Читать книгу Dr. Norden Bestseller 43 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Mitternacht war längst vorbei, als Manfred Reisner leise vor sich hin pfeifend von einer fröhlichen Geburtstagsfeier im Hotel Waldhof heimwärts ging. Die frische Nachtluft tat ihm gut, denn es war doch ziemlich viel getrunken worden. Aber sehr lustig war es gewesen, und für Peter Waldhof, den Sohn des Hoteliers, zugleich der Abschied vom Junggesellenleben.

Übermorgen sollte Peters Hochzeit stattfinden, und zum ersten Mal in seinem gerade dreiundzwanzigjährigen Leben sollte Manfred Reisner, der Sohn des Brauereibesitzers, der tatkräftig zur Sanierung des Hotels beigetragen hatte, Trauzeuge sein.

An diesem Abend waren die Freunde, dreizehn an der Zahl, unter sich gewesen, ohne Damen, um den zu feiern und aus dem Kreis der Junggesellen zu verabschieden, der zuerst den Weg zum Traualtar gehen wollte.

Manfred war nicht abergläubisch, obgleich er als Dreizehnter erschienen war. Er hatte sich mit seinen Freunden und Kommilitonen köstlich amüsiert und war auch auf dem Heimweg noch in beschwingter Stimmung.

Dem sollte jedoch ein Ende gesetzt werden, als er sich seinem Elternhaus bis auf etwa zwanzig Meter genähert hatte.

Aus dem Dunkel sprangen zwei schattenhafte Gestalten auf ihn zu. Einer versuchte, ihm die Arme auf dem Rücken zusammenzudrücken, aber Manfred konnte ihn abwehren. Dann traf ihn ein Schlag am Kopf, der ihn taumeln ließ, doch zu Boden ging er auch jetzt noch nicht, er war groß, kräftig und sportgestählt.

»Schlag zu«, hörte er jemanden zischen, und dann traf ihn ein so harter Schlag, dass ihm die Sinne schwanden.

»Jetzt haben wir ihn«, sagte der Größere, doch da leuchteten die Scheinwerfer eines Wagens auf, der um die Ecke bog.

»Verflucht, hauen wir lieber ab«, stieß ein anderer hervor und trat Manfred noch einmal in den Magen, mit aller Wucht und voller Wut, und dann rannten die beiden los, verschwanden im Dunkel der Nacht, bevor die Scheinwerfer des Wagens Manfred Reisner erfassten, der leblos am Rande der Fahrbahn lag.

Dr. Daniel Norden kam von einem nächtlichen Krankenbesuch. Eine Stunde hatte er bei einem Sterbenden ausgeharrt, der ein langes, beschwerliches Leben hinter sich gebracht hatte, und dem der Tod ein schmerzhaftes Siechtum ersparte. Damit hatte er die Angehörigen trösten können.

Nun hatten seine Scheinwerfer dunkle Gestalten erfasst, die es sehr eilig zu haben schienen, diesem hellen Licht zu entkommen. Dann aber sah Dr. Norden die zusammengekrümmte Gestalt am Straßenrand und trat auf das Bremspedal.

Seine Gedanken überstürzten sich. Es konnte eine nächtliche Rauferei unter Saufkumpanen gewesen sein, auch das war nichts Ungewöhnliches. Aber immerhin lag da ein hilfloser Mensch, und wer es auch sein mochte, er konnte ihm seinen Beistand nicht versagen.

Doch sein Erschrecken war groß, als er den Bewusstlosen erkannte. Erst vor ein paar Wochen hatte er Manfred Reisner wegen einer Sehnenzerrung behandelt, die sich der junge Mann beim Tennisspielen zugezogen hatte.

Dr. Norden wurde auch konsultiert, wenn den übrigen Familienangehörigen etwas fehlte, was allerdings äußerst selten der Fall war. Die Reisners brauchten selten einen Arzt.

Hier aber war schnellste Hilfe nötig. Das festzustellen, brauchte Dr. Norden nur wenige Sekunden.

Die Straße lag wie ausgestorben. Eine Telefonzelle war nicht in der Nähe. Für den Arzt war es das Naheliegendste, die Angehörigen von Manfred Reisner zu alarmieren, dann brauchte er Fremden keine langen Erklärungen zu geben.

Er lief zur Gartentür und drückte auf die Klingel. Dabei behielt er immer den Bewusstlosen im Auge, doch kein Laut, keine Schritte störten die nächtliche Stille, bis eine Stimme, die verschlafen klang, an Dr. Nordens Ohr tönte.

»Bist du es, Manni? Hast du den Schlüssel vergessen?«, fragte die Stimme durch die Sprechanlage.

»Hier spricht Dr. Norden«, erwiderte er hastig. »Benachrichtigen Sie schnell den Notarzt. Hier liegt ein Verletzter.«

Er wollte nicht sofort sagen, dass der Verletzte der Sohn des Hauses war. Die Stimme hatte er als die von Melanie Reisner erkannt, der jüngeren Schwester Manfreds.

»O Gott«, sagte die nur noch und dann nichts mehr. Aber Dr. Norden kannte Melanie als ein sehr sportliches und durchaus nicht zimperliches Mädchen und hoffte auf ihre schnelle Reaktion. Er hoffte nicht umsonst. Bald vernahm er eilende, leichtfüßige Schritte, während er schon wieder bei Manfred Reisner kniete und so gut wie möglich erste Hilfe leistete.

Dann kniete neben ihm Melanie. »Manni«, schrie sie auf. »Was ist geschehen?«

»Er wurde niedergeschlagen«, erwiderte Dr. Norden. »Haben Sie den Notarzt benachrichtigt?«

»Ja, mein Gott, wer war das? Manni, hörst du mich? Melly ist da.«

Aber Manfred hörte nichts, und da kam auch schon der Notarztwagen.

»Er muss schleunigst in die Klinik«, sagte Dr. Norden zu Melanie. »Und Sie müssen zurück ins Haus, sonst holen Sie sich eine Erkältung.«

Melanie trug nur einen dünnen Morgenmantel, aber sie hörte nicht auf Dr. Nordens Ermahnung. Wie versteinert stand sie, während er mit dem Kollegen sprach und Manfred denn auf die Trage gebettet wurde, was mit aller Vorsicht geschah.

»Ich komme nach«, sagte Dr. Norden zu dem Notarzt, dann griff er nach Melanies Arm und schob das bebende Mädchen vor sich her.

»Wir müssen Ihre Eltern verständigen und auch die Polizei«, sagte er.

Sie hatten das Haus betreten. Eine tiefe Stimme schallte ihnen entgegen.

»Was ist denn los? Findest du den Eingang nicht, Manfred?«

»Reg dich nicht auf, Paps«, sagte Melanie mit trockenem Schluchzen. »Es ist etwas passiert. Komm bitte herunter.«

Der Hausherr erschien im dunkelblauen Hausmantel. Gleich hinter ihm auch Frau Reisner. Sie starrte Dr. Norden an.

»Sie?«, stieß sie hervor. »Ist Manni verunglückt?«

»Ihr Sohn wurde auf der Straße niedergeschlagen«, erklärte Dr. Norden, denn ein langes Herumgerede hätte die Spannung nur noch verschlimmert.

»Wo ist er?«, fragte Ernst Reisner rau.

»Schon auf dem Wege zur Behnisch-Klinik. Sie werden schon dort sein«, erwiderte Dr. Norden. »Ihre Tochter hat den Notarzt schnell verständigt.«

»Ich verstehe das nicht, ich verstehe das nicht«, schluchzte Frau Reisner. »Wir müssen zu ihm, Ernst.«

»Nimm dich jetzt zusammen, Hanni«, sagte Ernst Reisner. »Dr. Norden wird uns erklären, was passiert ist.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Daniel Norden. »Ich kam ganz zufällig durch diese Straße, gerade von einem Krankenbesuch.«

»Glücklicherweise«, warf Melanie leise ein, und darauf fragte sich Dr. Norden, was sonst wohl mit Manfred Reisner noch geschehen wäre.

»Ich habe nur gesehen, wie zwei schattenhafte Gestalten davonliefen«, fuhr Dr. Norden fort. »Ich hielt an und erkannte Ihren Sohn. Da habe ich geläutet und …«

»Ich habe dann den Notarzt angerufen«, warf Melanie mit versagender Stimme ein. »Aber ich wusste doch nicht, dass es um unseren Manni geht.«

»Ich hielt es für besser so«, sagte Dr. Norden. »Es war keine Zeit zu verlieren.«

»Ist es so schlimm?«, fragte Hanni Reisner aufweinend.

»Ich kann im Augenblick noch nichts sagen. Ich fahre zur Klinik. Dann werde ich Sie informieren.«

»Nein, wir kommen«, erwiderte Ernst Reisner heiser. Melanie nickte stumm.


Ernst Reisner ließ sich nicht so schnell anmerken, wenn ihn etwas aus dem Gleichgewicht brachte und behielt auch jetzt die Beherrschung. Er war ein großer wuchtiger Mann, dem man ansah, dass ihm das Bier schmeckte, das in seiner Brauerei gebraut wurde. Doch seine Grundsätze waren: Alles in Maßen genießen und immer den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Die Tatsache, dass seinem Sohn Schlimmes widerfahren war, ließ sich nicht wegleugnen, aber Dr. Norden hatte gesagt, dass Manfred lebe, und dies allein zählte jetzt für ihn.

»Jammere nicht, Hanni, damit machst du es nicht besser«, sagte er zu seiner Frau, als sie in der Halle der Behnisch-Klinik warteten.

Melanie verhielt sich ganz still. Sie kauerte in einem Sessel und starrte vor sich hin.

Dr. Norden sprach mit Dr. Behnisch. Sie waren Duzfreunde, kannten sich schon von der Universität her und arbeiteten in schwierigen Fällen immer Hand in Hand.

Dr. Norden war Arzt für Allgemeinmedizin, Dr. Behnisch war Chirurg und Besitzer dieser Privatklinik, die er Dank eines reichen Onkels, der ihm ein großes Erbe hinterlassen hatte, immer auf den modernsten Stand ausstatten konnte.

»Er ist übel zugerichtet«, sagte Dr. Behnisch. »Aber er ist ein harter Bursche und sehr widerstandsfähig. Das war nicht nur ein Straßenraub, Daniel?«

»Was sonst?«, fragte Dr. Norden bestürzt.

»Nur so ein Gedanke«, sagte Dr. Behnisch sinnend. »Er hat einen reichen Vater. Vielleicht wollte man ihn entführen. Diese gemeine Unsitte reißt langsam ein.«

»Daran habe ich noch nicht gedacht«, sagte Daniel Norden. »Erschreck seine Eltern nicht mit solchen Vermutungen. Sie haben auch noch eine Tochter.«

»Rede du mit ihnen. Du kennst sie bereits. Ich habe kein Talent, meine Gedanken zu verbergen. Wie viel Millionen stehen hinter Reisner?«

»Keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

»Es sieht jedenfalls nicht so aus, als wollten ein paar windige Straßenräuber ihn nur bestehlen. Geldbeutel und Brieftasche hat er noch bei sich.«

»Die Burschen wurden durch mich gestört. Sie liefen davon, als sie meinen Wagen kommen sahen.«

»Sie liefen davon«, wiederholte Dr. Behnisch. »Kein Wagen war in der Nähe?«

»Nicht in der Straße. Vielleicht in der Nebenstraße, aber worüber denkst du nach?«

»Dass Reisner ein sehr reicher Mann ist. Wie viel Millionen stehen eigentlich hinter ihm?«

»Keine Ahnung. Sie leben jedenfalls nicht aufwändig. Du denkst doch nicht etwa an eine geplante Entführung?«

»Solche sind doch heute schon an der Tagesordnung. Aber halten wir uns nicht mit Vermutungen auf. Vielleicht kann der junge Mann eine Erklärung geben, wenn er wieder bei Besinnung ist.«

Aber Manfred hatte nicht einmal bemerkt, dass ihm jemand gefolgt war, und er konnte sich nur erinnern, dass er plötzlich von hinten oder von der Seite überfallen wurde und sich heftig zur Wehr gesetzt hatte. Eine Beschreibung der beiden Täter konnte er nicht geben.

Die Ermittlungen der Polizei blieben erfolglos. Manfred war nach der Geburtstagsfeier gemeinsam mit Wolfgang Brix gegangen, einem Studienfreund, der sich das Studium als Taxifahrer verdiente. Wolfgang hatte einen bedeutend kürzeren Heimweg. Er war den Reisners wohlbekannt und über jeden Verdacht erhaben. In dem Zweifamilienhaus, das er mit seiner Mutter bewohnte, hatte auch Kurt Weigel, der seit fünfzehn Jahren als Prokurist bei Ernst Reisner tätig war, seine Wohnung.

Einen so ruhigen und korrekten Mieter zu haben, betrachtete Frau Brix als großes Glück. Früh verwitwet hatte sie ihre liebe Not gehabt, die Hypotheken für das Haus abzubezahlen. Der sehr begabte Wolfgang sollte nicht auf das Chemiestudium verzichten. Er scheute keine Arbeit, um seine Mutter zu entlasten. Mit dem zurückhaltenden Kurt Weigel verstand er sich gut, da auch er ein sehr ernsthafter und intelligenter junger Mann war.

Kurt Weigel war tief bestürzt, als er erfuhr, was Manfred widerfahren war. Er fand es genauso selbstverständlich wie Wolfgang, dass die Ereignisse des Abends von der Polizei recherchiert wurden.

Es kam nichts dabei heraus. Auch die Vermutungen, dass es sich um einen Racheakt gehandelt haben könnte, wurde durch nichts bestätigt. Manfred Reisner war überall beliebt. Keineswegs streitsüchtig, und es gab in seinem Leben bisher auch keine Frau, die mit einem anderen liiert war, und der seinerseits seinem unerwünschten Nebenbuhler einen Denkzettel erteilen wollte.

Man gelangte zu der Überzeugung, dass es sich um Gelegenheitstäter handeln musste, die möglicherweise betrunken waren und auch jeden anderen überfallen hätten, der ihnen in einer stillen Straße in den Weg gekommen wäre.

Vierzehn Tage musste Manfred Reisner in der Klinik bleiben, aber seine Verletzungen waren doch so schwer, dass er sich nur langsam erholen konnte, und da auch Hanni Reisner durch den Schock sehr mitgenommen war, wurde beschlossen, dass Mutter und Sohn ein paar Wochen zur Kur auf die Insel der Hoffnung geschickt werden sollten.

Dieses Sanatorium, das nach den Plänen von Dr. Cornelius, Fee Nordens Vater, geleitet wurde, hatte seinen Namen zu Recht bekommen. Ganz individuell wurde jeder Patient behandelt. Auch ein junger Mann wie Manfred Reisner konnte sich dort in herrlicher Umgebung und unter liebenswerten Menschen wohlfühlen.

War er auch mit gemischten Gefühlen und mehr seiner Mutter zuliebe einverstanden gewesen, so sollte er es nicht zu bereuen haben.


Melanie, achtzehn Jahre jung, eine Frohnatur und ganz die Tochter ihres energischen Vaters, hatte den Schrecken bald überwunden. Manfred lebte, und sie grübelte nicht mehr darüber nach, dass dieser Überfall geplant gewesen sein könnte, wie es die Polizei anfangs vermutet hatte.

Ernst Reisner hatte seine Kinder vernünftig erzogen. Sie hatten immer ihr Taschengeld bekommen, aber damit hatten sie auch auskommen müssen. Ihr Lebensstandard war gutbürgerlich. Es herrschten solide Verhältnisse, und die Kinder hatten sich nie Gedanken gemacht, welches Vermögen hinter dem Namen ihres Vaters stand. Ernst Reisner sprach nicht darüber.

Als Chef erfreute er sich großer Beliebtheit, man konnte mit allen Sorgen zu ihm kommen, und seine Angestellten hielten ihm die Treue. Einen Wechsel gab es nur, wenn eine Frau heiratete oder ein Kind bekam.

Melanie wäre nach dem Abitur, das sie spielend gemacht hatte, gar nicht auf den Gedanken gekommen, sich nun nur dem süßen Nichtstun hinzugeben.

Studieren wollte sie nicht. Sie war ein romantisches Mädchen, das sich wünschte, bald dem Mann zu begegnen, den sie lieben, heiraten und sich als Vater ihrer Kinder wünschen würde.

Da nun ihre Mutter und Manfred auf der Insel der Hoffnung weilten, fuhr sie jeden Morgen mit ihrem Vater in die Brauerei und machte sich im Büro nützlich.

Sie ahnte nicht, wie glücklich Kurt Weigel darüber war. Er kannte Melanie seit ihrem dritten Lebensjahr. Er liebte sie nahezu abgöttisch, ohne dass jemand dies wusste. Niemals hätte der stille, verschlossene Kurt Weigel seine Gefühle preisgegeben.

Melanie hatte schon als kleines Mädchen sein einsames Herz gewonnen. Sie war zutraulich und begegnete ihm ohne Vorurteile, ohne die Distanz, die andere wahrten, weil er selbst nicht die Fähigkeit besaß, anderen Menschen unbefangen zu begegnen.

Bei Melanie war es anders gewesen. Für sie war er der gute Onkel, der zu jedem Fest ein hübsches Geschenk für sie hatte. Alle fanden Kurt Weigel ein wenig und machmal auch sehr wunderlich. Melanie nicht. Sie hatte ihn gern, und ihr Vater freute sich darüber, denn er schätzte seinen Prokuristen.

Kurt Weigel hatte Melanie heranwachsen sehen. Aus dem putzigen kleinen Mädchen war eine bildhübsche junge Dame geworden, die nicht ahnte, welche Sorgen sich Kurt Weigel machte, dass sie an den falschen Mann geraten könnte. Melanie war unbefangen, gutgläubig und unverdorben. Für sie war Kurt Weigel ein netter älterer Herr, der Generation ihres Vaters zuzuordnen, doch nicht so kräftig und vital wie dieser, eher immer kränklich wirkend.

Er tat Melanie leid, und gerade deshalb war sie immer ganz besonders nett zu ihm.

Mittags wollte sie mit ihrem Vater zum Essen gehen, wie jeden Tag, seit die Mutter und Manfred auf der Insel der Hoffnung weilten.

»Können wir Herrn Weigel nicht mal einladen, mit uns zu essen, Papa?«, fragte sie ihren Vater.

»Was kommt dir nur in den Sinn«, erwiderte Ernst Reisner schmunzelnd. »Damit brächten wir ihn nur in Verlegenheit. Ich hätte gewiss nichts dagegen, Mäuschen, aber der gute Weigel ist wie eine Schnecke, die gleich in das Haus zurückkriecht, wenn er sich mal persönlich angesprochen fühlt.«

»Ich könnte es doch mal versuchen, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszulocken«, sagte Melanie.

»Und warum das?«, fragte der Vater.

»Ich mag ihn. Er war immer lieb zu mir. Er ist bestimmt schrecklich einsam, Paps.«

»Daran ist er dann aber selbst schuld. Er wohnt bei einer sehr ansehnlichen Witwe, die recht gut zu ihm passen würde, Melly.«

»Aber Wolfgangs Mutter denkt gar nicht daran, sich nochmals an einen Mann zu binden. Ich glaube auch nicht, dass Herr Weigel noch an eine Heirat denken würde.«

»Du denkst anscheinend viel über ihn nach, Kleines.«

»Was wissen wir denn eigentlich von ihm?«, fragte Melanie.

»Dass man sich auf ihn verlassen kann. Er war nicht einen einzigen Tag krank, seit er bei mir ist. Zu seinem Jahresurlaub musste ich ihn jedes Jahr buchstäblich überreden. Er hat nie Vorschuss genommen und sich niemals mit einem Angestellten angelegt.«

»Hast du ihn mal zu uns eingeladen, Paps?«, fragte Melanie.

»Ich habe es vor Jahren mal versucht, aber er hat höflich abgelehnt. Er hat seine Grundsätze, mein Kleines. Bei dir macht er eine Ausnahme, aber dich mochte er ja schon als Baby. Meine Güte, ich habe nichts dagegen, ihn zum Essen einzuladen, wenn es dir gelingen würde, ihn dazu zu bewegen.«

Es gelang Melanie. Dafür sagte Kurt Weigel den Termin ab, den er mit Dr. Norden verabredet hatte. Das erfuhr Melanie allerdings nicht. Sie wusste auch nicht, dass Kurt Weigel auch ein Patient von Dr. Norden war.


»Herr Weigel kann heute nicht kommen, Herr Doktor«, sagte Loni, die Sprechstundenhilfe. »Er hat eben angerufen.«

Dr. Nordens Augenbrauen schoben sich zusammen. »Haben Sie einen neuen Termin vereinbart?«, fragte er.

»Ja, für morgen«, erwiderte sie.

»Okay, meine Frau wird sich freuen, wenn ich mal früher heimkomme.«

»Beschreien Sie es nicht«, sagte Loni, als das Telefon läutete.

Aber zum Glück wurde Dr. Norden nicht zu einem dringenden Hausbesuch bestellt. Eine Privatpatientin wollte nur einen Termin vereinbaren.

»Ich verschwinde«, sagte Dr. Norden und nickte Loni freundlich zu. »Gehen Sie in die Klause zum Essen, und lassen Sie es auf meine Rechnung schreiben, Loni. Sie haben ziemlich abgenommen.«

»Das wird gut sein«, erwiderte Loni. »Ich möchte auch mal wieder ein schickes Kostüm tragen.«

Sie lachten beide. Loni war ein bisschen mollig gewesen, aber sie hatte sehr schnell wieder abgenommen, und weil sie nun auch Anzeichen weiblicher Eitelkeit zeigte, war Dr. Norden recht zufrieden, denn seiner Ansicht nach sollte eine Frau in Lonis Alter ruhig noch eitel sein.

Loni hatte an diesem Tag auch ganz besondere Gelüste. Sie aß gern Fisch, und den sollte es, so hatte sie es gehört, im Hotel Waldhof in allen Varianten geben.

Einige Zeit hatte das Hotel keinen besonderen Ruf gehabt. Aber seit der Juniorchef Peter Waldhof, seine junge Frau Monika und der neue Geschäftsführer Paolo Franchetti den gar zu eigensinnigen Senior abgelöst hatten, ging es aufwärts.

Richtig ins Gespräch gekommen war das Hotel Waldhof jedoch erst, nachdem der Überfall auf Manfred Reisner stattgefunden hatte. Die Zeitungen hatten von der Geburtstagsfeier und dem Junggesellenabschied Peter Waldhofs berichtet, dann auch von der Hochzeit, an der Manfred leider nicht als Trauzeuge, wie es vorgesehen war, fungieren konnte. Für ihn war Paolo Franchetti eingesprungen.

Und weil man dann auch zu berichten wusste, dass dieser blendend aussehende Italiener als Partner von Melanie Reisner im gemischten Doppel am Tennisturnier teilnehmen würde, war auch Lonis Interesse am Hotel Waldhof erwacht.

Sie kannte Melanie und hatte das frische, natürliche Mädchen sehr gern. Gegen Italiener hatte sie allerdings eine Antipathie, die sie sich jedoch nicht erklären konnte.

Loni hörte von redseligen Patientinnen so manches. Vieles vergaß sie rasch wieder, manches blieb ihr im Gedächtnis haften. Den Überfall auf den netten jungen Manfred Reisner fand sie verabscheuungswürdig. Insgeheim vermutete sie jedoch, dass es in seinem Freundeskreis doch einen üblen Burschen geben könnte, der ihm an den Kragen wollte.

Loni las gern Kriminalromane und dachte sich dann vor dem Einschlafen auch selbst spannende Geschichten aus.

Der Überfall auf Manfred Reisner beschäftigte ihre Fantasie noch immer. Auch sie neigte dazu, es als eine missglückte Entführung zu betrachten, und wenn nicht dies, dann als an einen Racheakt, wie auch die Polizei vermutet hatte.

Loni neigte dazu, hinter jedem unerforschten Motiv eine geheimnisvolle Frau zu suchen.

Jedenfalls wollte sie nun heute, da ihr unvorhergesehen eine lange Mittagspause beschert wurde, mal das Hotel Waldhof aufsuchen und dort ein so köstliches Seezungenfilet essen, von dem eine Patientin ihr vorgeschwärmt hatte. Allerdings hatte diese schon überreife Dame auch von dem Geschäftsführer geschwärmt, diesem Franchetti, der Melanie Reisners Tennispartner war. Sie konnte sich diesen Mann ja mal anschauen und nicht alles nur ihrer Fantasie überlassen.

Gewissenhaft schaltete sie das Telefon auf den Anrufbeantworter um, bevor sie die Praxis verließ, setzte sich dann in ihren Kleinwagen, den sie überaus vorsichtig aus der Tiefgarage steuerte, immer noch ein bisschen ängstlich, irgendwo anzuecken.

Erleichtert war sie dann auch, dass nicht allzu viel Verkehr war.

Den Führerschein hatte sie zwar schon vor zwanzig Jahren gemacht, aber selbst gefahren war sie lange nicht, bis es Dr. Norden dann doch gelungen war, sie zu überreden, sich einen Wagen zu kaufen.

Da es noch ziemlich früh war, bekam sie leicht noch einen Platz, und der wirklich sehr attraktive Geschäftsführer winkte auch sogleich den Ober herbei.

Früher war Loni weit weniger selbstsicher gewesen, doch in Dr. Nordens Praxis hatte sie eine gute Schule durchgemacht, und Dr. Norden hatte ihr auch dabei geholfen, sich selbstbewusster zu geben.

Es war ein sehr gepflegtes Publikum, das sich nach und nach einstellte. Lonis Augen weiteten sich, als sie dann Ernst Reisner und seine Tochter Melanie gewahrte, aber noch mehr staunte sie, dass sich in deren Begleitung Kurt Weigel befand.

Den kannte sie nämlich auch aus Dr. Nordens Praxis, aber als sein Blick nun auf sie fiel, schien er sehr in Verlegenheit zu geraten. Er grüßte höflich, aber sehr zurückhaltend.

Melanie und Ernst Reisner hatten weder dies noch Loni bemerkt, da sie von Paolo Franchetti, dem Geschäftsführer, schon zu einem entfernter gelegenen Tisch geleitet wurden.

Diesen Gästen widmete der glutäugige Italiener besondere Aufmerksamkeit.

Ernst Reisners Augenbrauen hoben sich unwillig, als er den feurigen Blick bemerkte, den Franchetti Melanie zuwarf. Er äußerte sich aber in Kurt Weigels Gegenwart nicht.

Noch immer war er überrascht, dass sein Prokurist die Einladung angenommen hatte. Melanie schien bei ihm tatsächlich Wunder zu vollbringen, denn manchmal lächelte er sogar.

Nun, jedenfalls war es nicht anzunehmen, dass Melanie an ihm als Mann interessiert war, denn dazu war er doch zu unscheinbar und auch zu alt. Aber umgekehrt …, nein, darüber wollte Ernst Reisner nicht nachdenken. Es war zu absurd, dass dieser stille, korrekte Weigel die reizende Tochter seines Chefs lieben könnte.

Dennoch war es so. Kurt Weigel liebte Melanie abgöttisch. Wunschlos zwar, aber bereit, alles für sie zu tun, vor allem sie vor Männern zu beschützen, die ihrer nicht wert waren.

Ihm bereitete es Höllenqualen, diese Blicke zu sehen, mit denen Paolo Franchetti Melanie betrachtete.

Appetit schien er überhaupt nicht zu haben, und Ernst Reisner stellte sogar fest, dass er jetzt ausgesprochen krank aussah, während Melanies Gedanken abwesend zu sein schienen.

Ihr wurde es gar nicht bewusst, dass sie Paolo ein besonders betörendes Lächeln schenkte. Auch das entging ihrem Vater nicht, und seine Miene verdüsterte sich noch mehr.

So wurde dieses Essen sehr schweigsam beschlossen, während Loni das ihre genoss, wenngleich sie sich auch Gedanken über Melanie und den feschen Italiener machte.

Und auch über Kurt Weigel, der heute den Termin bei Dr. Norden ja anscheinend wegen dieser Verabredung abgesagt hatte.

Merkwürdig kam ihr das schon vor, denn bisher war dieser Patient immer sehr pünktlich erschienen und hatte auch alle Termine eingehalten. Ziemlich oft war er in letzter Zeit in der Praxis gewesen, und da sie schon einige medizinische Kenntnisse gesammelt hatte, wusste sie auch, dass Kurt Weigel ein kranker Mann war.


Melanie hatte sich von ihrem Vater und Kurt Weigel getrennt, die gemeinsam wieder zur Brauerei fuhren, während Melanie sich zum Tennisplatz begab. Sie wusste, dass sie dort Paolo treffen würde, der seine Mittagspause dazu benutzte, um mit ihr für das Turnier zu trainieren.

Mit ihrem Vater hatte sie nicht mehr gesprochen, aber es war ihr doch aufgefallen, dass er sie sehr merkwürdig angesehen hatte, und darüber machte sie sich Gedanken, während sie auf Paolo wartete, der zehn Minuten später kam.

Mit einem charmanten Lächeln küsste er ihr die Hand.

»Wer war denn dieses Bleichgesicht?«, fragte er dann spöttisch. »Doch nicht ein Verehrer von dir, Carissima?«

»Was denkst du«, erwiderte sie auflachend. »Unser Prokurist. Er kannte mich schon als Baby.«

»Und hat dich mit den Augen verschlungen, während er mir Blicke zuwarf, die töten könnten.«

»Ach, das bildest du dir doch nur ein«, sagte sie leichthin. »Der gute Weigel kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Es mag nur sein, dass er jeden Mann, dem ich zulächle, genau unter die Lupe nimmt. Er ist misstrauischer als Paps.«

»Nun, dein Vater hat mich auch nicht gerade freundlich gemustert«, sagte Paolo.

»Er wird mich wohl noch ins Gebet nehmen«, sagte Melanie schelmisch und unbeschwert.

»Und was wirst du ihm sagen?«

»Dass du mir sehr gut gefällst. Zufrieden?«

»Vorerst schon. Ich möchte viel öfter mit dir beisammensein.«

»Du bist doch ziemlich eingespannt. Oft hast du nicht Zeit. Und ich muss mich jetzt halt um Paps kümmern, solange Mami und Manfred noch fort sind.«

»Wird diese Geschichte eigentlich noch weiter verfolgt?«, fragte Paolo.

Melanie zuckte die Schultern. »Es wird wohl im Sande verlaufen, da es überhaupt keine Zeugen gab. Ich bin nur froh, dass Manni nicht noch Schlimmeres geschehen ist.«

Sie begaben sich auf den Tennisplatz. Paolo war ein sehr guter Spieler, und Melanie gab sich die erdenklichste Mühe, ihm gerecht zu werden, aber plötzlich verspürte sie einen heftigen Schmerz im Arm.

»Au!«, rief sie aus und ließ den Schläger fallen.

»Was ist denn?«, erkundigte sich Paolo besorgt.

»Eine Wespe hat mich gestochen. Verflixt noch mal«, sagte Melanie. »Himmel, tut das weh.«

Ihr Arm schwoll zusehends an. Tränen traten ihr in die Augen.

»Das hat uns gerade noch gefehlt, so kurz vor dem Turnier«, sagte Paolo.

»Ich muss gleich zu Dr. Norden. Er wird es schon in Ordnung bringen. Paolo, es tut irrsinnig weh.«

»Ich bringe dich zum Arzt«, sagte er, aber sein Gesicht nahm jetzt einen mürrischen Ausdruck an. Melanie bemerkte es nicht, und gleich zeigte er sich auch wieder besorgt.

Er nahm ihren Arm. Als sie zu seinem Wagen gingen, einem sehr teuren Modell neuester Bauart, folgten ihnen viele Blicke. Diese galten jedoch nur Paolo, und einige Blicke aus Frauenaugen zeigten unverhüllte Boshaftigkeit, denn Melanie Reisner war seit einigen Wochen das meistbeneidete Mädchen im Tennisclub.

Melanie hatte irrsinnige Schmerzen. Sie konnte den Tränen nicht Einhalt gebieten, obgleich sie gewiss nicht wehleidig war.

Dass Paolo sie nicht in die Praxis begleitete, empfand sie besonders schmerzlich.

»So viel Zeit habe ich nicht, Melanie«, sagte er. »Es wird sicher länger dauern, und meine Mittagspause ist bald zu Ende. Hoffentlich ist der Arm bald wieder in Ordnung.«

Leicht strich er ihr über die Wange.

»Es ist ein guter Arzt?«, fragte er.

»Ja, ein sehr guter«, erwiderte sie stockend.

»Sag mir Bescheid, Carissima.« Sie nickte.


Loni war sehr erschrocken, als Melanie mit verweintem Gesicht vor ihr stand. Sie konnte schon gar nichts mehr sagen und deutete nur auf ihren Arm.

»Guter Gott«, rief Loni aus, und gleich sagte sie Dr. Norden Bescheid.

»Das sieht ja böse aus«, sagte auch er. Vor allem stimmte es ihn besorgt, weil Melanie sichtlich unter schweren Kreislaufstörungen litt.

Er brachte sie ins Behandlungszimmer und gab ihr eine Spritze.

»Jetzt bleiben Sie erst ein paar Minuten liegen«, erklärte er. »Der Schmerz wird bald nachlassen.«

Was dann später geschah, nahm sie gar nicht richtig wahr. Der Schmerz ließ wirklich nach, auf den Arm legte Dr. Norden einen kühlenden Verband, aber bewegen konnte sie den überhaupt nicht mehr. Sie lag da und konnte nichts mehr denken.

Wie lange sie in diesem Raum lag, wurde ihr nicht bewusst. Sie war eingeschlafen unter der Wirkung der Injektion.

Dr. Norden kam wieder herein und fühlte ihren Puls. »Ich bringe Sie jetzt heim, Fräulein Reisner«, sagte er.

Benommen erhob sie sich, unsicher stand sie auf ihren Füßen.

»Ich muss doch zum Turnier wieder fit sein«, murmelte sie.

»Wann soll das sein?«, fragte er nachsichtig.

»Nächste Woche.«

»Ja, das Turnier werden Sie wohl absagen müssen«, erklärte er. »Der Arm braucht Ruhe. Kraft würden Sie ohnehin nicht haben.«

»So ein Pech«, sagte sie. »Ein Unglück kommt wirklich nicht allein.«

Er war leicht irritiert. Als oberflächlich hatte er Melanie nie eingeschätzt, und diesen Wespenstich mit dem zu vergleichen, was ihrem Bruder widerfahren war, erschien ihm doch übertrieben. Allerdings war solch ein Stich nicht leichtzunehmen.

»Mein Partner hat auf mich gezählt. Es ist ein gemischtes Doppel, und wir hatten gute Chancen.«

»Mit diesem Arm würden Sie das Doppel gewiss nicht gewinnen«, sagte Dr. Norden.

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Dann sollte es wohl so sein«, sagte sie bekümmert. »Ich kann den Arm auch kaum heben. Es ist ja nicht das erste Mal, dass mich eine Wespe gestochen hat, aber so schlimm war es noch nie.«

Für sich meinte Dr. Norden, dass sie noch Glück gehabt hatte und vor allem ein gesundes Herz, denn manch einer war schon an einem Wespenstich gestorben, wenn der Kreislauf nicht mehr mitspielte. Doch das sagte er nicht, um ihr nicht Angst einzujagen.

Als sie vor der Villa Reisner hielten, ging es ihr schon ein bisschen besser.

Resi und Anton, das Hausmeisterehepaar, waren jedoch sehr erschrocken, als Melanie von Dr. Norden hereingebracht wurde.

»Sie legen sich am besten gleich nieder, und wenn es morgen besser ist, kommen Sie bitte in die Praxis. Wenn nicht, rufen Sie an, Fräulein Reisner«, sagte Dr. Norden. »Und bitte keinen Alkohol trinken.«

»Ich trinke nie«, erwiderte sie irritiert.

»Das habe ich auch nur vorsorglich gesagt. Manchmal hat man ja in solchen Situationen Appetit auf ein Glas Sekt oder Wein.«

»Ich habe überhaupt keinen Appetit. Ich fühle mich hundeelend«, murmelte sie.

Sie wollte dann noch Paolo anrufen, aber auch dazu fühlte sie sich zu schwach. Sie ging in ihr Zimmer und legte sich ins Bett. Als ihr Vater kam, schlief sie.

Resi berichtete, was geschehen war. Ernst Reisner ging sofort besorgt zu Melanie und setzte sich an ihr Bett, bis er von Resi zum Telefon gerufen wurde.

Doch dieser Anruf verärgerte ihn. Es war Paolo, der sich nach Melanies Befinden erkundigen wollte. Sehr höflich und in bestem Deutsch tat er das, aber Ernst Reisner erwiderte ihm nur kurz angebunden, dass Melanie schlafe und nicht gestört werden dürfe.

Während er dann wieder an Melanies Bett saß, dachte er über diesen Italiener nach. Er hatte nichts gegen Ausländer, solange sie nicht seine private Sphäre störten.

Er hatte auch gehört, dass Paolo Franchetti ein sehr tüchtiger und cleverer Geschäftsführer war und es vor allem ihm zu verdanken war, dass das Hotel Waldhof wieder solchen Aufschwung genommen hatte, aber ihm war auch nicht entgangen, dass überwiegend weibliche Gäste am Mittag dort zu verzeichnen gewesen waren und erst recht nicht, mit welchen Blicken Paolo seine Tochter bedacht hatte.

So weit durfte es nun doch nicht gehen nach seiner Meinung, und er gewann diesem Wespenstich auch einige Vorteile ab, als Melanie ihm dann sagte, dass sie zu dem Turnier nicht antreten könne.

Es ging ihr nun zwar schon bedeutend besser, aber der Arm war immer noch dick geschwollen und unbeweglich.

»Dann wird sich dieser Franchetti eben eine andere Partnerin nehmen müssen, wenn er so erpicht auf das Turnier ist«, sagte er.

»Ich war erpicht auf das Turnier, Paps«, erwiderte Melanie.

»Bist du es auch auf deinen Partner?«, fragte er rau. Umschweife liebte er nicht.

»Was hast du denn gegen Paolo?«, fragte Melanie trotzig.

»Er ist mir ein bisschen zu glatt«, erwiderte Ernst Reisner.

»Nur weil er gut aussieht und gepflegt ist? Du magst es doch sonst gern, wenn junge Männer nicht salopp herumlaufen. Oder hast du etwas gegen ihn, weil er Italiener ist?«

»Ich habe nichts gegen ihn, solange du dich nicht ernsthaft für ihn interessierst, Melanie.«

Sie schwieg lieber. Ihr schien es nicht der richtige Zeitpunkt, ihrem Vater klarzumachen, dass sie sehr viel für Paolo übrig hatte.

Insgeheim machte sie sich auch Sorgen, was Paolo nun wohl sagen würde, wenn sie das Turnier nicht spielen konnte. Ob er sich wirklich eine andere Partnerin nehmen würde? Es gab ja genügend gute Tennisspielerinnen, die großen Wert darauf legten, mit ihm zu spielen. Das wusste Melanie sehr genau.

»Ich wäre dir dankbar, wenn du dir erst dann ein Urteil über Paolo bilden würdest, wenn du ihn besser kennst, Paps«, sagte sie trotzig.

»Du willst also, dass ich ihn besser kennenlerne. Das lässt ja tief blicken«, grollte er. »Aber wir wollen jetzt nicht darüber reden. Zuerst soll dein Arm wieder heil werden, meine Kleine, dann sehen wir weiter.«

Schon war Melanie wieder voller Zuversicht. »Danke, Paps«, sagte sie.

»Seit wann kennt ihr euch eigentlich?«, fragte er.

»Seit er in den Club eingetreten ist. Wie du ja weißt, muss man dafür Referenzen bringen.«

»Und wer hat ihm die gegeben?«

»Peter Waldhof. Bist du zufrieden?«

So schnell war er nicht zufriedenzustellen, aber er nahm sich vor, einmal mit Peter Waldhof über diesen Paolo Franchetti zu sprechen.

Er nahm Melanies Hand, die jetzt ganz kalt war vor innerer Erregung.

»Tut es noch sehr weh, Kleines?«, fragte er weich.

»Es geht schon. Sag Mami nichts, wenn sie anruft.«

»Ich werde mich hüten. Wir hatten Aufregungen genug.«

Und später dachte er darüber nach, dass alle Aufregungen irgendwie mit dem Hotel Waldhof zusammenhingen.

Doch er war ein realistischer Mensch und wollte damit keine schicksalhaften Zusammenhänge herausfinden.


Nach einer Nacht tiefen, traumlosen Schlafes fühlte sich Melanie bereits wieder recht wohl. Allerdings war die Schwellung des Armes kaum zurückgegangen. Die Spannung war schon arg, aber sie war nicht wehleidig und vor allem von dem Wunsch beseelt, dieses Missgeschick so bald wie nur möglich behoben zu wissen.

Sie frühstückte, wie jeden Morgen, mit ihrem Vater. Auch mit der linken Hand konnte sie sich ganz gut behelfen.

»Du brauchst mich nicht zu füttern, Paps«, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln. »Dieses Biest scheint sich eine besondere Stelle ausgesucht zu haben. Wie ein Bleiklumpen ist mein Arm.«

»Lass Dr. Norden kommen«, sagte er.

»Ach was, ich fahre in die Praxis. Wenn ich hier herumhocke, spüre ich es nur noch mehr.«

Dr. Norden Bestseller 43 – Arztroman

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