, aber schließlich war er der Neffe des verstorbenen Inhabers.

Das Kaufhaus Heller war kein Konzern. Es war ein Familienunternehmen seit achtzig Jahren. Aber weit von der City entfernt, in der sich die Kaufhäuser aneinanderreihten, hatte er sich sehr gut behaupten können. Es florierte und besaß eine gesunde finanzielle Basis. Sebastian Heller war nie ein Risiko eingegangen.

Früh verwitwet nach einer kinderlosen Ehe, hatte er nicht wieder geheiratet. Er hatte wohl schon gespürt, daß eine unheilbare Krankheit ihn aufzehrte. Vor einem Jahr war er gestorben, aber wer nun eigentlich sein Erbe war, wußte niemand.

Sein Freund Konrad Dippmann war als Direktor und Treuhänder eingesetzt worden. Er war genauso ein Eigenbrötler wie Sebastian Heller einer gewesen war. Er führte die Geschäfte auch genauso weiter, auf solider Basis und ohne Expansionsgelüste. Er hatte strenge Prinzipien, nach denen man sich richtete, denn die Bezahlung war gut.

Auch Rainer John wurde nicht bevorzugt behandelt. Robert wußte, daß er sein Gehalt bekam wie jeder andere und keinerlei Privilegien genoß. Er spielte sich nur gern auf, wenn der Chef nicht in der Nähe war.

Es verging noch eine Stunde, bis die Nachricht durchgegeben wurde, daß Katrin einen Unfall gehabt hatte. Mit zitternder Stimme hatte es Frau Pflüger telefonisch mitgeteilt.

Robert Brehm war kreidebleich geworden. Er konnte sich nicht konzentrieren. Doch heißer Zorn stieg in ihm empor, als Rainer John sagte: »Warum muß sie denn auch mit dem Rad fahren? Es gibt ja genügend öffentliche Verkehrsmittel.«

*

Dr. Norden hatte die Unglücksbotschaft den Pflügers persönlich und schonend mitgeteilt. Obgleich er erklärte, daß Katrin nur leicht verletzt sei, war die Sorge groß. Das Ehepaar hatte sich gleich auf den Weg zur Behnisch-Klinik gemacht, und erst dort war es Frau Pflüger eingefallen, daß sie Katrins Chef benachrichtigen mußte.

Frau Pflüger arbeitete nachmittags. Auf ihren Verdienst konnte sie nicht verzichten. Viel blieb ihnen ohnehin nicht übrig für Sonderausgaben, denn die Miete war erhöht worden, und alle anderen Kosten waren auch gestiegen. In vier Wochen feierte Katrin ihren achtzehnten Geburtstag, und da hatten sie ihr etwas Hübsches schenken wollen. Jetzt hatten sie nur Angst um die geliebte Tochter.

Katrin war bei Bewußtsein, als die Eltern kamen, zwar immer noch benommen, aber schon bestens versorgt.

»Ist ja nicht so schlimm, Mutti«, sagte sie tröstend. »Morgen kann ich schon nach Hause. Es sind nur Prellungen und ein paar Platzwunden.«

Die Pflügers waren stille Menschen. Sie jammerten nicht. Sie dachten nur, daß es böse hätte ausgehen können. Nun waren sie dankbar, daß sie mit Katrin sprechen konnten.

»Der gute Dr. Norden war gleich da und hat mich in die Klinik gebracht«, sagte Katrin. »Sie haben mich geröntgt und nichts weiter feststellen können.«

»Auf Dr. Behnisch ist auch Verlaß«, sagte Hermann Pflüger. Er vergaß nicht, was er diesem fürsorglichen Arzt zu verdanken hatte. Er war als Lagerist in einem Großunternehmen beschäftigt gewesen und wäre fast von einem Gabelstapler erdrückt worden, der falsch bedient worden war. Mit lebensgefährlichen inneren Verletzungen war er in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden, aber Dr. Behnisch hatte das Wunder vollbracht und sein Leben gerettet.

Katrin streichelte seine Hand. »Du hast viel mehr durchmachen müssen, Vati«, sagte sie zärtlich. »Macht euch jetzt nur keine Sorgen um mich.«

Sie war ein tapferes Mädchen, und ein bildhübsches dazu. Sicher war auch Frau Pflüger mal ein hübsches Mädchen gewesen, aber keinesfalls so apart wie Katrin, mit dem wunderschönen Blondhaar und den großen, sprechenden Augen, dem fast klassisch zu nennenden Profil.

Mit so reichen Gaben der Natur ausgestattet, war sie weder eitel noch oberflächlich. Sie war ein vielseitig interessiertes Mädchen und hatte ein bedeutend besseres Benehmen als so manches Mädchen, das in weitaus besseren wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Allerdings mußte auch gesagt werden, daß ihre Eltern alles getan hatten, um sich selbst weiterzubilden und auch Katrin zu fördern.

Katrin wollte es auch weiterbringen im Leben und deshalb so schnell wie nur möglich an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Sie war glimpflich davongekommen, aber Dr. Behnisch hielt es doch für besser, wenn sie ein paar Tage wenigstens daheim bleiben würde.

Jedenfalls konnte er seinem Freund und Kollegen Dr. Norden berichten, daß Katrin keinerlei innere Verletzungen davongetragen hatte und sie auch sonst keine Narben behalten würde.

»Wäre auch schade um das reizende Geschöpf«, meinte er abschließend.

Dieser Meinung war Daniel ebenfalls. Seine Frau Fee war sehr erschrocken, als er ihr von dem Unfall erzählte.

»Gerade jetzt, wo es ein bisserl besser für sie werden könnte«, sagte sie bedauernd.

»Ihre Stellung wird sie deshalb nicht verlieren«, äußerte sich Daniel.

»Aber dieser neue Geschäftsführer ist ein Unsympath«, stellte Fee fest. »Warum Dippmann ihn nur eingestellt hat, möchte ich wissen. Er ist zwar ein Sonderling, aber in der Auswahl der Mitarbeiter doch sehr vorsichtig.«

»Die Erklärung ist ganz einfach, mein Schatz, John ist der Neffe von Heller, und der hat wohl bestimmt, daß er einen Posten bekommen soll, wenn er selbst Wert darauf legt.«

»Woher weißt du das? Du hast mir davon nichts erzählt.«

»Weil es mir nicht wichtig erschien. Ich weiß es von Dippmann selbst, als ich ihn letzthin wegen seiner Magenbeschwerden behandelt habe. Er bemerkte recht grimmig, daß er auf diesen John leicht verzichten könne und daß seine Beschwerden wohl auf ihn zurückzuführen wären.

»Dann stehe ich mit meiner Meinung also nicht allein da«, sagte Fee zufrieden.

»Ganz gewiß nicht.«

Das konnte man laut sagen. In der Mittagspause ließen sich einige der Angestellten, die ihre Mahlzeit in einem benachbarten Restaurant einnahmen, unwillig über Rainer John aus.

Sogar die Kassiererin, Frau Heindl, die schon seit zwanzig Jahren in der Firma tätig war, regte sich über ihn auf.

»Was dieser Schnösel eigentlich will«, meinte sie, »hat von Tuten und Blasen keine Ahnung und betont nur immer wieder, daß er Akademiker sei. Ich möchte wissen, was der studiert hat. Es macht schon fast keinen Spaß mehr. Wenn ich eine andere Stellung finde, kündige ich.«

Doch sie wußte, daß das in ihrem Alter nicht so einfach sein würde, denn sie ging schon auf die Fünfzig zu.

»Nötig scheint er es doch nicht zu haben«, sagte eine junge Verkäuferin. »Er hat schon wieder einen neuen Wagen. Diesmal einen ganz tollen Renner.«

»Alles Angabe und nichts dahinter«, meinte Frau Heindl.

»Aber er ist der einzige Verwandte von Herrn Heller und wird schließlich doch mal alles erben.«

»Dann hätte er doch schon geerbt«, sagte nun Frau Heindl wieder. »Nein, der Heller war wirklich helle, der hat bestimmt ein ganz vertracktes Testament gemacht. Wenn der John der Erbe wäre, würde er sich noch viel mehr aufspielen, und den Herrn Dippmann hätte er auch schon rausgesetzt. Wenn der auch seine Mucken hat, vom Geschäft versteht er was. Na ja, dann wollen wir mal wieder, Leute. Hoffentlich ist der kleinen Pflüger nicht zuviel passiert.«

Katrin war beliebt, obgleich sie immer zurückhaltend war und auch nie an der Tischrunde teilnahm.

»Ich erkundige mich heute abend mal«, sagte Sonja Moralt. »Wir wohnen ja in der Nähe. Ich habe ihr schon ein paarmal gesagt, daß sie nicht mit dem Radl fahren soll, aber sie spart ja, wo sie nur kann.«

Sonja brauchte nicht zu sparen. Ihr Vater war Taxiunternehmer und verdiente sehr gut. Sie war Verkäuferin geworden, weil sie in der Schule keine Leuchte gewesen war, aber sehr viel Neigung für diesen Beruf zeigte. Sie war ein geselliges Mädchen, das Leben und Abwechslung brauchte und sehr kontaktfreudig war. Sie war das, was man flott nannte und verstand es auch, den Kunden etwas aufzuschwatzen, was sie eigentlich gar nicht haben wollten.

Sie war neunzehn und bereits verlobt mit dem Sohn eines Elektromeisters, der das Geschäft seines Vaters übernehmen sollte.

Obgleich sie immer schick gekleidet war, konnte sie Katrin nicht in den Schatten stellen, und das wußte sie auch. Getauscht hätte sie aber doch nicht gern mit Katrin, denn ihr angenehmes Leben war ihr lieber. In anderer Art als Katrin war sie sogar sehr nett. Und sie hatte Rainer John, der schon ein paarmal versucht hatte, mit ihr anzubandeln, gestrichen, wie sie selbst sagte.

Sie hakte sich bei Frau Heindl ein, als sie zurückgingen.

»Übrigens habe ich John neulich mit so einem Dämchen gesehen, mehr Halbwelt als Welt«, sagte sie gedämpft. »Ich will es nur nicht herumtratschen, sonst kommt es ihm zu Ohren, und dann ekelt er mich raus.«

»Na, das paßt ja zu ihm«, sagte Frau Heindl brummig, »er ist ja auch so ein Gigolo. Vielleicht hat Herr Heller für ihn eine Bewährungszeit angeordnet.«

»Ich bin ja nicht gerade ein Geisteslicht, oder wie man das nennt, aber um den nicht zu durchschauen, müßte man schon Tomaten auf den Augen haben. Jedenfalls soll er mich nicht antippen, sonst kriegt er es mit meinem Ernstel zu tun, und wo der hinhaut, da wächst kein Gras mehr.«

*

Robert Brehm hatte seine Mittagspause dazu benutzt, um Katrins Eltern aufzusuchen. Sie kamen gerade aus der Klinik, und Lotte Pflüger mußte sich fertig machen, um ins Geschäft zu gehen.

Sie kannte Robert vom Sehen, da sie hin und wieder auch ins Kaufhaus Heller ging. Jetzt war sie sehr überrascht, ihn hier zu sehen.

»Entschuldigen Sie bitte«, begann er höflich, »ich habe von dem Unfall gehört und wollte mich nach Katrin erkundigen.«

»Das ist sehr freundlich«, erwiderte Frau Pflüger, »es ist Gott sei Dank glimpflich abgegangen. Sie darf morgen schon wieder heim, und sie will auch bald wieder ins Geschäft kommen.«

»Sie soll sich ruhig schonen«, sagte er leise. »Würden Sie ihr bitte meine besten Grüße und Genesungswünsche ausrichten?«

»Ja, sehr gern«, erwiderte Frau Pflüger, während ihr Mann den Jüngeren sehr forschend musterte.

Das Ergebnis fiel günstig für den jungen Mann aus. Hermann Pflüger war ein kritischer Mann. Mit den Sprüchemachern hatte er es gar nicht. Er war immer den geraden Weg gegangen und hatte sich nie durch Äußerlichkeiten beeindrucken lassen, auch nicht durch eine dicke Brieftasche.

Sauber und anständig, so schätzte er Robert ein, und gut aussehen tat er auch. Er schien allerhand für Katrin übrig zu haben, sonst wäre er wohl nicht selbst und auch nicht so schnell gekommen.

Es war unausbleiblich, daß sie sich eines Tages einem Mann zuwenden würde, aber er wollte darauf achten, daß sie nicht an den Falschen geriet. Katrin war sein Kleinod.

Er wollte sie glücklich sehen, und das wollte er auch noch erleben.

»Darf ich morgen noch mal vorbeischauen?« fragte Robert.

Lotte Pflüger sah ihren Mann fragend an. Der nickte, und sie war erstaunt.

»Am besten gegen Abend«, erwiderte er. »Dann ist meine Frau auch zu Hause.«

Robert dankte und verabschiedete sich. »Ganz netter Junge«, stellte Hermann Pflüger wortkarg fest.

»Und sehr tüchtig soll er auch sein«, sagte seine Frau.

Schnell machte sie ihrem Mann nun das Essen warm, das sie am Vortag schon vorgekocht hatte, und dann ging sie zu ihrem Geschäft.

Dort wußte man schon, daß Katrin verunglückt war. Eine Angestellte war an der Unfallstelle gewesen. Teilnahmsvoll erkundigte man sich, wie es Katrin gehe. Frau Pflüger war hier genauso beliebt wie Katrin im Kaufhaus. Man war erleichtert, daß nichts Schlimmeres passiert war.

Der Tag verging wie jeder andere, auch in der Praxis von Dr. Norden, der dann allerdings noch kurz nach sechs Uhr Besuch bekam.

Es war Renate Büchner, die sich nach dem Befinden von Katrin erkundigen wollte. Er erkannte sie nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte an der Unfallstelle Katrin gegolten.

Sie sagte, daß sie den ganzen Tag an das Mädchen hatte denken müssen.

»Wir möchten sie besuchen und ihr eine kleine Freude bereiten«, sagte sie verlegen. »Wir haben sie morgens schon öfter gesehen. Sie fällt ja auf. Sie hat bestimmt nicht die geringste Schuld an dem Unfall gehabt, denn sie ist ganz vorschriftsmäßig und vorsichtig gefahren, Herr Doktor.«

»Ich kenne Katrin. Ich weiß, daß sie vorsichtig ist«, erwiderte er.

»Man muß diesen Kerl doch finden. Wir möchten zu gern dazu beitragen.«

»Vielleicht hilft der Zufall«, meinte Dr. Norden.

»Wir werden jedenfalls die Augen offenhalten. Wenn wir uns nur die Nummer gemerkt hätten. In welche Klinik ist sie denn gebracht worden?«

»In die Behnisch-Klinik, aber sie kann morgen schon wieder nach Hause gehen.«

Sie atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank, daß es nicht schlimmer ausgegangen ist.«

Katrin hatte keine Ahnung, wieviel Menschen sich um sie sorgten, und erst recht nicht, daß sie Robert Brehm eine unruhevolle Nacht bereitete. Sie hatte doch noch mal ziemliche Schmerzen bekommen, und sie bekam wieder eine Injektion und versank dann in einen Tiefschlaf, der sie alles vergessen ließ.

*

Sonja Moralt war auch bei den Pflügers erschienen. Sie hatte Blumen, Süßigkeiten und ein paar Bücher für Katrin mitgebracht. Die Kolleginnen hatten gesammelt, um Katrin eine Freude zu machen.

Sie freute sich ehrlich, daß Katrin bald wieder nach Hause kommen konnte.

»Sie soll sich nur kein Bein ausreißen«, meinte sie. »Das dankt ihr keiner.« Und sie gab auch der Hoffnung Ausdruck, daß man den Schuldigen erwischen würde.

»Ist doch nett, wie man sich um Katrin kümmert«, sagte Frau Pflüger.

»Es muß immer erst was passieren«, brummte ihr Mann, »aber hinterher ist auch alles schnell vergessen. Du weißt ja, wie es bei mir war.«

»Jeder hat halt sein Päckchen zu tragen«, meinte sie einsichtig. »Wir sind uns ja auch selbst genug.«

»Eines Tages wird Katrin heiraten«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht geht sie dann weit fort.«

Lotte Pflüger blickte stumm auf den Tisch. »Ich mag nicht daran denken«, sagte sie nach einem langen Schweigen leise.

»Es ist der Lauf der Zeit, Lotte. Wir wollen dankbar sein für die schönen Jahre mit ihr. Sie hat uns nur Freude gemacht.«

»Du sollst nicht reden, als wäre das vorbei.«

»Sie wird bald achtzehn«, sagte er gedankenvoll. »Da kann sich manches ändern.«

Lotte Pflüger sagte nichts mehr. Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft.

*

Robert Brehm wurde am nächsten Morgen zu Direktor Dippmann gerufen. Der Blick, den Rainer John ihm nachschickte, konnte man als ausgesprochen gehässig bezeichnen.

Da Robert sich keiner Schuld bewußt war, hätte ihn dieser Blick allerdings auch nicht gestört.

Man konnte den Empfang freundlich nennen, obgleich Konrad Dippmanns Gesicht undurchschaubar war wie immer.

»Nehmen Sie bitte Platz, Herr Brehm. Ich habe einiges mit Ihnen zu besprechen«, wurde Robert aufgefordert. »Zuerst eine Frage: Wissen Sie, wie es der kleinen Pflüger geht?«

Wollte er nur auf den Busch klopfen? Ahnte er, daß Robert größeres Interesse an dem Mädchen hatte?

Robert wußte sehr gut, daß es zu Herrn Dippmanns Prinzipien gehörte, keine persönlichen Beziehungen innerhalb des Betriebes zwischen männlichen und weiblichen Angestellten zu tolerieren. Aber er wollte doch lieber bei der Wahrheit bleiben.

»Ich habe mich erkundigt«, gab er zu. »Es ist glücklicherweise noch verhältnismäßig gut abgegangen.«

»Freut mich«, sagte Konrad Dippmann. »Ein nettes Mädchen, und anscheinend doch auch recht tüchtig. Sie können das besser einschätzen als ich. Würden Sie mir bitte sagen, welchen Eindruck Sie von ihr während dieser wenigen Monate gewonnen haben?«

Robert war verblüfft und nun doppelt auf der Hut. Was sollte das bedeuten? Niemals zuvor hatte Dippmann eine Beurteilung von ihm über eine Angestellte verlangt.

Aber er konnte unbesorgt bei der Wahrheit bleiben. »Der Eindruck ist ausgezeichnet«, sagte er. »Man läßt sich gern von ihr beraten. Sie ist zwar sehr zurückhaltend, den Kunden gegenüber aber sehr verbindlich.«

»Also keinerlei Beanstandungen?«

»Nein.«

»Und was können Sie über Herrn John sagen?«

Das kam nun doch sehr überraschend. »Dazu möchte ich mich nicht äußern«, erwiderte Robert ruhig, »es steht mir nicht zu. Er ist mein Vorgesetzter.«

»Ihr Vorgesetzter bin ich. Wir wollen das nicht so eng sehen, Herr Brehm. Aber Ihre Zurückhaltung sagt schon einiges. Ich bin daran interessiert, daß unsere gute Atmosphäre erhalten bleibt.«

Was sollte das? Robert wußte keine Erklärung, und dazu äußerte sich Konrad Dippmann auch nicht weiter. Er besprach noch einige geschäftliche Angelegenheiten mit Robert, die er wohl hätte mit John besprechen sollen. Auch darüber mußte sich Robert wundern. Er ging ein wenig ratlos in die Verkaufsräume zurück. Es

herrschte ein ziemlicher Trubel. Man merkte, daß Monatsanfang war und das Wetter sich gebessert hatte. Pfingsten stand vor der Tür.

Rainer John trat auf ihn zu. »Was wollte Dippmann denn von Ihnen?« fragte er lauernd.

»Es betrifft nur meinen Arbeitsbereich«, erwiderte Robert kühl.

John kniff die Augen zusammen. »Spielen Sie sich bloß nicht zu sehr auf. Vielleicht ändert sich hier bald was. Man könnte auf Sie und manchen andern verzichten.«

Es konnte Robert nicht erschüttern. Er wußte, daß er mit seiner Qualifikation jederzeit eine andere Stellung finden konnte. Ihm hatte diese gefallen, weil ihm das Milieu vertraut war, auch weil er sich hier in der Nähe eine hübsche kleine Wohnung eingerichtet hatte und nicht dem Trubel der City ausgesetzt war. Aber eines wußte er genau: Wenn für Katrin hier kein Platz mehr war, dann wollte er auch nicht bleiben. Doch was Herr Dippmann so nebenbei angedeutet hatte, ließ eher darauf schließen, daß auch ihm Rainer John mißfiel.

*

Hermann und Lotte Pflüger waren am Vormittag in die Klinik gekommen, um ihre Katrin abzuholen. Sie war noch einmal gründlich untersucht worden. Dr. Behnisch hatte sie noch für eine Woche krank geschrieben. Für die nächsten Tage sollte sie möglichst viel Bettruhe haben.

Ihr Mann würde schon dafür sorgen, sagte Frau Pflüger.

»Und sollte etwas sein, rufen Sie Dr. Norden«, sagte Dr. Behnisch. »Er übernimmt die weitere Betreuung.«

Ein bißchen schwer fiel Katrin das Gehen noch, aber wehleidig war sie nie gewesen. Dr. Behnisch mußte staunen, wieviel Energie in dem zarten Mädchenkörper steckte.

Herr Pflüger winkte jedoch ein Taxi herbei. »Das wird wohl mal drin sein«, sagte er, als Katrin abwinken wollte.

Und sie hatten gerade Sonjas Vater erwischt, den Herrn Moralt, der eilfertig aus dem Wagen sprang und die Türen öffnete.

»Das wird ein Glück sein, daß Sie schon wieder auf den Beinen sind, Fräulein Pflüger«, freute er sich. »Wenn wir den Kerl erwischen, der Sie über den Haufen gefahren hat, der kann was erleben.«

Er hatte den Taxometer schon abgestellt und weigerte sich entschieden, einen Fahrpreis zu kassieren.

»Da tät’ mir die Sonja schön aufs Dach steigen«, sagte er. »Gute Besserung wünsche ich weiterhin.«

»Sie sind alle so nett«, sagte Katrin leise, und sie wiederholte es, als sie in ihrem Zimmerchen dann die Blumen, die Süßigkeiten und die Bücher sah.

»Herr Brehm war gestern auch hier und hat sich persönlich nach deinem Befinden erkundigt«, sagte Hermann Pflüger.

Katrin errötete und steckte schnell ihr feines Näschen in die Blumen.

»Gefällt er dir?« fragte Lotte.

»Er ist sehr freundlich und sehr korrekt«, erwiderte das Mädchen.

»Er macht einen guten Eindruck«, stellte ihr Vater fest.

»Jetzt essen wir«, lenkte Lotte ab. »Ich muß ja leider gleich wieder weg. Aber ich soll dich auch von unseren Leuten grüßen, Katrinchen.«

Kaum hatten sie sich an den freundlich gedeckten Tisch gesetzt, denn darauf wurde sehr viel Wert gelegt, als es an der Tür läutete.

Es war Renate Büchner, die die Adresse von Dr. Norden bekommen hatte. Sie mußte erst erklären, warum sie diesen Krankenbesuch machte, denn Katrin konnte sich nicht an sie erinnern. Auch sie brachte Schokolade mit und ein Buch.

»Aus unserem Geschäft«, sagte sie leicht verlegen. »Wir hoffen ja sehr, daß dieser Rowdy geschnappt wird, damit Sie ein Schmerzensgeld bekommen, Fräulein Pflüger. Und wenn Sie wieder wohlauf sind, schauen Sie doch mal bei uns herein. Dann ziehen Sie ein paar Lose heraus. Vielleicht ist Ihnen das Glück dabei hold.«

»Ich habe ja schon großes Glück gehabt«, sagte Katrin. »Vielen Dank.«

»Ich habe mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen, jetzt wo der erste Schrecken überstanden ist. Ich glaube, der Fahrer hatte helles Haar, grau oder blond. Aber beschwören könnte ich es nicht.«

Katrin hatte gar nichts mitbekommen. Es war alles so schnell gegangen. Und da sie den Schock so schnell überstanden hatte, wollte sie jetzt gar nicht daran denken, daß es sehr viel schlimmer hätte ausgehen können, wenn die Büchners nicht so schnell gebremst hätten.

»Das ist fast wie Geburtstag«, freute sie sich, als sie den kleinen Tisch betrachtete, auf dem all die Gaben aufgebaut waren.

Am Abend sollte es dann noch mehr geben. Robert Brehm kam gleich nach dem Geschäft.

Er brachte ihr ein zauberhaftes Gesteck aus zartrosa Rosen, weißem Ginster und blauen Anemonen. Dazu einen Gedichtband.

Freude und Verlegenheit bewegten Katrin so sehr, daß sie kein Wort über ihre Lippen brachte.

Er blickte auf das Pflaster an ihrer Stirn. »Tut es noch weh?« fragte er stockend.

»Nur ein bißchen. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie sich persönlich bemühen, Herr Brehm.«

»Es ist mir ein Anliegen. Ich habe einen großen Schrecken bekommen. Herr Dippmann hat sich auch nach Ihnen erkundigt.«

Er war auch verlegen, daß er nach Worten suchen mußte.

»Tatsächlich?« staunte Katrin. »Und was hat Herr John gesagt?«

Er sah sie forschend an, aber er wußte nicht, was er erwidern sollte.

Katrin lachte leise auf, und das machte sie noch anmutiger.

»Ich kann es mir schon vorstellen. Er wird bemängelt haben, daß ich nicht pünktlich bin. Er hat mich doch ohnehin auf dem Kieker.«

»Vielleicht erwartet er von Ihnen mehr Entgegenkommen, Katrin«, sagte Robert leise.

»Du liebe Güte, da wird er lange warten können«, entfuhr es ihr, »ich finde ihn widerlich. Eigentlich dürfte ich das ja nicht sagen.«

»Mir können Sie es ruhig sagen. Ich teile Ihre Meinung, und ich glaube fast, daß auch Herr Dippmann dieser Meinung ist.«

»Warum setzt er ihn dann nicht vor die Tür? Er eignet sich für diesen Betrieb doch überhaupt nicht.«

»Welchen klaren Durchblick sie doch hatte! Dabei war sie noch so jung.

»Es kann ja möglich sein, daß es Herr Heller so bestimmt hat«, sagte er. »Schließlich ist John sein Neffe.«

»Es wäre schade, wenn er dieses renommierte Geschäft auf den Hund bringen würde«, überlegte Katrin, »aber wie es auch sei, ich finde dann auch woanders eine Stellung.«

»Genau das denke ich auch«, sagte er rasch. »Ich will Sie jetzt nicht zu lange aufhalten. Sie brauchen noch Ruhe.« Er wurde sehr unsicher, aber dann fragte er stockend: »Meinen Sie, daß Ihre Eltern es erlauben würden, wenn ich Sie am Samstag zu einem kleinen Ausflug abholen würde, damit Sie ein bißchen an die frische Luft kommen?«

Ihr Gesicht war in dunkle Glut getaucht, als sie nun scheu zu ihm aufblickte.

»Sie können Ihre Freizeit doch sicher angenehmer verbringen«, flüsterte sie.

»Angenehmer bestimmt nicht«, erwiderte er rasch. »Es wäre eine ganz große Freude für mich. Bisher habe ich nur noch nicht gewagt, Sie zu fragen.«

Ihr junges Herz begann stürmisch zu klopfen. Ein ganz eigenartiges, ihr unbekanntes Gefühl durchströmte sie.

»Ich glaube nicht, daß Mutti und Vati etwas dagegen haben. Sie können mir doch keinen Wunsch abschlagen.«

Er betrachtete sie wieder sinnend. Er hatte nicht den Eindruck von ihr, als hätte sie oft Wünsche geäußert. Ihm war auch noch nie ein Mädchen begegnet, das mit so inniger Liebe an den Eltern hing und für sich selbst so anspruchslos war.

Er befand sich nun zum ersten Mal in ihrem Zuhause. Eine Dreizimmerwohnung war es, mit einfachen Mitteln zu einem urgemütlichen Heim gemacht, das verriet, wieviel Wert darauf gelegt wurde.

Und hier gab es auch keine Heimlichkeiten. Katrin fragte ihre Eltern gleich.

»Wird es da nicht Ärger im Geschäft geben?« gab Hermann Pflüger zu bedenken.

»Ich denke, daß wir über unsere Freizeit selbst verfügen können«, meinte Robert. »Und wir gehen ja nicht in eine Bar. Nur zu einem kleinen Nachmittagsausflug würde ich Ihre Tochter gern einladen. Ich bitte Sie sehr herzlich, es zu erlauben.«

»Warum auch nicht«, brummte Hermann Pflüger.

»Danke, Vati«, sagte Katrin.

»Ich würde dann gegen halb drei Uhr kommen, und um fünf Uhr bringe ich Katrin wieder heim«, sagte Robert. Dann verabschiedete er sich.

»Anstand hat er, das muß man ihm lassen«, sagte Hermann Pflüger, »und du magst ihn anscheinend doch, Katrin.«

»Ich habe es ja nicht bestritten, Vati. Im Geschäft sprechen wir nur dienstlich miteinander.«

»Und privat?« fragte er.

»Privat haben wir heute zum ersten Mal miteinander gesprochen.«

Sie hatten keinen Grund, daran zu zweifeln. Katrin war so aufrichtig, daß ihr auch anzusehen war, wie sehr sie sich über Robert Brehms Einladung freute.

Nie hatte sie Heimlichkeiten vor ihnen gehabt, nie hatte sie ihnen Kummer bereitet.

Welche Eltern konnten das schon sagen?

»Nun bist du bald mündig, mein Kind«, sagte Lotte leise.

»Ach was, Mutti, ich fühle mich gar nicht so. Und ich bleibe doch immer euer Kind.«

Lotte zuckte zusammen. Ihre Augen wurden feucht. »Für uns bleibst du das immer«, flüsterte sie.

*

Als Dr. Norden am nächsten Morgen in die Praxis kam, war das Wartezimmer schon reichlich voll. Diesmal stöhnte sogar Loni.

»Es scheint, als wäre eine Epidemie ausgebrochen«, sagte sie. »Fühlen Sie sich auch so schlapp, Herr Doktor?«

»Ich kann nicht klagen, Loni.« Er sah sie forschend an. »Machen Sie mir bloß keinen Kummer!«

»Ich kann nichts dafür, aber ich habe entsetzliche Kopfschmerzen.«

»Dann marsch nach Hause«, sagte er.

»Das geht doch nicht. Wie wollen Sie es denn hier allein schaffen? Ich nehme eine Tablette. Es wird schon besser werden.«

Aber es wurde nicht besser. Daniel rief seine Frau an, daß sie versuchen solle, eine Aushilfe zu bekommen. Er selbst hatte dazu wirklich keine Zeit.

Loni war tief bekümmert, aber sie konnte kaum noch aus den Augen schauen. Sie brauchte auch jemanden, der sie versorgte, aber sie meinte, daß sie schnell wieder auf die Beine kommen würde.

Was mit ihr los war, war noch nicht festzustellen. Daniel wollte mittags nach ihr sehen. Jedenfalls schien es ein heißer Tag zu werden, heiß im Sinne von Arbeit.

Die meisten Patienten klagten über starke Kopfschmerzen, Schwindel und Abgeschlagenheit. Bei den Kreislauflabilen kamen Herzbeschwerden hinzu. Dr. Norden wußte tatsächlich nicht, was er zuerst machen sollte, denn auch das Telefon klingelte dauernd.

Nachdem Fee dreimal vergeblich versucht hatte, eine ihr bekannte Aushilfe zu erreichen, entschloß sie sich, selbst in die Praxis zu fahren.

Das konnten die Kinder nun gar nicht verstehen, aber Lenni würde es ihnen schon erklären, meinte Fee.

Erbaut war Daniel nicht, daß sie selbst kam. Wenn es sich wirklich um ein Grippevirus handelte, der noch nicht zu diagnostizieren war, bestand die Möglichkeit, daß die Kinder auch noch angesteckt wurden, denn Fee konnte sich unmöglich so fernhalten von ihnen wie er.

»Du kannst es unmöglich allein schaffen, Daniel«, erklärte Fee. »Ich suche dir wenigstens die Karten heraus und bediene das Telefon.« Und nebenbei konnte sie dann auch noch versuchen, Molly zu erreichen. Vielleicht machte sie nur Einkäufe.

Molly, mit vollem Namen Helga Moll, war früher Sprechstundenhilfe bei Dr. Norden gewesen, als sie getrennt von ihrem Mann lebte und ihre drei Kinder ernähren mußte.

Dann aber hatte ihr Mann in ein geregeltes Leben zurückgefunden, seine Wetterei gelassen, für die er viel Geld gebraucht hatte, und die Ehe war wieder in Ordnung gekommen.

Aber als sich dort endlich jemand meldete, war es auch nur eine krächzende Stimme. Molly war auch krank, und Fee wollte da gar nicht sagen, warum sie angerufen hatte. Sie sagte nur, daß sie sich mal nach dem Befinden erkundigen wolle.

Derzeit war es alles andere als gut, und Molly bedauerte, daß der Weg zu ihnen zu weit sei, um den Herrn Doktor zu bitten, mal nach ihr zu sehen.

Nein, dazu hätte Daniel wahrhaftig keine Zeit gehabt. Aber wenn Loni mehrere Tage ausfiel, mußte unbedingt eine Vertretung für sie beschafft werden.

Endlich kam Fee die rettende Idee. Ilse Bader, die eine Zeit lang in der Behnisch-Klinik im Büro beschäftigt gewesen, dann beim Skifahren verunglückt war und lange Zeit im Unfallkrankenhaus gelegen hatte. Vielleicht war sie jetzt wieder genesen.

Sie war es! Sie freute sich schon, als Fee sich meldete. Und sie war sofort bereit, einzuspringen.

Fee sagte, daß sie ihr ein Taxi schicken würde, aber Ilse Bader erklärte, daß sie jetzt selbst einen Wagen hätte.

Schlecht konnte es ihr zumindest finanziell nicht gehen, also war es wohl ein Freundschaftsdienst, den sie den Nordens leisten wollte.

Aber Fee war erschrocken, als Ilse dann schon eine halbe Stunde später kam, im Gegensatz zu früher um Jahre gealtert und sehr ernst.

Unwillkürlich blickte Fee auf ihre linke Hand. Sie trug keinen Verlobungsring mehr.

Ilse hatte den Blick bemerkt. »Die Verlobung ist geplatzt«, sagte sie. »Ich bin jetzt richtig froh, daß ich auf andere Gedanken komme. Aber zum Plaudern ist jetzt wohl keine Zeit. Nett, daß Sie an mich gedacht haben.«

Sie fand sich schnell in die Arbeit, schneller als Fee.

»Loni ist krank geworden«, erklärte Fee, »und hier geht es hoch her. Passen Sie nur auf, daß Sie sich nicht anstecken, Ilse.«

Sie war es gewohnt, sie so zu nennen, und Ilse Bader war darüber erfreut. Ihr ernstes Gesicht hellte sich auf.

»Ich bin immun, gegen alles immun«, erwiderte sie mit einem flüchtigen Lächeln.

»Wir werden uns ein andermal unterhalten können, Ilse«, sagte Fee. »Ich fahre jetzt mal zu Loni und schaue, ob sie gut versorgt ist. Das kann ich meinem Mann abnehmen.«

Und es war gut. Die Nachbarin hatte zwar den Schlüssel, und sie schaute selbst auch gerade nach der kranken Loni, aber Fee mußte feststellen, daß Loni hohes Fieber bekommen hatte.

Sie durfte nicht allein gelassen werden und der Nachbarin, die Mann und Kinder hatte, konnte man nicht zumuten, daß sie zusätzlich noch die Krankenpflege übernahm.

Im Augenblick war Loni kaum ansprechbar. Fee war sehr besorgt. Sie war zwar selbst praktizierende Ärztin gewesen, bis die Kinder gekommen waren, aber was das für eine Grippe sein konnte, wußte sie auch nicht.

Sie rief Dr. Behnisch an. Seine Frau Jenny war am Apparat. Schnell sagte Fee, was sie auf dem Herzen hatte.

»Am besten wird sein, wenn wir sie herholen lassen«, meinte Jenny Behnisch.

Fee war froh, daß sie gleich das erwartete Verständnis fand, obgleich die Behnisch-Klinik stets an Bettenmangel litt. Aber sie wußte, daß es Loni einen Schock versetzt hätte, wenn sie in einem fremden Krankenhaus aufgewacht wäre.

Es war das erste Mal, daß Loni richtig krank war, seit sie in der Praxis tätig war. Fee machte sich große Sorgen um sie und war erleichtert, als der Krankenwagen kam.

Loni schlug die Augen auf, als sie auf die Trage gehoben wurde. Sie sah Fee an, aber ihre Gedanken waren weit fort.

Es war nur gut, daß die Behnisch-Klinik seit einigen Monaten in einem Anbau eine Isolierstation untergebracht hatte.

Zum Schutz ihrer Kinder beschloß Fee, mit zur Klinik zu fahren und durch die Schleuse zu gehen, in der die Bazillen vernichtet wurden. Dieter Behnisch hatte keine Kosten gescheut, um diese Klinik auf das Modernste auszustatten. Fee wußte Loni gut aufgehoben und hoffte nur, daß sich ihr Zustand bald bessern würde.

Als sie heimkam, ermahnte sie die Kinder eindringlich, nicht gleich auf den Papi zuzustürzen, wenn er heimkam.

»Er muß erst ins Bad und sich umkleiden«, erklärte sie.

»Hat er sich dreckig gemacht?« fragte Danny.

»Ist er hingefallen?« fragte Felix ängstlich.

Sie waren doch noch ein bißchen zu klein, um zu verstehen, wie gefährlich eine Infektionskrankheit werden konnte, aber Fee erklärte es ihnen, so gut sie konnte.

Lenni war voller Mitgefühl für Loni, mit der sie sich ausnehmend gut verstand. Beide hatten sie ihre Männer früh verloren. Lenni ihren Mann gleichzeitig mit ihrer Mutter durch einen Unfall. Lonis Mann war nach schwerer Krankheit gestorben.

Nun war Lenni aber auch sehr besorgt, daß die Kinder krank werden könnte, wenn diese Grippe um sich griff. Und es bereitete ihr auch Sorgen, daß der Doktor an diesem Tag nicht mal Zeit hatte, zum Essen zu kommen.

Daniel war recht froh, daß Fee ihm die Sorge um Loni abgenommen hatte. Er wußte tatsächlich nicht, was er zuerst machen sollte, obgleich sich Ilse Bader als wirklich tüchtige Hilfe erwies.

Bis er alle Patienten abgefertigt hatte, war es schon fast ein Uhr geworden, und eine lange Liste von erwünschten Hausbesuchen lag indessen auch schon vor.

Wieder einmal hatte er allen Grund, sich darüber Gedanken zu machen, daß die Zahl der Hausärzte immer mehr zusammenschmolz. An diesem Tag hatte er es wieder so richtig erlebt, wie schädlich es für manch einen Kranken war, den Arzt in der Praxis aufsuchen zu müssen.

Schädlich für den Kranken selbst und schädlich auch für die anderen Patienten, die bisher von der Ansteckung noch verschont waren.

Auch in diesem Beruf schien der Idealismus am Aussterben zu sein, der Drang nach dem Geldverdienen dagegen breitete sich aus.

Freilich konnte ein Facharzt in einer Stunde das Vielfache verdienen. Hausbesuche raubten Zeit und waren nicht lukrativ genug.

Daniel fand an solcher Entwicklung viel auszusetzen, aber er wußte auch sehr gut, daß er wegen seiner Einstellung von manchen Kollegen hämisch verlacht wurde. Wald- und Wiesendoktor nannten sie ihn hinter seinem Rücken, spotteten über das Sanatorium Insel der Hoffnung, neideten ihm aber andererseits die Hochachtung, die ihm von seinen Patienten in aller Öffentlichkeit entgegengebracht wurde.

Die öffentliche Diskussion über solche und solche Ärzte war entbrannt, und wenn sehr viele harte Kritik hinnehmen mußten, war man über ihn nur voll des Lobes.

Um vier Uhr mußte er eigentlich wieder in der Praxis sein, aber er schaffte es nicht. Mit einer halben Stunde Verspätung kam er dort an. Es ging weiter. Aber Ilse hatte ihm einen Kaffee aufgebrüht, und Lenni hatte eine Platte mit belegten Broten gebracht.

Inzwischen war auch ein Anruf von Herrn Dippmann gekommen. Auch er war erkrankt. Er war für Erkältungskrankheiten sehr anfällig.

Im Kaufhaus Heller griff die Grippe um sich. Allerdings war auch nicht viel Betrieb, denn nun goß es auch noch in Strömen. Dr. Norden sah für die nächsten Tage schwarz. Es bedrückte ihn, daß Dieter Behnisch ihm noch keine Besserung über Lonis Zustand mitteilen konnte.

Er fragte Ilse, wie lange er auf ihre Unterstützung rechnen könne.

»Solange Sie mich brauchen können, Herr Doktor«, war ihre Antwort. Wenigstens das war eine Beruhigung. Er hätte es jetzt wahrhaftig nicht brauchen können, eine umständliche Person um sich zu haben, die dauernd Fragen stellen würde. Er hatte nicht mal Zeit, darüber nachzudenken, was diese fröhliche, hübsche Ilse Bader so verändert hatte. Nur der Skiunfall konnte es doch nicht gewesen sein, obgleich sie lange ans Bett gefesselt gewesen war. Er dachte auch nicht darüber nach, warum sie nicht in die Behnisch-Klinik zurückgekehrt war. Es beschäftigte ihn unausgesetzt, welcher Grippevirus das sein könnte, da sich die vorsorglichen Impfungen als völlig wirkungslos herausgestellt hatten.

Freilich war auch Loni geimpft worden. Gestern war sie noch frisch und munter gewesen, und schon heute war ihr Zustand bedenklich. Eine Lungenentzündung zeigte sich bereits an, wie Dr. Behnisch gesagt hatte.

Als der letzte Patient endlich die Praxis verlassen hatte, war Dr. Norden total erschöpft. Unwillkürlich überfiel ihn der sorgenvolle Gedanke, daß auch er krank werden könnte. Nein, das durfte keinesfalls geschehen! Die Schwäche rührte wohl nur vom Hunger her. Das eine Brot, das er zwischendurch gegessen hatte, konnte ja bei der Beanspruchung nicht ausreichen.

Er rief daheim an und bat, daß Lenni ihm schnell etwas herrichten solle. Einen Besuch machte er auf dem Heimweg noch, da die Wohnung von Frau Gellert auf dem Wege lag.

Bei ihr genügte zwar schon das Wort Grippe, daß sie sich krank fühlte, aber in diesem Fall konnte es ja möglich sein, daß auch sie sich infiziert hatte. Sie war eine wunderliche alte Dame. Sie hatte an allem und jedem etwas auszusetzen. Nur Dr. Norden fand Gnade vor ihren Augen. Er war nachsichtig mit ihr, denn mit fast achtzig Jahren trug wohl auch die Vereinsamung mit dazu bei, daß der Mensch eigenartig wurde.

Sie hatte nur einen Schnupfen, ohne Fieber und andere Begleiterscheinungen. Er ließ ihr harmlose Tabletten und Tropfen da, und sie bedankte sich für seine Fürsorge. Er war froh, aus ihrer überheizten Wohnung wieder herauszukommen, aber es wäre sinnlos gewesen, ihr zu raten, die Heizung zurückzudrehen. Da wäre sie wieder mit zahlreichen Gegenargumenten gekommen.

Als er heimkam, mußte er auf den Begrüßungskuß verzichten. Vorsichtshalber, wie Fee meinte.

Die Kinder winkten ihm von der Tür her zu. »Dürfen kein Bussi geben«, sagte Danny, »wegen der Baktillen.« Er mischte Bakterien und Bazillen, aber er zauberte damit ein Lächeln um Daniels Mund.

Lenni hatte das Essen schon auf den Tisch gestellt. »Ich muß gleich weiter«, erklärte Daniel. »Umziehen lohnt sich jetzt auch nicht. Nur gut, daß Ilse einspringen konnte. Loni muß sich auskurieren.«

»Ich habe Ilse gar nicht gefragt, ob sie bleiben kann«, meinte Fee.

»Solange sie gebraucht wird«, erwiderte Daniel.

»Ihre Verlobung ist geplatzt«, warf Fee ein.

»So?« staunte er. »Ich dachte, es war die große Liebe?«

»Der Mensch denkt, und Gott lenkt«, meinte Fee. »Vielleicht tut ihr Ablenkung ganz gut.«

»Dieter hätte sie bestimmt wieder mit Kußhand genommen«, murmelte Daniel zwischen zwei Bissen.

»Dann würdest du ohne Hilfe dasitzen. Vielleicht geniert sie sich, weil sie doch wegen der bevorstehenden Heirat gekündigt hat.«

»Was mag das für ein Heini gewesen sein, der solch ein Mädchen im Stich läßt? Aber der Worte sind genug gewechselt. Ich muß wieder los, mein Schatz. Dippmann steht auch auf der Liste.«

Lenni machte ihrem Unwillen Luft, als er wieder draußen war.

»Die einen machen Feierabend, wenn die Sprechstunde vorbei ist und haben privat geheime Telefonnummern, und die anderen dürfen sich abarbeiten«, brummte sie. »Da habe ich gerade wieder einen Artikel gelesen über die Herren Ärzte, die sich darüber beklagen, daß sie zu wenig Personal haben und zu viele Patienten, aber Zeit genug haben sie, Hunderttausende nebenbei zu verdienen. Ich verstehe so was nicht.«

»Ich auch nicht, Lenni, aber wir wollen froh sein, daß es wenigstens noch ein paar Ärzte gibt, die Idealisten sind.«

Das sagte auch Herr Dippmann, der doch sonst mit jedem Lob geizte. Auch er war sehr schlecht beisammen, wie Daniel feststellen konnte.

Auch seine ebenfalls unverheiratete Schwester, die ihm den Haushalt besorgte, konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten.

»Hoffentlich geht im Geschäft jetzt nicht alles drunter und drüber«, stöhnte Konrad Dippmann. »Wenn John sich noch mehr aufspielt, kommt nach der Grippewelle vielleicht die Kündigungswelle. Da hat mir der Wastl was Schönes aufgeladen.«

»Ein Angestellter?« tat Daniel unwissend, während er Herrn Dippmanns Blutdruck und Puls kontrollierte.

»Hellers Neffe«, erwiderte der andere. »Irgendwie war Wastl doch sentimental. Jedem seine Chance hat er wohl gemeint, aber dieser Playboy hat ja nichts im Kasten. Da muß man ja mürbe werden.«

»Wer ist denn nun eigentlich der Erbe?« fragte Daniel beiläufig.

»Wenn ich das nur wüßte. Treuhänder soll ich bleiben bis an mein Lebensende, und man fühlt ja eine Verpflichtung dem einzigen Freund gegenüber. Aber was mal wird, diese Ungewißheit, kann einem zusetzen. Es kostet mich zuviel Nerven.«

Und die psychische Belastung minderte seine Widerstandskraft, wie Dr. Norden für sich dachte. Jedenfalls brauchte auch Konrad Dippmann unbedingte Bettruhe.

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun, Herr Doktor?« fragte der Kranke. »Würden Sie Herrn Brehm anrufen, daß er mal zu mir kommt? Wenn ich das tue, kriegt es John spitz, und das möchte ich vermeiden.«

Daniel machte sich eine Notiz. Hoffentlich vergaß er nicht in all dem Trubel, Herrn Dippmanns Bitte zu erfüllen. Aber einem Kranken konnte man ja nicht sagen, daß man mehr zu tun hatte, als Privatwünsche zu erfüllen, außerdem war er schon wegen Katrin ein bißchen neugierig, was da im Gange war. Fees Antipathie gegen Rainer John wurde also auch von Dippmann geteilt. Das stimmte ihn nachdenklich.

Todmüde kam Daniel nach elf Uhr heim. Fee ließ ein Bad einlaufen, als sie seinen Wagen kommen hörte.

»Nun riechst du ganz steril«, sagte sie neckend, als er ins Bett fiel. Die Augenlider klappten ihm zu.

»Erinnere mich morgen früh bitte daran, daß ich Herrn Brehm anrufe«, murmelte er, und dann schlief er schon.

*

Fee hatte es nicht vergessen. Sie erinnerte ihn beim Frühstück daran. »Wieso eigentlich?« fragte sie.

»Herr Dippmann hat mich darum gebeten, damit es dieser John nicht mitbekommt.«

Da sie früher als sonst frühstückten, schliefen die Kinder noch, und sie hatten eine ungestörte Viertelstunde für sich.

Fee begleitete Daniel dann zur Tür. Es regnete immer noch. Sie drückte ihm den Schirm in die Hand. »Und wenn es auch nur ein paar Meter sind, Daniel, paß auf, daß du nicht naß wirst«, ermahnte sie ihn. »Es ist ein ganz gefährliches Wetter.«

Das wußte er auch. Lenni brachte sogar noch ein zweites Paar Schuhe, damit er wechseln konnte, wenn er nasse Füße bekam.

Ilse Bader wartete schon vor der Praxistür. »Ich habe ganz vergessen, Ihnen den Schlüssel zu geben«, entschuldigte sich Daniel.

»Ist nicht so schlimm. Es ist noch niemand da«, erwiderte sie.

Es ließ sich auch ganz ruhig an. Die Kranken blieben bei diesem gräßlichen Wetter anscheinend doch lieber im Bett. Daniel hatte ein paar Minuten Zeit, um mit Ilse zu sprechen, bis die Patienten kamen, die regelmäßig ihre Spritzen bekommen mußten.

»Wollen Sie nicht wieder in die Behnisch-Klinik zurück?« fragte er ohne lange Vorrede.

Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zusätzlich zu sorgen«, erwiderte sie leise.

»War es denn so schlimm?« fragte er behutsam.

»Schlimm genug«, erwiderte sie, aber dann kamen schon die ersten Patienten.

»Erinnern Sie mich bitte, daß ich gegen neun Uhr im Kaufhaus Heller anrufe, Ilse«, sagte Dr. Norden. Er sah nicht mehr, daß ihr Gesicht noch blasser wurde.

Kurz nach neun Uhr klingelte dort das Telefon. Von der Zentrale aus wurde Dr. Nordens Anruf zu Robert Brehms Büro durchgestellt, aber dieser war gerade unterwegs.

Die Sekretärin richtete ihm dann aus, daß er in der Praxis Dr. Norden anrufen möge. Ein heftiger Schrecken durchzuckte ihn, daß etwas mit Katrin sein könnte. Er rief sofort an, und als Dr. Norden sich meldete, lehnte Rainer John an der Tür und beobachtete ihn mit neugierigen Augen. Das paßte zu ihm. Robert ließ sich nicht irritieren. Er bewahrte ruhig Blut, als Dr. Norden ihm ausrichtete, daß er zu Herrn Dippmann kommen solle.

»Danke, Herr Doktor«, sagte er.

John grinste boshaft. »Wollen Sie jetzt auch krankspielen?« fragte er zynisch.

»Ich will vorbeugen«, erwiderte Robert gelassen. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht.

Rainer John lief rot an. Ihn wurmte es gewaltig, daß Robert Brem unangreifbar schien.

Robert dagegen fragte sich, was Dippmann mit ihm besprechen wolle, und warum er daraus ein Geheimnis machte. Aber immerhin war dies ein Beweis, daß John nicht sein Vertrauen genoß.

Er benutzte seine Mittagspause dazu, den Chef aufzusuchen. Konrad Dippmann war immer noch fiebrig. Seine Stimme war sehr heiser.

»Gut, daß Sie so bald kommen, Herr Brehm«, sagte er mühsam. »Es wird diesmal wohl länger dauern, bis ich wieder auf den Beinen bin. Ich wollte Ihnen sagen, daß John keine Handlungsfreiheit hat. Sollte er etwas tun oder unternehmen, was unseren Prinzipien widerspricht, möchte ich sofort benachrichtigt werden. Ich werde solche Order noch offiziell geben, aber vor allem hoffe ich, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Wieviel Krankheitsfälle haben wir?«

»Sechs, aber es ist auch ziemlich ruhig. Wir kommen zurecht.«

»Schauen Sie John auf die Finger.«

»Das wird er sich kaum gefallen lassen«, erwiderte Robert.

»Ach was, Sie machen das schon diskret. Sie können ruhig zugeben, daß Sie von ihm genauso wenig halten wie ich. Er hat sich in die Firma hineingemogelt. Ich konnte es bisher nur nicht beweisen, und ausgerechnet jetzt muß ich krank werden. Bitte, lassen Sie sich nicht provozieren. Tun Sie mir den Gefallen und werfen Sie nicht alles hin, wenn Sie sich ärgern, ich habe mich jeden Tag geärgert, aber ich habe alles geschluckt in der Hoffnung, daß sich in absehbarer Zeit einiges ändern wird.«

»Ich werde mich bemühen, Ihrem Vertrauen gerecht zu werden«, sagte Robert. »Hoffentlich geht es Ihnen bald wieder besser.«

»Das hoffe ich auch.«

*

Fee war am Vormittag in die Behnisch-Klinik gefahren. Sie durfte noch nicht zu Loni, aber ein paar Minuten konnten sie sich durch das Fenster unterhalten. Loni hatte eine verhältnismäßig ruhige Nacht gehabt. Das Fieber war gesunken. Sie war allerdings noch sehr matt.

»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Gerade jetzt, wo soviel zu tun ist.«

»Frau Bader hilft aus«, sagte Fee beruhigend. »Ilse Bader. Sie machen sich jetzt keine Sorgen, Loni.«

Für Dieter und Jenny Behnisch war es eine Überraschung gewesen, daß Ilse Bader für Loni eingesprungen war.

»Sie hatte doch in der Lotterie gewonnen und wollte heiraten«, sagte Jenny. »Wir wußten gar nicht, daß sie wieder hier ist. Warum hat sie sich denn nicht mal bei uns blicken lassen?«

Das wußte Fee auch nicht. Ebensowenig wußte sie, daß Ilse in der Lotterie gewonnen hatte.

»Was war das eigentlich für ein Mann, mit dem sie verlobt war?« fragte sie.

»Keine Ahnung. Wir haben ihn nie zu Gesicht bekommen. Jedenfalls war es ein Mediziner«, sagte Jenny.

Zur gleichen Zeit brachte Ilse Dr. Norden eine Tasse Kaffee. Acht Patienten hatte er abgefertigt, und jetzt war Ruhe eingetreten, doch wieder wartete eine lange Liste von bettlägerigen Patienten auf ihn.

»Setzen Sie sich doch zu mir, Ilse«, sagte er freundlich. »Sagen Sie mir, wo der Schuh drückt. Es ist nicht gut, wenn man alles in sich hineinschluckt.«

»Ich bin einem Schwindler auf den Leim gegangen«, sagte sie scheinbar gleichmütig. »Er sei Arzt, hat er gesagt, dabei hatte er gerade ein paar Semester Medizin studiert. Ich hatte fünfzigtausend Euro in der Lotterie gewonnen, die er mir abgeschwindelt hat, angeblich, um eine Praxis einzurichten. Herausgekommen ist es, als ich im Unfallkrankenhaus lag. Da hat er mich einmal besucht, und der Stationsarzt kannte ihn. Er war ein netter Mensch und hat mich aufgeklärt, als ich wieder auf den Beinen war. Paul war von der Universität relegiert worden, weil er mit Rauschgift gehandelt hat. Er hat deswegen auch gesessen. Und mein Geld hat er auch durchgebracht. Verstehen Sie nun, daß ich mich verkrochen habe?«

»Sie sind nicht die einzige Frau, der so etwas passiert. Seien Sie froh, daß Sie ihn nicht geheiratet haben.«

Sie lachte heiser auf. »Diese Absicht hatte er doch gar nicht. Für ihn war es ein gefundenes Fressen, eine Dumme gefunden zu haben. Ich war ja auch so vertrauensselig und mußte gleich von meinem Gewinn erzählen. Übrigens war er mit Rainer John befreundet, der jetzt im Kaufhaus Heller Geschäftsführer ist. Deshalb war ich heute morgen so konsterniert, als Sie dort anrufen wollten. Kennen Sie John?«

»Nicht persönlich. Ich wollte auch nicht ihn sprechen. Herr Dippmann, der Direktor, ist ein Patient von mir.«

»Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich dort mal einkaufen wollte und John sah. Ich bin gleich wieder raus.«

»Kennen Sie John näher?«

»Wir waren ein paarmal mit ihm zusammen, als ich Paul noch vertraute. John mochte ich nicht. Er war so ein Nassauer, der sich immer einladen ließ. Blöd wie ich war, habe ich Paul auch noch vor ihm gewarnt, aber er hat mich ausgelacht und gesagt, daß John mal eine große Erbschaft antreten würde. Die beiden paßten zusammen wie zwei Schuhe. So, nun wissen Sie alles, Herr Doktor.«

»Haben Sie diesen Paul mal wiedergetroffen?« fragte er. »Wie heißt er denn mit vollem Namen, wenn ich fragen darf?«

»Paul von Reuchlin, klingt fein, nicht wahr?« fragte sie ironisch. »Hat mir mächtig imponiert. Eigentlich geschieht es mir ganz recht, daß ich so hereingefallen bin. Nein, getroffen habe ich ihn nie mehr.«

»Und Sie haben ihn auch nicht angezeigt?«

»Das konnte ich doch gar nicht. Ich habe ihm das Geld ja freiwillig gegeben. Sollte ich mich auch noch lächerlich machen?«

»Sie sollen jetzt aber auch nicht verbittern, Ilse«, sagte Dr. Norden.

»Mir ist nun wohler, seit ich hier bin«, sagte sie. »Wie gewonnen, so zerronnen.«

»Den Skiurlaub haben Sie doch mit ihm gemeinsam verbracht?«

Sie nickte. »Skifahren konnte er, das muß man ihm lassen«, sagte sie sarkastisch.

»Und wie kam es eigentlich zu dem Unfall?«

»So genau weiß ich das gar nicht. Er fuhr voraus, ich hinterher, und dann kam mir jemand in die Quere. Es ging alles so schnell. Mir war es halt in den Kopf gestiegen. Ich wollte ja immer einen Arzt heiraten. Frau von Reuchlin, hätte doch vornehm geklungen«, lachte sie bitter auf. »Schwamm drüber.«

Nun kannte er ihre Geschichte. Sie würde wohl noch einige Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen, aber sie war noch jung genug, um die Welt bald wieder in hellerem Licht sehen zu können.

John dagegen rückte in ein immer dunkleres Licht. Sollte er tatsächlich Sebastian Hellers Erbe sein?

*

Die Grippewelle hielt an. Robert Brehm erwischte sie glücklicherweise nicht. Das Wochenende, dem er mit Ungeduld entgegenblickte, kam heran. Und der Himmel hatte sich aufgeklärt.

Pünktlich um halb drei Uhr erschien er bei den Pflügers, um Katrin abzuholen. Sie war noch ein bißchen blaß, aber sonst recht frohgemut. Auch sie freute sich sehr auf diesen Ausflug.

Sinnend blickte Lotte Pflüger den beiden jungen Menschen nach.

»Herr Brehm scheint sich ernsthaft für Katrin zu interessieren«, sagte sie leise.

»Wäre keine schlechte Partie«, bemerkte ihr Mann. »Anständig, fleißig, und weit gebracht hat er es auch schon in jungen Jahren.«

»Du siehst das so nüchtern, Hermann.«

»Das muß man auch. Wenn sie ihn nicht mögen tät’, würde sie nicht mit ihm ausgehen. Und wir wissen schließlich, woran sie bei ihm ist. Es muß alles eine solide Basis haben. Viel mitgeben können wir ihr nicht, Lotte. Er wird auch wissen, woran er ist. Er ist nicht so einer, der nur auf ein Abenteuer aus ist.«

Das war Robert nun ganz gewiß nicht. Er war glücklich, daß er mit Katrin beisammen sein konnte, und sie saß ganz still neben ihm und schaute mit leuchtenden Augen zum Fenster hinaus.

Er fuhr zu den Osterseen. Er war dort schon oft allein gewesen, und im Frühling fand er es am schönsten. Schnell hatte sich die Luft erwärmt, da die Sonne nun vom Himmel lachte.

»Wollen wir ein Stück gehen?« fragte Robert.

»Aber gern. Es ist zwar schön, daß man mit dem Auto so schnell aus der Stadt kommt, aber genießen kann man die Natur doch mehr auf Schusters Rappen«, erwiderte Katrin fröhlich.

Sie sah bezaubernd aus. Er konnte sich gar nicht satt sehen an ihr. Sie fühlte seinen Blick, und ihr Gesicht wurde in rosige Glut getaucht.

»Wie geht es im Geschäft?« fragte sie, um sich selbst auf andere Gedanken zu bringen und das Klopfen ihres Herzens zu beschwichtigen.

»Inzwischen sind es acht Krankheitsfälle, aber wir kommen noch zurecht«, erwiderte er.

»Am Montag bin ich ja wieder da«, sagte sie.

»Ich freue mich darüber, aber jetzt wollen wir nicht vom Geschäft sprechen, Katrin. Wir wollen die paar Stunden genießen. Aber ich hoffe, daß wir uns noch öfter außerhalb des Geschäftes sehen werden.«

Nun wurde seine Stimme schon freier. »Ich hoffe noch mehr«, fuhr er fort, und unwillkürlich griff er nach ihrer Hand.

Katrins Herz begann nun noch stürmischer zu klopfen. Wie elektrisiert war sie, und eine atemlose Spannung erfüllte sie.

»Meinen Sie, daß neun Jahre Altersunterschied zuviel sind?« fragte Robert stockend.

Katrin wagte nicht, ihn anzublicken. »Vati ist zehn Jahre älter als Mutti«, flüsterte sie, »und ich finde das gut.«

Robert legte seinen Arm jetzt um ihre Schultern, und er spürte, wie sie zitterte.

»Ich meine es ernst, sehr ernst, Katrin. Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick«, sagte er leise.

Sie hob ihren Kopf und blickte ihn an. »Liebe«, wiederholte sie gedankenverloren. Ihr Mund lächelte, ein sehnsüchtiger Schimmer war in ihren Augen.

Er zog sie fester an sich. »Ich möchte, daß du meine Frau wirst, Katrin.«

»Ich bin doch nur ein einfaches Mädchen«, sagte sie stockend.

»Du bist das liebste, zauberhafteste Mädchen«, sagte er zärtlich.

Ihre Augen schimmerten feucht. »Ich kann die Eltern doch nicht sobald allein lassen. Sie haben soviel für mich getan und haben es nie leicht gehabt. Ich möchte auch etwas für sie tun.«

»Das können wir doch gemeinsam, Katrin. Du sollst wissen, daß ich dafür Verständnis habe. Es soll alles leichter für dich werden. Ich habe schreckliche Angst um dich gehabt. Weißt du, ich kann nicht viele Worte machen, um dir zu schildern, was ich fühle.« Er beugte sich herab und küßte sie zart auf die bebenden Lippen, und da war es Katrin, als schwebe sie auf Wolken.

Ihre Arme legten sich um seinen Hals, wie von selbst kam das.

»Ich kann es noch gar nicht glauben«, flüsterte sie. »Bestimmt träume ich jetzt nur.«

»Es wird wundervolle Wirklichkeit werden, mein ­Liebes«, sagte er weich. »Jetzt ist es auch für mich noch wie ein Traum, daß ich dich in meinen Armen halten kann. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe.«

Ganz unschuldsvoll war ihr Blick, als sie ihn nun wieder ansah. »Woher konntest du denn wissen, daß ich davon träumte?« fragte sie zaghaft.

»Wissen konnte ich es gar nicht«, lächelte Robert. »Dazu warst du viel zu reserviert. Aber so ist eben die Liebe, Katrin. Sie hofft, und ich darf jetzt doch hoffen?«

»Nun weißt du es doch schon, daß ich dich liebhabe«, erwiderte sie.

Mit einem glücklichen Lachen hob er sie empor, so federleicht wie sie war, und drückte sie an sich.

Eng aneinandergeschmiegt gingen sie weiter, und die Zeit eilte dahin. Ganz erschrocken war Robert, als er auf seine Armbanduhr blickte.

»Jetzt muß ich dich aber heimbringen, sonst habe ich bei deinen Eltern gleich verspielt. Und eigentlich wollte ich mit dir doch noch irgendwo Kaffee trinken.«

»Man soll Menschenansammlungen meiden, wenn die Grippe grassiert«, sagte sie schelmisch, »und so war es auch viel schöner.«

Er küßte sie wieder. »Ich werde mich im Geschäft gehörig zusammennehmen müssen«, seufzte er. »Aber lange halte ich das bestimmt nicht durch.«

»John darf auf keinen Fall etwas merken«, meinte Katrin. »Dann hätte er endlich einen Grund, an dir herumzumäkeln. Du bist ihm ein Dorn im Auge.«

Wie klar sie das erkannte! Sie überraschte ihn noch mehr, als sie erklärte, daß sie ihm wohl auch ein Dorn im Auge sei.

»Er ist beleidigt, weil du ihn nicht anhimmelst«, stellte er fest.

»Wer himmelt ihn denn schon an?« fragte sie darauf. »Ist es nicht eigenartig, daß niemand ihn mag? Mir läuft immer eine Gänsehaut über den Rücken, wenn er nur in meine Nähe kommt.«

»Er soll ja nicht wagen, dich anzurühren«, ereiferte sich Robert.

»Das würde ich ihm auch nicht raten«, lachte Katrin hell auf. »Aber er mag mich gar nicht, Robby.«

Lieb sagte sie diesen Kosenamen, doch der nachdenkliche Ernst in diesen Worten machte ihn stutzig.

»Wie kommst du darauf?« fragte er.

»Das ist so ein Gefühl, das man nicht erklären kann. Aber so ist es mir auch lieber.«

Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, als sie zu seinem Wagen zurückgingen. »Ich bin jetzt sehr glücklich, Robby.«

Seine Lippen streichelten ihre Schläfe und ihr seidiges Haar. »Wir werden dieses Glück festhalten, geliebte kleine Katrin«, sagte er innig.

Mit einer halben Stunde Verspätung kamen sie daheim an, aber Katrin hatte kein schlechtes Gewissen.

»Nicht böse sein, Mutti, es war so schön«, rief sie aus, als Lotte Pflüger die Wohnungstür öffnete. »Darf Robby morgen zum Kaffee zu uns kommen?«

So unbekümmert kam es über ihre Lippen, als wäre es ganz selbstverständlich, daß sie ihn beim Vornamen nannte. Frau Pflüger sah Robert verwirrt an. Ein wenig verlegen war er schon.

»Wenn er mit dem Gugelhupf zufrieden ist, soll er ruhig kommen«, mischte sich Hermann ein.

»Mutti backt einen guten Gugelhupf«, sagte Katrin lachend.

»Sie sind herzlich eingeladen, Herr Brehm«, sagte Lotte.

»Herzlichen Dank, ich komme sehr gern.«

Der Blick, mit dem Robert Katrin zum Abschied bedachte, und sein Lächeln sprachen Bände.

Hermann und Lotte Pflüger brauchten nicht lange zu warten, bis Katrin ihr Glück hinaussprudelte, das man ihr ohnehin vom Gesicht ablesen konnte.

»Robby will mich heiraten«, sagte sie ohne Umschweife. »Er liebt mich, ist das nicht wunderschön? Und ihr braucht gar nicht so bange zu schauen. Zwischen uns wird sich dadurch nichts ändern. Ihr müßt ihn erst einmal richtig kennenlernen, dann werdet ihr auch davon überzeugt sein, daß er nichts daherredete, was ihm nicht aus dem Herzen kommt.«

»Kennst du ihn denn schon so gut?« fragte Hermann ruhig.

»Ich habe ihn auch sehr lieb.«

»Du weißt, wie es bei uns ist, Kind«, sagte Lotte bedächtig und mit zittriger Stimme. »Du bekommst nicht mal eine Aussteuer.«

»Aber, Mutti, heutzutage spielt das doch keine Rolle mehr. Meinst du, daß Robby mich gefragt hätte, ob ich seine Frau werden will, wenn er darauf Wert legen würde? Er wird morgen schon mit euch darüber sprechen. Und so schnell brauchen wir auch nicht zu heiraten. Wir werden es auch noch hübsch für uns behalten. Es genügt, wenn ihr es wißt.«

Sie war erfüllt von Glück.

Sie träumte vor sich hin, und sie merkte nicht, wie ihre Eltern immer wieder bedeutungsvolle Blicke tauschten.

Mit einem süßen Lächeln schlief sie ein.

»Du weißt, was auf uns zukommt, Hermann«, sagte Lotte, »mir ist bange.«

»Wenn er sie wirklich mag, wird es ihm nichts ausmachen«, sagte er. »Es wird sich ja herausstellen.«

*

Wenn Lotte nicht viele geheime Ängste geplagt hätten, hätten sie den Sonntag nachmittag viel mehr genießen können. Diesmal hätte Robert ihr die Blumen gebracht, und was immer sie auch bewegte, sie mußte sich doch eingestehen, daß dieser junge Mann ihr sehr gut gefiel. Gut sah er aus, sehr gepflegt, zuverlässig, wie ihr Mann schon festgestellt hatte.

Offen sprach er über seine Zuneigung zu Katrin, über seine Zukunftspläne. Genauso offen legte er seine Verhältnisse dar. Sein Vater war gestorben, als er fünfzehn war. Seine Mutter hatte wieder geheiratet. Sie war mit ihrem Mann nach Westdeutschland gezogen. Es bestand nur noch ein loser Kontakt zwischen ihnen. Für ihn war gesorgt worden, bis er auf eigenen Füßen stehen konnte. Er verdiente gut und war durchaus in der Lage, auch für eine Familie zu sorgen.

Ruhig hatte Hermann Pflüger zugehört, während Lotte ihre Erregung doch nicht ganz verbergen konnte.

»Wir wollen abwarten, bis Katrin ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hat«, sagte Hermann ablenkend. »Wir müssen uns ja an den Gedanken gewöhnen, daß sie uns nicht mehr allein gehört. Ein bißchen plötzlich und überraschend kam das schon. Aber ich halte Sie für einen Menschen, der keine unüberlegten Entscheidungen trifft.«

»Ich wäre nicht hier, wenn ich mich nicht entschieden hätte«, sagte Robert. »Es ist gut, wenn von Anfang an alles zwischen uns klar ist. Ich weiß, daß Katrin vor Ihnen keine Heimlichkeiten hat und haben könnte, und ich hätte sie niemals dazu verleiten wollen. Ich will Ihnen Katrin auch nicht wegnehmen. Es wäre sehr schön, wenn Sie mich eines Tages als Sohn akzeptieren würden.«

»Ja, was sagt man dazu«, meinte Hermann. »Fassen wir uns vorerst in Geduld. Das soll kein Mißtrauen sein, Herr Brehm. Wir sind halt ein bißchen schwerfällig.«

»Das kann mich nicht schrecken«, erwiderte Robert. »Wäre Katrin meine Tochter, würde ich auch sehr skeptisch sein, wenn da plötzlich ein Mann dahergeschneit käme. Der Gugelhupf schmeckt übrigens wunderbar«, lenkte er dann von diesem Thema ab. »Ich habe schon lange nichts Selbstgebackenes mehr gegessen.«

Katrin war erleichtert, daß die Unterhaltung nun lockerer wurde. Ihr war doch bange geworden, daß die Eltern, die sie doch über alles liebte, jetzt, in einer so entscheidenden Phase ihres Lebens kein Verständnis für sie zeigen würden.

Sie war so jung, und gestern war ihr alles wie ein wunderschönes Märchen erschienen, daß dieses ernste Gespräch sie erschreckte.

Als sie Robert dann hinunterbegleitete, fragte sie bittend: »Du bist meinen Eltern doch nicht böse, Robby?«

»Aber nein! Sie sind sehr vernünftig. Sie lieben dich, Katrin, und ich liebe dich auch. Also haben wir etwas gemeinsam, und ich bin fest überzeugt, daß wir uns sehr gut verstehen werden.«

»Sie machen sich halt Gedanken wegen der Aussteuer.«

»Du lieber Himmel, was sollten wir denn damit? Ich habe eine komplett eingerichtete Wohnung. Ein bißchen klein zwar, aber wir werden uns schon mal ein Häuschen kaufen können, und dann ziehen sie zu uns.«

»Das würdest du wollen, Robby?«

»Du sollst nie daran zweifeln, daß ich etwas sage, was ich nicht halte, Katrin. Und jetzt versprichst du mir auch etwas.«

»Was?«

»Daß du nicht mehr mit dem Rad fährst«, erwiderte er lächelnd.

»Ich habe ja gar keines mehr. Ich werde mit dem Bus fahren.«

»Und nächstes Wochenende sehen wir uns wieder ganz privat, mein Liebes. Es wird eine endlos lange Woche werden.«

»Aber wir sehen uns jeden Tag. Bis morgen, Robby. Ich liebe dich«, flüsterte sie.

Ganz schnell gab er ihr einen Kuß, da niemand zu sehen war.

*

Am nächsten Morgen begleitete Lotte Katrin zur Bushaltestelle. Zu ihrem Mann hatte sie gesagt, daß sie ohnehin noch ein paar Besorgungen machen müsse.

Katrin hakte sich bei ihr ein. »Du bist so still und nachdenklich, Mutti«, sagte sie. »Hast du etwas gegen Robby?«

»Nein, Kind, das gewiß nicht. Wir wollen doch, daß du glücklich bist.«

»Robby hat gesagt, daß wir vielleicht mal ein Häus­chen kaufen könnten, und dann sollt ihr bei uns wohnen.«

Lotte schluckte. Ein Kloß schien ihr plötzlich im Hals zu sitzen.

»Daran wollen wir noch nicht denken, Katrin. Jetzt paß auf dich auf, und sei mit deinen Gedanken nicht nur bei deinem Robby.«

»Und du paß auch auf, jetzt ist viel Verkehr«, erwiderte Katrin. Sie winkte ihrer Mutter noch zu.

Lotte setzte sich rasch in Bewegung. Schnurstracks ging sie zu Dr. Nordens Praxis.

Hoffentlich muß ich nicht zu lange warten, sonst wird Hermann unruhig, dachte sie, aber sie hatte Glück. Sie traf Dr. Norden am Lift.

»Frau Pflüger«, sagte er erstaunt, »ist etwas mit Katrin?«

»Nein, sie ist heute wieder ins Geschäft gegangen.«

»Sie hätte lieber noch mal kommen sollen.«

»Es geht ihr gut, sie hat keine Schmerzen mehr. Ich habe etwas auf dem Herzen.«

»Aber von der Grippe sind Sie hoffentlich doch verschont?«

»Es ist etwas anderes, Herr Doktor. Ich kann schon gar nicht mehr schlafen. Ich weiß auch nicht, mit wem ich sonst darüber reden soll. Mein Mann sagt immer, daß ich mir nicht so viele Gedanken machen soll.«

»Wenn ich helfen kann, helfe ich gern, das wissen Sie. Haben Sie Beschwerden, über die Sie sich Gedanken machen?«

Nur das nicht auch noch, dachte er für sich, aber sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Es handelt sich um Katrin.«

»Kommen Sie herein, Frau Pflüger. Sie haben ja auch nicht viel Zeit.«

Ilse saß schon an ihrem Platz. Sie sah frischer aus als an den Tagen zuvor. Frau Pflüger war bestürzt, als sie das fremde Gesicht sah.

»Unsere Loni hat eine schwere Grippe«, erklärte Dr. Norden, als sie im Sprechzimmer waren. »Sie liegt in der Klinik. Aber nun zu Katrin. Leider bin ich jetzt auch sehr eingespannt.«

»Und dann komme ich auch noch mit meinen Sorgen«, murmelte sie. »Die Sache ist nämlich die, daß Katrin eigentlich gar nicht unser eigenes Kind ist.«

Dr. Norden hielt den Atem an, denn solch ein Gedanke wäre ihm nie gekommen.

»Katrin weiß es nicht«, fuhr Lotte Pflüger leise fort. »An ihrem achtzehnten Geburtstag wollten wir es ihr sagen. Dann ist sie ja mündig.«

»Sie werden doch nicht annehmen, daß Katrin Sie deswegen weniger liebhaben wird?«

»Das wohl nicht«, sagte Lotte mit Tränen in den Augen. »Aber jetzt hat sie sich verliebt. Es ist Herr Brehm, der Abteilungsleiter. Er will sie heiraten. Er meint es ganz ernst. Gestern war er bei uns und hat darüber gesprochen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Katrin ist das Kind von meiner Schwester. Hanni ist bei der Geburt gestorben. Sie war immer so zart. Sie war sehr ­hübsch, aber sie hat nie darüber gesprochen, wer Katrins Vater ist, und wenn Herr Brehm Katrin heiraten will, muß er doch die Wahrheit erfahren. Ich habe solche Angst, daß das Kummer über unser Kind bringt«, schluchzte sie auf. »Für uns ist sie doch unser Kind.«

»Und ein prächtiges Mädchen, Frau Pflüger. Der Mann, der sie bekommt, kann sich glücklich schätzen und wird Ihnen dankbar sein, daß Sie so gut und liebevoll für Katrin gesorgt haben.«

»Sehen Sie das so, Herr Doktor?«

»Ja, so sehe ich das, liebe Frau Pflüger. Aber warum wollen Sie denn bis zum achtzehnten Geburtstag warten?«

»Ja, wir haben uns das so gedacht. Dann kann sie alles selbst entscheiden. Wir wissen doch nicht, wie sie es aufnehmen wird. Und wir wissen auch nicht, wie es Herr Brehm aufnimmt. Jetzt machen wir uns schon Gedanken, daß wir noch nicht mit ihr gesprochen haben, aber wir konnten doch nicht ahnen, daß sobald ein Mann in ihr Leben tritt. Er ist ein feiner Mensch, ehrlich und anständig und auch sehr nett zu uns, aber ein uneheliches Kind…«

Sie geriet ins Stocken, und schnell sagte Dr. Norden, daß dies heutzutage nun gewiß nicht mehr so engstirnig betrachtet würde.

»Aber vielleicht macht er sich Gedanken, daß nicht mal wir wissen, wer Katrins Vater ist. Hanni war nicht leichtfertig. Sie hat den Mann sehr geliebt, das wissen wir, aber er stammte aus einer sehr angesehenen Familie und hat sie dann im Stich gelassen.«

»Und Sie machen sich das Herz schwer mit sicher ganz überflüssigen Gedanken«, sagte Dr. Norden beruhigend. »Sprechen Sie mit Katrin, Frau Pflüger.«

»Wenn Sie es meinen, Herr Doktor? Vielen Dank, daß Sie Zeit für mich hatten, ich kann es nicht mal gutmachen.«

»Ist schon in Ordnung. Warten Sie, ich gebe Ihnen noch Vitamintabletten mit und Tropfen, die sie dreimal täglich einnehmen. Aber das sollten Sie wirklich nicht vergessen. Sie müssen auch mal an sich denken.«

»Sie sind so gut«, sagte sie leise. »Vielleicht würde Hanni noch leben, wenn wir damals auch solchen Arzt gehabt hätten.«

Ob Katrin dann so umsorgt aufgewachsen wäre? fragte er sich. Aber nun mußte er sich den anderen Patienten zuwenden.

*

Katrin war pünktlich an ihrem Arbeitsplatz. Als Robert durch die Verkaufsräume ging, tauschten sie einen kurzen Blick, dann aber trat er doch an sie heran.

»Wieder wohlauf, Fräulein Pflüger?« fragte er. »Sie haben uns ja einen schönen Schrecken eingejagt.«

Dabei konnte niemand etwas finden, auch dabei nicht, daß Katrin schrecklich verlegen wurde, denn ihre Schüchternheit war allgemein bekannt.

»Er weiß wenigstens, was sich gehört«, raunte Sonja Katrin zu.

Von Rainer John konnte man das nicht sagen. Er maß Katrin mit einem herablassenden Lächeln, das ausgesprochen süffisant war.

»Schlimm kann es ja nicht gewesen sein«, sagte er mit seiner knarrenden Stimme. »Sie sehen recht erholt aus, aber man nutzt solche Gelegenheiten ja gern aus.«

Katrin sah ihn voll an. »Ich habe ein Attest geschickt, Herr John«, sagte sie ruhig.

Die anderen staunten. Katrin traute sich, etwas zu sagen, das war direkt ein Ereignis.

John hatte es die Sprache verschlagen. Er kniff die Augen zusammen, und wieder hatte Katrin das eigentümliche Gefühl, daß dieser Mann sie haßte. Aber warum?

Zu aller Verwunderung wechselte er jetzt den Ton. »Ich werde allzu leicht mißverstanden«, sagte er. »Wir freuen uns, daß Sie so schnell wieder genesen sind, Fräulein Pflüger.«

Was sollte das nun wieder bedeuten? Schnell blickte Katrin zu Robert hinüber, der bei Frau Heindl an der Kasse stand. Sie sah ihm an, daß er innerlich kochte.

Sie begriff sehr schnell, daß es gar nicht einfach sein würde, ihre persönlichen Empfindungen vor den anderen zu verbergen, da sie selbst nun gegenseitig davon wußten. Katrin warf Robert schnell einen flehenden Blick zu, der wiederum Frau Heindl nicht entging. Doch diese war weit davon entfernt, ihre Gedanken den anderen preiszugeben. Sie dachte nur für sich: Sieh da, es scheint bei den beiden gefunkt zu haben. Mütterlich, wie sie war, freute sie sich darüber.

Sonja freute sich insgeheim, daß Katrin diesem arroganten John eine Abfuhr erteilt hatte, denn nun ignorierte sie ihn und wandte sich ihrer Arbeit zu, denn nun kamen schon die ersten Kunden.

Es ging alles seinen Gang. Herr John ließ sich nicht mehr blicken.

Sonja nutzte die günstige Gelegenheit zu einem Schwätzchen mit Katrin und sagte ihr, daß sie von den Kolleginnen zum Mittagessen eingeladen sei.

Alle waren nett zu Katrin, so nett, daß das dumpfe Gefühl des Unbehagens, das Rainer John wieder in ihr hervorgerufen hatte, schnell schwand. Und schließlich war auch Robert da und ganz gewiß schnell zur Stelle, wenn sie seine Hilfe brauchen würde.

Lotte Pflüger hatte indessen versucht, ihren Mann davon zu überzeugen, daß sie Katrin die Wahrheit über ihre Herkunft doch schon vor ihrem achtzehnten Geburtstag eröffnen könnten, doch da biß sie auf Granit.

»Meine liebe Lotte«, begann er ganz ruhig, »wir haben immer daran festgehalten, daß sie achtzehn Jahre lang ganz unser Kind sein sollte. Ich sehe keinen Anlaß, warum wir davon abgehen sollten. Heiraten wird sie nicht gleich morgen oder übermorgen, und wenn Brehm der Mensch ist, für den wir ihn halten, wird es ihm egal sein, wer ihr Vater gewesen sein mag. Schließlich wäre es etwas anderes, wenn die Voraussetzung gegeben wäre, daß er die Absicht hätte, ein Mädchen aus wohlhabendem Hause zu heiraten, um dann zu erfahren, daß sie ein adoptiertes, uneheliches Kind ist.«

Lotte konnte ihm nicht ganz folgen, da er sich so umständlich ausdrückte.

»Kannst du das nicht deutlicher ausdrücken?« fragte sie.

»Wie soll ich es denn sagen? Er weiß, daß wir in bescheidenen Verhältnissen leben und Katrin keine verkappte Prinzessin ist, und er will sie dennoch heiraten. Ist das deutlich genug? Und es bleibt alles so, wie wir es uns vorgenommen haben.«

Es blieb so. Die nächsten Tage vergingen ohne besondere Ereignisse.

Die Grippewelle war im Abklingen. Dr. Norden kam mal wieder zu Ruhepausen und konnte sich auch mal ein halbes Stündchen mit seinen drei Kindern beschäftigen, die ihren Papi schon sehr vermißt hatten.

Auch in Lonis Befinden war eine Besserung eingetreten, aber Dr. Behnisch war sehr dafür, daß sie noch einen Genesungsurlaub machte, da sie sehr geschwächt war, und Fee war dafür, sie auf die Insel der Hoffnung zu schicken.

Loni befand sich in einem Zwiespalt. Sie war besorgt, daß Ilse Bader ihr ihren Posten streitig machen würde, und das wäre ihr größter Kummer gewesen. Doch Fee beruhigte sie. Sie konnte sich jetzt zu Loni ans Bett setzen, und da ließ es sich besser reden.

»Für Ilse ist es nur eine Übergangsstation«, sagte Fee. »Ich denke, sie wird doch wieder in die Behnisch-Klinik zurückkehren. Sie mußte sich nur erst wieder zurechtfinden. Sie sollten wissen, daß Ihr Platz in der Praxis Ihnen vorbehalten ist, Loni, solange Sie bleiben wollen. Aber es wäre doch unverantwortlich, wenn mit Ihren Kräften Raubbau getrieben würde. Eine schlechte Benotung würde Daniel da bekommen.«

Loni fügte sich, spürte sie doch selbst, daß sie noch kein Durchhaltevermögen hatte.

Ähnlich erging es Konrad Dippmann, dessen Kreislauf völlig in Unordnung geraten war. Er war abgemagert, da er überhaupt keinen Appetit gehabt hatte. Über den Geschäftsgang ließ er sich zwar auf dem laufenden halten, aber da John sich dabei nicht ausschalten ließ, gab es immer erneuten Anlaß zur Aufregung, die Konrad Dippmanns Genesung hinauszögerte. Dr. Norden mußte sich ernsthafte Gedanken um ihn machen.

Jetzt hatte er wieder mehr Zeit, um sich länger mit ihm unterhalten zu können, und als er am Mittwoch einen Krankenbesuch bei Herrn Dippmann machte, hatte er auch noch einen besonderen Grund, noch etwas mehr über Rainer John zu erfahren.

Am Vormittag war dieser nämlich in der Praxis erschienen. Ilse Bader war im Labor gewesen. Dr. Norden begleitete eine alte, gehbehinderte Patientin zum Wartezimmer, wo sie dann von ihrer Tochter abgeholt werden sollte.

Es läutete. »Ich komme gleich«, rief Ilse aus dem Labor.

»Ich mache schon auf«, rief Dr. Norden zurück.

Die Tür öffnete sich, Rainer John trat ein. Da Dr. Norden ihn noch nie gesehen hatte, wußte er auch nicht, wer das war, aber als der andere seinen Namen nannte, war er so verblüfft, daß man es ihm ansehen konnte. Aber das war nichts gegen Rainer Johns Fassungslosigkeit, als nun Ilse in Erscheinung trat. Er schnappte förmlich nach Luft. Freilich war auch Ilse konsterniert, doch sie fing sich schneller.

»Angemeldet war Herr John nicht, Herr Doktor«, sagte sie mit einem ironischen Unterton. »Jetzt wäre Frau Hiller an der Reihe.«

»Dann also Frau Hiller«, sagte Dr. Norden und begab sich wieder ins Sprechzimmer. Er wußte, daß Ilse ihm dann schon Bericht erstatten würde.

»Was machst du hier, Ilse?« stieß John zwischen den Zähnen hervor.

»Ich arbeite hier. Schließlich muß ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen, nachdem der feine Herr von Reuchlin es vorgezogen hat, mit meinem Geld zu verschwinden.«

»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte er.

Sie musterte ihn spöttisch. »Sie brauchen nicht den Unwissenden zu spielen, Herr John«, sagte sie eisig. »Ich lasse mich nicht mehr für dumm verkaufen.« Sie schöpfte tief Atem. »Und die vertrauliche Anrede möchte ich mir verbitten.«

»Ilse, ich bitte dich, ich hatte keine Ahnung davon. Ich habe keine Verbindung mehr zu Paul. Ich dachte, ihr wäret längst verheiratet.« Er hatte den Schrecken überwunden und wieder Boden unter den Füßen. »Ilse, wir müssen uns treffen. Du mußt mir das alles genau erzählen. Ich bin erschüttert.«

Sie glaubte ihm kein Wort. »Kein Interesse. Für mich ist der Fall erledigt, genau wie Paul mit seinem ganzen Anhang.«

»Du kannst mich doch nicht mit ihm in einen Topf werfen. Ich bin entsetzt.«

»Und ich habe zu tun. Wenn Sie Dr. Norden sprechen wollen, dort ist das Wartezimmer. Es wird einige Zeit dauern.«

»Ich komme an einem anderen Tag wieder«, sagte er rasch, »jetzt muß ich das erstmal verkraften.« Er machte eine kleine Pause. »Überleg es dir, Ilse, und ruf mich dann an. Ich gebe dir meine Privatnummer. Wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann, du kannst auf mich rechnen. Ich hätte das niemals von Paul gedacht.«

Dieser Lügner, dachte Ilse, aber dann kam ihr der Gedanke, warum er so erpicht darauf war, mit ihr zu sprechen.

»Ich werde es mir überlegen«, sagte sie stockend. »Aber jetzt habe ich zu tun.«

»Auf Wiedersehen, Ilse«, sagte er. Er verschwand schnell, sehr schnell.

Später hatte Ilse dann Dr. Norden von diesem Wortwechsel erzählt.

»Was halten Sie davon, daß er mich unbedingt sprechen will?« fragte sie nachdenklich.

»Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht hat er Angst, daß Sie ihm schaden könnten, wenn Sie seine Freundschaft mit diesem Schlawiner Paul ausplaudern. Zum andern könnte es aber auch möglich sein, daß er von Ihnen erfahren will, was er eigentlich von mir hören wollte. Als Patient ist er allem Anschein doch nicht in die Praxis gekommen.«

»Ob er Sie über Herrn Dippmanns Zustand aushorchen wollte?« überlegte Ilse.

»Es könnte möglich sein. Sie könnten es in Erfahrung bringen, Ilse.«

»Sie meinen, daß ich mich mit ihm treffen soll?«

»Ich will Sie nicht beeinflussen. Immerhin hat Ihre ­Anwesenheit ihm einen gewaltigen Schrecken eingejagt.«

»Ein ganz hübscher Gedanke«, sagte sie spöttisch. »Das bereitet mir eine gewisse Genugtuung. Ich werde tatsächlich neugierig. Ja, ich werde mich mit ihm verabreden.«

Als nun Dr. Norden am Nachmittag bei Herrn Dippmann war, suchte er nach einem Anlaß, das Gespräch auf Rainer John zu bringen, aber da kam ihm Konrad Dippmann entgegen.

»Mich macht der Gedanke fertig, daß John alles zufällt«, ächzte er. »Ich kann mich nicht mehr aufraffen, deswegen schleppt sich diese Krankheit so hin.«

»Müssen Sie denn um Ihre Existenz fürchten, Herr Dippmann?« fragte Dr. Norden vorsichtig.

»Es geht doch nicht ums Finanzielle. Ich bin abgesichert. Es geht mir darum, daß ich meinem einzigen Freund noch nach dem Tode gram sein müßte. Wir sind schon zusammen zur Schule gegangen, müssen Sie wissen. Ich habe Wastl viel zu verdanken. Für mich blieb er immer der Wastl, wenn dann später auch aus dem lustigen Burschen ein Eigenbrötler geworden ist, wie auch ich einer bin. Er hätte heiraten sollen, das wäre besser gewesen. Aber da starb der Vater, und dann wurde die Mutter so krank. Da war der Ärger mit der älteren Schwester, deren Mann, Rainers Vater, mit ins Geschäft wollte. Das war auch so ein Tagedieb, der sich nur aufs Geldausgeben verstand. Die beiden kamen durch einen Autounfall ums Leben. Wastl mußte für Rainer sorgen. Der Junge kam in ein Internat. Er hat immer Schwierigkeiten gemacht. Dann starb Wastls Mutter nach langer Krankheit. Nein, Freude hat mein guter Freund wirklich nicht gehabt. Er hat dann wohl auch gespürt, daß er selbst nicht sehr gesund war. Vielleicht war ihm zum Schluß alles gleichgültig.«

»Aber ein Testament hat er doch gemacht?« fragte Dr. Norden.

»Ja, das schon. Es wird am ersten Juli verlesen. Dr. Meißner, der Notar, schweigt sich aus. Muß er ja wohl auch, aber vielleicht weiß er auch selber nichts. Für mich wird es immer unheimlicher, je näher der Tag rückt. Der Gedanke, daß John dann der Chef ist und alles umkrempeln wird, der macht mich fertig. Ich bin halt ein komischer Mensch, Herr Doktor. Ich habe meinem Freund das Versprechen gegeben, in der Firma zu bleiben, solange es nur geht, aber ich kann das Versprechen nicht halten, wenn John etwas zu sagen hat. Ich kann nicht zuschauen, wie alles zerstört wird, und das würde eintreten. So, nun habe ich mir alles von der Seele geredet. Nein, noch nicht alles, aber Sie werden mich für ein Klatschweib halten.«

»Sprechen Sie sich ruhig aus, das erleichtert, Herr Dippmann.«

»Ich habe Erkundigungen eingezogen über John. Da habe ich nichts Gutes erfahren, und was er mit alles so untergejubelt hat, ist Schall und Rauch. Er ist genauso arbeitsscheu wie sein Vater. Und sein Umgang, na, darüber wollen wir lieber nicht reden.«

»Vielleicht kann ich dazu etwas beitragen«, sagte Dr. Norden.

»Sie?«

»Wenn ich dann nicht auch als Klatschbase dastehe«, lächelte der Arzt. Und so erfuhr Herr Dippmann, was sich am Vormittag in der Praxis zugetragen hatte. Diesbezüglich hatte die ärztliche Schweigepflicht ja keine Geltung, und auf Herrn Dippmann wirkte es wie ein Aufmunterungsmittel.

Das war schließlich auch etwas wert. Nun wollte er unbedingt Ilse Bader kennenlernen.

»Warten wir erst einmal ab, ob sie sich mit John trifft, und was sie dann erfährt«, meinte Dr. Norden. »Von Herrn Brehm haben Sie nach wie vor eine gute Meinung?«

»An dem Jungen ist nichts auszusetzen. Er ist in Ordnung. Ihn würde jeder mit Kußhand nehmen, er ist ein untadeliger Charakter.«

Dazu äußerte sich Dr. Norden nicht weiter, aber er freute sich für Katrin.

*

Im Kaufhaus Heller wunderte man sich, daß sich Rainer John plötzlich größte Zurückhaltung auferlegte. Man bekam ihn kaum noch zu Gesicht. Er verschanzte sich in seinem Büro, was wiederum Robert mißtrauisch stimmte.

Ihm war es auch aufgefallen, daß John am Vormittag weggefahren war. Aber er fand eine Gelegenheit, ein paar Worte mit Katrin zu sprechen, als sie ins Lager kam, um Nachschub für die Kinderabteilung zu holen.

»Wie ist die Stimmung daheim?« fragte er leise.

»Gut, wie immer«, erwiderte sie mit einem flüchtigen Lächeln.

»Keine Einwände gegen mich?«

»Keine.« Sie schenkte ihm einen langen zärtlichen Blick. »Das Wochenende kommt bald, Robby.«

»Ich kann es kaum noch erwarten.«

Sonst aber hielten sie sich an die Bedingungen, die sie sich selbst auferlegt hatten.

Abends fuhr Katrin mit Sonja heim, die meistens von ihrem Verlobten abgeholt wurde, der jetzt jedoch ein paar Tage außerhalb zu tun hatte.

Sonja hatte ihre Augen überall und konnte ihre Zunge auch nicht sehr gut im Zaum halten.

»Brehm hat allerhand für dich übrig, Katrin«, sagte sie, »und es scheint so, als wäre er dir auch nicht gleichgültig.«

Katrin fühlte sich durchschaut und wurde verlegen.

»Ich rede schon nicht darüber«, sagte Sonja. »Ich finde, daß ihr prima zusammenpaßt. Er ist ein fescher Bursche. Sei nicht gar zu schüchtern, Katrin. Man muß sein Glück beim Schopf packen.«

Sie meinte es ehrlich, und nichts Anzügliches klang aus ihren Worten.

»Du weißt genau, daß persönliche Kontakte zwischen den Herren und den Verkäuferinnen unerwünscht sind«, meinte Katrin ablenkend.

»Das ist doch ein alter Zopf«, spottete Sonja. »Ich würde mich nicht daran halten.«

Katrin schwieg.

Sie wollte ihr Geheimnis noch wahren, auch Sonja gegenüber, obgleich sie nach dem Unfall so besonders nett zu ihr war.

Sie mußten noch ein Stück zu Fuß gehen, und sie hatten den gleichen Weg. Da kamen sie auch bei der Lottoannahmestelle vorbei, die den Büchners gehörte. Eigentlich war bei ihnen auch Ladenschluß, aber an diesem Abend war Renate Büchner dabei, die Fenster zu putzen.

Da konnte man nicht einfach vorbeigehen. »Das freut mich aber, daß Sie wieder gesund sind, Fräulein Pflüger«, sagte die junge Frau. »Kommen Sie doch noch auf einen Sprung herein. Ich bin gerade fertig. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie noch ein paar Lose bei uns guthaben. Vielleicht ist ein Glückslos dabei.«

Katrin wurde wieder verlegen, aber Sonja hatte da keine Hemmungen.

Gerd Büchner sortierte noch Zeitschriften. Er erkundigte sich gleich, ob man den Verkehrsrowdy gefunden hätte.

Katrin mußte verneinen.

»Den wird man wohl auch nicht finden«, sagte sie.

»Und wer ersetzt Ihr Rad?« fragte Gerd Büchner.

»Niemand, aber ich fahre jetzt auch mit dem Bus.«

»Nun greifen Sie mal in die Lostrommel«, sagte Renate heiter. »Sie ist frisch aufgefüllt. Jede Chance ist vorhanden.«

»Ich kann das doch nicht annehmen«, sagte Katrin stockend.

»Und ob Sie das können«, meinte Renate. »Wenn wir schon sonst nichts dazu tun konnten, um Ihnen weiterzuhelfen, machen Sie uns doch die Freude. Wir wissen ja noch gar nicht, ob ein Glückslos drin ist, aber wenn wir alle fest die Daumen drücken, hilft es vielleicht. Es ist ja nicht unser Geld, was Sie möglicherweise gewinnen können. Nieten gibt es genug.«

Vier Lose mußte Katrin nehmen, und die ersten drei erwiesen sich zur Enttäuschung aller tatsächlich als Nieten. Aber dann öffnete Renate das vierte und stieß einen Jubelruf aus. »Tausend Euro, ich hab’s ja geahnt«, freute sie sich, als sei sie selbst die Gewinnerin.

Katrin war ganz blaß geworden. »Tausend Euro«, flüsterte sie, »aber nein, das nehme ich nicht an.«

»Das wäre ja wohl noch schöner«, sagte nun Gerd Büchner, und dem pflichteten seine Frau und Sonja eifrig bei.

»Wenn es dich beruhigt, kannst du die Lose ja jetzt bezahlen«, sagte Sonja.

Katrin war wie benommen. Tausend Euro, einfach so, ohne dafür arbeiten zu müssen, zusätzlich, wie vom Himmel gefallen. Und Gerd Büchner legte die Hunderteuroscheine schon auf den Tisch.

So gern hatte er einen Gewinn noch nie ausgezahlt wie diesem Mädchen, das aussah, als fielen sämtliche Feste auf einen Tag.

Und damit Katrin auch ja heil mit dem Geld nach Hause kommen sollte, wurden die beiden Mädchen heimgefahren.

»Mutti und Vati werden das gar nicht glauben können«, sagte Katrin.

»Dann werden wir es ihnen sagen«, erklärte Renate.

»Das soll Fräulein Pflüger mal lieber selber tun«, widersprach ihr Mann. »Lassen Sie sich wieder mal bei uns sehen. Vielleicht versuchen Sie es auch mal im Lotto.«

Lotte hatte schon Ausschau nach Katrin gehalten. Sie war immer vor ihr zu Hause. Sie sah, wie Katrin aus dem Wagen stieg und diesem dann nachwinkte. Als Katrin dann mit heißen Wangen zur Tür hereinkam, fragte sie beklommen, wer sie denn da heimgebracht hätte, denn Roberts Wagen war es nicht gewesen.

Katrin fiel ihr um den Hals. »Die Büchners, Mutti. Wir haben uns vor ihrem Geschäft getroffen. Ich mußte ein paar Lose nehmen, und ich habe gewonnen. Tausend Euro habe ich gewonnen, Mutti. Ist das nicht wunderbar? Sie waren so nett und haben sich so gefreut. Wo ist denn Vati?«

»Er mußte etwas erledigen. Vielleicht kann er bei seiner alten Firma wieder arbeiten.«

»Dann ist es ein Glückstag, Mutti. Freu dich doch.«

Lotte blickte auf den Tisch, wo Katrin nun die zehn Hunderteuroscheine ausbreitete.

»Wir haben uns noch nie was schenken lassen«, sagte sie leise.

»Aber ich konnte es nicht ablehnen. Es hätten ja auch vier Nieten sein können. Und es ist ja nicht das Geld von Büchners. Es kommt von der Lotterie. Ihr könnt es doch brauchen.«

»Es gehört dir«, sagte Lotte. »Vati kommt.«

Pfeifend kam er daher, mit einem breiten Lächeln trat er ein.

»Nanu, was ist denn hier los?« war seine erste Frage, als er die Hunderteuroscheine sah.

Nochmals mußte Katrin erzählen. Diesmal war sie aber beklommen. Aber er reagierte anders als Lotte.

»Na, das nenne ich Glück, Kleine. Warum soll es nicht auch mal uns treffen? Jetzt geht es wieder aufwärts.«

»Bekommst du die Stellung?« fragte Lotte.

»Sieht man mir das nicht an? In der Registratur kann ich arbeiten, da geht alles maschinell. Die Unfallrente bekomme ich auch weiterhin. Sie haben sich gefreut, daß ich soweit wieder hergestellt bin. Ja, Kinder, sie haben sich tatsächlich gefreut. Nun geht Vater wieder arbeiten, und Mutter bleibt zu Hause.«

»Was soll ich denn allein zu Hause?« widersprach Lotte. »Jetzt sage ich mal, daß wir alles ganz hübsch langsam angehen. Nur nicht gleich übermütig werden.«

Aber freuen konnten sie sich doch an diesem Tag, und Lotte vergaß dann auch ihre anderen Sorgen.

*

Rainer John dagegen war miesester Stimmung. Er ärgerte sich maßlos, daß er Dr. Nordens Praxis aufgesucht hatte. Nun erschien es ihm wie eine Herausforderung des Schicksals.

Gegen seine sonstige Gewohnheit war er in seiner Wohnung. Von Unruhe getrieben lief er hin und her.

Das Telefon läutete. Sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr, als er mit einer Flut von Vorwürfen überhäuft wurde.

»Ich kann heute nicht, Lu«, versuchte er die Frau am anderen Ende der Leitung zu beschwichtigen. »Ich habe zu tun. Ich kann deinetwegen nicht alles aufs Spiel setzen. Vielleicht morgen.«

Wieder ertönte ein Wortschwall. »Na schön, dann morgen auch nicht«, sagte er gereizt und knallte den Hörer auf die Gabel.

Nach einer halben Stunde läutete das Telefon wieder. Er ließ es erstmal läuten, dann nahm er aber doch den Hörer auf.

»Was ist denn nun wieder?«

Aber sogleich änderte sich sein Ton. »Oh, du bist es, Ilse. Entschuldige bitte, aber den ganzen Abend traktieren sie mich schon mit geschäftlichen Dingen. Ich freue mich, daß du anderen Sinnes geworden bist. Freilich habe ich heute Zeit, für dich habe ich immer Zeit. Mir liegt doch daran, daß du keine so schlechte Meinung von mir hast. Gut, treffen wir uns in einer halben Stunde in der Klause. Da sitzt man gemütlich und wird nicht gestört. Gut essen kann man auch. Ich lade dich selbstverständlich ein.«

Seine Stimmung hob sich. Es war nur gut, daß er Lu abgewimmelt hatte. Sie ging ihm nachgerade auf die Nerven mit ihren Ansprüchen. In keiner Beziehung konnte sie ihm nützen, und wie sie ihm schaden könnte, daran durfte er gar nicht denken.

Ilse hatte sich sehr sorgfältig zurechtgemacht.

Schon lange hatte sie das nicht mehr getan, und als sie sich im Spiegel betrachtete, erwachten ihre Lebensgeister.

»Dir werde ich es schon zeigen«, sagte sie spöttisch. Selbstbewußt betrat sie zur verabredeten Zeit die Klause. Aber dann fiel ihr ein, daß sie sich nicht gar so forsch geben sollte.

Rainer John sprang von seinem Platz auf und kam ihr entgegen. Galant küßte er ihr die Hand. Ilse mußte sich beherrschen, um nicht lauthals zu lachen.

»Nett, daß du gekommen bist«, sagte er. »Ich war richtig deprimiert, weil du mich so abfahren ließest.«

»Ich war zu sehr überrascht, und ich dachte auch, du hättest mich aufgespürt. Außerdem war ich ja im Dienst.«

»Bist du schon lange bei Norden?« fragte er.

»Nein, erst ein paar Tage. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um mich von dem Unfall zu erholen.«

»Es tut mir sehr leid, daß ich mich nicht um dich kümmern konnte, aber ich habe nichts von Paul gehört, auch nicht, in welches Krankenhaus du gebracht worden bist. Ich dachte, er sei eifersüchtig auf mich, weil ich mal gesagt habe, daß er um dich zu beneiden sei.«

Du falscher Bruder, dachte sie grimmig, aber sie lächelte.

»Ja, er war eine Enttäuschung, aber was sollte ich machen? Ich habe ihm vertraut. Ich habe ihm das Geld gegeben, und erst hinterher sind mir die Augen aufgegangen. Lassen wir das Thema. Wie geht es dir?«

»Bestens. Wenn ich dir unter die Arme greifen kann, tue ich es gern, Ilse. Du sollst nicht denken, daß alle Männer so sind wie Paul.«

»Ach, mach dir keine Gedanken um mich. Ich bin bald aus dem Schneider. In Kürze habe ich eine größere Erbschaft zu erwarten«, schwindelte sie munter drauflos. »Ein Onkel in Australien ist gestorben, er hat es dort zu einem hübschen Vermögen gebracht. Es dauert nur ein bißchen, bis alles abgewickelt ist, denn auswandern will ich nicht.«

Sie hatte ihn neugierig gemacht, das konnte sie ihm an seiner Nasenpitze ansehen. Und genau das hatte sie beabsichtigt.

»Das ist ja interessant«, sagte er. »Ich werde in Kürze auch mein Erbe antreten, das Kaufhaus Heller. Ist ja ein bißchen veraltet, aber wenn man etwas investiert, kann man mehr daraus machen. Vielleicht steigst du ein. Gu­ter Gewinn ist garantiert.«

»Das wäre zu überlegen, aber erst muß das Geld mal da sein«, sagte sie.

»Mit wieviel kannst du denn rechnen?« fragte er ganz beiläufig.

»Na ja, es kann schon eine siebenstellige Zahl werden. Ein wahrhaft warmer Regen. Ich werde mein Leben richtig genießen. Die Durststrecke ist überwunden.«

»Warum hast du dann diese Stellung noch angenommen?«

»Weil ich ganz hübsch in die roten Zahlen geraten war. Du kannst ja jetzt auch noch nicht über alles verfügen.«

»Sonst hätte ich auch schon manches geändert. Vor allem Dippmann muß verschwinden, und diesen Wichtigtuer Brehm setze ich auch auf die Straße. Dippmann ist sowieso dauernd krank. Was fehlt ihm denn eigentlich?«

Schlecht war die Überleitung auf dieses Thema nicht, aber nun wußte Ilse, worauf er hinauswollte.

»Da weiß ich nicht so richtig Bescheid. Er kommt ja nicht in die Praxis, und er ist Privatpatient. Da hat Dr. Norden die Karte immer bei sich.«

»Mich würde es schon interessieren, ob ihm was Ernsthaftes fehlt. Könntest du mir da nicht einen Tip geben?«

»Ist das denn wichtig?«

»Er behindert den Fortschritt, Ilse. Wenn er länger ausfällt, könnte ich ganz anders planen.«

Für wie dämlich hält er mich eigentlich, fragte sich Ilse und beschäftigte sich deshalb vorerst intensiv mit dem Essen.

»Sehr gut«, stellte sie fest, »wirklich lecker. Laß es nicht kalt werden, Rainer. Zum Reden haben wir ja noch Zeit.«

Und sie gewann Zeit, die weitere Marschroute festzulegen. Sie war jetzt im richtigen Fahrwasser. Sie fühlte sich ihm überlegen, denn er schien ihr alles zu glauben, während sie vorgewarnt war. Sie hatte schon allerhand erfahren, was deutlich zeigte, wie hinterhältig er war.

Und sie lockte noch mehr aus ihm heraus, ohne daß er Mißtrauen zeigte. Diesmal stand sie nicht auf der Verliererseite, aber ihren Tribut hatte sie ja schon vorher entrichtet, und sie hatte daraus gelernt.

Sie wollten sich am Samstag wieder treffen. Mit einem vielversprechenden Lächeln sagte Ilse, daß sie bis dahin vielleicht schon die Überweisung aus Australien haben würde. Nicht die geringsten Gewissensbisse hatte sie dabei.

*

Am nächsten Morgen erstattete sie Dr. Norden sogleich Bericht. Es war ein Morgen wie aus dem Bilderbuch. Tiefblau war der Himmel, die Sonne lachte, die Menschen waren fröhlich, die Kranken, denen das wechselhafte Wetter zu schaffen gemacht hatte, atmeten auf.

Ilse erschien in einem hübschen Kostüm, mit loser Frisur.

Dr. Norden sah mit Wohlgefallen, wie munter sie war. Der resignierte Ausdruck war wie weggewischt.

»Aktion angelaufen«, erklärte sie mit einem schelmischen Lächeln. »Ich habe mich versündigt.«

»Wie das?« fragte er irritiert.

»Ich habe geschwindelt auf Teufel komm raus, aber es hat seine Wirkung getan. Ach, ich muß ja vorausschicken, daß ich den penetranten Herrn John getroffen habe.«

»Das ging aber rasch.«

»Was man heute kann besorgen, das verschiebt man nicht auf morgen. Diesmal fällt er herein. Als ich ihm von meiner Millionenerbschaft erzählte, hat er Stielaugen gekriegt, aber die hat er ja eigentlich ohnehin. Nicht Fisch noch Fleisch ist dieser Kerl. Er möchte über Herrn Dippmanns Gesundheitszustand informiert werden, darauf ging es eigentlich hinaus. Fühlt sich schon ganz als reicher Erbe. Ein Jammer, wenn er wirklich alles bekommt.«

Es war nur so über ihre Lippen gesprudelt, und Dr. Nordens Gesicht wurde immer nachdenklicher.

»Sie haben ihn also mit einer reichen Erbschaft geködert.«

»Es war göttliche Eingebung. Er will mich gleich beteiligen an der Modernisierung des Kaufhauses, mit großem Gewinn natürlich. Er hält sich für supergescheit, aber das kann mir nur recht sein. Vielleicht macht er mir sogar noch einen Heiratsantrag. Herrgott, ist das ein schönes Gefühl, daß ich wenigstens einen von diesen Kadetten hereinlegen kann.«

»Aber Vorsicht ist dennoch am Platze«, sagte Dr. Norden warnend. »Es vereinbart sich schließlich nicht, daß eine angebliche Millionenerbin Praxishelferin ist.«

»Nur zur Überbrückung vorangegangener Kalamitäten, habe ich ihm erklärt. Sie können beruhigt sein, ich bin vorsichtig.« Sie erzählte ihm noch mehr über die Unterhaltung.

»Er scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein«, sagte Dr. Norden gedankenvoll, »oder er spielt bewußt falsch. Herr Dippmann traut ihm nicht über den Weg. Er möchte Sie übrigens gern kennenlernen.«

»Sie haben mit ihm über mich gesprochen?« fragte Ilse erstaunt.

»Es ergab sich, weil er mit mir über John sprach. Ich hoffe, Sie sind mir deswegen nicht böse?«

»Nein, keineswegs. Man sitzt ja sozusagen in einem Boot. An Herrn Dippmanns Stelle würde ich jedenfalls mal die Abrechnungen kontrollieren. Ich vermute, daß John den Besitz anderer Menschen ebenso wenig zu schätzen vermag wie der Herr von Reuchlin. Sie sind beide vom Stamme Nimm.«

Das konnten bei ihr auch Vorurteile sein, die man ihr nicht übelnehmen konnte, aber alles, was Dr. Norden bisher über diesen Rainer John gehört hatte, war alles andere als sympathisch. Er konnte Herrn Dippmanns Depressionen verstehen, denn bei allem Geschäftssinn war dieser Mann sehr sensibel.

*

An diesem Morgen zeigte Rainer John im Kaufhaus nicht mehr die Zurückhaltung des Vortages. Er hatte an allen und jedem etwas herumzumäkeln. Vor allem an Katrin, die ihm einmal zu langsam war, dann nicht ordentlich genug aufräumte.

»Und freundlicher könnten Sie auch sein, Fräulein Pflüger«, warf er ihr dann noch hin. Da aber platzte Sonja der Kragen.

»Wer sind wir denn eigentlich«, platzte sie heraus. »Jeder läßt sich gern von Katrin bedienen und…«

»Und Sie halten den Mund«, schnitt er ihr das Wort ab, »sonst sind Sie entlassen.«

Sonja warf den Kopf in den Nacken. »Das haben Sie nicht zu bestimmen. Ich werde mich bei Herrn Dippmann beschweren.«

»Der hat hier bald nichts mehr zu sagen«, zischte John.

Sogar Frau Heindl hinter der Kasse wurde blaß. Sonja war wutentbrannt. Ihr Temperament ging mit ihr durch.

»Dann können Sie sich aber neues Personal suchen«, empörte sie sich.

»Und ich werde es finden, Fräulein Moralt. Worauf Sie sich verlassen können.«

»Sonja, bitte, reg dich doch meinetwegen nicht auf«, sagte Katrin flehend.

»Und wie ich mich aufrege. Ich lasse mir das doch nicht bieten. Ich werde Herrn Dippmann alles haarklein erzählen.«

Robert erschien, und John verschwand. »Was war denn hier los?« fragte Robert.

»Aufgeführt hat er sich wieder wie sonstwas«, sagte Sonja. »Und an Katrin hat er rumgemeckert.«

»Kann ich Sie bitte einen Augenblick sprechen, Fräulein Pflüger?« fragte Robert mit äußerster Beherrschung.

Katrin folgte ihm ins Büro. Ihr blasses Gesicht war nun blutübergossen.

»Sonja ist der Kragen geplatzt«, sagte sie leise. »Mach bloß kein Aufsehen, Robby.«

»Mir platzt auch der Kragen«, sagte er. »Ich muß jetzt zu Herrn Dippmann. Heute morgen hast du so glücklich ausgeschaut, Liebes.«

»Bin ich doch auch. Ich habe gestern tausend Euro gewonnen. Büchners haben mir die Lose geschenkt. Sie waren so nett und haben sich so sehr gefreut. Und Vati hat eine Stellung. Mich kann heute nichts aufregen, Robby, auch John nicht. Er hat gesagt, daß Herr Dippmann hier nicht mehr lange was zu sagen hat.«

Robert runzelte die Stirn. »Das wird sich ja herausstellen. Aber wenn es so ist, schaue ich mich nach einer anderen Stellung um, und wenn wir erst verheiratet sind, wirst du sowieso nicht mehr arbeiten. Wir besprechen alles am Samstag. Ich kann jetzt Herrn Dippmann nicht warten lassen. Kopf hoch, Kleines, bald wird alles besser.«

»Mach dir keine Sorgen, Robby, manche Menschen können sagen, was sie wollen, sie sind zu mies, als daß man sich beleidigt fühlen könnte.«

Wieviel Klugheit und Nachdenklichkeit lag in diesen Worten. Robert mußte daran denken, als er zu Herrn Dippmann fuhr.

Als er dort ankam, verließ ein älterer weißhaariger Herr das Haus. Robert kannte ihn nicht, aber er grüßte höflich, und freundlich wurde der Gruß erwidert.

»Sie sind Herr Brehm?« fragte der Mann.

Robert nickte zustimmend. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Dr. Meißner. Herr Dippmann erwartet Sie. Es geht ihm besser.«

Konrad Dippmann war angekleidet. Er schien sehr gut gelaunt. Er hatte mit dem Notar Dr. Meißner ein langes Gespräch geführt und einiges erfahren, was seine Lebensgeister geweckt hatte.

Jetzt wollte er erfahren, was in der Firma los war und vor allem, wie sich John aufführte.

»Aber alles«, sagte er eindringlich. »Sie brauchen mich nicht zu schonen. Mich kann jetzt nichts mehr umwerfen.«

Unbehaglich war es Robert dennoch, als er ihm vom jüngsten Vorfall berichtete.

»Die kleine Moralt hat Mut«, sagte Herr Dippmann schmunzelnd.

»Fräulein Pflüger ist zu schüchtern«, nahm Robert Katrin in Schutz.

»Und dabei so hübsch«, meinte Herr Dippmann mit einem schrägen Blick. »Ich werde morgen im Betrieb sein, damit John die Allüren vergehen. Ja, es wird sich bald etwas ändern, aber der Chef wird bestimmt nicht John heißen. Das behalten Sie bitte für sich, Herr Brehm.«

»Selbstverständlich, Herr Dippmann«, versicherte Robert erleichtert.

Er fuhr zurück, stellte den Wagen in der Tiefgarage ab und ging dann durch das Lager. Da vernahm er einen euroerschütternden Schrei.

Er stürzte zur Tür hinaus, um dann schreckensstarr stehenzubleiben, denn am Fuße der Treppe lag zusammengekrümmt Katrin.

Ihm wurde schwarz vor Augen. Er kniete bei ihr nieder, sah ihr blutüberströmtes Gesicht, fühlte keinen Pulsschlag mehr, aber seine Hände waren eiskalt geworden und zitterten. Aus dem Lager waren Leute herbeigelaufen, und oben an der Treppe stand Rainer John. »Was ist denn hier los?« rief er herrisch.

»Den Notarztwagen, schnell«, brachte Robert mühsam über die Lippen, dann schob er behutsam seinen Arm unter ihren Kopf.

»Mein Liebes, Katrin«, flüsterte er angstvoll. Dann ertönte wieder Johns Stimme.

»Halten Sie Ihren Mund!« stieß Robert hervor. »Warum tun Sie nichts?«

Aber die Angst um Katrin war stärker als sein Zorn auf diesen Mann.

Sirenentöne waren zu vernehmen. Der Notarztwagen war da. Katrin wurde auf die Trage gehoben.

»Ich fahre mit«, sagte Robert bebend.

»Sieht schlimm aus«, sagte ein Sanitäter. Der junge Notarzt nickte. Robert war wie gelähmt. »Zur Behnisch-Klinik«, murmelte er. »Sie war dort schon.« Und dann dachte er immer nur: Katrin, du mußt leben, du darfst mich nicht verlassen.

*

In den Verkaufsräumen herrschte lähmende Stille. Es war Mittagspause, aber niemand verließ seinen Platz. Sonja saß in einer Ecke und schluchzte leise vor sich hin.

Schrill ertönte Johns Stimme. »Na, wie ist es, Herrschaften, soll ich das Geschäft schließen, weil dieses Mädchen nicht mal richtig die Treppe hinuntergehen kann?«

Frau Heindl starrte ihn an. »So etwas von schäbig«, sagte sie heiser.

»Meinen Sie mich?« fragte er zynisch. »Ein seltsamer Ton herrscht hier.«

»Ja, wenn Sie den Mund auftun«, brauste nun Sonja wieder auf. »Ich gehe. Ich kann das nicht mehr ertragen.«

Sie nahm ihre Tasche und ging tatsächlich.

Aber durchbohrt von feindseligen Blicken zog sich nun auch John zurück.

Frau Heindl lief hinter Sonja her. »Warte, Sonja, beruhige dich erst«, sagte sie.

Sonja starrte sie blicklos an. »Er ist ihr nachgegangen«, murmelte sie geistesabwesend. »Ja, er ist Katrin nachgegangen. Ich war hinten. Ich habe ihn gesehen. Er geht sonst nie ins Lager.«

»Sag nichts, was du nicht beweisen kannst«, mahnte Frau Heindl begütigend. »Du bist heute voller Zorn auf ihn.«

»Ich hatte immer Wut auf ihn«, murmelte Sonja tonlos, und dann schluchzte sie wieder auf. »Wenn Katrin stirbt…«

»Denk nicht das Schlimmste«, sagte Frau Heindl erschrocken. »Mein Gott, das darf doch nicht geschehen.«

»Wer sagt es ihren Eltern? Ich darf gar nicht daran denken. Erst der Unfall mit dem Rad, nun das. Merkwürdig ist das«, fuhr sie fort.

Und solche Gedanken kamen nun auch Robert, als er ruhelos auf dem Korridor in der Klinik herumlief. In seinem schmerzenden Kopf herrschte ein völliges Durcheinander, aber dieser Gedanke bewegte ihn mehr und mehr.

Dann kam Dr. Norden, herbeigerufen von Jenny Behnisch. Sie brauchten Unterstützung, da sie noch einige Patienten betreuen mußten, die gerade operiert worden waren und sich auch in einem kritischen Stadium befanden.

Ohne Robert je gesehen zu haben, wußte Dr. Norden, daß er es war.

»Sie sind Herr Brehm?« sagte er. Robert nickte wortlos.

»Wir sprechen uns später. Würden Sie Katrins Eltern benachrichtigen?«

Robert sah ihn verzweifelt an. »Einer muß es ihnen ja sagen«, flüsterte er. »Sie darf nicht sterben, bitte, helfen Sie ihr.«

*

Dr. Behnisch blickte kurz auf, als Daniel nun im weißen Kittel in den OP kam.

»Ein furchtbarer Sturz«, sagte er leise. »Sie ist vom Unglück verfolgt.«

Vom Unglück? fragte sich Daniel. Zwei Unfälle innerhalb von zwei Wochen?

»Schädelfraktur«, sagte Dr. Behnisch leise. »Unterarmbruch, schwerste Prellungen. Hilf mir, Daniel.«

Dann herrschte absolute Stille. Die beiden Schwestern arbeiteten lautlos. Jenny Behnisch brachte Blutkonserven.

Daheim saßen Hermann und Lotte Pflüger in der Küche beim Essen, als Robert kam.

Er war mit dem Taxi gekommen und hatte es warten lassen. Ihm saß der Schock noch in den Gliedern. Angst und Verzweiflung spiegelten sich in seinen Augen und Gesichtszügen wider. Er hatte es mit zwei Menschen zu tun, bei denen Gefühl an erster Stelle stand, und beide begriffen, daß wieder etwas Schreckliches geschehen war, bevor er noch ein Wort über die Lippen gebracht hatte.

»Was ist mit Katrin?« fragte Hermann Pflüger tonlos, während Lotte Robert mit weitaufgerissenen Augen anstarrte.

»Sie ist in der Klinik«, erwiderte er mit kaum vernehmbarer Stimme. »Ich kann jetzt nicht viel sagen. Wollen Sie mitkommen? Das Taxi wartet.«

»O Gott«, murmelte Lotte, »ist uns denn nicht ein bißchen Glück vergönnt?«

Robert griff nach ihren Händen. »Bitte, liebe Frau Pflüger, ich empfinde genauso wie Sie, aber wir müssen jetzt nur daran denken, daß sie uns erhalten bleibt.«

Lotte rollten die Tränen über die Wangen.

Hermann Pflüger sagte rauh: »Nicht verzweifeln, Lotte. So ungerecht kann der Herrgott nicht sein. Was ist geschehen, Robert?«

Er nannte ihn beim Vornamen und legte seine Hand auf Roberts Schulter.

»Sie ist im Geschäft die Treppe heruntergefallen.«

»Die Treppe heruntergefallen«, wiederholte Hermann tonlos. »Und es soll wieder ein Unfall sein? – Gehen wir. Komm, Lotte, wir gehen zu unserem Kind.«

Er und Robert stützten Lotte, die dem Zusammenbruch nahe war.

So betraten sie auch die Klinik. Und dann begann das Warten, dieses bange, quälende Warten, das allen zur Ewigkeit wurde.

*

Rainer John hatte indessen nichts anderes zu tun, als Herrn Dippmann anzurufen und sich darüber zu beschweren, daß Robert nicht wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt sei.

»Was ist denn geschehen?« wollte Konrad Dippmann wissen.

»Die Pflüger ist die Treppe heruntergefallen. Dieses Mädchen ist ja mit seinen Gedanken nie bei der Sache. Brehm hat sich wie ein Verrückter aufgeführt.«

Er redete weiter, aber Konrad Dippmann hörte nicht mehr zu. Er legte den Hörer auf und sagte zu seiner Schwester, daß er jetzt gehe.

Sie war sprachlos, aber als er zur Garage ging, lief sie ihm nach.

»Du darfst doch nicht mit dem Auto fahren, Konrad«, regte sie sich auf.

»Wer sagt das?«

»Ich sage es.«

»Du redest manchmal Unsinn, Käthe«, brummte er.

Er fuhr zu Dr. Nordens Praxis. Im Augenblick wußte er sonst niemanden, mit dem er hätte reden können, denn auch in seinem Kopf herrschte ein wirres Durcheinander. Er wußte nur, daß er etwas unternehmen mußte. Er konnte nicht zu Hause sitzen und grübeln.

Ilse Bader saß im Vorzimmer und grübelte. Ihre Erregung hatte sich noch nicht gelegt, seit Dr. Norden in die Klinik gerufen worden war.

»Dippmann ist mein Name«, sagte Konrad. »Ich möchte Dr. Norden sprechen.«

»Dr. Norden ist in die Behnisch-Klinik gefahren«, erwiderte Ilse stockend.

»Wegen Katrin Pflüger?«

Ilse nickte. Sie musterte Herrn Dippmann forschend. Er sah noch sehr angegriffen aus, aber sie hatte sich gedacht, daß er ein alter Herr sein müßte.

»Sie sind Fräulein Bader«, sagte er. »Ich wollte Sie ohnehin kennenlernen.« Er setzte sich unaufgefordert, aber Ilse fand nichts dabei. Die Patienten hatte sie ohnehin wegschicken müssen. Sie saß jetzt nur und wartete.

»Was ist mit der kleinen Pflüger?« fragte Konrad Dippmann.

Ilse zuckte die Schultern. »Ich weiß nur, daß sie eine Treppe hinabgestürzt ist und es ziemlich schlimm sein muß.«

»Im Geschäft ist noch nie jemand die Treppe heruntergefallen«, stellte er geistesabwesend fest, »sie ist breit und gerade. Aber es sind Steinstufen. Es ist auch nicht dunkel. Oder sollte das Licht ausgefallen sein?«

»Ihnen macht doch niemand einen Vorwurf«, sagte Ilse.

»Ich denke nach. Es ist ja der zweite Unfall innerhalb kurzer Zeit, der dieses arme Mädchen getroffen hat. Wieder ein Zufall?«

Ilses Augen weiteten sich. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort hervor.

»Sie kennen Herrn John«, wechselte er das Thema. »Dr. Norden hat es mir erzählt. Was halten Sie von diesem Gentleman?«

»Daß er kein Gentleman ist«, erwiderte sie konsterniert. »Sie sollten sich vor ihm in acht nehmen, Herr Dippmann.«

»Ich nehme mich in acht«, erwiderte er.

»Ich habe mich mit ihm getroffen, um ihn auszuhorchen. Ich habe da allerlei erfahren.«

»Erzählen Sie, bitte. Der kleinen Pflüger kann ich ja im Augenblick nicht helfen. Ich werde den Vorgang jedenfalls untersuchen lassen.«

»Sie sollten sich nicht aufregen«, sagte Ilse begütigend. »Sie waren doch ziemlich krank.«

»Jetzt bin ich gesund, und ich bin auch kein Tattergreis«, widersprach er sarkastisch. »Und ich hoffe, daß ich auch einige Jahre länger lebe als mein Freund Sebastian Heller, der ja leider zu früh gestorben ist. Ich bin noch da, und ich lasse mich bestimmt nicht von einem Herrn John abservieren.«

Nach dem anfänglichen Vortasten konnten sie sich nun recht gut unterhalten, während das Ringen um Katrins junges Leben in der Behnisch-Klinik weiterging.

*

Fee saß daheim wie auf glühenden Kohlen. Als Daniel nicht zum Mittagessen erschien, hatte sie in der Praxis angerufen und von Ilse erfahren, was geschehen war. Es ging ihr sehr nahe. Und auch ihr kam der Gedanke, daß es schon ein merkwürdiger Zufall sei, daß Katrin zwei Unfälle so kurz nacheinander hatte.

Geplante Unfälle? Aber warum? Welchen Grund konnte es dafür geben? Eifersucht? Fee verwarf den Gedanken. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Sollte Katrin etwas wissen, was einem anderen Menschen gefährlich werden könnte? Auch das schien ihr fast unmöglich. Aber was nützte das Herumrätseln. Damit war Katrin nicht geholfen und auch nicht ihren leidgeprüften Eltern.

»Was guckst du so komisch, Mami?« fragte Danny. »Spiel doch mit uns. Bist du krank?«

»Nein, ich bin nicht krank, mein Kleiner.« Gewaltsam mußte sie sich auf andere Gedanken bringen. Die Kinder verlangten ihr Recht. Sie konnten ja nicht begreifen, wieviel Unglück es in der Welt gab.

Herr Dippmann erschien um zwei Uhr, auf alles gefaßt, im Kaufhaus Heller. Er war plötzlich da, und ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Räume. Rainer John allerdings hielt den Atem an.

Seine Miene, zuerst unbewegt, heuchelte freudige Überraschung, die ein spöttisches Lächeln bei Herrn Dippmann hervorrief.

»Sollten Sie sich nicht noch schonen?« fragte John. »Wie Sie sehen, geht es auch ohne Herrn Brehm.«

»Und ohne mich«, sagte Herr Dippmann, »aber ich will mich überzeugen, wie es geht.« Eiskalt war seine Stimme. »Im übrigen wird gleich die Polizei hier sein.«

»Die Polizei? Warum die Polizei?«

»Um diesen Unfall zu untersuchen.«

»Sollte man das so hochspielen?« fragte John.

»In diesem Haus ist dergleichen noch nie geschehen, und ich möchte diesen traurigen Vorfall geklärt wissen.«

»Es kann doch nur pure Gedankenlosigkeit gewesen sein, und jetzt weiß ich auch, was dieses Mädchen im Kopf hatte.«

»Was?«

»Den Brehm. Wahrscheinlich wollten sie sich unten heimlich treffen. Alles deutet darauf hin, daß sie ein Verhältnis haben. Er war ja auch gleich zur Stelle.«

Konrad Dippmann maß ihn mit einem durchdringenden Blick.

»Das haben Sie gesehen?« fragte er.

»Ja, das habe ich gesehen.«

»Also waren Sie auch zur Stelle.«

John kniff die Augen zusammen. »Ich hörte den Schrei.«

»Und Sie wußten auch gleich, woher er kam.«

»Ich war in der ersten Etage. Ich mußte schließlich nach dem Rechten sehen, da Brehm nicht da war. Ich hatte vorher eine Auseinandersetzung mit der Moralt. Sie war unglaublich frech. Man kann sich schließlich nicht alles bieten lassen.«

»Nein, das kann man nicht«, sagte Herr Dippmann hintergründig.

Wie es nicht anders zu erwarten war, legte John dies zu seinen Gunsten aus. Er fühlte sich wieder sicher. Konrad Dippmans plötzliches Erscheinen und seine Ankündigungen hatten ihn ganz schön aus dem Konzept gebracht. Aber nun trug er wieder die gleiche Kaltblütigkeit zur Schau, die man an ihm gewöhnt war, die aus seiner Sicht Überlegenheit kennzeichnen sollte, aus der Sicht der andern aber einfach als widerlich bezeichnet wurde.

Da in allen Abteilungen Hochbetrieb herrschte, konnte sich Herr Dippmann nicht mit den Angestellten unterhalten.

Er schaute sich nur um, aber Sonja konnte er nicht entdecken.

Unauffällig ging er zur Kasse.

»Ich würde gern heute abend mit Ihnen sprechen, Frau Heindl«, sagte er leise. »Haben Sie ein bißchen Zeit?«

»Für Sie immer«, erwiderte sie.

»Dann kommen Sie bitte zu mir nach Hause.«

Damit stürzte er sie in Verwirrung.

»Wie Sie wünschen«, erwiderte sie verlegen.

»Und kein Wort darüber.« Sie nickte verstehend. Eine halbe Stunde später erschienen zwei unauffällig gekleidete Herren, die sich sofort zu Herrn Dippmanns Büro begaben.

»Sie wünschen, daß ein Unfall untersucht wird, der Ihnen mysteriös erscheint, Herr Dippmann«, sagte der eine der Beamten, der sich als Inspektor Maier vorgestellt hatte. Der andere war sein Assistent Brendel.

»Und möglichst unauffällig«, sagte Konrad Dippmann.

»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«

»Fräulein Pflüger ist vor vierzehn Tagen angefahren worden, und heute stürzt sie die Treppe hinunter. Ich glaube nicht mehr an Zufall. Ich möchte auch über diesen Unfall, der noch glimpflich verlief, informiert werden.«

»Darüber sind wir nicht informiert, aber wir werden nachfragen. Sehen wir uns die Unfallstelle erst einmal an.«

Herr Dippmann spürte, daß die Beamten skeptisch waren, ihn wohl auch als einen merkwürdigen Kauz betrachteten.

Er führte sie zu der Treppe, die hell beleuchtet war. Es waren zehn breite Stufen.

»Mit hohen Absätzen rutscht man leicht auf Steinfliesen aus«, stellte der Inspektor fest.

»Fräulein Pflüger trägt keine hohen Absätze«, erklärte Herr Dippmann eigensinnig.

»Sind Sie so genau über die Gewohnheiten der Verkäuferinnen unterrichtet? Die Mädchen gehen doch mit der Mode.«

»Fräulein Pflüger fehlen die Mittel, um mit der Mode zu gehen. Sie stammt aus bescheidenen Verhältnissen.«

»Und gegen wen richtig sich Ihr Verdacht?«

»Ich möchte mich dazu noch nicht äußern. Ich habe Anzeige gegen Unbekannt erstattet.«

»Die auf tönernen Füßen stehen dürfte, darauf muß ich Sie aufmerksam machen. Wir werden abwarten müssen, was die Verletzte selbst aussagen wird.«

»Wenn sie noch aussagen kann«, sagte Herr Dippmann dumpf. »Es ist hier in diesem Haus passiert. Ich trage die Verantwortung, wenngleich ich nicht anwesend war. Ich war krank.«

»Sie haben sich über diesen Unfall aufgeregt«, meinte der Inspektor nachsichtig.

»Ja, ich habe mich aufgeregt, und ich kann wohl erwarten, daß eine Untersuchung stattfindet.«

»Wir werden uns mit der Klinik in Verbindung setzen. Vielleicht kann Fräulein Pflüger Angaben machen, wie das passierte.«

Doch daran war gar nicht zu denken. Als die Ärzte aus dem Operationssaal kamen, machten sie einen erschöpften und bedrückten Eindruck.

Aufmunternde Worte konnten sie den so bange Wartenden nicht sagen. Jetzt hofften sie nur, daß die Bewußtlosigkeit nicht zu lange anhalten würde.

Sich selbst konnten sie erst recht nicht täuschen. Es bestand immerhin die Gefahr eines Blutgerinnsels. Und es war nicht zu leugnen, daß Katrins Leben an einem hauchdünnen Faden hing.

Ihre Eltern und Robert waren in Schmerz erstarrt. Unentwegt betrachteten sie das so klein erscheinende Gesicht, das keine Regung zeigte.

Und dann brach es plötzlich aus Robert heraus. »Wer daran schuld ist, der wird es büßen.«

Aus trüben Augen blickte ihn Hermann Pflüger an. »Sie glauben auch nicht an einen Unfall?« fragte er rauh.

»Nein. John war zu schnell zur Stelle.«

»Wir dürfen uns nicht verleiten lassen, falsche Verdächtigungen auszusprechen«, flüsterte Lotte. »Unsere Katrin hat doch niemandem etwas getan. Wer sollte ihr etwas tun? Und warum?«

Wieder herrschte Schweigen, dann, nach langen, bangen Minuten, fragte Hermann: »Müssen Sie nicht ins Geschäft, Robert?«

»Mir ist das alles gleich. Ich müßte doch immer an Katrin denken. Wie war das eigentlich bei dem ersten Unfall? Katrin hat nie mehr darüber gesprochen.«

»Sie hat ja auch nichts so richtig mitbekommen. Die einzigen Zeugen waren die Büchners, die Angaben gemacht haben«, sagte Hermann stockend, »die ihr gestern auch die Lose geschenkt haben, womit sie die tausend Euro gewonnen hat. Sie haben eine Lottoannahmestelle.«

»Die kenne ich«, sagte Robert. Sein Blick schweifte nachdenklich zum Fenster hinaus.

Wieder vergingen Minuten, dann streichelte er Katrins kleine Hand, die so bleich auf der Bettdecke lag, die auch abgeschürft war, aber nicht verbunden wie der rechte Arm.

»Ich werde es herausbekommen, mein Liebes«, flüsterte er. »Ich werde alles herausbekommen.«

Und dann ergriff er die Hände ihrer Eltern. »Ich werde jetzt doch einmal gehen, aber ich komme bald wieder.«

Aus tränendunklen Augen blickte ihn nun Lotte an. »Könnten Sie vielleicht bei mir im Geschäft Bescheid sagen, daß ich jetzt nicht mehr kommen kann?«

Robert nickte.

»Für Katrin wird getan, was menschenmöglich ist. Das ist meine Angelegenheit. Sie können sich auf mich verlassen.«

Dann ging er schnell, weil auch ihn der Jammer wieder übermächtig überfiel.

Er fuhr zur Lottoannahmestelle und erwischte einen günstigen Zeitpunkt. Frau Büchner war allein.

Robert stellte sich vor. Renate Büchner sah ihn erstaunt an.

»Ich bin der Verlobte von Katrin Pflüger«, erklärte er.

Ein freudiger Schein flog über Renates Gesicht. »Oh, ich wußte nicht, daß Katrin verlobt ist. Dann…«

»Bitte, lassen Sie es mich erklären, Frau Büchner. Ich bin gekommen, weil Katrin wieder einen Unfall hatte, und diesmal ist es sehr schlimm.«

Renate wurde kreidebleich. »Aber sie fährt doch gar nicht mehr mit dem Rad«, stammelte sie, »oder hat sie sich von dem Gewinn schnell eins gekauft?«

»Nein, sie ist im Geschäft die Treppe heruntergestürzt. Sie waren doch Zeuge des ersten Unfalls. Ich weiß dar­über wenig, Katrin wollte daran nicht mehr erinnert werden. Da hatte sie sich auch schnell wieder erholt, und durch diesen Unfall kam es zwischen uns zu dem engen Kontakt. Sie ist sehr schüchtern, und ich bin im Kaufhaus Heller Abteilungsleiter, da war es etwas schwierig. Aber was soll ich lange reden. Bitte, erzählen Sie mir, was Sie über diesen Unfall aussagen können.«

»Nicht mehr, als wir auch zu Protokoll gegeben haben«, erwiderte sie beklommen. »Es war ein grauer Mercedes.«

Sein Kopf ruckte empor. »Ein grauer Mercedes?«

»Ja, das ist ganz sicher. Am Steuer saß ein Mann mit hellem oder grauem Haar. Er fuhr sehr schnell weiter, und wir hielten es für wichtiger, uns um das Mädchen zu kümmern. Dann kam der Arzt, Dr. Norden, wie wir jetzt wissen.« Monoton redete sie es herunter, dann tupfte sie sich Tränen aus den Augen. »Katrin ist so süß und lieb. Wir haben uns gestern abend so mit ihr gefreut. Wie konnte denn das nur geschehen?«

»Ich werde es herausbekommen. Ein grauer Mercedes«, sagte Robert nun wieder.

»Ja, ganz bestimmt. Das Kennzeichen konnten wir uns nicht merken. Es ging alles so schnell.«

»Einstweilen vielen Dank. Würden Sie den Mann vielleicht wiedererkennen?«

»Ich glaube nicht. Ich habe ihn nur flüchtig gesehen. Wir dachten doch auch nicht daran, daß er Fahrerflucht begehen würde. Hoffentlich geht es Katrin bald besser.«

»Hoffentlich«, sagte Robert heiser.

Er fuhr mit dem Taxi weiter. Er überlegte, aber dann entschloß er sich, ins Geschäft zu fahren.

Mit ängstlichen Blicken wurde er begrüßt. »Wie geht es Katrin?« fragte Frau Heindl beklommen.

»Nicht gut. Wo ist John?«

»Vielleicht bei Herrn Dippmann.«

»Herr Dippmann ist hier?«

»Ja, er hat von dem Unfall gehört und ist dann gekommen.«

Wie in Trance ging Robert weiter, stieg dann die Treppe empor, klopfte an die Tür, die zu Herrn Dippmanns Büro führte.

John stand vor dem Schreibtisch, auf diesen gestützt. Er fuhr herum, als Robert eintrat.

»Sie können gehen, Herr John«, sagte Konrad Dippmann.

»Ich werde mich doch erkundigen dürfen, wie es der Patientin geht?«

»Fräulein Pflüger schwebt in Lebensgefahr«, sagte Robert, den andern mit seinem Blick durchbohrend.

»Wie bedauerlich.« Dann aber war John sehr schnell aus der Tür.

»Ich bitte um Verständnis, Herr Dippmann«, sagte Robert tonlos.

»Das haben Sie. Setzen Sie sich. Einen Cognac?«

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern schenkte schon zwei Gläser ein.

»Ich teile Ihre Besorgnis, Herr Brehm«, sagte er. »Ich übernehme alle Kosten, damit sie als Privatpatientin behandelt wird.«

»Die Kosten übernehme ich. Das ist schon geregelt. Ich will Katrin heiraten, das möchte ich auch gleich sagen. Und ich hege große Zweifel, daß es sich um einen Unfall handelt.«

»Ich habe die Polizei schon eingeschaltet. Der Fall wird untersucht werden. Die Herren halten mich vielleicht für einen Schwarzseher, was ich in diesem Fall auch bin, aber ich werde keine Ruhe geben, bis die Umstände aufgeklärt sind.«

»Ich auch nicht. Es war übrigens ein grauer Mercedes, der den ersten Unfall verursachte.«

»Ein grauer Mercedes?« sagte auch Herr Dippmann nachdenklich.

»John hatte einen grauen Mercedes, bevor er mit dem neuen Wagen daherkam, und das war an jenem Morgen, als der Unfall passiert war. Er kam mit Verspätung. Ich habe alles noch einmal recherchiert.«

»Ja, dann werden wir ihn wohl mal fragen müssen, was mit dem grauen Mercedes geschehen ist. Oder wir lassen dies besser den Inspektor fragen, mag der auch noch so skeptisch sein. Ich bestehe darauf. Jedenfalls ist es besser, wenn wir John jetzt nicht aufscheuchen.«

Etwas überrascht war Robert nun doch. »Sie hegten auch schon einen Verdacht?« fragte er.

»Ich habe mir Gedanken gemacht. Es mögen abwegige Gedanken sein, vielleicht auch Vorurteile, aber was mir mal im Kopf herumgeht, das ist so schnell nicht mehr herauszubringen. Gehen wir es sachte an, damit er ­keinen Verdacht schöpft. Es gibt auch noch manches andere zu klären. Man wird auch Sie verhören, Herr Brehm.«

»Ich kann leider nur sagen, daß ich den Schrei hörte, als ich von Ihnen kommend, durch das Lager ging. Katrin lag schon am Fuß der Treppe, und oben stand John.«

»Niemand sonst?«

»Nein, niemand sonst. Wer dann kam, weiß ich nicht. Ich konnte nicht mehr klar denken.«

»Sie wissen auch nicht, was Fräulein Pflüger für Schuhe trug?«

»Wahrscheinlich die, die sie immer trug, braune Sportschuhe.«

*

Davon hatten sich die beiden Beamten auch schon überzeugt. Und Dr. Behnisch sagte ihnen auch noch, daß Katrin möglicherweise einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Herrn Dippmanns Verdacht wurde glaubwürdiger.

Und dann bekamen sie in ihrer Dienststelle auch noch die Nachricht, daß sie den grauen Mercedes überprüfen sollten, der im Besitz von Rainer John gewesen war.

Konrad Dippmann ließ keine Zeit verstreichen. Er ließ alle Verbindungen spielen, die er besaß. Katrin war damit im Augenblick nicht gedient. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, welch ein Stein da ins Rollen gekommen war.

Ihre Eltern saßen an ihrem Bett und lauschten auf ihre Atemzüge, und das winzigste Stöhnen flößte ihnen schon Hoffnung ein.

Gegen fünf Uhr kam Robert zurück. Herr Dippmann hatte ihm Urlaub gegeben, was von John mit Genugtuung registriert wurde, denn er glaubte, daß Brehm in Ungnade gefallen war, und Herr Dippmann ließ ihn gern in dem Glauben, denn ihm kam es jetzt darauf an, ihn in Sicherheit zu wiegen.

Er hatte auch Sonja angerufen und sie ebenfalls zum Abend in seine Privatwohnung bestellt. Es war ein anstrengender Nachmittag für ihn gewesen, aber er spürte keine Schwäche. Äußerlich ruhig erscheinend, aber innerlich kochend, erklärte er John noch beim Abschied, daß sich bald einiges ändern würde. Dessen hämisches Grinsen konnte er zwar nicht mehr sehen, aber er spürte es buchstäblich. Jäh kam ihm ein Gedanke, eine nahezu verrückte Idee, die ihn nicht mehr losließ.

*

Wieder einmal saß Dr. Norden stumm am Tisch, und Fee wagte nicht, eine einzige Frage zu stellen.

»Es ergibt alles keinen Sinn«, sagte er plötzlich. »Ich glaube nicht an diese Duplizität des Zufalls.«

Nun wagte Fee die Frage doch. »Wie geht es Katrin?«

»Es sieht böse aus«, erwiderte er deprimiert. »Sie hätte auf der Stelle tot sein können.«

Fee legte die Hände vor ihr Gesicht. Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie. »Dieses liebe Dingelchen«, flüsterte sie.

Daniel legte einen Arm um sie. »Es ist zum Verzweifeln, aber was könnte denn der Grund sein, ihr so übel mitzuspielen, Fee? Rachsucht? Katrin kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Wenn sie Geld hätte, wäre es möglich, daß John sich für sie interessiert hätte, aber ein armes Mädchen ist für ihn doch kaum existent. Und selbst wenn es Eifersucht wäre, hätte er es doch dabei belassen, sie zu schikanieren, sie hinauszuekeln und Brehm dazu.«

»Ich habe mir auch schon Gedanken gemacht, Daniel. Aber John, mag er sein, wie er will, kann es doch nicht gewesen sein. Er wird sich doch jetzt nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Das überlege ich auch. Jedenfalls hat Herr Dippmann die Polizei eingeschaltet.«

»Die werden ja nicht mal mit den Kapitalverbrechen fertig. Fahrerflucht ist heute schon an der Tagesordnung. Treppenstürze auch. Man könnte möglicherweise sagen, daß Katrin seit dem ersten Unfall an Kreislaufstörungen litt.«

»Aber sie war in bester Verfassung und so glücklich wie noch nie, und außerdem läßt alles darauf schließen, daß sie einen Schlag auf den Kopf bekam, bevor sie stürzte.«

Fees Augen waren schreckensweit. »Dann wäre es ja ein Mordversuch.«

»Man wird jetzt nachforschen«, sagte Daniel. »Robert Brehm wird auch nicht lockerlassen. Wenn sie nur reden könnte, aber auch in diesem Fall bliebe die Frage, ob sie sich übrhaupt erinnern kann.«

»Was denkt ihr?«

»Wir wollen nicht das Schlimmste annehmen, Fee, aber es ist alles drin. Es kann ein Gehirnschaden zurückbleiben, wenn sie die nächsten Tage überhaupt übersteht.«

Fee krochen Eisesschauer über den Rücken. »Es ist entsetzlich, aber so unbarmherzig kann das Schicksal nicht sein.«

»Da haben sie achtzehn Jahre lang dieses Kind mit aller Liebe aufgezogen«, murmelte er. »Da hatte Frau Pflüger maßlose Angst vor dem Tag, an dem Katrin erfahren sollte, daß sie nicht ihr eigenes Kind ist…«

»Nicht ihr eigenes Kind?« fiel ihm Fee bestürzt ins Wort. »Davon weiß ich gar nichts.«

»Es ist das Kind ihrer Schwester, die bei der Geburt starb, aber Katrin sollte es erst erfahren, wenn sie mündig ist. Und nun wissen wir nicht einmal, ob sie diesen Tag erlebt.«

*

Im Krankenzimmer herrschte tiefste Stille, nur ab und zu wurden Blicke getauscht. Drei Menschen, die ganz nahe aneinandergerückt waren, wurden von den gleichen Nöten, Ängsten und Gedanken bewegt.

»Gehen wir mal ein bißchen auf den Gang, die Füße vertreten«, sagte Hermann Pflüger leise.

Lotte blieb bewegungslos sitzen, die Hände gefaltet, den Blick auf Katrins stilles Gesicht gerichtet.

Die beiden Männer gingen draußen hin und her, und beim zweiten Mal wußte Robert schon, daß er zweiundzwanzig Schritte brauchte.

»Ich muß Ihnen jetzt etwas sagen, Robert«, begann Hermann mit erstickter Stimme. »Es ist besser so, wenn Sie es wissen.«

Er blieb am Fenster stehen und stützte sich dort auf.

»Es ist nämlich so, daß Katrin nicht unser leibliches Kind ist. Hanni, Lottes Schwester, war die Mutter. Sie war nicht verheiratet. Sie ist bei der Geburt gestorben, und wir haben das Baby zu uns genommen. Aber wir lieben unsere Katrin, als wäre sie unser eigenes Kind. Lotte hätte auch keine Kinder bekommen können.«

»Was ändert das?« fragte Robert. »Ich kann nur noch mehr Hochachtung für Sie empfinden.«

»Wir wissen nicht, wer der Vater ist. Hanni hat es nicht gesagt. Sie war ein gutes Mädchen, so hübsch wie Katrin, auch so fein und still.«

Robert lehnte seine Stirn an die nachtkühle Fensterscheibe.

»Ich liebe Katrin. Ich wünsche mir nichts anderes, als daß sie bald wieder gesund ist, oder wie lange es auch immer dauern mag, es wird nichts an meinen Gefühlen ändern. Ich hoffe, daß Sie nichts anderes erwartet haben.«

Schwer legte sich die Hand von Katrins Vater auf Roberts Schulter. »Danke, mein Junge«, sagte er leise, und dann fuhr er sich schnell über die Augen. »Gott wird uns nicht verlassen.«

*

Herr Dippmann hatte seiner Schwester Käthe verkündet, daß er Damenbesuch erwarte, und sie war darauf fast einer Ohnmacht nahe gewesen.

»Auf deine alten Tage«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Na, so alt bin ich nun auch wieder nicht«, zog er sie auf. »Übrigens kommen zwei. Richte bitte was Nettes her.«

Zwei, das klang schon besser. Die gute Käthe war einigermaßen beruhigt. Früher hätte sie es ja nicht ungern gesehen, wenn ihr Bruder geheiratet hätte, aber jetzt hatte sie sich schon zu sehr an das behagliche, durch nichts getrübte Leben zu zweit gewöhnt, und man mußte es ihr lassen, daß sie rührend für den um acht Jahre jüngeren Bruder sorgte.

Einmal hatte es ja eine Liebe in seinem Leben gegeben, aber zu einer Bindung war es nicht gekommen. Er hatte auch nie darüber gesprochen.

Zuerst kam Frau Heindl. Käthe fand nichts an ihr auszusetzen. Nett, solide, keine aufgetakelte Person. Käthe kannte die Angestellten nicht. Sie kaufte bei der Konkurrenz, weil sie jegliches Gerede fürchtete, da sie in ihren Ansprüchen äußerst bescheiden war. Konrad ließ sie gewähren. Er kannte ihre Marotten, aber auch ihr gutes Herz.

Dann kam Sonja. Sie wurde schon skeptischer gemustert.

Sonja war ein bißchen unsicher, da sie nicht wußte, was sie erwartete, aber einschüchtern ließ sie sich nicht so rasch. Nun wurde auch sie von Konrad Dippmann sehr freundlich begrüßt und fand einen wohlgedeckten Tisch vor, was sie in größtes Erstaunen versetzte.

Frau Heindl sah den Chef erwartungsvoll an, als er sagte, daß er sie hergebeten hätte, um genau unterrichtet zu werden, was sich am Vormittag abgespielt hatte, aber Sonja legte gleich los. Sie hatte ein gutes Gedächtnis und vergaß nichts.

»Ja, und dann hat Herr Brehm Katrin ins Büro geholt und mit ihr ein paar Minuten gesprochen, danach war Katrin wieder ganz fidel«, erzählte sie.

»Herr Brehm ist dann weggefahren. Er hat mir Bescheid gesagt«, warf Frau Heindl ein.

»Er war bei mir«, erklärte Konrad Dippmann.

»Und dann kam der John und hat Katrin wieder aufs Korn genommen. Da war eine Kundin, die einen Anzug Größe 116 wollte, und der war nicht da. John hat zu Katrin gesagt, daß sie gefälligst im Lager nachschauen solle. Und da ist es dann passiert.«

»Wo war Herr John da?«

»Ich weiß nicht. Ich mußte Sachen zur Kasse bringen.«

»Ja, Sonja stand bei mir an der Kasse, als wir den Schrei hörten«, bestätigte Frau Heindl. »Herr John hatte uns alle nervös gemacht.«

»Ich war ganz durcheinander«, fuhr Sonja fort, »und weil dieser Blödian dann noch so dahergeredet hat, ist mir der Kragen geplatzt.«

»Sonja«, sagte Frau Heindl mahnend.

»Ich sage, was ich denke, mir ist eh alles wurscht. Ich bleibe nicht.«

»Auch nicht, wenn ich Sie darum bitte, Fräulein Moralt?« fragte Herr Dippmann.

Sonja riß die Augen ganz weit auf. »Sie bitten mich?« staunte sie.

»Immerhin habe ja ich zu besdtimmen, wer entlassen wird oder nicht.«

»Aber John hat doch gesagt, daß Sie bald nichts mehr zu sagen haben«, entfuhr es Sonja, und dann wurde sie knallrot. »Entschuldigung«, murmelte sie.

»Ich will ja alles hören, liebes Kind. John greift den Ereignissen voraus. Sie werden mich doch nicht im Stich lassen und ihm den Triumph gönnen, daß wir eine tüchtige Kraft verlieren. Sie bekommen auch eine Gehaltsaufbesserung. Und ich habe durchaus nichts dagegen, wenn Sie sich gegen ungerechtfertigte Angriffe wehren.«

»Es ging ja eigentlich um Katrin. Sie wehrt sich nicht. Sie schluckt alles.« Sonja unterbrach sich und stützte den Kopf in die Hand.

»Ja, wo war John?« murmelte sie vor sich hin, worauf Frau Heindl ein Ächzen von sich gab.

»Ich trau’s ihm zu, ja, ich trau’s ihm zu«, murmelte Sonja. »Vielleicht hat er sie auch angetatscht, wie er es bei mir versucht hat, und sie ist vor Schreck gefallen. Ich bring den Kerl um, wenn es stimmt. Ich kenn’ mich nicht mehr.«

»Ruhig Blut, Fräulein Moralt«, sagte Herr Dippmann. »Es wird alles genauestens untersucht werden. Er hat Sie also angefaßt?«

»Ist schon länger her, und ich habe ihm auch gleich Bescheid gestoßen, und dann hat er es bleiben lassen. Meinem Ernstel hätte ich es ja nicht sagen dürfen, der hätte ihm etwas erzählt. Aber Katrin ist damit nicht geholfen. Wie mag es ihr nur gehen?«

»Schlecht«, erwiderte Konrad Dippmann leise, »leider sehr schlecht.«

Darauf trat beklemmende Stille ein.

*

Auch in den nächsten Tagen sollte Katrins Zustand unverändert bleiben. Lotte Pflüger konnte sich nur noch mit Mühe und allerletzter Kraft auf den Beinen halten. Dr. Norden, der täglich in die Klinik kam, mußte ein Machtwort sprechen, worauf es Hermann dann endlich gelang, seine Frau heimzubringen, damit sie richtig schlafen konnte. Dr. Norden hatte ihr noch ein stärkeres Beruhigungsmittel gegeben. Robert blieb bei Katrin. Er wich nicht von ihrem Bett.

Loni ging es besser. Sie wußte nun auch, was geschehen war, denn Dr. Nordens häufige Besuche in der Klinik, bei denen er sie aber nie vergaß, hatten sie stutzig gemacht.

Nächste Woche sollte sie nun ihren Genesungsurlaub auf der Insel der Hoffnung antreten. Sie war sehr dünn geworden und sah nun selber ein, daß sie noch nicht völlig gesund war.

Dr. Behnisch hoffte sehr, daß Ilse wieder zu ihnen zurückkommen würde. Ihr aber sollte erst einmal ein ereignisreiches Wochenende bevorstehen.

Sie hatte die Verabredung mit Rainer John nicht vergessen, sie fragte sich nur, ob er sie einhalten würde.

Aber er rief sie schon Samstag an, kaum, daß sie heimgekommen war. Er wollte sie an die Verabredung erinnern. Wie weit würde er wohl gehen? Das beschäftigte sie so sehr, daß sie das Essen vergaß.

Das Läuten des Telefons ließ sie zusammenzucken. Hatte John es sich anders überlegt? Aber nicht er war es, sondern Dr. Volkart, der Arzt aus dem Unfallkrankenhaus. Ilse blieb vor Staunen das Wort in der Kehle stecken.

Er sei in München und wollte sich nach ihrem Befinden erkundigen, erklärte er. Und vielleicht könnten sie den Abend zusammen verbringen. Er würde sie gern zum Essen einladen.

Nun überlegte Ilse blitzschnell. Um drei Uhr wollte John sie abholen. Es würde ihr schon etwas einfallen, wie sie ihn abwimmeln könnte.

»Ja, gern«, erwiderte sie verlegen. »Wie nett, daß Sie sich noch an mich erinnern, Herr Doktor.«

Sie hatte Dr. Volkart in bester Erinnerung, denn sie hatte ihm viel zu verdanken. Er hatte es auch verstanden, sie seelisch ein bißchen aufzurichten.

Sie verabredeten sich für sieben Uhr im Tannenhof. Es war sein Vorschlag, der für Ilses Geldbeutel ein wenig zu teuer gewesen wäre. Sie konnte sich auf den Abend freuen, da der Nachmittag mit John bestimmt nicht erfreulich sein würde.

Nun kleidete sie sich sehr sorgfältig an, da sie nachher keine Zeit mehr zum Umkleiden haben würde. Sie konnte mit sich zufrieden sein, obgleich es ihr nicht lag, ihre Wirkung zu überschätzen.

John kam überpünktlich. Er spielte den Kavalier, half ihr in den Wagen und fragte nach ihren Wünschen. Die australische Erbschaft winkt, dachte sie.

Diplomatisches Geschick besaß er jedoch nicht. »Na, wie steht’s?« fragte er. »Schon Nachricht aus Australien?«

»Heute abend erwarte ich Besuch«, erwiderte sie mit einer raschen Eingebung. »Ich will es dir gleich sagen, damit ich den Treff nicht verpasse.«

»Das geht ja zügig. Ich freue mich für dich. Ich habe mir alles durch den Kopf gehen lassen. Aber fahren wir erst einmal ein Stück hinaus. Du bist schließlich wichtiger als das leidige Geld.«

»Ich finde Geld durchaus nicht leidig. Ich freue mich auf ein sorgloses Leben, aufs Pläne machen, Reisen, hübsche Sachen kaufen.«

»Du siehst sehr hübsch aus, Ilse. Viel hübscher noch als früher. Du wirst Paul doch nicht ewig nachtrauern?«

»Schon vergessen«, lachte sie auf. »Was tut sich bei dir?«

»Ärger, nichts als Ärger. So, jetzt trinken wir mal nett Kaffee. Ein reizendes Lokal. Du hast doch guten Kuchen immer so gern gegessen.«

»Esse ich immer noch gern.«

»Und dabei diese Figur, wirklich toll. Ein Lichtblick nach dieser trüben Woche.«

»Was war denn so trübe?« fragte sie, als sie sich an dem Tisch niedergelassen hatten.

»Du hast es doch sicher gehört, daß eine Verkäuferin bei uns die Treppe heruntergefallen ist.«

»Ach das«, tat sie gleichmütig, »diese Mädchen haben ihre Gedanken auch immer woanders.«

»Das habe ich auch gesagt, aber was meinst du, wie sie mich gleich angegeifert haben, als hätte ich Schuld daran gehabt.«

»Es soll ein sehr hübsches Mädchen sein«, sagte Ilse.

»Na ja, ein Arbeiterkind, nichts dahinter. Fehl am Platze.«

Ilse kroch ein Frösteln über den Rücken. Sie mußte sich sehr beherrschen, um nicht aufzuspringen und davonzulaufen.

»Und jetzt mischt sich Dippmann wieder in alles ein«, fuhr John fort.

»Mußt du dir das gefallen lassen?«

»Ich muß abwarten, wenn es mir auch nicht gefällt. Ja, wenn ich ihm gleich eine anständige Summe auf den Tisch knallen könnte, damit ich meine Pläne anlaufen lassen kann, aber so gut betucht bin ich noch nicht. Wenn du einsteigen willst, könnte ich natürlich vorausdisponieren. Natürlich würde alles vertraglich festgelegt. Du würdest in jeder Beziehung abgesichert, aber du wirst ja nicht auf den Gedanken kommen, daß ich dich genauso übers Ohr hauen will, wie es Paul getan hat.«

Ilse legte den Kopf zurück. »Bei dir ist ja Sicherheit vorhanden«, sagte sie. »Natürlich bin ich klüger geworden. Ich habe gelernt, daß man in Geldangelegenheiten nicht vorsichtig genug sein kann. Wieviel würdest du denn brauchen?«

»Zweihunderttausend vielleicht. Zehnprozentige Verzinsung und Gewinnbeteiligung, wenn der Laden mir gehört. Ist das ein Angebot?«

»Klingt nicht schlecht«, sagte Ilse. »Ich rufe dich morgen an.«

»Du bist einzig. Darauf sollten wir eine Flasche Sekt trinken.«

»Jetzt doch nicht. Ich muß heute abend einen klaren Kopf haben. Wenn wir den Vertrag gemacht haben, dann wird groß gefeiert. Was stellst du dir so vor?«

»Was meinst du?«

»Mit dem Kaufhaus, meine ich.«

»Das alte Zeug kommt alles raus. Piekfein wird es hergerichtet. Dann kann ich den Umsatz verdoppeln.«

»Wir«, sagte Ilse anzüglich. »Dann können wir den Umsatz verdoppeln. Wir werden Partner sein, Rainer.«

Das konnte sie sich nicht verkneifen. Er zwang ein Lächeln um seine Lippen. »Natürlich sind wir Partner. Ich hoffe es wenigstens, daß du es dir nicht anders überlegst.«

»Wenn alles seine Ordnung hat, brauche ich es mir nicht anders zu überlegen«, sagte sie betont. »Und eines Tages wird wieder Paul in Erscheinung treten und vor Wut platzen.«

»Und wir werden großzügig sein und ihm ein Bier spendieren.«

»Nicht einmal das«, sagte sie hart, »wenn mich einer aufs Kreuz legt, ist es aus.«

Aber das war weniger auf Paul gemünzt als auf ihn.

*

Robert hatte die Pflügers am Krankenbett abgelöst. Sie sollten jetzt ein bißchen frische Luft schöpfen. Er hatte ein paar Stunden geschlafen und ein Bad genommen, das seinen Körper entspannt hatte.

Dr. Behnisch hatte ihm gesagt, daß eine leichte Besserung eingetreten sei und die Infusionen eine gute Wirkung hätten.

All die Schläuche versetzten ihn jedoch immer wieder in Angst. Katrins gesunde kleine Hand fühlte sich wärmer an. Er hielt sie umschlossen und preßte von Zeit zu Zeit seine Lippen darauf.

Ihm war es vergönnt zu erleben, daß sie an diesem Nachmittag die Augen aufschlug, als spüre sie all die Kraft, die er von sich auf sie übertragen wollte.

»Katrin, Liebes, ich bin da, Robby«, sagte er, sich zu ihr herabneigend.

Ihre Lippen bewegten sich. »Robby«, hauchte sie. Sie hatte ihn verstanden. Ihr Blick belebte sich. Sie konnte sprechen.

In der Freude darüber vergaß er fast, daß er sofort nach dem Arzt läuten sollte, wenn sie ein Lebenszeichen von sich gab. Nun drückte er aber doch auf die Klingel. Er wollte nichts versäumen.

Dr. Behnisch kam. Auch ihn erfaßte Katrins Blick. »Robby, nicht fortgehen«, flüsterte sie.

»Ich gehe nicht fort, mein Liebes. Dr. Behnisch will dir ja nur helfen.«

»Und er freut sich«, sagte Dr. Behnisch mit tiefer, warmer Stimme. »Nun geht es ja schon ein bißchen besser, Katrin.«

Ihre Lider senkten sich wieder. Ein Hauch von Blut war in ihr Gesicht gestiegen. Sie wollte den rechten Arm heben, aber der war inzwischen eingegipst worden, und ihre Kraft reichte nicht.

»Mein Arm«, murmelte sie.

»Es wird alles wieder gut«, sagte Dr. Behnisch.

»Robby«, flüsterte sie wieder. Er griff nach ihrer Hand.

»Mein Kopf«, stöhnte sie.

Dr. Behnisch nickte Robert beruhigend zu.

»Alles positiv zu werten«, sagte er leise. »Das Gehirn funktioniert. Puls normalisiert sich.«

Katrin war wieder eingeschlafen. Dr. Behnisch konnte jetzt aufmunternd lächelnd. »Wir sind einen großen Schritt vorangekommen«, sagte er.

»Nur keine Fragen stellen, wenn sie länger bei Bewußtsein ist. Die Erinnerung muß von selbst kommen. Luftsprünge können wir noch nicht machen, aber es ist mehr, als wir erwarten konnten.«

Als Lotte und Hermann zurückkamen, stand Robert auf und ging ihnen entgegen. Er nahm Lotte in die Arme.

»Mutti«, sagte er spontan. »Katrin hat mich angeschaut. Sie hat mich erkannt. Sie hat meinen Namen gesagt.«

Und da legte sie ihren Kopf an seine Schulter. »Mein guter Junge«, sagte sie leise, und Hermann klopfte ihr den Rücken. Jetzt gehörten sie ganz zusammen, vereint im Schmerz, vereint nun auch in der Freude.

Wenig später schon wußten es auch Daniel und Fee. Jenny Behnisch hatte gleich angerufen. Sie fielen sich in die Arme.

»Nun wird sie es schaffen«, sagte Daniel.

»Dem Himmel sei Dank«, sagte Fee.

»Hab’ auch jeden Tag für die Katrin gebetet«, sagte Danny. »Siehst du, Felix, der liebe Gott hat es doch gehört.«

*

Punkt sieben Uhr hielt Ilse vor dem Tannenhof. John hatte sie heimgefahren, und sie hatte doch noch Zeit gehabt, sich zu erfrischen. Ihre Hände wusch sie ganz gründlich, als könne sie damit auch seinen Händedruck wegspülen. Sie hatte fast nicht mehr durchgehalten, so stark war das Ekelgefühl geworden.

Nun aber kam ihr Dr. Volkhart entgegen, nicht viel größer als sie, breitschultrig, sportlich. Auch sein Gesicht war breit und das Haar über der Stirn schon gelichtet. Durch die goldgeränderte Brille blitzten seine grauen Augen warm und freundlich.

»Gut schauen S’ aus, Sorgenkind«, sagte er heiter, und wie anders klang das als Johns schmierige Komplimente.

»Sie auch«, erwiderte Ilse. »Daß ich so dastehe, habe ich nur Ihnen zu verdanken.«

Ein hübsch gedeckter Tisch wartete auf sie. »Endlich mal ein paar freie Tage«, sagte Dr. Volkhart, »die muß man doch genießen.«

»Daß Sie dabei an mich gedacht haben, freut mich sehr. Und gerade heute kann ich Freude nötig brauchen.«

Er sah sie forschend an. »Immer noch der gleiche Kummer?« fragte er.

»Nein, eine Mordswut hatte ich.«

»Dann runter damit von der Seele!«

»Ach, es ist eine scheußliche Geschichte, und ich muß nach einem Ausweg suchen.«

»Kann ich dabei helfen?«

»Kaum.«

»Dann werden wir erstmal was Gutes essen und ein Gläschen trinken. Dann sehen wir weiter.«

Es war seltsam, daß sie mit ihm reden konnte, als läge nicht eine lange Trennungszeit zwischen ihnen. Freier noch als damals im Krankenhaus, wo er für sie nur der nette, verständnisvolle Doktor gewesen war, der hin und wieder auch mal ihre Tränen getrocknet hatte. Daß er ein persönliches Interesse an ihr haben könnte, hatte sie nie gedacht. Sie war ja auch so uneins mit sich gewesen, sie hatte sich so gedemütigt gefühlt, sich so töricht gescholten. Sie hatte sich als eine Frau gefühlt, mit der man seinen Schabernack treiben konnte. Sie hatte ihre Gefühle an Paul verschwendet und sich von ihm ausnutzen lassen. Gefühle? Waren das tiefe Gefühle gewesen? Nicht doch nur Eitelkeit, die ihr das Urteilsvermögen genommen hatte?

»Ich hatte ein Brett vor dem Kopf«, sagte sie aus diesen Gedanken heraus.

»Also doch noch nicht fertig mit der Vergangenheit«, stellte er fest.

»Ich bin wieder daran erinnert worden. Ich bin aus meinem Bau herausgekrochen und helfe bei Dr. Norden aus.«

»Bei Norden? Das ist doch prima«, sagte er. »Sagen Sie nur nicht, daß Sie mit ihm nicht auskommen.«

»Sie kennen ihn?«

»Freilich. Viele unserer Patienten erholen sich auf der Insel der Hoffnung, und die gehört doch ihm und seinem Schwiegervater.«

»Wir verstehen uns auch sehr gut, aber siehe da, kaum bin ich in der Praxis, werde ich mit der Vergangenheit konfrontiert.«

Nun erzählte sie ihm die Geschichte, die sich aus der Begegnung mit Rainer John entwickelt hatte. Auch von ihrer Schwindelei mit der australischen Erbschaft.

»Da haben Sie sich aber was einfallen lassen«, sagte er schmunzelnd.

»Und ihn schön aufs Glatteis geführt. Nun wartet er auf das Geld und ich weiß nicht, wie ich mich aus der Affäre ziehen soll, damit er auch weiterhin in Sicherheit gewiegt wird, bis man ihn am Schlafittchen packen kann. Es war doch ein bißchen unüberlegt, daß ich ihm sagte, ich bekäme heute Besuch aus Australien.«

»Wie gut, daß ich keinen so weiten Weg habe«, meinte er.

»Ja, da wollen wir uns mal was einfallen lassen, Ilse.«

Sie errötete, als er sie so nett anlachte und über den Tisch hinweg seine Hand auf ihre legte. »Ich habe da eine Idee, die gar nicht schlecht ist. Wie wäre es denn, wenn Sie ihm sagen würden, daß Sie es sich anders überlegt hätten, weil Sie einen Heiratsantrag bekommen haben?«

»Habe ich aber nicht. So weit will ich den Schwindel dann doch nicht treiben.«

»Nun, dann mache ich Ihnen jetzt einen Heiratsantrag.«

»Damit spaßt man nicht«, widersprach sie.

»Es ist kein Spaß. Ich habe viel an Sie gedacht. Ich wollte eine Zeit vergehen lassen, bis Sie einen Strich unter diese Affäre gezogen haben. Ich weiß, wie Ihnen zumute war. Übrigens heiße ich mit Vornamen Jörg.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie verlegen.

Er hielt ihre Hand fester. »Wir brauchen diesem Burschen ja nicht auf die Nase zu binden, daß es diese Erbschaft gar nicht gibt. Es wird ihn viel mehr ärgern, wenn Sie sagen, daß Sie das Geld lieber in meiner Privatpraxis investieren, die ich übrigens gerade einrichte. Aber nun denken Sie um Himmels willen nicht, daß ich Ihnen einen Heiratsantrag mache, um eine billige Hilfskraft zu bekommen. Ich bin jetzt sechsunddreißig, und es ist wahrhaft Zeit, an die Gründung einer Familie zu denken.«

»Sie meinen das wirklich ernst?« fragte Ilse beklommen.

»Und wie«, erwiderte er.

»Jetzt wünschte ich, tatsächlich eine Erbschaft gemacht zu haben«, sagte sie leise.

»Um Gottes willen, dann stünde ich vielleicht auch als Mitgiftjäger da. Große Sprünge können wir noch nicht machen, aber fünfzehn Betten habe ich als Belegarzt schon zugebilligt bekommen. Und bei uns gibt es sehr viele Fälle, die nicht unbedingt im Krankenhaus behandelt werden müssen. Wie ist es, Ilse? Es muß ja nicht immer die Liebe auf den ersten Blick sein, obgleich ich gern eingestehe, daß Sie mir gleich gefallen haben. Das wäre ein Mädchen für mich, dachte ich. Warum mußte es ausgerechnet an einen Schlawiner geraten?«

»Weil es ein Brett vor dem Kopf hatte, wie schon gesagt«, erwiderte sie.

»Jetzt wird nicht mehr zurückgedacht, sondern an die Zukunft. Einverstanden, Ilse?«

»Einverstanden, Jörg.«

*

Über Rainer Johns Haupt brauten sich düstere Wolken zusammen, aber er war noch ahnungslos. Vergeblich hatte er versucht, seine Freundin Lu zu erreichen, aber es störte ihn auch nicht weiter, daß er sie nicht erreichen konnte.

Hätte er geahnt, daß sie ihn zum Teufel wünschte und warum, wäre er nicht so frohgemut durch die Nachtlokale gebummelt.

In der Behnisch-Klinik herrschte Nachtruhe. Zu dritt hatten sie wieder an Katrins Bett gesessen, bis sie gegen neun Uhr aus dem tiefen Schlaf, der sie Schritt für Schritt ins Leben zurückführte, erwachte.

Sie hatte ihre Eltern erkannt, und der Hauch eines Lächelns lag um ihren Mund, als sie dann wieder ein­schlief.

Die Nachtwache übernahm Robert.

Am Morgen wollte ihn dann Lotte ablösen.

In seinem Sessel sitzend, nickte Robert dann auch für kurze Zeit ein, aber beim leisesten Seufzer war er gleich wieder munter. Im Schlaf murmelte Katrin unverständliche Worte, doch jeder Laut, der über ihre Lippen kam, war Musik in seinen Ohren.

Der Morgen dämmerte bereits empor, als sie seinen Namen flüsterte.

»Ich bin da, Katrin. Ich gehe nicht fort.« Er küßte ihre Hand und wagte dann auch, einen sanften, zärtlichen Kuß auf ihre Lippen zu drücken.

»Du bist da, aber es ist so dunkel.«

»Es ist noch Nacht, mein Liebes, und das helle Licht könnte deinen Augen weh tun.«

»Was ist geschehen, Robby? Warum kann ich mich nicht bewegen?«

»Du bist gefallen, Katrin, erinnerst du dich?« Durfte er das sagen? Er erschrak bei dem Gedanken, etwas falsch gemacht haben zu können.

»Gefallen – die Treppe – jemand hat mich gestoßen«, sagte sie langsam, aber recht deutlich. »Es war plötzlich dunkel.«

»Brannte das Licht nicht, Katrin?« fragte er.

»Es brannte, und dann ging es plötzlich aus. Wer hat mich so gestoßen, Robby, und warum?«

»Ich weiß es nicht, Liebes.«

»Mein Kopf tut weh.«

»Es wird besser, jeden Tag besser, Katrin. Denk jetzt nicht nach.«

»Es ist alles noch so verschwommen, aber du bist da. Ich sehe dich und fühle dich.«

Er streichelte zärtlich ihre Wangen und legte seine Hand dann auf ihre Stirn.

»Das tut gut«, murmelte Katrin. »Ich bin so müde.«

»Du mußt auch viel schlafen, dann wirst du schnell gesund. Mutti und Vati kommen am Morgen. Wir verstehen uns sehr gut. Ja, es wird alles gut, Liebstes. Ich liebe dich so sehr.«

»Mein Robby«, flüsterte sie.

*

Nach einer ausgiebigen Zechtour schlief Rainer John bis in den hellichten Vormittag hinein. Er hatte nicht gehört, daß mehrmals das Telefon geläutet hatte und auch die Türglocke gegangen war. Er hatte einen schweren Kopf und mußte erst duschen, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte. Dann fiel sein Blick auf die Uhr, und er mußte feststellen, daß es schon Mittagszeit war.

Wieder läutete das Telefon. Er meldete sich mit rauher Stimme. Lu überschüttete ihn mit schriller Stimme mit den übelsten Schimpfworten, ohne daß er sie unterbrechen konnte.

Was sie eigentlich wollte, hatte er noch nicht erfahren, als es nun auch an der Tür läutete, aber es war für ihn ein willkommener Anlaß, den Hörer aufzulegen. Hätte er sie ausreden lassen, wäre er gewarnt gewesen, aber so überraschten ihn die beiden Männer, die vor der Tür standen, unvermittelt.

Und als er die Ausweise sah, die sie ihm entgegenhielten, wurde sein Gesicht noch fahler, als es schon zuvor gewesen war.

»Wir möchten einige Auskünfte von Ihnen, Herr John«, sagte Inspektor Maier.

»In welcher Angelegenheit?« fragte er, mühsam nach Fassung ringend. »Entschuldigen Sie, aber mir geht es nicht gut. Anscheinend hat mich die Grippe jetzt noch erwischt.«

Er trachtete danach, Zeit zu gewinnen, aber an den Mienen der beiden war schon abzulesen, daß er damit auch nichts erreichen würde.

»Würden Sie uns bitte Auskunft geben, wo Ihr grauer Mercedes geblieben ist?« fragte Inspektor Maier.

»Mein Gott, was soll denn das? Ich habe ihn einer Bekannten geschenkt, nachdem ich mir einen neuen Wagen gekauft habe. Ist das verboten? Hat sie etwa einen Unfall gebaut und will es auf mich abschieben?«

»Keineswegs. Lu Seiler ist sehr erzürnt, daß Sie mit diesem Wagen einen Unfall verursacht und Fahrerflucht begangen haben.«

»Ich? Wie kommen Sie zu dieser Behauptung? Das ist ja unglaublich. Das ist eine Verleumdung. Das kann Lu nicht gesagt haben.«

»Nein, davon wußte sie ja nichts, aber wir wissen es, und wir wissen noch mehr. Sie haben Katrin Pflüger absichtlich angefahren und sie, da dieser Unfall sehr glimpflich verlief, am Donnerstag die Treppe hinabgestoßen.«

»Sie sind ja verrückt, so etwas zu behaupten. Das sind Verleumdungen, ein Kesseltreiben gegen mich. Und ich weiß auch, woher es kommt. Was sollte ich denn für einen Grund haben, diese kleine Pflüger zu attackieren?«

»Das wird sich herausstellen. Würden Sie uns bitte folgen? Wir haben einen Haftbefehl.«

»Das wird Sie teuer zu stehen kommen«, sagte John erregt.

»Dafür werden Sie sich entschuldigen müssen und andere auch.«

»Es wird sich finden«, sagte Inspektor Maier gelassen.

*

Ilse wartete umsonst auf den Anruf von Rainer John, aber ihre glückerfüllte Zufriedenheit blieb ungestört. Sie hatte für sich und Jörg ein gutes Essen zubereitet, und sie genossen ihre Zweisamkeit in ihrer hübschen kleinen Wohnung.

»Komisch ist es schon, daß er sich nicht rührt«, bemerkte sie beiläufig. »Er konnte es doch kaum erwarten, das Geld zu bekommen.«

»Vielleicht muß er noch knobeln, wie er einen Vertrag zustande bekommt, der dich nicht mißtrauisch macht«, scherzte Jörg. »Ich hätte liebend gern sein Gesicht gesehen, wenn du mich als deinen Verlobten vorstellst.«

»Mir wäre es lieber, wenn ich ihn nie mehr zu sehen brauchte«, sagte Ilse.

Aber sie sollten an diesem Tage doch noch mit ihm konfrontiert werden. Krampfhaft hatte John nach Ausreden gesucht und auch eine gefunden.

»Ich habe Lu den Wagen schon am Sonntag geschenkt«, erklärte er. »Sozusagen als Abschiedsgeschenk. Jetzt will sie sich nur an mir rächen.«

Man ließ ihn reden, hoffte man doch, daß er sich in seinem eigenen Lügengewirr fangen würde, um triftige Beweise gegen ihn zu finden.

»Warum als Abschiedsgeschenk?« wurde er gefragt.

»Weil ich heiraten möchte. Jetzt wird meine Verlobte auf mich warten und sich Sorgen machen.«

»Dürfen wir den Namen der besagten Dame erfahren?«

»Muß sie denn da hineingezogen werden? Sie haben mich in eine fatale Situation gebracht. Sie haben keinerlei Beweise und behandeln mich wie einen Verbrecher.«

»Sie können selbstverständlich alles sagen, was Sie zu Ihrer Entlastung anführen können, Herr John.«

»Ich möchte mit meiner Verlobten sprechen.«

»Den Namen bitte.«

»Ilse Bader.«

»Ja, dann werden wir die Dame einmal herbitten.«

»Ist Ihnen klar, daß Sie mich um alles bringen, auch um meine Existenz?«

»Aber wieso denn? Wenn bewiesen wird, daß Sie mit diesen Unfällen nichts zu tun haben, sind Sie rehabilitiert.«

»Aber es bleibt immer etwas hängen. Man feindet mich sowieso an, da man in mir den Erben meines Onkels sieht. Ich möchte wissen, wer mir diese Suppe eingebrockt hat.«

»Wie es scheint, Sie selbst«, erwiderte der Inspektor ruhig.

*

»Sie haben ihn verhaftet«, sagte Ilse erregt. »Er will mich sprechen. Was erwartet er eigentlich von mir?«

»Wahrscheinlich, daß du ihn entlastest«, erwiderte Jörg.

»Er scheint sehr von seiner Wirkung überzeugt zu sein. Vielleicht sollst du auch eine Kaution für ihn stellen. Ich bin sehr gespannt auf die weitere Entwicklung.«

Das war sie auch, denn nach ihrer Ansicht hatte sie nicht erreicht, was sie eigentlich wollte, nämlich ihn festzunageln.

Wie wäre ihr wohl zumute gewesen, wenn Jörg jetzt nicht bei ihr wäre? Unentwegt beschäftigte sie jetzt auch die Frage, warum er es so auf Katrin Pflüger abgesehen hatte.

War dieser erste Unfall unbeabsichtigt gewesen? Hatte er die Fahrerflucht in Panik begangen, vielleicht nicht nüchtern? Sie wußte, daß er viel trank. Hatte er dann Angst gehabt, von Katrin doch erkannt worden zu sein? Nein, dieser Gedanke war absurd. Katrin hätte keinen Grund gehabt, darüber zu schweigen.

Mit sehr gemischten Gefühlen betrat Ilse das Polizeipräsidium. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie hier, und es war gut, daß Jörg auch jetzt an ihrer Seite blieb.

Zuerst führte sie ein ziemlich langes Gespräch mit Inspektor Maier, wovon John freilich nichts erfuhr.

Dann kam es zu der Gegenüberstellung. John überfiel Ilse gleich mit einem Wortschwall.

»Du mußt mir helfen, Ilse, hier heraushelfen. Es ist alles barer Unsinn, was mir vorgeworfen wird. Du darfst kein Wort davon glauben. Du wirst mir doch helfen?«

»Ich wüßte nicht, wieso«, sagte sie.

»Du kannst mich doch nicht im Stich lassen. Denk an unsere Pläne«, sagte er erregt. »Wir waren uns doch einig. Ich werde dich heiraten.«

»Wieso denn das? Ich bin verlobt«, entgegnete sie. »Du wolltest ein Geschäft mit mir machen, ein sehr merkwürdiges Geschäft. Ich habe dies übrigens alles schon zu Protokoll gegeben. Ich bin nicht das kleine Dummchen, das einmal hereingelegt worden ist. Ich habe mich nur mit dir getroffen, um herauszubekommen, was du im Schilde führst. Mit der australischen Erbschaft habe ich dich geködert, aber die gibt es gar nicht. Du mußt dir schon etwas anderes einfallen lassen, um dich aus der Schlinge zu befreien, die du dir selbst um den Hals gelegt hast. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Sie atmete auf, als sie mit Jörg wieder auf der Straße stand. »Wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt nicht mehr leben«, sagte sie.

»Zum Glück bist du sehr lebendig, mein Schatz.«

»Und ich fühle mich erleichtert. Hoffentlich kann Katrin bald sagen, was geschehen ist. Er wollte das Mädchen umbringen, davon bin ich überzeugt, aber warum?«

Diese Frage beschäftigte auch Inspektor Maier. Er suchte das Motiv.

Er war besorgt, daß man keine hieb- und stichfesten Beweise gegen Rainer John finden konnte, und wegen der Fahrerflucht konnte man ihn nicht in Untersuchungshaft behalten.

Inspektor Maier dachte nach. Wenn man Lu Glauben schenken durfte, und er war geneigt, dies zu tun, hatte John Kenntnis vom Inhalt des Testamentes seines Onkels besessen. Aber wie hatte er dies erreicht? Jetzt war der Fall für ihn erst richtig interessant geworden. Kombinieren gehörte zu seinem Beruf.

*

Von alldem erfuhr Dr. Norden erst am Montagmorgen. Wieder ein Montag, allerdings nach einem schönen, sonnigen Wochenende, das er ungestört mit seiner Familie hatte verbringen können, von der Last der Sorge um Katrin befreit, die nun schon länger bei Bewußtsein war und umgeben von ihren Lieben auch schon ein bißchen länger reden konnte.

»Ist John dir gefolgt? Hat er dich belästigt?« fragte Robert.

»Nein, belästigt hat er mich nicht. Er war unfreundlich. Ich weiß nicht, ob er mir gefolgt ist. Ich habe mich nicht umgedreht.« Ihr Blick irrte ab. »Er haßt mich, ich spüre es immer wieder. Aber warum nur, Robby?«

Eine Antwort auf diese Frage wußte noch niemand, aber der Kreis wurde enger gezogen. Im Kaufhaus Heller herrschte grenzenloses Erstaunen, als John nicht er­schien.

Herr Dippmann äußerte sich nicht.

Dann kam Inspektor Maier. Er hatte eine lange Unterredung mit Herrn Dippmann. Darauf verließen beide gemeinsam das Geschäft. Wenig später kam Robert, der von Herrn Dippmann angerufen worden war.

In Katrins Befinden sei glücklicherweise eine Besserung eingetreten, erklärte er.

»Und was ist mit John?« fragte Sonja.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte er, und es entsprach der Wahrheit.

Herr Dippmann und der Inspektor waren zu Dr. Meißner gefahren, der sichtlich konsterniert war, als man ihm erklärte, wessen Rainer John beschuldigt wurde.

»Daß er ein leichtsinniger Bursche war, ist mir bekannt, aber Mordversuch?«

»Können Sie uns darüber Auskunft geben, welche testamentarischen Verfügungen Herr Heller getroffen hat?«

»Nein, das kann ich nicht. Das Testament soll am ersten Juli eröffnet werden. Ich muß mich an diese Verfügung halten. Ich habe Herrn Dippmann gesagt, daß Herr John keinesfalls der Alleinerbe ist, und mehr kann ich nicht sagen.«

»Aber John muß Kenntnis von diesem Testament gehabt haben«, sagte Inspektor Maier. »Er hat seiner Freundin gegenüber geäußert, daß sein Onkel eine Frau darin bedacht hätte, die in seinem Leben einmal eine Rolle gespielt habe, die aber inzwischen gestorben sei.«

Dr. Meißner wurde blaß. »Es ist unmöglich, daß er das Testament kennt. Man kann mir doch nicht unterstellen, daß ich meine Schweigepflicht gebrochen habe.«

»Das tut niemand, aber wie könnte er sich Kenntnis verschafft haben?«

»Das kann ich nicht sagen, es sei denn…« Dr. Meißner unterbrach sich.

»Es sei denn?« half ihm Inspektor Maier weiter.

»Es wäre möglich, daß Herr Heller den Entwurf im Hause hatte. Herr John hat ihn besucht. Herr Heller hat es mir erzählt. Er sagte dazu, daß Rainer sich jetzt wohl bei ihm einschmeicheln wolle, da seine Tage gezählt wären. Er wußte genau, wie krank er war und daß er nicht mehr lange leben würde.«

»Könnte es auch möglich sein, daß Herr Heller selbst seinem Neffen sagte, daß er sich nicht auf das Erbe freuen solle?« fragte Herr Dippmann.

»Ich weiß es nicht. Er war krank. Er wollte seinem Neffen wohl auch die Chance geben, ein ordentliches Leben zu beginnen. Er sollte eine Stellung bekommen und dafür entsprechend bezahlt werden, und wenn er sich bewährte, sollte ihm auch eine größere Summe ­zustehen. Ich sage Ihnen mehr, als ich sagen dürfte. Aber die anderen Bestimmungen kenne nicht mal ich. Herr Heller hat sich von mir beraten lassen, das Testament ­jedoch selbst verfaßt, handschriftlich wohlgemerkt, und bei mir hinterlegt. Das tat er schon ein Jahr vor seinem Tod. Er sagte mir, daß er eine Rechnung zu begleichen hätte, es für ihn aber zu spät sei, dies persönlich zu tun. Er wußte wohl zu diesem Zeitpunkt schon, daß er ­unheilbar krank war. Er war ein sehr verschlossener Mensch, aber Herr Dippmann war doch eng mit ihm ­befreundet. Wenn es eine Frau in seinem Leben gegeben hätte, müßte er es doch am ehesten gewußt haben.

Er hat auch das Haus bekommen mit allem Inventar und könnte dort einen Hinweis gefunden haben auf

diese Frau, wenn es eine gegeben hat.«

»Sie haben den schriftlichen Nachlaß von Herrn Heller nicht geordnet?« fragte der Inspektor.

»Nur den geschäftlichen. Ich hielt mich nicht für befugt, in seinem Schreibtisch herumzukramen«, erwiderte Konrad Dippmann kühl. »Ich habe Herrn Dr. Meißner die Schlüssel dazu in Verwahrung gegeben bis zur Testamentseröffnung. Das Arbeitszimmer meines Freundes habe ich in dem Zustand belassen, wie es war.«

Dr. Meißner erhob sich. »Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich mißverstanden wurde, Herr Dippmann. Mich regt diese Geschichte auf. Da dieses Haus mit allem Inventar eine Schenkung war, hätten Sie das Recht gehabt, auch den privaten schriftlichen Nachlaß zu sichten. Ich gebe Ihnen die Schlüssel. Vielleicht finden Sie etwas, was Ihnen weiterhilft. Ich bin an dem Termin des ersten Juli gebunden, so schwer mir dies unter den gegebenen Umständen auch fällt. Ich muß die Bestimmungen des Toten respektieren.«

*

Dr. Norden machte nach der Sprechstunde noch seinen täglichen Besuch in der Klinik. Dort traf er Robert Brehm.

»Jetzt geht es ja aufwärts mit Katrin«, sagte er, »und Sie sind von John befreit. Hoffentlich brummen sie ihm eine saftige Strafe auf.«

Robert war konsterniert. »Er ist verhaftet?« fragte er atemlos.

»Wußten Sie das nicht? Hoffentlich habe ich da keine Indiskretion begangen.«

»Ich behalte es für mich.«

»Es wird sich ja nicht verheimlichen lassen. Jedenfalls scheint es erwiesen, daß er Katrins Unfall verursacht hat. Zumindest den ersten. Für den andern gibt es noch keine Beweise, aber wer sonst sollte es gewesen sein?«

Nun wußte Robert, weshalb er im Geschäft so nötig gebraucht wurde. Er konnte nur einen kurzen Besuch bei Katrin machen. Er sagte ihr, daß John nicht da sei, aber nicht den Grund. Jetzt sollte sie sich noch keine Gedanken machen. Hier war sie sicher.

*

Dr. Norden war bei Loni, die nun bald ihre Reise zur Insel antreten sollte. Anne Cornelius wollte am Mittwoch nach München kommen, um einiges zu erledigen und auch, um sich zu überzeugen, daß die Familie wohlauf war.

Dann wollte sie Loni gleich mitnehmen.

»Kann denn Fräulein Bader auch so lange bleiben?« fragte Loni besorgt.

»Sie hat es mir versprochen.«

»Vielleicht möchte sie überhaupt bleiben«, meinte Loni kleinlaut.

»Das brauchen Sie nicht zu fürchten. Sie wird nämlich heiraten. Nun bekommt sie doch noch einen Arzt.«

Daheim angekommen, wurde er von den Kindern bestürmt, daß sie auch mal wieder zu Omi und Opi fahren wollten.

»Ihr könnt ja mitfahren, wenn Omi kommt«, scherzte er.

Danny und Felix sahen ihn entsetzt an. »Ohne euch, ganz ohne euch?«

»Wir fahren bald zusammen zur Insel«, versprach Daniel. »Übermorgen kommt die Omi ja.«

»Ommi, Ommi!« jauchzte die kleine Anneka, eigentlich auch eine Katrin, denn Annekatrin war sie getauft worden, aber das war ihren Brüdern zu lang gewesen, und so war eine Anneka daraus geworden. Sie war ein süßes Dingelchen und plapperte nun schon ganz munter. Sie wußte auch genau, wer Omi und Opi waren, wenn sie diese auch selten sah.

Aber Anne und Johannes Cornelius hatten jetzt wieder Hochbetrieb auf der Insel und da blieb ihnen genauso wenig Zeit fürs Privatleben wie Dr. Norden auch. Telefoniert wurde dafür öfter, und wenn es in München Aufregungen gab, spürte das Anne, auch wenn sie nicht informiert wurde.

Während Daniel nun wieder seiner Arbeit nachging und sich Fee mit den Kindern beschäftigte, saß Konrad Dippmann wie versteinert vor dem Schreibtisch seines Freundes.

In der linken Schublade fanden sie ein Holzkästchen mit Manschettenknöpfen und Krawattennadeln und einen Umschlag mit Röntgenaufnahmen.

Die rechte Schublade ließ sich schwer öffnen. Irgend etwas schien sich verklemmt zu haben.

»Es kommt mir so vor, als sollte es nicht sein«, sagte Konrad Dippmann heiser. Aber Inspektor Maier öffnete die Seitentür. Dort waren einige Aktendeckel gestapelt, ordentlich aufeinander und beschriftet. Der Inspektor kniete nieder und schaute hinein. Er bemerkte, daß aus der Schublade ein dickeres Kuvert nach hinten gerutscht war und sich dort wohl verklemmt hatte. Vorsichtig, um den Inhalt nicht zu beschädigen, schob er es mit dem Brieföffner in die Lade zurück, und nun konnte man diese auch aufziehen. In dieser befanden sich zwei prallgefüllte Schreibmappen aus Leder.

Konrad Dippmann starrte das Kuvert an, das keine Aufschrift trug. »Merkwürdig, daß er dies nicht auch in einer Mappe aufbewahrt hat«, sagte er tonlos. »Sie sehen ja, wie ordentlich er war.«

Inspektor Maier runzelte die Stirn. »Es kann ja möglich sein, daß es sich in einer Mappe befand, und jemand hat es herausgenommen, wurde dann gestört und warf es so in die Schublade. Vielleicht finden wir darin, was wir suchen.«

»Sie denken an John?«

Der Inspektor nickte. Er hielt schon Konrad Dippmann den Umschlag hin. Der öffnete ihn mit zitternden Fingern.

Zuerst sah er eine Fotografie. »Mein Gott«, stöhnte er auf, »Katrin Pflüger.«

»Es ist eine alte Fotografie«, sagte der Inspektor. »Der Mode nach mindestens zwanzig Jahre alt.« Er nahm sie Konrad aus der Hand und drehte sie um.

In Liebe, Deine Hanni, stand da in akkurater Schrift.

Dann enthielt das Kuvert noch ein schmales Büchlein. Es mochte eine Art Tagebuch sein. Fein säuberlich stand auf der Vorderseite der Name: Hanni Lenz.

»Das ist der Mädchenname von Katrins Mutter«, sagte Konrad Dippmann leise.

»Nun, ich glaube, daß dies Katrins Mutter ist«, sagte der Inspektor. »Und das würde manches erklären. Wir hätten das Motiv.«

»Welches Motiv?«

»Wenn Herr Heller Katrins Vater ist, könnte er sie als Erbin eingesetzt haben.«

»Sebastian soll Katrins Vater sein? Aber er hätte sich um das Kind gekümmert. Er hätte es niemals in so bescheidenen Verhältnissen aufwachsen lassen.«

»Vielleicht hat er erst spät von ihrer Existenz erfahren, zu spät?« Konrad Dippmann schüttelte benommen den Kopf. »Das will mir nicht in den Sinn.«

Inspektor Maier klappte die oberste Briefmappe auf. Ein paar Blätter mit Kurznotizen und Zahlen lagen da, die man nicht definieren konnte. Dann wurde es schon interessanter. Es lagen da einige Schreiben einer Auskunftei, aus denen hervorging, daß Sebastian Heller sich Informationen über Katrin besorgt hatte und auch über Hanni, über die aber nur kurz mitgeteilt wurde, daß sie in einem Gebirgsdorf bei der Geburt eines Kindes gestorben war und dieses Kind dann von ihrer Schwester und ihrem Schwager als deren eigenes angenommen worden war.

Konrad Dippmann war jetzt ganz still. Seine Wangenmuskeln zuckten nervös. Inspektor Maier ließ sich nicht stören.

Er befaßte sich nun mit der zweiten Briefmappe, und da lagen obenauf wieder Schreiben der Auskunftei, die diesmal Rainer John betrafen. Sie waren erst kurz vor Sebastians Tod eingegangen, wie Konrad Dippmann feststellte.

»Sehr aufschlußreich«, sagte der Inspektor. »Da ist von Zechprellerei bis Unterschlagung alles drin. Sieh da, vorbestraft ist der Bursche auch schon, und zwar wegen Körperverletzung.«

Und dann fanden sie auch noch den Entwurf zum Testament. »Hier scheint John herumgeschnüffelt zu haben«, sagte Inspektor Maier. »Dann hat er herausbekommen, daß Katrin im Kaufhaus Heller beschäftigt war, was wohl tatsächlich auf einem Zufall beruhte.« Er sah Konrad scharf an.

»Ich hatte nicht die geringste Ahnung«, erwiderte der tonlos. »Sie wurde uns vom Arbeitsamt geschickt, und ich stellte sie ein. Ich bin überzeugt, daß auch die Pflügers völlig ahnungslos sind.«

»Die Erbin Sebastian Hellers arbeitet als Verkäuferin«, sagte der Inspektor.

»Sind Sie ganz überzeugt, daß sie die Erbin ist?«

»Ich erinnere mich, daß Dr. Meißner sagte, Herr Heller wolle eine Rechnung begleichen.«

»Aber warum hat er sich nicht als Katrins Vater zu erkennen gegeben?«

»Vielleicht dachte er, daß sie ihn zurückweisen würde, oder er wollte ihr ersparen, den Vater, den sie gerade erst kennengelernt hätte, bald wieder zu verlieren. Er wußte wohl auch, welch inniges Verhältnis sie zu ihren Eltern hat. Wie dem auch sei, für mich ist der Fall gelöst. Ich nehme John in die Zange.«

Rainer John, der sich gerade wieder gefangen hatte und einen frechen Ton anschlug, blieb der Mund offenstehen, als ihm Inspektor Maier die Beweise ins Gesicht sagte. Sein Gesicht verzerrte sich, seine Augen traten beinahe aus den Höhlen. »Warum sollte sie alles haben?« schrie er unbeherrscht. »Dieses Proletarierkind, dieser Bastard.«

»Sie haben es nötig«, sagte Inspektor Maier. »Abführen.«

*

Freilich schlug es hohe Wellen, daß sich John in Haft befand, wenn auch nur ganz wenige die dramatischen Hintergründe kannten. Konrad Dippmann bewahrte Stillschweigen. Dr. Meißner hatte sich beruhigt, da niemand mehr von ihm verlangte, seiner Schweigepflicht untreu zu werden. Von Katrin wurde alles ferngehalten, was sie hätte aufregen können. Ihre Genesung machte große Fortschritte.

Ihr Wille zu leben erwies sich wieder einmal als großer Helfer. Sie durfte Besuche empfangen, sie bekam von allen Seiten so viel Sympathiebeweise, daß jeder Tag von Freude erfüllt war. Daß Konrad Dippmann sich so rührend um sie kümmerte und so väterlich gütig war, mußte sie verwundern, aber sie fühlte sich nun als Glückskind.

Ihren achtzehnten Geburtstag konnte sie zu Hause feiern, und es wurde der schönste Geburtstag ihres Lebens. Sie wurde überschüttet mit Geschenken, doch das schönste Geschenk für sie war, daß Robert ihr den Verlobungsring an den Finger steckte.

Erst dann erfuhr sie, wer sie zur Welt gebracht hatte. Sie konnte es nicht gleich begreifen, aber dann ging sie zu ihren Eltern und umarmte sie gleichzeitig. Tränen standen in ihren Augen.

»Ihr seid meine Eltern«, flüsterte sie. »Ich liebe euch, und ich danke euch für alles.«

Nichtsahnend, was ihr noch bevorstehen sollte, fühlte sie sich reich, unendlich reich.

Sie wollte nun auch wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, doch da sprach Konrad Dippmann ein Machtwort. Wenn er auch immer noch zum Schweigen verdammt war, wollte er doch nicht, daß Sebastian Hellers Erbin dort bediente, wo sie später zu bestimmen hatte. Es war schon ein eigenartiges Gefühl für ihn, daß Sebastian nicht mehr erfahren hatte, daß Katrin hier in diesem Hause als Verkäuferin angefangen hatte. Ein bedrückendes Gefühl jedoch war es noch immer für ihn, daß viel Unheil hätte vermieden werden können, wenn er sich früher an den Schreibtisch des Freundes herangewagt hätte. Aber es blieb auch die Frage, ob dann später nicht blinder Haß von seiten Rainer Johns anderes Unheil heraufbeschworen hätte. Und hätte Robert Brehm sich an die Erbin Katrin herangewagt?

So sagte Konrad Dippmann, daß Katrin bis zum ersten Juli Genesungsurlaub haben solle.

Ihm vergingen diese Wochen zu langsam. Robert und Katrin genossen ihr junges Glück. Loni erholte sich blendend auf der Insel der Hoffnung, und dort freute man sich, als die ganze Familie Norden mit Lenni ein verlängertes Wochenende dort verbrachten.

Ilse Bader half noch immer in der Praxis, aber sie dachte nun schon voll Sehnsucht an den Tag, an dem sie ihre Sachen packen und zu ihrem Jörg fahren konnte.

Endlich kam nun der erste Juli heran. Maßlos überrascht waren Hermann und Lotte Pflüger, als sie die Aufforderung bekamen, sich an diesem Tag mit Katrin in Dr. Meißners Kanzlei einzufinden. Noch mehr überraschte es sie dann, als sie dort auch Konrad Dippmann vorfanden.

Dr. Meißner fiel es schwer, passende Worte zur Einleitung zu finden, da drei Augenpaare ihn verwirrt betrachteten.

»Ich war an diesen Termin gebunden«, begann er stockend.

»Niemand konnte voraussehen, welche dramatischen Ereignisse diesem vorangehen würden. Ich bin beauftragt, Ihnen, Herr und Frau Pflüger, und Ihnen, Fräulein Pflüger, diese Briefe meines Mandanten Sebastian Heller zu übergeben. Vorweg jedoch möchte ich Ihnen seinen Letzten Willen verlesen.«

Während Katrin in noch tiefere Verwirrung geriet, kam Hermann und Lotte schon eine Ahnung.

Das Handschreiben, das Dr. Meißner dann verlas, war kurz gefaßt.

Ich, Sebastian Heller, verfüge, daß meiner Tochter Katrin Pflüger mein gesamter Nachlaß zufällt, sofern keine anderweitigen Verfügungen bereits vorher getroffen wurden. Dem Ehepaar Pflüger wird auf Lebenszeit eine monatliche Rente von Euro 2.000,-- zustehen, in Anerkennung der liebevollen Fürsorge, die sie Katrin angedeihen ließen. Beigefügte Briefe sind ihnen zu übergeben. Das Testament ist unanfechtbar. Die Vermögensaufstellung mit weiteren Verfügungen ist gesondert aufgeführt.

Dr. Meißner erhob sich. »Bevor ich diese anderen Bestimmungen verlese, möchten Sie wohl erst die Briefe von Herrn Heller lesen. Ich werde mich einstweilen mit Herrn Dippmann zurückziehen.«

Hilflos sah Katrin Herrn Dippmann an. Er strich ihr über das Haar, das schon wieder gewachsen war und Form bekam.

»Es hat alles seine Ordnung, Katrin. Sebastian war mein Freund, und er war ein guter Mensch. Bitte, bedenken Sie es.«

*

Katrin las: Mein Kind, nur einmal darf ich Dich so nennen, und dann werde ich nicht mehr auf dieser Welt weilen. Ich hätte Dich gern einmal in meine Arme genommen, aber ich weiß, daß mein Leben nicht mehr lange währen wird. Ich weiß inzwischen auch, wie innig Du geliebt wirst.

Ich habe Deine Mutter geliebt, doch sie verschwand aus meinem Leben. Sie verschwieg mir, daß sie ein Kind erwartete, und nur ein Zufall ließ mich von Deiner Existenz erfahren. Ich sah Dich auf der Straße, Du warst Hanni so ähnlich, wie ein Mädchen dem anderen nur sein konnte. Ich ließ nach Dir forschen und erfuhr, was meine Vermutung bestätigte, daß Du Hannis Kind bist. Daß ich Dein Vater bin, wurde mir jedoch erst bewußt, als ich auch in Erfahrung brachte, daß Hannis Schwester und ihr Mann Dich adoptiert hatten. Nun sollst Du für alles entschädigt werden, was Du entbehren mußtest, und die gütigen Menschen, die Dir Eltern waren und für Dich sorgten, was ich so gern getan hätte, auch. Daß Du dies alles erst nach Deinem achtzehnten Geburstag erfährst, bitte ich zu verstehen. Ich wünsche so sehr, daß Du nicht mit Bitternis an mich denkst. Ich wünsche Dir alles Glück der Welt, das Hanni und mir versagt blieb. Dein Vater.

Aus tränenfeuchten Augen blickte Katrin ihre Eltern an, die für sie immer ihre Eltern bleiben würden.

»Und wenn er sich nun getäuscht hat?« fragte sie leise.

»Nein, mein Kind«, sagte Lotte mit bebender Stimme. »Für Hanni gab es keinen anderen Mann, wenn wir auch seinen Namen nicht wußten.«

Auch Hermann und Lotte waren erschüttert, nachdem sie den Dankesbrief gelesen hatten, den Sebastian ihnen geschrieben hatte. Nicht den leisesten Vorwurf gegen ihn konnten sie empfinden. Diese achtzehn Jahre mit Katrin waren viel mehr wert als alles Geld.

»Was wird Robby sagen?« murmelte Katrin.

Hermann Pflüger lächelte.

»Er hat sich in ein armes Mädchen verliebt, nun wird er sich schon damit abfinden müssen, daß er eine reiche Frau bekommt.«

Konrad Dippmann nahm Katrin dann in die Arme. »Hätte ich es nur vorher gewußt, dir wäre viel erspart geblieben, Katrin«, sagte er tief bewegt.

»Aber vielleicht hätte ich dann Robby nicht bekommen«, meinte sie. »Es sollte alles so sein.«

Was nun noch gesagt werden mußte, konnte Dr. Meißner mit ruhiger Stimme verlesen.

Die einzelnen Punkte rauschten an Katrins Ohren vorbei.

Sie vernahm nur, daß Konrad Dippmann immer Mitspracherecht behalten sollte, und da nickte sie ihm zu. Sie dachte jetzt schon an ihren Robby. Der allerdings war völlig fassungslos, und er nahm die Botschaft auch mit sehr gemischten Gefühlen auf. Aber Katrin fiel ihm um den Hals und küßte ihn.

»Ich kann ja verzichten«, meinte sie schelmisch, »nur nicht auf dich.« Und als er in ihre leuchtenden Augen blickte, wußte er, daß sie immer so bleiben würde, so, wie er sie liebte.

Konrad Dippmann hielt eine feierliche Ansprache. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es, selbst Sonja hielt ihren Mund, aber sie fand zuerst die Sprache wieder.

»Ich habe ja immer gesagt, daß sie wie eine verkappte Prinzessin aussieht!« rief sie aus.

»Ein Hoch auf Katrin.«

»Nimm dich zusammen, Sonja«, raunte ihr Frau Heindl zu, »jetzt ist sie die Chefin.«

Aber als solche fühlte sich Katrin nicht. Sie drückte alle Hände, die sich ihr entgegenstreckten, mit dem gleichen lieben Lächeln wie früher.

*

Wie eine Prinzessin sah sie aus, als schon ein paar Wochen später die Hochzeit gefeiert wurde. An diesem Tag blieb das Kaufhaus Heller geschlossen, denn alle sollten teilnehmen an diesem Fest.

Gerd und Renate Büchner waren dabei, Dr. Volkhart und seine Frau Ilse waren nicht vergessen worden. Fee Norden und Jenny Behnisch waren bei der kirchlichen Trauung zugegen, und am Hochzeitsmahl nahmen auch ihre Männer teil.

Es gab ein glückstrahlendes Brautpaar, tiefgerührte Brauteltern, ein um Jahre verjüngt aussehender Konrad Dippmann zwischen seiner Schwester Käthe und Frau Heindl, und die ganze Belegschaft hatten allen Grund, sich zu freuen.

Konrad Dippmann blickte am Abend dieses Tages zum Himmel empor.

»Ja, Wastl, nun ist alles in Ordnung.«

Ein hübsches Haus war eingerichtet worden, in dem auch Hermann und Lotte eine schöne sonnige Wohnung hatten. In diesem Haus war auch Sebastian Hellers Arbeitszimmer gewesen. Oft saß Katrin an diesem Schreibtisch, in dem er sein Geheimnis aufbewahrt hatte, das ihr fast zum Verhängnis geworden wäre, doch in ihrem Glück hatten solche Erinnerungen keinen Platz mehr. Sie genoß es nicht müßig. Sie war eine selbstbewußte junge Frau geworden, die mit dazu beitrug, daß das Kaufhaus Heller keine Konkurrenz zu scheuen brauchte. Doch alle wichtigen Entscheidungen mußten Robert und Konrad treffen.

So liebevolle Eltern, wie Lotte und Hermann gewesen waren, sollten noch liebevollere Großeltern werden. Frei von Sorgen, von Dankbarkeit erfüllt, sollten sie teilhaben dürfen an dem fröhlichen Leben, das in diesem Hause herrschte.

Der kleine Sebastian und sein Schwesterchen Johanna waren die Krönung der Liebe, die Katrin und Robby ein Leben lang verbinden sollte.

Dr. Norden Bestseller Box 15 – Arztroman

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