Читать книгу Dr. Norden Bestseller 42 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3

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Dr. Daniel Norden hatte nach Beendigung der Vormittagssprechstunde noch zwei Krankenbesuche gemacht. Er verließ gerade die Wohnung der alten Frau Bringezu, die so schwer unter ihrem Rheuma litt, dass sie schon seit Tagen ihre Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Dr. Norden überlegte noch, wie man ihr am besten beibringen könnte, dass sie in einem Pflegeheim jetzt besser aufgehoben wäre, da vernahm er mehrstimmiges Sirenengeheul. Ein Funkstreifenwagen kam die Straße entlanggerast, ein Notarztwagen folgte, dann wieder ein Streifenwagen, und dann auch noch die Feuerwehr.

Ein Feuer oder ein schwerer Unfall mussten die Ursache sein. Dr. Norden setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und fuhr in die gleiche Richtung. Vielleicht wurde mehr Hilfe gebraucht, als jetzt schon zur Stelle sein konnte.

Weit brauchte er nicht zu fahren, und Entsetzen ergriff ihn, als er sehen musste, dass es der Schulbus war, der mit einem Lastwagen zusammengestoßen war. Schon mehrmals war ihm aufgefallen, wie riskant der Fahrer den Schulbus durch die Straßen steuerte, und einmal hatte auch seine Frau Fee schon die Polizei darauf aufmerksam gemacht.

Doch jetzt dachte Dr. Daniel Norden, selbst Vater zweier kleiner Söhne, nur an die Kinder, die wohl eben erst von der Schule abgeholt worden waren. Er sah dann auch gleich, wie schon Kinder herausgehoben wurden. Er hörte Jammern und Weinen.

Wie immer waren die Neugierigen schon in Mengen zur Stelle, obwohl sonst die Straßen um diese Zeit meist wie ausgestorben lagen. Um sich einen Weg zu bahnen, musste er mehrmals energisch und auch zornig erklären, dass er Arzt sei. Einige erkannten ihn und wichen dann doch verlgen zur Seite.

Auch die Polizisten kannten ihn, und der Notarzt Dr. Hausmann nickte ihm erleichtert zu.

Es wurden nicht viel Worte verloren. Dr. Norden holte nacheinander drei bewusstlose Kinder aus dem Bus. Die auf den hinteren Sitzen schienen mit dem Schock davongekommen zu sein, doch zwei Buben und ein Mädchen hatte es ziemlich schwer erwischt.

Der Fahrer musste unter Mühen aus dem Bus herausgeschweißt werden. Er gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich.

Ein zweiter Krankenwagen kam. Dr. Norden ließ die drei Kinder hineinbetten und leistete Erste Hilfe. Draußen hatten sich auch schon einige Mütter eingefunden, die nach ihren Kindern riefen und weinten, und dann doch manch eines wohlbehalten in die Arme schließen konnten.

Dr. Norden ordnete an, dass man die drei Kinder, die er versorgt hatte, sofort in die Behnisch-Klinik bringen sollte, denn einen der Buben hatte er erkannt. Es war der kleine Henrik Farenhorst. Dr. Norden wurde ganz elend bei dem Gedanken, wie dessen Mutter die Hiobsbotschaft aufnehmen würde, denn Verena Farenhorst war eine übersensible Frau, die schon ein Kind gleich bei der Geburt verloren hatte. Aber nicht allein dem kleinen Henrik durfte seine Fürsorge gelten, auf die anderen warteten auch angstvolle Eltern!

Als er seinen Wagen bestieg, sah er eine junge Frau, blutleer war ihr Gesicht, weit aufgerissen ihre angstvollen Augen. »Corry«, rief sie mit bebender Stimme, »Corry, wo ist mein Kind?«

Ein Polizist sprach auf sie ein. Dr. Norden fuhr dem Krankenwagen nach. Jeder Unfall brachte Grauen und Schrecken mit sich, wenn es aber um Kinder ging, war es Dr. Daniel Norden ganz schwer ums Herz, denn er wusste um die Angst der Mütter.

Eine, die in ständiger Angst lebte, bis ihr Junge daheim war, war Verena Farenhorst. Die ersten Jahre hatte sie Henrik immer selbst zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Als er dann, vor zwei Wochen, in die dritte Klasse kam, hatte er selbst gesagt, dass er jetzt kein kleiner Bub mehr sei und wie die anderen Kinder mit dem Schulbus fahren wolle.

Sie hatte es nicht erlauben wollen, aber er hatte bei seinem Vater Rückhalt gefunden. Vinzenz Farenhorst meinte, dass er selbstständiger werden müsse und außerdem würde er kontaktarm werden, wenn man ihn ständig von den anderen Kindern fernhielte.

Es war wieder einmal zu Spannungen zwischen dem Ehepaar gekommen, wie schon so oft, nachdem Verena vor drei Jahren das heißersehnte Töchterchen bei der Geburt verloren hatte. Vorher hatte man sich kaum eine glücklichere Ehe vorstellen können, aber seither kapselte sich Verena immer mehr ab.

Die Farenhorsts lebten in einem wunderschönen Haus, dicht am Wald, ziemlich weit entfernt von der Fabrik, die Vinzenz Farenhorst gehörte. Mittags kam er jedoch fast immer nach Hause, wenn er nicht gerade mal dazu verpflichtet war, mit wichtigem Besuch zu essen. Er war auch meist pünktlich, und an diesem Mittag war er schon sehr pünktlich gewesen.

»Wo Henrik nur bleibt«, sagte Verena bebend. »Er müsste doch längst da sein.«

»Er wird sich wieder mal mit seiner kleinen Freundin verschwatzt haben«, sagte Vinzenz. »Reg dich doch nicht gleich wieder auf.«

»Ich habe vorhin Sirenen gehört«, flüsterte sie. »Mir ist so bange, Vinzenz.«

Er seufzte in sich hinein. Was soll das nur noch werden, dachte er. Verena war nur ein Schatten ihrer selbst. Nichts war geblieben von ihrer Lebensfreude, ihrem bezwingenden Charme. Er spielt in ihrem Leben nur noch eine Nebenrolle. Alle ihre Gedanken drehten sich um Henrik. Sie hätte ihn am liebsten in ein Glashaus gesetzt, und er wollte doch so gern mit anderen Kindern spielen und herumtollen.

Doch an diesem Tag sollte es Vinzenz Farenhorst bereuen, seiner Frau, wenn auch nur in Gedanken, Unrecht getan zu haben.

Das Telefon läutete. Dr. Norden war am anderen Ende der Leitung.

»Gut, dass Sie da sind, Herr Farenhorst«, sagte er. »Kommen Sie doch bitte in die Behnisch-Klinik. Der Schulbus ist verunglückt. Lebensgefahr besteht für Ihren Jungen nicht, aber er wird einige Wochen in der Klinik bleiben müssen.«

Vinzenz Farenhorst stand wie erstarrt. Angstvoll sah ihn seine Frau an. »Was ist?«, schrie sie auf. »Was ist mit Henrik? Oh, meine Ahnungen. Es ist etwas passiert!«

»Bitte, Verena, verlier die Nerven nicht. Er lebt. Es besteht keine Lebensgefahr, hat Dr. Norden gesagt. Der Bus ist verunglückt. So nimm dich doch zusammen …« Rau stieß er es hervor, da er selbst schwer erschüttert war.

»Du bist schuld!«, schrie sie grell auf, »hätte ich ihn weiter selbst abgeholt …«, ihre Stimme erstickte im Schluchzen. Vinzenz umfasste ihre Schultern und schüttelte sie.

»Rena, ich bitte dich, meinst du, mir geht es nicht nahe? Lass uns in die Klinik fahren. Dr. Norden ist bei Henrik. Er selbst hat angerufen, es sind noch mehr Kinder verletzt.«

»Was gehen mich andere Kinder an«, wimmerte sie. »Mein Junge, mein Henrik, alles, was mir noch geblieben ist …«, und dann sackte sie zusammen.

Wally, das Hausmädchen, kam aufgeregt herbeigelaufen.

»Der Schulbus ist verunglückt«, erklärte Vinzenz heiser. »Ich nehme meine Frau gleich mit in die Klinik. Machen Sie bitte die Türen auf.«

Wally zitterte auch am ganzen Körper und murmelte nur immer: »Ach Gott, ach Gott«, und Vinzenz trug seine Frau zum Wagen.

Er handelte völlig instinktiv. Denken konnte er augenblicklich gar nicht. Er bettete Verena auf den Rücksitz und steuerte dann seinen schweren Wagen ganz vorsichtig durch die stillen Straßen zur Behnisch-Klinik, die ihm wohlbekannt war. Erst vor einem Jahr war Henrik dort am Blinddarm operiert worden, und er durfte jetzt gar nicht daran denken, dass Verena auch da schon einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen war.

Jetzt konnte er wirklich nur beten und hoffen, dass ihn Dr. Norden nicht barmherzig getäuscht hatte.


Franziska Biegler bangte auch um ihre Tochter. Sie war die junge Frau, die Dr. Norden vorhin an der Unfallstelle gesehen hatte. Man hatte ihr inzwischen gesagt, dass ihre Corry auch in die Behnisch-Klinik gebracht worden war.

Franziska verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihr uneheliches Kind recht mühsam als Verkäuferin in einem Textilgeschäft. Es war die einzige Stellung, die sie in diesem Vorort finden konnte. Hier hatte sie ihre kleine Wohnung, und in die Stadt wollte sie nicht fahren, da dann Corinna zu viel allein gewesen wäre.

Franziska liebte ihre kleine Tochter, die gerade erst eingeschult worden war. Sie hatte auch deren Vater geliebt, voller Illusionen und Träume, sie war sehr jung gewesen, voller Hingabe und Vertrauen. Er hatte sie schmählich im Stich gelassen, als sie das Kind erwartete.

Zuerst hatte sie gemeint, nicht mehr leben zu können, dann hatte sie für das unschuldige kleine Wesen leben wollen, dem sie ihre ganze Liebe schenkte. Trotz mancher Entbehrungen hatte Corry eine glückliche Kindheit und eine sehr liebevolle Mutter.

Franziska war kopflos aus dem Geschäft davongelaufen, als sie hörte, dass der Schulbus verunglückt war. Immer kam Corry nach der Schule zu ihr ins Geschäft. Die Bushaltestelle lag von diesem nur zwei Minuten entfernt. Sie gingen dann gemeinsam nach Hause und aßen. Um halb drei Uhr musste Franziska wieder im Geschäft sein. Dann wurde Corry von einer netten, kinderlosen Nachbarin betreut.

Heute war Mittwoch. Da hatte Franziska nachmittags frei. Sie wollte mit Corry in den Tierpark fahren. Einmal im Monat gönnte sie sich das und dem Kind, denn Corry liebte Tiere über alles.

Nun war dieser Mittwoch zu einem schrecklichen Tag in Franziska Bieglers Leben geworden. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie zur Behnisch-Klinik lief. Nur wenig später als Vinzenz Farenhorst kam sie dort an, und sie sah noch, wie er seine Frau in die Klinik trug. Franziska kannte ihn nicht. Reich und arm traf sich in der Halle der Klinik, aber Vinzenz Farenhorst nahm keine Notiz von Franziska Biegler. Verena war noch immer bewusstlos. Sie wurde auf eineTrage gelegt. Dr. Norden und Dr. Jenny Behnisch bemühten sich um sie. Franziska stand einsam und zitternd da, bis Dr. Hausmann auf sie zutrat, der auch die anderen sechs verletzten Kinder hierhergebracht hatte, da die Behnisch-Klinik der Unfallstelle am nächsten lag.

Dr. Hausmann war jung und ein wenig schwerfällig, wenn es darum ging, besorgte Mütter zu trösten. Er hatte ein gutes Herz, aber reden konnte er nicht so gut wie Dr. Norden.

»Sie sind eine Mutter?«, fragte er unbeholfen, als Franziska ihn so hilflos bittend anblickte. Sie nickte wortlos.

»Corinna Biegler heißt meine Tochter«, erwiderte sie mit versagender Stimme. »Sie ist sechs Jahre, blond und hat blaue Augen.«

»Dann wird es wohl das kleine Mädchen sein, das mein Kollege Dr. Norden herbringen ließ«, sagte Dr. Hausmann. »Bitte, regen Sie sich nicht zu sehr auf, Frau Biegler. Für keines der Kinder besteht eine akute Lebensgefahr.«

»Aber Corry ist rhesus-negativ«, stammelte Franziska. »Das Blut …«, wieder wurde sie von Schluchzen geschüttelt.

»Warten Sie«, sagte Dr. Hausmann und eilte davon. Er traf Dr. Behnisch, der gerade aus dem Operationssaal kam.

»Da ist ein Kind mit Blutgruppe rhesus-negativ«, sagte Dr. Hausmann. »Corinna Biegler, sechs Jahre, blond, und …«

»Ja, ist schon gut«, fiel ihm Dr. Behnisch ins Wort. »Da brauchen wir keine Blutübertragung zu machen. Das Kind hat nur Brüche. Die Mutter ist hier?«

»Ja«, erwiderte Dr. Hausmann.

»Ist gut, soll warten«, erwiderte Dr. Behnisch rasch. »Am schlimmsten steht es um den Kleinen, von dem wir noch nicht mal den Namen wissen. Ich habe jetzt keine Zeit. Beruhigen Sie die Mutter von dem Mädchen. Sie kann bald zu ihr.«

Dr. Hausmann ging zurück und versuchte nun, Franziska zu beruhigen. Sie war dann ganz still und saß mit gefalteten Händen da. Sie wartete.


Der kleine Junge, dessen Namen man noch nicht wusste und den bisher auch niemand zu vermissen schien, war auch sechs Jahre. Er hieß Johann Meisel und wurde Jonny genannt, doch in der Klinik war das noch nicht bekannt. Nach ihm hatte noch niemand gefragt. Das war auch nicht möglich, denn sein Vater saß auf dem Arbeitsamt und wartete, dass man vielleicht doch eine Stellung für ihn hätte, und wenn es nur eine Aushilfsstellung wäre. Er wollte so gern seiner Frau Erika eine Freude bereiten, die im Kreiskrankenhaus auf die Geburt ihres zweiten Kindes wartete.

Jonny wusste das. Er wusste auch, dass der Vater eine Stellung suchte. Man hatte ihm an diesem Tag den Wohnungsschlüssel gegeben, damit er nicht auf der Straße warten musste.

Aber Heinz Meisel kam deprimiert heim, weil er wieder keine Stellung bekommen hatte, sondern nur das Arbeitslosengeld, von dem er nur eine geringe Summe für den Lebensunterhalt abzweigen konnte, wenn er die nicht gerade billige Miete für die Wohnung bezahlt hatte. Er war schuldlos in dieses Unglück gestürzt worden. Seine Firma hatte Konkurs anmelden müssen. Als technischer Zeichner bekam man jetzt nicht mehr so schnell eine neue Stellung. Die Sorgen wuchsen ihm mit der Zeit über den Kopf. Und nun kam auch noch das Baby.

Aber im Augenblick machte er sich noch mehr Sorgen um Jonny, der sonst immer pünktlich war und auf den man sich verlassen konnte, so jung er auch noch war.

Heinz Meisel lief die Treppe hinab, der Hausbesitzerin, einer üppigen blondierten Vierzigerin, in die Arme.

»Na, was ist mit der Miete?«, fragte sie sogleich gereizt.

»Die bekommen Sie«, erwiderte er rasch. »Haben Sie unseren Jonny gesehen?« Er war zu aufgeregt, um so höflich zu sein, wie sie es wohl erwartete. Differenzen schwelten schon lange, weil sie die Wohnung ihrer Meinung nach längst weit teurer vermieten könnte und nur darauf wartete, dass wieder mal die Miete von den Meisels schuldig geblieben wurde.

»Vielleicht war er in dem Bus, der verunglückt ist«, sagte sie nun gleichmütig.

»Der Bus ist verunglückt?«, stotterte Heinz Meisel. Und dann rannte er schon los. Er sah den schwer beschädigten Bus an der Kreuzung, er sah den Lastwagen, die Polizisten, die noch immer mit Messungen beschäftigt waren.

Er stürzte auf sie zu. »Wo sind die Kinder?«, fragte er. »Wo ist mein Sohn?«

»Nur keine Aufregung«, erwiderte ihm ein Polizist. »Die verletzten Kinder sind in der Behnisch-Klinik.«

»Und Sie wissen nicht mal die Namen?«, fragte Heinz Meisel.

»Wir sind froh, dass es noch so ausgegangen ist«, wurde ihm erwidert. »Die Ärzte waren gleich da. Dr. Norden sogar.«

Dr. Norden! Der Name erschien Heinz Meisel als Lichtblick. Er kannte Dr. Norden. Der machte keine Unterschiede zwischen arm und reich. Der war auch zu ihnen immer gleich gekommen, wenn einem von ihnen etwas fehlte.

Er hatte vergessen, dass ihm eben noch schlecht vor Hunger gewesen war. Er rannte zur Behnisch-Klinik. Selbst bei dem Tempo, das er vorlegte, brauchte er eine Viertelstunde, und er konnte kaum noch atmen, als er dort angelangt war. In seiner Brust stach es, sein Herz drohte zu versagen.

»Ist mein Sohn hier?«, konnte er nur mühsam über die Lippen bringen. »Jonny Meisel.«

Und dann brach auch er zusammen. Es war gut, dass Dr. Norden ihn kannte, denn den Namen hatte die Krankenschwester schon gar nicht mehr verstanden.

»Das ist der Vater von Jonny«, erklärte er. »Von Jonny Meisel. Ja, der braucht nun auch ärztliche Hilfe.«

Ein halbes Jahr hatte Dr. Norden von der Familie Meisel nichts mehr gehört. Jonny hatte er erst erkannt, als das kleine Gesicht von dem Blut befreit worden war. Er war tatsächlich am schlimmsten dran von allen Kindern, während Vinzenz Farenhorst sich schon davon überzeugen konnte, dass sein Sohn verhältnismäßig gut davongekommen war.

Henrik war sogar schon wieder bei Bewusstsein, wenn auch noch sehr verwirrt.

»Es hat gekracht, Papi«, sagte er, als er seinen Vater erkannte. »Was ist denn passiert? Wo ist Corry? Wo bin ich denn überhaupt?«

»In der Klinik, mein Junge«, erwiderte Vinzenz.

»Und Corry?«

»Ich weiß es nicht, Henrik.«

»Frag doch, Papi. Ich möchte wissen, wo Corry ist. Sie hat doch neben mir gesessen.«

»Wie heißt sie noch?«

»Biegler. Sie holt ihre Mami doch immer vom Geschäft ab.« Er machte eine kleine Pause. »Und was sagt meine Mami?«, fragte er dann beklommen. »Hat sie sich sehr aufgeregt?«

»Ziemlich, Henrik, aber nun kann ich ihr sagen, dass es dir schon besser geht.«

Verschwollen war das schmale Gesichtchen, Schrammen und sich schon grünlich und bläulich färbende Flecken wies es auf. Aber wie durch ein Wunder hatte Henrik nichts gebrochen. Nur Prellungen, die würden ihm sicher noch Schmerzen bereiten, doch selbst um eine Gehirnerschütterung war er herumgekommen.

»Ich möchte, dass es Corry auch gut geht«, flüsterte Henrik. »Bitte, Papi, kümmere dich um sie. Sie haben nicht viel Geld. Versprich es mir.«

»Ja, ich verspreche es dir, mein Kleiner«, erwiderte Vinzenz.

»Und sag Mami auch, dass sie sich nicht aufregen soll.«


Fee Norden war unruhig geworden, als ihr Mann auch um zwei Uhr noch nicht zu Hause war. Dann erst hörte sie von dem Unfall. Und wenige Minuten später rief Daniel an und sagte ihr, dass er erst später kommen würde.

Er hatte zwar keine Sprechstunde mehr, aber selbstverständlich war er für seine Patienten, die ihn nötig brauchten, immer erreichbar.

An diesem Nachmittag schien ihn niemand dringend zu brauchen. Im ganzen Viertel hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass der Schulbus verunglückt war, und das schien alle so zu beschäftigen, dass sie die eigenen Leiden vergaßen.

Viele hatten an dem Fahrer schon oft etwas auszusetzen gehabt. Viele sagten nun, dass wohl erst dies geschehen musste, damit etwas unternommen würde, um die Kinder sicherer zu befördern. Diejenigen, die direkt beteiligt waren, mussten mit ihren Sorgen fertigwerden. Keiner von ihnen wollte mit anderen sprechen.

Vinzenz Farenhorst saß jetzt am Bett seiner Frau. Franziska Biegler saß am Bett ihres Kindes. Heinz Meisel stand vor dem Operationssaal und wartete.

Verena war bei Bewusstsein, aber völlig geistesabwesend.

»Henrik geht es schon wieder recht gut«, sagte Vinzenz. »Du brauchst dich nicht zu sorgen, Rena.«

»Du lügst, du belügst mich. Ihr wollt mich nur schonen«, wimmerte sie.

»Sei doch bitte vernünftig. Es ist die Wahrheit. Steigere dich nicht in schlimme Vorstellungen hinein. Du kannst zu ihm gehen, wenn du dich einigermaßen fühlst.«

»Du bist so hart«, sagte sie leise. »Du verstehst mich nicht.«

»Doch, ich verstehe dich sehr gut. Ich hatte auch Angst, Rena. Aber andere Kinder sind schlimmer dran als Henrik.«

»Ist dir das wichtig?«, fragte sie. »Genügt es nicht, dass ich ein Kind verloren habe? Kannst du mich denn nicht begreifen, Vinzenz?«

»Mein Gott, wie oft soll ich es dir noch sagen, dass ich deinen Schmerz begreife, Liebes«, erwiderte er. »Aber Henrik werden wir behalten. Ich möchte, dass du nicht alles nur negativ siehst. Ich möchte, dass es bei uns wieder so wie früher wird, dass wir miteinander lachen, und wir können doch noch Kinder haben, Rena. Wir sind beide jung genug. Du musst nur eine andere Einstellung gewinnen. Mach es dir doch nicht selbst so schwer.«

Sie wandte ihr Gesicht ab. »Ich möchte jetzt noch ein wenig ruhen, und dann werde ich zu Henrik gehen«, sagte sie tonlos. »Du musst doch wieder in die Fabrik.«

Er musste nicht, aber er ging. Er fühlte sich hilflos, und in ihm war auch Bitterkeit. Er hatte sich immer bemüht, die frühere Harmonie wieder herzustellen, aber Verena hatte sich mehr und mehr zurückgezogen. War das noch eine Ehe? War nicht jetzt nur Henrik noch das Bindeglied?

Aber um seines Sohnes willen nahm er alles hin. Er wollte ihn nicht hergeben, und er konnte ihn Verena nicht nehmen, weil er genau wusste, dass dies das endgültige Ende für sie bedeuten würde.

Er dachte jetzt wieder daran, dass Henrik sich um seine kleine Freundin sorgte. Er wollte Henrik sagen können, dass es ihr auch gutgehe.

Würde er es sagen können? Er war von herzbewegenden Zweifeln erfüllt, als er Dr. Jenny Behnisch traf.

»Hätten Sie einen Augenblick Zeit?«, fragte er mit gepresster Stimme.

»Ist etwas mit Ihrer Frau?«, fragte Jenny.

»Ich wollte wegen Corry Biegler fragen. Mein Sohn hat sie sehr gern. Sie saß neben ihm im Bus.«

Dr. Jenny Behnisch nickte. »Ja, sie ist hier, Herr Farenhorst. Ihr linker Arm ist gebrochen, drei Rippen, und was die Untersuchung herausstellt, müssen wir noch abwarten.«

»Kann ich etwas für dieses Kind tun?«, fragte er. »Mein Sohn hat mich darum gebeten. Die Mutter ist berufstätig, wie ich von Henrik weiß.«

»Sie ist eine alleinstehende Mutter. Corinna ist ein uneheliches Kind. Zufällig weiß ich das, weil eine Nachbarin, die ich kenne, Corry nachmittags betreut. Wenn Sie etwas für das Kind tun wollen, wäre das schon sehr wünschenswert, Herr Farenhorst. Allerdings wird es Franziska Biegler kaum annehmen, wenn es ihr direkt angeboten wird.«

»Aber Sie könnten es vermitteln?«

»Woran denken Sie?«, fragte Jenny.

»Nun, vielleicht an einen gemeinsamen Erholungsurlaub für Mutter und Kind. Das kommt mir jetzt nur so in den Sinn. Henrik möchte um seine kleine Freundin beruhigt werden.«

»Billigen Sie diese Freundschaft?«, fragte Jenny.

»Warum sollte ich sie nicht billigen?«, fragte er zurück.

»Ihre Frau interessiert sich nur für ihren Sohn«, erwiderte Jenny ausweichend.

»Meine Frau hat ein Kind bei der Geburt verloren«, erklärte Vinzenz. »Seither ist sie sehr verändert, nur noch auf Henrik konzentriert. Ich weiß manchmal nicht mehr, was ich tun und was ich sagen soll, Frau Dr. Behnisch. Verena hat sich wenigstens noch eine Tochter gewünscht. Wohl auch, weil Henrik so gern eine Schwester gehabt hätte. Er hat sich in dieser kleinen Corry anscheinend einen Ersatz dafür gesucht. Ich möchte dem Kind und seiner Mutter wirklich gern helfen.«

»Frau Biegler ist jetzt bei Corry«, sagte Jenny. »Ich werde ihr sagen, dass Sie mit ihr sprechen wollen.«

»Sie wird heute dazu wohl nicht fähig sein«, meinte Vinzenz. »Aber wenn Sie ein Gespräch vermitteln könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wie geht es den anderen Kindern?«

»Die meisten konnten nach ambulanter Behandlung entlassen werden. Schlimm steht es derzeit noch mit dem kleinen Jonny Meisel. Und der Vater ist nun auch Patient«, fügte sie seufzend hinzu. »Aber schlimm ist, dass sie in einer Notsituation sind, und Frau Meisel gerade ein Baby erwartet.«

»In welcher Notsituation sind sie?«, fragte Vinzenz.

»Herr Meisel ist arbeitslos seit vier Monaten. Mit manchen Menschen meint es das Schicksal gar nicht gut. Da kommt alles zusammen.«

»Aber seine Frau wird vielleicht trotz allem ein gesundes Kind zur Welt bringen«, sagte Vinzenz Farenhorst nachdenklich.

»Vielleicht«, wiederholte Jenny Behnisch. »Aber was dann? Herr Meisel hat wochenlang schon gehungert für seine Frau und seinen Sohn. Man könnte sagen, dass er fast so schlimm dran ist, wie der kleine Jonny. Und das ohne Unfall.«

»Dann tun Sie, was möglich ist«, erwiderte Vinzenz. »Meine Frau will sich ja nicht helfen lassen. Vielleicht kann ich wenigstens anderen helfen. Ich bin sehr dankbar, dass unser Henrik noch so davongekommen ist.«

Und da kam Franziska Biegler, blass, die Augen jedoch vom Weinen gerötet, schwankend den Flur entlang.

Jenny gab Vinzenz Farenhorst einen Wink. Er wich zurück zur Treppe, blieb aber hinter dem Mauervorsprung stehen.

Er hörte Franziskas zitternde Stimme. »Kann ich Corry denn hier lassen, Frau Doktor? Wir sind doch nur pflichtversichert. Ich habe kein Geld, etwas draufzahlen zu können.«

»Machen Sie sich doch keine Gedanken«, sagte Jenny mütterlich. »Es ist alles in Ordnung, Frau Biegler. Natürlich bleibt Corry hier.«

»Ich möchte ja, dass alles für mein Kind getan wird«, flüsterte Franziska, »aber ich möchte auch niemandem etwas schuldig bleiben. Verstehen Sie das bitte richtig.«

»Ich verstehe Sie richtig, Frau Biegler, und ich verspreche Ihnen auch, dass für Ihr Kind alles getan wird. Machen Sie sich nicht zu viel Sorgen. Außerdem wird die Haftpflichtversicherung Schadenersatz zahlen müssen.«

»Aber der Jaeckel, der Fahrer, hat doch selbst Frau und Kinder. Ich weiß, dass er auch schlimm dran ist. Seine Frau muss putzen gehen, weil ein Kind behindert ist und sie da viel zahlen müssen.«

»Und weil er eine Menge Geld für sich selbst braucht«, fiel Jenny ihr ins Wort. »Das wissen wir inzwischen. Wir können nur hoffen, dass nicht festgestellt wird, dass er nicht nüchtern war und seine Frau dann wenigstens die Lebensversicherung bekommt.«

Franziskas brennende Augen weiteten sich. »Er ist tot?«, fragte sie.

»Ja, er ist tot, und vielleicht ist das für seine Familie die Rettung, falls er eben nicht betrunken war. Was ich nicht verstehe, ist die Tatsache, dass anscheinend viele wussten, wie gern er trank, und ihm dennoch Kinder anvertraut wurden. Aber das soll keinesfalls ein Urteil sein. Es steht noch nicht fest, wer schuld ist. Jetzt schöpfen Sie frische Luft, Frau Biegler, und essen Sie auch etwas. Gegen Abend wird Corry schon bei Bewusstsein sein.«

Vinzenz hatte alles gehört. Zuerst hatte er gehen wollen, aber nun wartete er doch, bis Franziska kam.

Blindlings eilte sie an ihm vorbei die Treppe hinab. Aber er folgte ihr. Am Ausgang war er neben ihr.

»Frau Biegler, hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«, fragte er stockend. »Mein Name ist Farenhorst. Mein Sohn hat Ihre Tochter sehr gern.«

»Henrik?«, fragte Franziska. »Henrik Farenhorst? Corry hat viel von ihm erzählt. Sie haben sich oft unterhalten. Aber ich bin doch nur eine Verkäuferin, Herr Farenhorst.«

»Nur?«, fragte er, »ist das nicht ein recht schwerer Beruf?«

»Man muss dankbar sein, wenn man eine gute Stellung hat«, erwiderte Franziska. »Wir brauchen nicht zu hungern. Ich kann für mein Kind sorgen.«

Er sah sie lange und forschend an. Sie war hübsch, vielleicht mehr als nur hübsch, aber jetzt eben vom Kummer zerrissen, verweint und demprimiert.

»Heute ist Mittwoch, da haben die meisten Geschäfte geschlossen«, sagte er.

»Meins auch«, erwiderte Franziska mechanisch.

»Dann könnten wir uns unterhalten, Frau Biegler. Sie haben sicher auch nichts gegessen.«

»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte sie abweisend.

»Vielleicht doch ein bisschen«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Versuchen wir es doch mal.«

Sie errötete leicht. »Die Leute hier klatschen so schnell«, sagte sie befangen. »Ich muss mich da besonders vorsehen. Ich bin nicht verheiratet und eine alleinstehende Mutter.«

Es klang trotzig. Sie sah an ihm vorbei. Ihre Lippen zuckten.

»Wir haben jetzt den gleichen Kummer«, sagte er. »Wenn Sie Angst um Ihre Stellung haben, werde ich Ihnen eine andere beschaffen. Mein Sohn hat es mir ans Herz gelegt, dass ich mich um Corry kümmern soll. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten, Frau Biegler.«

Warum denn nur, dachte Franziska, aber dann ging sie doch mit ihm.


Heinz Meisel kam bald wieder zu sich. Er blickte in Dr. Nordens vertrautes Gesicht.

»Das hat mich umgeworfen«, murmelte er. »Was ist mit Jonny?«

In diesem Fall musste Dr. Norden doch ein wenig schwindeln. Er wusste, wie sehr der Mann an seinem Jungen hing.

»Es geht ihm schon besser«, erklärte er. »Er hatte nur ein bisschen viel Blut verloren. Nicht aufregen, Herr Meisel!«

»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Meine Frau ist im Krankenhaus. Vielleicht hat sie das Kind schon. Und nun das mit Jonny. Wir sind vom Unglück verfolgt. Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, wie es weitergehen soll.«

Viel Leid hatte sich in diesen wenigen Stunden zusammengeballt. Menschen aus den verschiedensten Schichten waren betroffen und vom Schicksal zusammengewürfelt worden, wie es sich in der Zukunft erweisen sollte.

Verena Farenhorst saß nun bei ihrem Jungen. Sie nahm sich höllisch zusammen, denn sie wusste, dass Henrik es nicht mochte, wenn sie weinte.

»Wird ja alles wieder gut, Mami«, sagte er auch gleich, als ihr dann doch ein paar Tränen über die Wangen liefen. Und dann wollte er wieder wissen, was denn mit Corry sei.

Verena hatte kein Interesse für andere Kinder.

Damals, als sie das Kind, auf das sie sich gefreut hatte, verlor, hatte es bei ihr einen Knacks gegeben. Sie hatte die anderen Mütter beneidet, die mehrere Kinder hatten. Sie hatte nie begriffen, dass ihr Kind nicht lebensfähig gewesen war, da sie doch alles, aber auch alles beachtet hatte, was die Arzte während der Schwangerschaft empfahlen.

Nun drehte sich bei ihr alles um Henrik, und sie wollte nicht begreifen, dass sie dem Jungen mit dieser übermäßigen Fürsorge keinen Gefallen tat.

»Papi hat mir versprochen, dass er sich um Corry kümmert«, sagte Henrik eigensinnig, als seine Mutter nicht auf seine Fragen einging. »Sie hat nämlich keinen Vater.«

»Viel wichtiger ist es, dass du schnell wieder gesund wirst, mein Liebling«, sagte Verena.

Henrik mochte es nicht, wenn sie ihn Liebling nannte. Er war ein großer Junge und wollte nicht verhätschelt werden.

»In Zukunft werde ich dich wieder zur Schule bringen und abholen«, fuhr Verena fort.

»Dann sagen sie wieder, dass ich ein Muttersöhnchen bin«, begehrte er auf. »Ich möchte doch auch mal mit den andern Kindern zusammen sein.«

»Jetzt musst du erst gesund werden«, lenkte Verena ein.

Währenddessen sprach Vinzenz Farenhorst mit Franziska. Sie saßen in der »Klause«, dem netten kleinen Lokal an der Ecke. Vinzenz kannte den Wirt, und er hatte schnell den Tisch in dem kleinen Nebenzimmer gedeckt, als Vinzenz ihm zu verstehen gab, dass sie nicht gestört werden wollten.

Mit geschickten Fragen hatte Vinzenz schon in Erfahrung gebracht, dass Franziska die Handelsschule besucht hatte und früher auch als Stenotypistin gearbeitet hatte.

»Und warum jetzt nicht?«, fragte er.

»Weil es hier schwierig ist, und ich kann nicht lange Anfahrwege gebrauchen, dann wäre Corry zu lange allein. Ich habe die Wohnung von meiner Mutter übernommen, und die möchte ich auch behalten. Und ich habe auch eine nette Nachbarin, die nachmittags Corry beaufsichtigt.«

»Sie lieben Ihre Tochter sehr«, stellte er gedankenvoll fest.

»Ja, sehr«, erwiderte Franziska leise. »Sie kann nichts dafür, dass sie keinen Vater hat, aber das ist immer noch besser, als einen Vater zu haben, der ein Kind als Last empfindet. Es wäre schrecklich gewesen, wenn ich Corry verloren hätte. Mein Leben hätte seinen Sinn verloren.«

»Meine Frau verlor unser zweites Kind gleich nach der Geburt. Sie hat es bis heute nicht verwunden.«

»Ich kann das verstehen«, sagte Franziska leise.

»Verena möchte Henrik jetzt ganz für sich haben, und das tut dem Jungen nicht besonders gut. Er braucht Spielgefährten. Es beeindruckt mich sehr, dass er sich so gut mit Ihrem Töchterchen versteht, Frau Biegler. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Kinder oft beisammen sein könnten.«

»Wäre Ihre Frau damit auch einverstanden?«, fragte Franziska nachdenklich.

Vinzenz war leicht irritiert. »Ich werde das mit ihr besprechen. Ich biete Ihnen eine Halbtagsstellung in meiner Fabrik. Sie wären dann ab zwei Uhr frei und würden um einiges mehr verdienen als jetzt.«

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Farenhorst, aber Sie wissen doch gar nicht, ob ich überhaupt noch die Voraussetzung erfüllen kann für eine Bürostellung«, erwiderte Franziska verwirrt.

»Überlegen Sie es sich. Wir können es ja testen. Ich finde es nicht gut, wenn eine Mutter ihr Kind zu sehr an sich bindet, aber ich finde es nicht gerecht, dass eine Mutter den ganzen Tag in einem Geschäft stehen muss, wenn sie ein Kind hat, das sie braucht. Zudem habe ich eine ganz gute Menschenkenntnis. Ich bin überzeugt, dass Sie alle Voraussetzungen mitbringen für die Stellung, die ich Ihnen anbieten möchte. Sie scheinen sich ja von einem auch noch so charmanten Mann nicht beeindrucken zu lassen. Ihr Chef wäre dann nämlich mein Bruder.« Er machte eine kleine Pause. »Dem täte es nämlich gut, wenn er mal auf Granit beißen würde«, fügte er dann mit einem flüchtigen Lächeln hinzu.

Was sollte sie nun dazu sagen? Verlockend war das Angebot schon. Sehr überraschend kam es allerdings und sie wusste gar nicht, wie ihr geschah.

»Da Sie heute Nachmittag frei haben, würde ich vorschlagen, dass wir Sie gleich testen, Frau Biegler. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie interessiert sind. Wir werden nicht lange dazu brauchen. Sie können dann bald wieder bei Corry sein.«

Franziska dachte an das kleine Geschäft, in dem sie Tag für Tag Klatsch, Klagen und auch Vorwürfe anhören musste, in dem sie gerade so viel verdiente, dass sie einigermaßen über die Runden kamen.

Mehr Zeit für Corry haben zu dürfen, war das Verlockendste. Das Unglück hatte sie tief getroffen, und nun bot sich daraus eine unerwartete Chance. Und das sagte sie auch ehrlich.

Vinzenz betrachtete sie nachdenklich. Ihm imponierte es, dass sie so tapfer ihr Leben meisterte. Sie verdiente eine Chance. Und er war überzeugt, dass Henrik sehr zufrieden mit ihm sein würde. Was allerdings Verena dazu sagen würde, blieb offen. Aber er wollte sich dadurch nicht irritieren lassen.


Verena wurde währenddessen ungewollt Zeuge eines Gespäches, das Heinz Meisel mit Dr. Norden führte.

Henrik war eingeschlafen, und sie begab sich auf die Suche nach Dr. Behnisch, um in Erfahrung zu bringen, in welchem Zimmer die kleine Corry lag.

»Papi hat versprochen, dass er sich um Corry kümmert«, hatte Henrik gesagt, und das war doch wie ein Vorwurf gewesen. Sie war immer eifersüchtig, wenn Henrik seinem Vater scheinbar den Vorzug gab.

Verena fand Dr. Behnisch nicht, aber eine Tür stand einen Spalt offen, und sie hörte, wie eine Männerstimme sagte: »Uns bleibt doch fast nichts anderes übrig, als das Baby wegzugeben, Herr Dr. Norden. Ich hatte so sehr gehofft, eine neue Stellung zu finden. Es war vergeblich, und ein Unglück kommt nie allein. Wenn wir jetzt auch noch aus der Wohnung gesetzt werden, kommt Erika gar nicht mehr auf die Beine. Ich muss jetzt zu ihr.«

Gleich darauf eilte der hagere blasse Mann an Verena vorbei. Und dann kam auch Dr. Norden, noch ganz geistesabwesend.

»Frau Farenhorst, wieder wohlauf?«, fragte er erstaunt.

»Wer war das?«, fragte Verena. »Dieser Mann, der eben mit Ihnen sprach. Ich habe zufällig ein paar Worte aufgeschnappt.«

»Das ist Herr Meisel, der Vater des kleinen Jonny. Ihn hat es ganz hart getroffen. Dem Jungen geht es noch ziemlich schlecht, seine Frau hat vor einer Stunde ein Baby bekommen. Eine schwere Geburt, und zu allem Unglück ist er auch noch arbeitslos.«

»Sie wollen mir zu verstehen geben, dass ich dankbar sein kann, dass ich solche Sorgen nicht zu haben brauche«, sagte Verena mit einem eigentümlichen Unterton. »Nun, ich bin dankbar, dass es Henrik nicht so schlimm getroffen hat. Ja, ich bin sehr dankbar und gern bereit, denen zu helfen, die größere Sorgen haben. Henrik liegt vor allem das Wohl seiner kleinen Schulfreundin Corry am Herzen. Mich bewegt augenblicklich mehr das Schicksal dieser Familie Meisel.«

Dr. Norden wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Er kannte Verena Farenhorst, und er wusste, dass sie ihr eigenes Leid jedem anderen voransetzte. Sollte sie nun doch menschlicher denken, nicht mehr so egoistisch?

»Man kann doch wohl etwas für diese Leute tun«, sagte sie. »Ich werde mit meinen Mann darüber sprechen.«

Dr. Norden hatte das Gefühl, dass sie etwas ganz Bestimmtes im Sinn hatte, aber ihm kam keine Ahnung. Er gab ihr die Auskünfte, die sie haben wollte.

Seltsam war das schon. Vinzenz Farenhorst wollte Corrys Mutter helfen, Verena den Meisels. Man konnte darüber nachdenken. Helfen wollten sie beide, aber Verena schien nicht geneigt zu sein, die Freundschaft zwischen Henrik und Corry zu fördern. Was hatte diese Frau nur für Komplexe?

Es beschäftigte ihn so, dass er dann mit seiner Frau Fee darüber sprach. Fee dachte auch eine ganze Zeit nach.

»Die Ehe war doch sehr glücklich, ist sie es noch?«, fragte sie gedankenvoll.

»Schwer zu sagen. Jedenfalls lieben sie den Jungen beide, nur auf verschiedene Weise.«

»Und das könnte ihm in der Entwicklung schaden«, meinte Fee.

»Ja, das denke ich auch«, erwiderte Daniel. »Doch jetzt wollen wir dankbar sein, dass es keine Opfer unter den Kindern gab.«

»Der Fahrer ist tot, ich habe es im Radio gehört«, sagte Fee. »War er betrunken?«

»Das weiß ich noch nicht, Fee. Jedenfalls hinterlässt er eine Familie, Frau und drei Kinder, und eins davon ist behindert. Ja, und wenn festgestellt wird, dass er betrunken war, werden sie nichts bekommen.«

Dr. Norden Bestseller 42 – Arztroman

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