Читать книгу Dr. Norden Bestseller 20 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Gerade wollte sich Dr. Daniel Norden auf den Weg zur Praxis machen, da läutete das Telefon.

Fee Norden hob schnell den Hörer ab. »Ein Notfall, Daniel«, rief sie ihrem Mann zu. »Ganz in der Nähe. Wiesenstraße 12. Der Name ist Lauterer. Anscheinend Angina pectoris!«

Das war nun eine schwierige Sache. Dr. Norden kannte den Namen nicht, und in seiner Praxis sollte pünktlich um acht Uhr der Betrieb beginnen. Aber ein Notfall war ein Notfall, und da wurde nicht lange gefragt.

»Lauterer, Wiesenstraße 12«, wiederholte er.

»Gleich zwei Straßen weiter!«, rief Fee ihm zu.

Sie wusste schon besser Bescheid mit den Straßen, obgleich sie erst ein paar Wochen hier wohnten. Die Praxis lag in einem anderen Viertel, und dort hatte Dr. Norden immer noch die meisten Patienten.

Wiesenstraße 12 war leicht gefunden. Es war ein hübsches, kleines, rosenumranktes Haus. Ein aufgeregter Mann mittleren Alters empfing ihn.

»Meine Frau«, stammelte er, »meine Frau, sie ist einfach vom Stuhl gefallen.«

Dr. Norden fragte nicht lange. Er eilte dem Mann nach in ein Schlafzimmer, das mit hellen Schleiflackmöbeln eingerichtet war. Florentinischer Stil, aber das nahm er nur im Unterbewusstsein zur Kenntnis.

Er hatte früher mal eine Patientin gehabt, die ihn sehr eingehend über diesen Stil aufgeklärt hatte.

Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Frau, die wie tot auf dem Bett lag. Er fühlte den Puls. In den Armen war kaum noch Blut. In aller Eile zog er eine Injektion auf und hörte dabei nicht auf die erregten Fragen, die der Mann stellte. Hier war höchste, allerhöchste Eile geboten, das wusste er. Minuten, sogar Sekunden konnten entscheidend sein.

Er injizierte die Flüssigkeit und wartete, weiterhin den Puls fühlend.

Dann sah er den Mann, der grau im Gesicht war, ernst an.

»Es war gut, dass Sie mich so schnell gerufen haben«, sagte er ruhig.

»Eigentlich haben wir ja Dr. Pfaudler«, sagte er leise, »aber den konnten wir nicht erreichen.«

Dr. Daniel Norden war es gleich, welchen Hausarzt sie hatten. Er brauchte niemandem Patienten zu neiden und war im Augenblick nur froh, dass diese Frau ins Leben zurückkehrte.

»Es wird noch einige Zeit dauern, bis Ihre Frau wieder zu sich kommt«, sagte er. »Es ist ein besonders schwerer Kreislaufzusammenbruch. Hat es irgendwelche Vorzeichen gegeben?«

»Nein, es war wie immer«, erwiderte Herr Lauterer bebend. »Elke hatte den Kindern das Frühstück gemacht. Wir haben drei Kinder, sie gehen alle noch zur Schule. Dann haben wir ein Viertelstündchen für uns Zeit. Das halten wir seit Jahren so. Aber heute …« Er geriet ins Stocken und sank schwer auf einen Stuhl.

»Elke hatte mir eine Tasse Kaffee eingeschenkt. Ich fragte sie was, aber sie sah mich starr an, dann fiel sie einfach vom Stuhl. Ich habe es erst gar nicht begriffen.«

»Ist eine Krankheit vorausgegangen?«, fragte Dr. Norden gewissenhaft.

»Erkältet war Elke halt. Das waren wir alle. Dr. Pfaudler hat uns dann ein paar Mittel verordnet, und nach ein paar Tagen waren wir auch wieder in Ordnung.«

»Von einer Kreislaufschwäche hat der Kollege bei Ihrer Frau nichts festgestellt?«, fragte Dr. Norden.

»Ach, Elke hat sich doch gar nicht untersuchen lassen. Die schluckt immer das mit, was wir bekommen, wenn sie die gleichen Erscheinungen hat. Sie ist eine Frau, die einfach nicht krank sein will.«

»Ich will Ihrem Hausarzt nicht vorgreifen, aber meine Meinung ist, dass Ihre Gattin dringendst klinisch untersucht werden müsste.«

»Das bringen Sie ihr mal bei. Sie will ja nicht krank sein. Ohne sie geht es doch nicht, meint sie immer. Ich habe ihr schon hundertmal gesagt, dass sie auch mal was für sich tun muss. Wir sind doch gut versichert. Privat, Herr Doktor.«

»Das nützt aber alles nichts, wenn die Krankenkasse nicht mal in Anspruch genommen wird«, sagte Daniel mit dem Anflug eines Lächelns, denn jetzt schlug Elke Lauterer ihre Augen auf.

»Wer ist das?«, fragte sie abweisend, aber Daniel war schon froh, dass sie überhaupt eine so schnelle Reaktion zeigte.

»Dr. Norden ist das, Elke. Er ist gleich gekommen, als du zusammengeklappt bist. Dr. Pfaudler war nicht zu erreichen.«

»Jetzt geht es Ihnen ja, Gott sei Dank, schon wieder besser«, sagte Dr. Norden. »Ich kann Sie getrost der weiteren Fürsorge Ihres Hausarztes überlassen. Aber bitte, nehmen Sie diesen Zwischenfall nicht so leicht, auch wenn es Ihnen bald wieder bessergeht. Ich werde mich bei dem Kollegen erkundigen. Vorerst wünsche ich Ihnen weiterhin gute Besserung, Frau Lauterer.«


Auch für Loni Enderle, Dr. Nordens neuer Praxishelferin, begann der Tag aufregend. Dr. Norden war ganz gegen seine Gewohnheit unpünktlich. Das Wartezimmer hatte sich bereits gefüllt, und nun kam noch eine Dame mit einem Kind auf den Armen hereingestürzt. Das Kind blutete heftig aus einer Kopfwunde. Loni, noch nicht allen Situationen so ganz gewachsen, war selbst erschrocken.

Sie wollte der Dame das Kind abnehmen, denn deren sehr eleganter zartblauer Wollmantel wies schon Blutflecke auf, aber die Frau starrte sie verstört an.

»Ich kenne Sie nicht. Wo ist Billie?«, fragte sie.

»Die ist nicht mehr hier, und Dr. Norden ist auch noch nicht da«, meinte Loni aufgeregt.

»Mein Kind, es verblutet«, stöhnte die Frau.

»Ist doch gar nicht so schlimm«, sagte die Kleine. »Reg dich nicht so auf, Mami.«

Das zu hören war tröstlich für Loni, die Dr. Nordens Kommen sehnsüchtig erwartete, denn aus der Fremden war kein Wort mehr herauszubringen. Sie hielt nur das Kind in den Armen und schluchzte.

Da kam zum Glück der Doktor. »Aber Frau Jansen, was ist denn?«, fragte er.

»Trixi, mein Kleines, sie verblutet.«

»Mami übertreibt ein bisschen«, sagte das Kind mit ganz klarer Stimme. »Warum regt sie sich nur immer gleich so auf? Ich bin gestolpert und habe mich an so einem blöden Automaten angestoßen.«

»Kümmern Sie sich um Frau Jansen, Loni«, sagte Dr. Norden, nachdem er einen Tupfer auf die stark blutende Wunde gelegt hatte. Dann nahm er das Kind der zitternden Frau aus den Armen und trug es ins Untersuchungszimmer.

»Ich will bei Trixi bleiben«, sagte Frau Jansen ängstlich.

»Nehmen Sie erst ein paar Beruhigungstropfen«, sagte Dr. Norden energisch. »Sie tun Ihrer Kleinen keinen Gefallen, wenn Sie weinen.«

Das wirkte. Almut Jansen ließ sich von Loni Tropfen geben.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie leise, »zuerst der entsetzliche Schrecken, dann auch noch das fremde Gesicht. Ich wusste wirklich nicht, dass Billie nicht mehr hier ist.«

»Sie hat geheiratet, auch einen Arzt«, sagte Loni. »Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen einen zusätzlichen Schrecken eingejagt habe, gnädige Frau.«

»So dürfen Sie es nicht verstehen«, sagte Almut Jansen nun schon ruhiger. »Es ist ein Tick von mir, dass ich so auf Fremde reagiere.«

Dabei sah sie aus wie eine Frau, die gewohnt war zu repräsentieren.

»Na, Trixi, wie ist das denn passiert?«, fragte Dr. Norden. »Erzähle mal.«

»Sag erst, was du mit mir machst«, verlangte die Kleine munter.

»Du bekommst eine Spritze. Tetanus. Die muss ich dir geben wegen der Wunde.«

»Hört es dann auf zu bluten, damit Mami sich nicht so schrecklich aufregt?«, fragte Trixi.

»Zu bluten hört es auch auf, aber die Spritze hilft, dass du nicht schlimmer krank wirst. Es tut nicht weh. Erzähle mir was, dann merkst du gar nichts.«

»Ich weiß nicht, wie das passiert ist«, meinte Trixi. »Mami wollte mich mit zum Friseur nehmen, weil heute Abend Gäste kommen, und als wir aus dem Auto gestiegen sind, standen da ein paar Leute. Eine Frau hat mich so komisch angeguckt, Mami hat mich von ihr fortgerissen, und da bin ich gestolpert und an den Automaten gefallen. Aber sag nicht, dass Mami mich so fortgerissen hat von der Frau«, flüsterte sie, als sich die Tür auftat und ihre Mutter hereinkam.

»Es ist alles halb so schlimm«, sagte Dr. Norden geistesgegenwärtig, »aber es wäre vielleicht besser, wenn Trixi noch ein wenig liegen würde. Sie sagte, dass Sie zum Friseur wollten. Sie könnten die Kleine dann nachher hier abholen, Frau Jansen.«

»Ach, was geht mich die Party an! Ich habe überhaupt keine Lust. Am liebsten würde ich mit Trixi verreisen«, sagte Almut Jansen.

»Mamichen, reg dich doch nicht auf! Papi wäre traurig. Er will uns doch bei sich haben und er braucht dich doch, weil die Ausländer kommen. Es ist doch alles gar nicht schlimm.«

Almut Jansen strich sich über die Stirn. »Ich sollte wohl mal was für meine Nerven tun, Herr Doktor«, sagte sie. »Sie spielen mir manchmal einen Streich. Gut, ich lasse Trixi hier. Aber Sie achten darauf, dass sie mit keinem Fremden spricht. Bitte! Man liest jetzt so viel von Entführungen.«

Das war allerdings eine Erklärung für ihre übermäßige Angst, denn die Jansens gehörten zu den ganz Reichen, und Trixi war ihr einziges Kind. Dazu war Almut Jansen eine übersensible Frau, die fast ständig in ärztlicher Behandlung war. Dr. Norden kannte sie seit einem Jahr. Sie wohnten sogar ganz in ihrer Nähe. Das war keine richtige Verbindung, die zwischen den Lauterers und den Jansens bestand. Es waren zwei grundverschiedene Fälle, und dennoch sollten sie eine besondere Bedeutung in Dr. Daniel Nordens Praxis bekommen.

Aber nun musste er sich um seine anderen Patienten kümmern, die zwar unendlich geduldig waren, aber nach seiner Einstellung den gleichen Anspruch auf seine Hilfe hatten wie eine Almut Jansen, die ja nicht die einzige besorgte Mutter war.

Trixi fühlte sich recht wohl bei ihm. Sie hatte ein sehr schönes Pflaster aufgeklebt bekommen, unterhielt sich mit Loni und auch mit Dr. Norden, wenn er zu ihr hereinschaute, und ihr gefiel es viel besser, als beim Friseur zu warten.

»Papi sagt ja auch, dass Mami weiße Mäuse sieht«, sagte sie. »Und er sagt auch, dass jetzt doch überhaupt nichts mehr passieren kann. Mami macht sich viel zu viel Gedanken.«

»Warum?«, fragte Dr. Norden aufhorchend.

»Ich glaube, wegen einer Frau, die bei uns in der Nähe wohnt. Ich habe bloß mal gehört, dass Mami gesagt hat, dass die in der Klinik gewesen ist.«

Trixi seufzte. »Alles, was mit Klinik zu tun hat, regt Mami auf. Und jedes Mal, wenn mich wer anredet, dreht sie richtig durch.«

Trixi war fünf Jahre alt, aber geistig sehr rege. Dr. Norden wollte sie nicht ausfragen, weil er fürchten musste, dass sie dann mit ihrer Mutter darüber sprechen würde. Er mochte Almut Jansen, wie er alle besorgten Mütter mochte, diese Frau war verschlossen wie ein Fisch. Ihre Seele war ihm ein völlig unerforschtes Gebiet und das bereitete ihm Sorgen, denn eigentlich bekam er zu seinen Patienten schnell Kontakt.

Trixi war ein entzückendes Kind. Völlig unbefangen, was ein Wunder bei dieser überempfindlichen, überbesorgten Mutter war, meistens waren solche Kinder ängstlich und misstrauisch.

»Gell, Onkel Doktor, du sagst Mami, dass es mir ganz gut geht, damit sie nicht mit mir wegfährt. Papi mag das nämlich gar nicht. Ich möchte auch bei Papi sein. Er macht viel Spaß mit mir.«

»Ich sage nichts, Trixi«, versprach Dr. Norden. »Fährt die Mami öfter mit dir weg?«

»Immer, wenn Papi mal eine Geschäftsreise machen muss. Und erst recht, wenn jemand sagt, dass ich Mami gar nicht ähnlich sehe. Das tun Leute manchmal. Dann regt sie sich schrecklich auf. Aber ich sehe eben Papi ähnlich, weil ich so dunkle Haare und dunkle Augen habe. Und jetzt kriege ich auch noch eine Narbe an der Stirn, wie Papi eine hat, gell. Wird das eine sehr große Narbe?«

»Das möchtest du wohl?«, fragte Dr. Norden im scherzhaften Ton, obgleich er sich ernsthafte Gedanken machte.

»Na klar, dann sagt keiner mehr, dass ich keinem von ihnen richtig ähnlich sehe.«

»Die Ähnlichkeit kommt manchmal erst später zum Ausdruck«, erklärte Dr. Norden.

Aufmerksam sah Trixi ihn an. »Dann werde ich mir wünschen, dass ich so schön werde wie Mami und so gescheit und lustig wie Papi, und dass ich mich nicht immer gleich aufrege, wenn ich mich mal stoße und hinfalle. Ich meine, wenn meine Kinder das machen.«

Dr. Norden hätte sich gern länger mit Trixi unterhalten, aber es waren noch immer Patienten da, und nun wurde er auch noch ans Telefon gerufen.

Es war Herr Lauterer, der ihn bat, doch nochmals nach seiner Frau zu sehen, da Dr. Pfaudler einfach nicht zu erreichen sei.

Daniel versprach es und dachte für sich, dass der Kollege Pfaudler es mit seinen Pflichten anscheinend nicht so arg ernst nahm.

Vielleicht aber machte er auch Krankenbesuche, aber dann hätte doch zumindest ein automatischer Anrufbeantworter Auskunft geben müssen, wenn sein Büro schon nicht ständig besetzt war.

Daniel kannte den Kollegen dem Namen nach. Persönlich waren sie sich noch nie begegnet.

Jetzt kam Frau Jansen, um ihr Töchterchen abzuholen. Besorgt erkundigte sie sich, ob es wirklich nur eine Platzwunde sei.

»Ein bisschen wehtun wird es schon, aber zu Befürchtungen besteht kein Anlass«, erwiderte er.

»Aber eine Narbe will ich haben wie Papi«, sagte Trixi, »damit ich ihm ähnlich bin.«

Almut Jansen war ohnehin schon blass, aber sie wurde noch blasser.

»Eine Narbe ist aber nicht schön für ein Mädchen«, sagte sie stockend.

»Ich finde es aber schön. Gell, Onkel Doktor, du machst, dass es eine Narbe wird.«

»Ein Doktor hat aber die Pflicht, eine Wunde möglichst so zu behandeln, dass keine Narbe bleibt«, sagte Daniel lächelnd.

»Aber du kannst mal eine Ausnahme machen, gell, Mami? Wenn ich es mir doch wünsche!«

»Für mich ist die Hauptsache, dass du so gut beisammen bist«, sagte Frau Jansen, die jetzt einen grünen Lodenmantel anstelle des zartblauen trug, der von den Blutspuren verunziert gewesen war.

»Vielen Dank, Herr Dr. Norden.«

»In zwei Tagen sehen wir uns ja wieder, hoffe ich, damit ich mich überzeugen kann, wie die Wunde aussieht.«

»Dann kann Mami mich ja wieder hierlassen und einkaufen gehen«, sagte Trixi. »Ich habe mich sehr gut unterhalten.«

»Das freut mich«, sagte Dr. Norden. »Schade, dass ich so wenig Zeit hatte.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich mich bedanken soll«, sagte Almut Jansen. »Es ist ein so gutes Gefühl, wenn man zu seinem Arzt Vertrauen haben kann. Wenn man fremd ist, weiß man doch nie, an wen man gerät. Ich bin nur froh, dass damals dieser Dr. Pfaudler nicht zu erreichen war, als Trixi Mumps hatte. Wir waren ja völlig fremd und kannten auch niemanden, der uns einen Arzt hätte empfehlen können. Aber wir hatten gleich Glück.«

»Einen andern Doktor mag ich auch nicht«, sagte Trixie. »Danke schön, Onkel Doktor.«


Eigenartig war an diesem Tage für Daniel Norden, dass der Name Pfaudler zweimal fiel. Zwei Patienten hatten ihn nicht erreichen können, als sie ihn brauchten. Dass er die Jansens dadurch als seine Patienten gewonnen hatte, freute ihn, dass nun aber die Lauterers ihn anscheinend auch weiterhin in Anspruch nehmen wollten, war ihm ein wenig unbehaglich. Aber schließlich stand das Wohl des Patienten im Vordergrund, und Frau Lauterer brauchte ärztliche Betreuung.

Als Daniel Norden diesmal kam, wurde ihm von einem etwa zehnjährigen Mädchen die Tür geöffnet. Sie hatte ein rundes Gesichtchen und das Haar zu Rattenschwänzchen geflochten.

»Mutti geht es immer noch nicht gut«, sagte sie betrübt. »Sind Sie der neue Doktor? Ist der Pfaudler wirklich auf der Polizei?«

Ein hochgeschossener Junge erschien. »Red nicht so viel, Marilli«, sagte er. »Der Doktor soll zu Mutti kommen. Ich bin der Florian.«

Elke Lauterer war matt und apathisch, aber anscheinend wurde sie von ihren Kindern sehr umsorgt. Jetzt kam noch ein zweites Mädchen herein, das schon älter war, die achtzehnjährige Corinna, wie Dr. Norden erfuhr. Sie brachte auf einem Tablett Tee und Zwieback.

»Mutti will ja nicht essen«, sagte sie bedrückt.

»Ich möchte nur schlafen«, sagte Elke Lauterer. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Herr Doktor, aber ich kann nicht aufstehen. So was ist mir noch nie passiert.«

Ein Haus, drei Kinder, dachte Daniel Norden. Ein Mann, der seine Ordnung haben wollte. Die Frau hat sich nie Ruhe und Rast gegönnt, nie auf kleine Anzeichen geachtet, die als Warnung dienen sollten. Dann fiel ihm wieder die Erkältung ein, die die ganze Familie ergriffen hatte und mit den gleichen Mitteln kurieren wollte.

Aber jetzt war Elke Lauterer ansprechbar. »Ihr Mann sagte, dass Sie alle stark erkältet waren«, begann er. »Könnte ich bitte mal sehen, welche Mittel Sie eingenommen haben?«

»Ich hole das Zeug gleich«, bot Florian sich bereitwillig an. »Ich habe ja nichts geschluckt, weil ich die dämlichen Dinger nie ’runterbringe. Aber Mutti wollte vorbeugen.«

Dr. Norden betrachtete das Fläschchen, das Florian brachte. »Hat der Kollege Ihnen gesagt, dass Sie dieses Mittel nehmen sollen, Frau Lauterer?«, fragte er.

»Nein, das nicht. Ich habe ja gar nicht gesagt, dass ich mich auch schlapp fühle. Ich dachte, wenn es den Kindern und meinem Mann hilft, kann es mir ja auch nicht schaden.«

»Leider denken viele Patienten so, ohne sich über ihre tatsächliche augenblickliche Situation klar zu sein. Es ist ein sehr starkes Mittel, und Sie haben einen sehr labilen Kreislauf, Frau Lauterer.«

»Aber Mutti war doch nie krank. Jedenfalls nie bettlägerig«, mischte sich Corinna ein.

»Es gibt viele Mütter, die ihre Kräfte überschätzen«, sagte Daniel ruhig. »Sie haben den Wunsch, immer für ihre Familie zu sorgen, und das verleiht ihnen erstaunlicherweise über Jahre hinaus bewundernswerte Kräfte, aber wenn sie dann zusammenklappen, dann richtig. Ihr wollt doch, dass eure Mutti gesund wird.«

»Aber das ist doch klar, Herr Doktor«, sagte Florian heiser. »Warum hat denn der Pfaudler nicht mal so geredet wie Sie? Aber der musste ja immer seine Puppe dabeihaben und so schnell wie möglich immer wegkommen.«

»Florian, du sollst nicht so sprechen«, sagte Frau Lauterer.

»Wenn es doch wahr ist«, sagte Florian. »Kaum war er da, hatte er es eilig, sein Rezept zu schreiben, und weg war er schon wieder. Und nun haben sie ihn erwischt, wie er besoffen Auto gefahren ist.«

»Junge«, seufzte Frau Lauterer.

»Entschuldige, Mutti. Entschuldigung auch, Herr Doktor. Ich habe es bloß zufällig erfahren. Und nun bin ich froh, wenn Mutti mal einen Arzt hat, der sich richtig um sie kümmert.«

»Ich bin dafür, dass eure Mutter in der Klinik gründlichst untersucht wird. Es wird drei Tage dauern. Meint ihr, dass ihr allein zurechtkommen werdet?«

»Jetzt ist Mutti am wichtigsten«, sagte die Jüngste. Corinna schwieg.

Daniel wollte nicht am Bett von Frau Lauterer mit den Kindern debattieren. In erster Linie musste er mit ihrem Mann darüber sprechen.

»Sie brauchen jedenfalls unbedingte Bettruhe, Frau Lauterer«, sagte er eindringlich. »Dafür müsst ihr sorgen, Kinder. Dann leichte Kost und nur, was schmeckt. Jetzt bekommen Sie noch eine Spritze.«

»Aber dann werde ich ja noch müder«, sagte Frau Lauterer.

»Sie sollen ja schlafen, sehr viel schlafen.« Er maß den Blutdruck, der noch immer erschreckend niedrig war. Er hegte jetzt den Verdacht, dass sie am meisten von diesen starken Tabletten zur Vorbeugung genommen hatten. Die waren jedoch nicht für Menschen mit niedrigem Blutdruck gedacht, denn sie bewirkten, dass dieser noch mehr gedrückt wurde. Es war bewundernswert, wie tapfer sie sich hielt und welche Energie sie mobilisierte. Dr. Norden war sich völlig klar, dass diese Frau sonst jetzt schon nicht mehr zu retten gewesen wäre.

Es tat ihm leid, aber er musste den Kindern erklären, wie ernst der Gesundheitszustand ihrer Mutter war. Zum Glück kam Herr Lauterer indessen nach Hause, der überbeanspruchte Prokurist einer großen Firma, der sich auch wenig Freizeit gönnen konnte.

Die Leute leben und schaffen, dachte Dr. Norden. Sie leben um zu arbeiten, sie arbeiten nicht, um zu leben.

Aber hielt ihm Fee dies nicht auch manchmal vor, wenn er total erschöpft heimkam? Doch bei ihm war es doch etwas anderes. Er wollte ja helfen, heilen. Und dennoch, was nützte es ihm, wenn er auch mal zusammenklappte? Konnte er diesen Dr. Pfaudler verurteilen, der etwas vom Leben haben wollte?

»Der Pfaudler hat einen irren Unfall gebaut«, erzählte Florian. »Zwei Tote. Er ist voll in ein entgegenkommendes Auto reingerast. Ihm und seiner Puppe ist nicht viel passiert. Fünf Uhr morgens soll es passiert sein, als sie von einer Party kamen. Na, in der Abendzeitung wird es schon stehen.«

»Sei mal ruhig, Flori«, sagte Herr Lauterer. »Jetzt ist doch Mutti wichtig.«

»Ich bin aber doch vor dem Abi, Vati«, sagte Corinna. »Ich muss mich schwer auf die Hosen setzen. Ich kann nicht den ganzen Haushalt machen.«

»Dann mache ich es«, sagte Florian. »Bei mir kommt es nicht mehr drauf an. Ich bleibe sowieso sitzen. Jedenfalls muss alles für Mutti getan werden.«

»Aber sie muss nicht sterben, gell, Doktor?«, schluchzte die kleine Marilli auf. »Meine Mutti nicht.«

»Nein, Kind«, sagte Daniel Norden tröstend, obgleich er sehr genau wusste, an welch hauchdünnem Faden das Leben ihrer Mutter gehangen hatte. Er war dankbar, dass Herr Lauterer ihn sofort erreicht hatte, dass er früh genug zur Stelle sein konnte, um dieses Leben zu retten, das so nötig gebraucht wurde. Eine Mutter, die von ihrem Mann und ihren Kindern geliebt wurde.

»Wenn Sie einverstanden sind, lasse ich Ihre Frau noch heute in die Behnisch-Klinik bringen, Herr Lauterer«, sagte er. »Ich arbeite mit Dr. Behnisch zusammen. Ich kann garantieren, dass die Untersuchungen auf das Korrekteste ausgeführt werden. Und ich werde mich auch selbst um Ihre Frau kümmern, da der Kollege Pfaudler dazu jetzt wohl nicht mehr in der Lage sein wird.«

»Das muss ein Arzt sein!«, sagte Florian bissig. »Aber wann hatte man denn schon mal Glück mit dem Doktor? Oft waren wir nicht krank, und er wohnte sozusagen gleich nebenan. Na, für seine Frau und die beiden Kinder wird das eine böse Überraschung sein.«

»Wir wollen nicht klatschen, Florian«, sagte Herr Lauterer. »Das geht uns nichts an. Es ist von Dr. Norden sehr anerkennenswert, dass er sich Muttis so annimmt.«

»Es ist selbstverständlich, Herr Lauterer. Ich werde also alles veranlassen.«

»Und dabei sieht er aus wie ein Filmstar«, sagte Corinna schwärmerisch, als Dr. Norden das Haus verlassen hatte.

»Nun spinn nicht, er ist ein toller Arzt«, sagte Florian. »Der nimmt sich wenigstens Zeit und fragt nicht erst nach der Krankenkasse. Unsere Mutti muss gesund werden. Heult bloß nicht herum, du auch nicht, Marilli. Das schadet Mutti nur. Ich möchte nicht wissen, wie es Vati heute Morgen zumute war, als sie umgekippt ist.«

Der Sohn erwies sich in dieser Situation als der Stärkste. Was wurde auf die »Halbstarken« geschimpft! Gewiss, nicht jeder war wie Florian Lauterer, der in der Schule Schwierigkeiten hatte, aber wenn es um seine Mutter ging, dann zeigte er, was in ihm steckte, viel deutlicher als die ehrgeizige Corinna.

Er hielt die Hand seiner Mutter. Er redete ihr zu. »Kannst dich auf mich verlassen, Mutti. Ich bin überhaupt mehr praktisch veranlagt, vielleicht begreift Paps das jetzt auch. Am liebsten würde ich ja Koch werden und nicht noch ein paar Jahre die Schulbank drücken. Werd bloß wieder bald gesund, Mutti.«

»Ob das mit Dr. Pfaudler stimmt?«, fragte Elke Lauterer.

»Kümmere dich nicht darum«, sagte Florian. »Das geht uns nichts an. Du sollst gesund werden, und auf den Dr. Norden schwör’ ich.«


Das sagte Florian Lauterer, und Dr. Behnisch war der gleichen Meinung. Lange genug kannte er seinen Freund Daniel ja. Sie hatten zusammen studiert und auch so manchen Unsinn getrieben. Nun waren sie verheiratet und hatten beide Glück gehabt.

Dr. Behnisch hatte durch ein beträchtliches Erbe eine Privatklinik übernehmen können, und seine Frau Jenny hatte ihm Daniel sozusagen in die Arme geführt.

Selbst wenn jedes Bett in der Behnisch-Klinik belegt gewesen wäre, was meistens der Fall war, hätte Dr. Behnisch Daniel niemals abgewiesen, wenn er ihm einen Patienten brachte. Irgendwie wurde immer noch Platz geschaffen.

»Eine Patientin von Pfaudler«, hatte Daniel erklärt.

»Na, der sitzt jetzt in einer schönen Klemme. Da kommt er so schnell nicht mehr raus. Mir tut nur die Frau leid. Aber genau weiß ich nicht Bescheid. Wir werden es in den verschiedensten Versionen erfahren.«

Sie sprachen dann nur über Elke Lauterer. Für Tratsch hatten sie beide nichts übrig.

Getratscht wurde auch bei den Nordens nicht, aber Fee zeigte sich über den Fall Dr. Pfaudler wohl unterrichtet.

»Ich kann nichts dafür, Daniel. Ich war beim Einkaufen, da haben sie nur von ihm geredet«, sagte Fee.

»Das Schlimmste ist ja, dass seine Frau sich mit den Kindern umbringen wollte, aber zum Glück kam ihre Mutter dazu.« Fee machte eine kleine Pause.

»Sie wohnen nur ein paar Straßen weiter. Wie wenig wissen wir von unseren Mitmenschen, Daniel.«

»Ja, mein Liebes, wenn wir uns aber um alle kümmern würden, hätten wir keine Zeit für uns, und was wäre dann?«

»Wenn mir so etwas passieren würde – ich darf gar nicht daran denken«, sagte Fee.

»Brauchst du auch nicht. Dir wird so etwas nicht passieren. Du wirst bis ans Ende meiner Tage meine über alles geliebte Frau bleiben. Ich werde mich niemals betrunken ans Steuer setzen, Feelein, ich schwöre es dir.«

»Aber vielleicht übermüdet. Ich habe auch manchmal Angst, Daniel.«

»Wer hat keine Angst um den Menschen, den man liebt? Was meinst du, wie Frau Jansen sich heute aufgeregt hat, weil die kleine Trixi stolperte und sich eine Platzwunde an der Stirn holte.«

»Das würde mir wohl auch so gehen«, sagte Fee. »Im ersten Schrecken verliert man rasch mal die Nerven.«

Sie selbst war ja schon auf dem Sprung, wenn ihr kleiner Danny mal anders weinte als sonst. Er war ein ganz raffinierter kleiner Bursche und hatte es ganz schnell heraus, dass alle sofort angesprungen kamen, wenn er im Hause war. Einmal war ihm ein kleiner Stolperer über die Terrassentreppe passiert, die jedoch nur zwei flache Stufen hatte und auf weichem Rasen mündete. Danny war das erste Mal allein auf Erkundungsreise gegangen. Wehgetan hatte er sich nicht, nur erschrocken war er. Da hatte er dann ganz anders gebrüllt als sonst.

Fee hatte da aber daran denken müssen, wie viel Ängste sie um ihn auf der Dachterrassenwohnung ausgestanden hätte, denn im Klettern war er jetzt auch schon fix. Natürlich war es praktischer gewesen, über der Praxis zu wohnen, aber hier draußen im Grünen, nahe beim Wald, war es schöner.

Wenn Danny schlief, konnten sie noch in ihrem schönen Garten herumwandern. Lenni, die eigentlich Gerda Kraft hieß, und zuerst nur von Danny Lenni gerufen wurde, als das gute alte Lenchen die Augen für immer geschlossen hatte, sorgte so gut wie nur möglich dafür, dass das Privatleben des Ehepaares nicht gestört wurde.

Doch wenn von der Insel der Hoffnung angerufen wurde, war es schon ein Grund, sie ins Haus zurückzurufen.

Dr. Johannes Cornelius, Fees Vater, der das Sanatorium »Insel der Hoffnung« leitete, hatte neben dem Wunsch, mit seinen Lieben zu sprechen, auch noch ein Anliegen. Allerdings eines, das Daniel einen schweren Seufzer entlockte. Er wollte nämlich wissen, was über Dr. Pfaudlers Unfall bekannt sei.

»Wir wissen selber nicht viel, aber wie dringt diese Nachricht so schnell zu euch?«, fragte Daniel.

Es sei doch eine junge Frau darin verwickelt, erklärte Dr. Cornelius. Marina Sassen. Ihre Mutter befände sich zur Kur auf der Insel und hätte einen Nervenzusammenbruch bekommen, als ihr die Nachricht übermittelt wurde.

»Ich habe bisher nur gehört, dass er mit einer Frau, nicht mit seiner eigenen, von einer Party kam«, erklärte Daniel. »Und das nur, weil ich zu einer Familie gerufen wurde, die Pfaudler ärztlich betreute. Schwere Verletzung hat seine Begleiterin anscheinend nicht davongetragen, aber die Insassen des anderen Wagens wären beide tot, hörte ich.«

»Eine schreckliche Geschichte«, sagte Dr. Cornelius.

»Das kann man wohl sagen«, meinte Daniel.

Ja, da hatte es nicht nur zwei Tote gegeben. Dr. Pfaudlers Frau und zwei Kinder und auch die Mutter jener Marina Sassen waren dadurch in ein schreckliches Geschehen gezogen worden. Und obgleich doch eigentlich völlig unbeteiligt, beschäftigte sich nun auch Daniel Norden mit den Folgen, die dieser Unfall nach sich ziehen würde.

Als Arzt war Pfaudler erledigt. Als Mensch musste er nun bis ans Ende seiner Tage eine Schuld mit sich herumtragen, die niemals gutzumachen war. Ob er sich jetzt Gedanken um seine Frau und seine Kinder machte, die vor einer unsicheren Zukunft standen? Ob jene Marina Sassen sich Gedanken darüber machte, wie viel Leid ihre Affäre mit dem Arzt über andere Menschen brachte?


Auch die Party bei den Jansens wurde von diesem schrecklichen Unfall überschattet. Ein Ehepaar, das mit den Opfern des Unglücks befreundet war, hatte abgesagt. Von ihnen hatte man erfahren, dass sie wohl eine kleine Tochter hinterlassen hatten, die im Alter von Trixi war.

»Ist das nicht grauenvoll«, fragte Almut Jansens Freundin Gudrun Keller. »Es war doch ein adoptiertes Kind. Welches Waisenkind hat schon das Glück, ein solches Elternhaus zu bekommen, so sorglos aufwachsen zu können. Und nun ist es wieder eine Waise.«

Almut wandte sich abrupt um, während jemand fragte, wie denn der Name dieses tödlich verunglückten Ehepaares wäre.

»Osterholt«, erwiderte Gudrun Keller.

Almut wankte auf ihren Mann zu und fasste ihn am Arm. »Mir ist nicht gut, Henrik«, stammelte sie.

Henrik Jensen führte seine Frau sofort in ein Nebenzimmer. Besorgt drückte er sie auf das Sofa. »Du regst dich wegen des Unglücks auf«, sagte er. »Es ist natürlich schrecklich, aber ich kann doch die Gäste nicht vor die Tür setzen.«

»Es wird keinen anderen Gesprächsstoff geben«, stammelte sie. »Ich kann es nicht hören, Henrik. Bitte, entschuldige mich bei den Gästen und sei nicht böse.«

»Aber, Liebling, davon kann doch keine Rede sein. Selbstverständlich legst du dich nieder. Ich werde Dr. Norden anrufen. Du hast dich heute schon wegen Trixi so aufgeregt, das ist es. Du nimmst dir alles schrecklich zu Herzen, auch wenn es um Fremde geht.«

Aber nicht nur deswegen regte sich Almut auf.

Der Name Osterholt hatte sie völlig aus der Fassung gebracht. Während Henrik Jansen seinen Gästen diskret beibrachte, dass seine Frau von einem plötzlichen Unwohlsein befallen sei, wanderten deren Gedanken fünf Jahre zurück.

Sie sah ein großes graues Haus vor sich, das bis zum letzten Platz mit Waisenkindern belegt war. Es lag in einer landschaftlich schönen Gegend und war unter dem anheimelnd klingenden Namen »Sankt Christophorus« bekannt.

Sie hatte sich in dem nahegelegenen Badeort aufgehalten, um sich einer Kur zu unterziehen, da sie sich sehnlichst ein Kind wünschte.

Und da hatte sie eine andere junge Frau kennengelernt, Karin Osterholt, die keine Hoffnung mehr haben konnte, ein Kind zu bekommen, die hierhergekommen war, um eines zu adoptieren. Von ihr hatte Almut erfahren, dass hier neugeborene Babys waren, die von ihren meist unehelichen Müttern schon vor der Geburt zur Adoption freigegeben worden waren.

Und sie hatte auch jenes Baby gesehen, das Karin Osterholt adoptieren würde, ein süßes kleines Mädchen mit schwarzem Haarschopf.

»Ich werde es Almut nennen, weil ich Sie mag«, hatte Karin Osterholz zu ihr gesagt. »Und seien Sie nicht gar zu traurig, wenn Sie kein Baby bekommen, Frau Jansen. Adoptieren Sie auch eines, man kann es lieben, als wäre es das eigene.«

Almut Jansen vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie schluchzte leise und erschüttert in sich hinein.

Ihr Mann trat ins Zimmer. »Die Gäste sind gegangen, Liebes«, sagte er weich.

»Sie hatten auch keine Stimmung. Dr. Norden wird kommen, ich habe ihn angerufen. Warum nur regst du dich so schrecklich auf, mein Herzblatt?«

Er liebte seine Frau über alles. Ihre Ehe war unsagbar glücklich, war es immer gewesen, und einfach vollkommen, seit sie Trixi hatten.

»Osterholt«, hauchte Almut. »Erinnerst du dich denn nicht, Henrik?«

»Osterholt«, wiederholte er fragend. »Es war heute solch eine seltsame Stimmung, jetzt bin ich sehr besorgt um dich!« Da läutete es auch schon.


»Also heute ist wieder mal ein verrückter Tag«, hatte Daniel Norden gesagt, als der Anruf von Henrik Jansen kam. »Aber Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps, Feelein.«

Und wie es so oft im Leben war, gab es eben seltsame Verbindungen zwischen Menschen, die sich nie oder manchmal nur flüchtig gesehen hatten, um sich wieder aus den Augen zu verlieren und dann, durch jene unvorhersehbaren Zufälle ineinander verstrickt zu werden.

Als Daniel zu den Jansens fuhr, musste er an einen Studienkollegen denken, den er sehr gerngehabt hatte. Klaus Öben hieß er, und sie hatten sich oft verabredet, aber sich stets verpasst. Immer war bei einem von ihnen etwas dazwischengekommen. Und dann, so unglaublich das klingen mochte, hatten sie sich Jahre später am Trafalgar Square in London getroffen, so ganz zufällig, fassungslos, wie so etwas möglich sein konnte.

Noch wusste Daniel nicht, wie viel schicksalhafte Zufälle dieser Tag, der nun schon in die Nacht mündete, gebracht hatte, um ihn in ein Gewirr von widersprüchlichsten menschlichen Regungen zu verstricken.

Für ihn war dieser Tag wie so mancher andere gewesen. Er war zu einer kranken Patientin gerufen worden und hatte später die kleine Trixi Jansen verarztet. Dann hatte er gehört, dass Dr. Pfaudler, der ihm ein Fremder war, einen schweren Unfall gebaut hatte. Am Abend hatte er vernommen, dass eine Frau Sassen, die die Mutter von Dr. Pfaudlers Freundin war, zur Kur auf der »Insel der Hoffnung« weilte.

Und nun war er zu Almut Jansen gerufen worden. Still lag das Haus, in dem eine fröhliche Party hatte stattfinden sollen. Dr. Henrik Jansen öffnete ihm selbst.

»Die Gäste sind gegangen, es war einfach keine Stimmung. Das Ehepaar Osterholt war einigen Freunden von uns bekannt.«

»Osterholt?«, fragte Daniel Norden.

»Das Ehepaar, das bei dem Unfall ums Leben kam, den dieser Dr. Pfaudler verursacht hat. Eine böse Geschichte. Ich kann nur sagen, dass ich herzlich froh bin dass Sie unser Hausarzt sind, Herr Dr. Norden. Sie kennen ja meine Frau. Sie regt sich schon über Kleinigkeiten auf, doch dieser Unfall geht ihr mächtig nahe. Sie hat Frau Osterholt gekannt, und ich erinnere mich auch jetzt, dass dies einige Jahre zurückliegt, als meine Frau zur Kur war. Es sind ja unbegreiflich tragische Umstände, und empfindsam wie meine Frau ist, scheint sie jetzt gewisse Parallelen zu ziehen. Wir sprechen später noch darüber. Geben Sie ihr bitte erst ein Beruhigungsmittel.«

»Bitte, lass mich mit Dr. Norden allein«, sagte Almut. »Schau nach Trixi, Lieber.«

Dr. Norden sah, dass Almut Jansen übermäßig erregt war. Ihr Puls überschlug sich fast. Aber sie wollte kein Beruhigungsmittel. Sie wollte mit ihm sprechen.

»Ich habe diese Frau Osterholt einmal kennengelernt«, sagte sie schleppend und immer wieder von Schluchzen unterbrochen. »Sie hatte das kleine Mädchen adoptiert –. Ach, ich rede durcheinander. Ich muss mich sammeln, damit Sie mich verstehen können. Es ist fünf Jahre her. Frau Osterholt konnte kein eigenes Kind bekommen. Wir wohnten in einem Kurhaus. Wir sprachen so miteinander, wie Frauen sprechen, die die gleichen Sorgen haben. Karin Osterholt war damals jedoch schon entschlossen, ein Kind zu adoptieren. Wenn sie selbst doch noch welche bekämen, würden sie dies auch noch mit durchbringen, meinte sie. Sie war eine so lebensbejahende Frau. Ja, sie flößte mir Mut ein, auch eine Adoption zu wagen. Dr. Norden, Trixi ist auch ein adoptiertes Kind. Nachdem Karin Osterholt das Baby geholt hatte, sprach ich gleich mit meinem Mann. Er war einverstanden. Vierzehn Tage später holten wir Trixi auch aus dem Haus, in dem Mütter ihre Kinder einfach so abgaben. Mütter, die das Glück hatten, ein Kind gebären zu können und es nicht wollten. Trixi wurde unser Kind. Wir lieben es unendlich. Es ist unser Kind! Nun verstehen Sie wohl, warum ich so ängstlich bin. Immer habe ich Angst, es könnte uns wieder genommen werden. Es wäre mein Tod.«

Dr. Norden Bestseller 20 – Arztroman

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