Читать книгу Dr. Norden Bestseller 63 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

Оглавление

Dr. Daniel Norden begrüßte seinen Patienten Alfred Jäger besonders herzlich. Viele Wochen hatte der alte Herr ihm große Sorgen bereitet, da er den plötzlichen Tod seiner Frau nicht verwinden konnte. Aber gemeinsam mit Jägers Tochter Irmi war es ihm dann doch gelungen, die schwere Krise im Leben dieses feinfühligen, gütigen Mannes zu überwinden. Sie hatten ihn überreden können, einige Wochen auf der Insel der Hoffnung zu verbringen.

Dort war er gut aufgehoben. Daniel Nordens Schwiegervater, Dr. Cornelius, der das Sanatorim leitete, war hinreichend darüber informiert, was dem alten Herrn den Lebensmut genommen hatte.

»Na, Herr Jäger, reisefertig?« fragte Dr. Norden.

»Schon startbereit. Aber ich wollte doch noch hereinschauen und mich bei Ihnen bedanken. Ja, und dann hätte ich noch was auf dem Herzen…«

»Heraus damit«, sagte Dr. Norden munter.

»Ich habe doch den Fischweiher und ein nettes Häuschen dabei. Es ist nicht weit, und ich habe gemeint, daß Sie mit Ihrer Familie vielleicht dort mal ein ruhiges Wochenende verbringen könnten. Es ist so hübsch da draußen, auch für die Kinder. Und eine nette Wirtschaft ist auch in der Nähe, wo man noch pfundig essen kann.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie davon Gebrauch machen würden. Den Schlüssel habe ich mitgebracht. Angelzeug ist draußen, auch ein Boot.«

»Das klingt ja sehr verlockend«, meinte der Arzt.

»Sie haben so viel für mich getan, daß ich Ihnen auch gern eine Freude machen würde. Es ist wunderschön da draußen. Noch ganz unberührte Natur. Nur ein kleines Haus steht am anderen Ufer des Weihers. Es gehört mir auch. Ich habe es vor Jahren an einen Eigenbrötler vermietet, der nichts mit den Menschen zu tun haben mag, er stört niemanden. Und Telefon gibt es draußen auch nicht. Das wär doch mal was für Sie.«

Das klang wirklich verlockend. Ein ruhiges Wochenende ohne Telefon, nur zum Faulenzen, mal wieder angeln, was er früher immer so gern getan hatte.

»Es wird sich hoffentlich einrichten lassen, Herr Jäger«, sagte Dr. Norden. »Lieb, daß Sie daran dachten.«

»Ich bin halt ein bißchen eigen. Sonst tät ich es niemandem antragen, das dürfen Sie mir glauben. Ja, ich werde nun mal Ihr Paradies genießen und Sie hoffentlich meines. Bis zum Wiedersehen dann, Herr Doktor.«

»Erholen Sie sich gut. Genießen Sie es wirklich, Herr Jäger.«

Sie schieden mit einem festen Händedruck. Loni im Vorzimmer atmete auf.

»Bin ich froh, daß er nicht wieder einen Rückzieher gemacht hat«, sagte sie erleichtert. »Er ist so ein netter Mensch, und seine Kinder möchten doch wenigstens ihn noch behalten. Ich kann mir schon vorstellen, daß es sehr arg ist, wenn man vierzig Jahre eine glückliche Ehe geführt hat und dann allein ist. War doch eine so gute Seele, die Frau Jäger.«

Das menschliche Mitgefühl, das Herrn Jäger hier entgegengebracht wurde, hatte ihm geholfen. Seine Kinder hatte er nicht auch noch mit seinen Sorgen belasten wollen. Sie hatten selbst welche.

Irmis Ehe war in eine Krise geraten, weil sie unbedingt ein Kind haben wollte und ihr Mann nicht. Der Sohn Helmut hatte die Stellung gewechselt, weil ihm ein glänzendes Angebot gemacht worden war, das sich schon nach kurzer Zeit als eine Seifenblase erwies. Gebaut hatten sie auch gerade und waren nun ins Schwimmen gekommen. Freilich hatte der Vater ihnen unter die Arme gegriffen, aber ein Krösus war er auch nicht gerade. Aber er wollte seine Kinder gesichert und zufrieden wissen.

Nun aber fuhr ihn Irmi zur Insel der Hoffnung, weg von der vertrauten Umgebung, die voller Erinnerungen war an glückliche Jahre, die ihn nun traurig stimmten.

Fee Norden, die Frau des Arztes, aber erlebte an diesem Tag die Überraschung, daß sie das nächste Wochenende am Fischweiher von Herrn Jäger im Vorgebirge verbringen würden.

»Wenn es nur sicher ist«, sagte sie skeptisch. Aber auch sie sehnte sich danach, einmal nicht durch das Läuten des Telefons aus einer gemütlichen Stunde gerissen zu werden. Selten genug waren solche in letzter Zeit ohnehin gewesen.


Das Wunder geschah, es kam nichts dazwischen, und das Wetter war verlockend schön. Nur Danny war vorerst nicht ganz einverstanden, weil er lieber zu Omi und Opi fahren wollte.

»Die haben jetzt so viel zu tun, daß sie gar keine Zeit für euch hätten«, sagte Fee tröstend. Und als sie dann am Weiher angelangt waren, hellte sich auch Dannys Miene auf.

Ein schmuckes Häuschen erwartete sie, außen und innen, wie sie feststellen konnten. Holzverschalte Decken und Wände und rustikale Bauernmöbel machten es recht heimelig. Und es war mehr Platz, als man ahnen konnte. Auch für Haushälterin Lenni war Platz, denn selbstverständlich kam sie mit den Nordens.

Ganz romantisch lag der Weiher, ein Dorado des Friedens, an dessen Ufern man noch seltene Blumen und Pflanzen finden konnte. Schmetterlinge schwirrten herum, wie die Kinder sie noch nie gesehen hatten, und Vögel zwitscherten hell und fröhlich.

Lenni war zufrieden, daß es auch elektrischen Strom gab, denn sie hatten schon befürchtet, daß ein Propangasherd auf sie warten würde. Davor hatte sie nämlich höllische Angst, schon der Kinder wegen.

Essen wollten sie in der Wirtschaft, die Herr Jäger empfohlen hatte, aber für die Kinder mußte die Milch erwärmt werden, und den Morgenkaffee wollte man auch gemütlich daheim trinken. Ein guter Kaffee wurde von dem Arzt-Ehepaar überaus geschätzt.

Das Dorf war drei Kilometer entfernt, aber da auch Felix schon gut zu Fuß war und Anneka in ihren Sportwagen gesetzt werden konnte, blieb das Auto stehen, als sie sich aufmachten, die Gegend zu erkunden.

Da sie wußten, daß man auf dem Land alles viel besser und frischer bekam als in der Stadt, hatten sie keinen Proviant mitgenommen.

Es wurde ein fröhlicher Spaziergang. Der Vater sang aus voller Kehle, daß die Kinder nur so staunten, und seine Frau stellte wieder einmal fest, welch schöne Stimme er hatte.

»Du hättest auch Opernsänger werden können«, scherzte sie.

»Liebe Güte, da bin ich schon lieber Arzt. Mir immer ein anderes Gesicht aufzuschminken, würde mir nicht gefallen, Feelein«, sagte er.

»So ist es mir auch lieber.« Aber sie wunderte sich doch, welche Talente in ihm steckten.

Sie kauften ein. Eier, Butter, Brot und Honig, alles frisch vom Erzeuger, auch das Obst. Aber sie wurden auch bestaunt, denn Fremde schienen hier wirklich kaum herzufinden.

Freundlich waren die Leute, und die Wirtschaft erwies sich als ein wahres Schmuckstück.

Der Kuglerwirt, so war auch der Name des Gasthofs, war ein stämmiger Mann. Mit einem breiten Lächeln wurden sie begrüßt.

»Ah, dös werden die Freund’ vom Jäger-Fred sein«, sagte er. »Er hat mich schon angerufen, daß es Ihnen an nichts fehlen sollt’, wann’s komme tät.«

Sogar daran hatte Herr Jäger gedacht. Fee fand es rührend. Und sie wurden geradezu fürstlich bewirtet. Da konnte sich so manches Feinschmeckerlokal eine Scheibe abschneiden.

Frische Pfifferlinge in Rahmsauce gab es. Reherl hießen sie hier freilich. Die Semmelknödel waren köstlich, die Kalbsmedaillons butterweich.

Für Anneka wurde ein Grießbrei bereitet, der so lecker ausschaute, daß Danny und Felix auch noch eine Portion davon haben wollten.

Sie wurden auch gefragt, ob sie am nächsten Tag wiederkommen wollten und was sie dann zu essen wünschten. Da wurde beratschlagt, ohne daß Fee an ihre Linie dachte.

Alles sprach dafür, daß es ein in jeder Beziehung herrliches Wochenende werden würde, eines, an dem auch Lenni mal nicht stundenlang in der Küche stehen mußte.


So, wie sie sich freuten, freute sich aber auch der gute Herr Jäger, dem ein besonders herzlicher Empfang auf der Insel der Hoffnung bereitet wurde, denn hier boten sich andere Schönheiten dar, die es an seinem Weiher wiederum nicht gab.

Die Rosen standen in voller Blüte und verbreiteten ihren Duft. Die Häuschen, die über die Insel verteilt waren, um die Patienten zu beherbergen, ließen gar nicht erst den Gedanken aufkommen, daß es sich um ein Sanatorium handelte.

»Am liebsten möchte ich auch gleich hierbleiben«, sagte Irmi.

»Dann bleiben Sie doch«, schlug Anne Cornelius, die Frau des Arztes, vor. »Herr Jäger hat doch ein Zwei-Zimmer-Appartement, da ist Platz.«

»Und vielleicht merkt Harald dann mal wieder, was er an dir hat«, brummte Alfred Jäger.

Irmi sah ihren Vater ganz erstaunt an. Nie hatte er sich zu ihrer Ehe geäußert, und nun merkte sie erstmals, daß er doch um ihre Probleme wußte.

»Ja, ich würde schon gern ein paar Tage bleiben, wenn es möglich ist«, sagte sie kurz entschlossen. »Ich rufe ihn dann an.«

Aber sie erreichte ihn gar nicht zu Hause, auch nicht im Geschäft. Dort erklärte man ihr allerdings, daß er plötzlich verreisen mußte.

»Na schön«, sagte Irmi, »dann bin ich halt auch mal verreist.« Und sie ließ sich nicht anmerken, daß sie sich Gedanken machte, ob nicht doch eine andere Frau im Spiele sei, wenn er es auch immer bestritt.

»Dir tut ein Tapetenwechsel auch mal gut, Irmi«, meinte ihr Vater. »Und es wird Zeit, daß wir mal über deine Probleme sprechen.«

»Du bist hier, um dich zu erholen«, entgegnete sie.

»Richtig erholen kann ich mich erst, wenn bei meinen Kindern alles in Ordnung ist, bei Helmut wie bei dir«, erwiderte er. »Aber wenn du bleibst, haben wir ja noch Zeit.«


Daniel Norden erwachte ganz früh am Morgen, früher sogar als zu Hause, aber er hatte auch nicht bis in die Nacht hinein Krankenbesuche machen müssen. Es gelang ihm tatsächlich, so leise aufzustehen, daß Fee nicht geweckt wurde, die noch genauso im Bett lag, wie sie eingeschlafen war. Kein Wecker tickte, kein Telefon stand in der Nähe, das allein schon mochte seine Wirkung auf ihren Schlaf haben.

Daniel zog sich im Wohnraum an, Jeans und einen Pullover. Die Hosenbeine krempelte er vor der Tür hoch. Er wollte barfuß durch die taufrischen Wiesen laufen. Ihn trieb es hinaus ins Freie, in diese unberührte Natur.

Die Sonne stieg gerade am Horizont empor, tauchte ihn in ein Farbenspiel, das berauschend schön war, und die Vögel begrüßten jubilierend den neuen Tag.

Im Weiher freuten sich muntere Fischlein ihres Lebens, und Daniel hätte es nicht fertiggebracht, sie mit dem Angelhaken einzufangen.

Aber als er ein ganzes Stück weitergegangen war, sah er einen Mann, der seine Angelrute ins Wasser hängen ließ. Er war gekleidet wie Dr. Norden, er trug verwaschene Jeans und einen weiten Pullover.

Der Mann hatte braunes Haar und einen dichten braunen Bart, der nicht viel von seinem Gesicht freigab, nur eine leicht gebogene Nase und eine hohe Stirn.

War es der Einsiedler, von dem Herr Jäger gesprochen hatte? Daniel wunderte sich, daß er sich magisch angezogen fühlte von dieser reglosen Gestalt. War es deshalb, weil dieses Profil eine ferne Erinnerung in ihm weckte?

Er verhielt den Schritt und betrachtete den Mann, der sich überhaupt nicht bewegte, dann aber plötzlich vornübersank und sich krümmte.

Daniel Norden reagierte ganz automatisch, als er sah, wie die Angelrute den Händen des Mannes entglitt. Er lief auf ihn zu, kniete neben ihm nieder, faßte mechanisch nach dem Puls.

»Lassen Sie mich«, stieß der Mann hervor, und dann blickte er auf, starrte den Arzt abweisend an.

Der hielt den Atem an. »Mein Gott – Ulf«, sagte er bestürzt, »du?«

»Laßt mich in Frieden. Kann man mich denn nirgendwo in Frieden lassen?« stöhnte der andere.

»Ulf Sommerfeld«, sagte Daniel, selbst noch verwundert, daß er den andern erkannt hatte. »Was fehlt dir? Du hast Schmerzen.«

»Wie kommst du hierher, Daniel?« fragte der Mann nun mühsam. »Ist man nirgendwo vor der Vergangenheit sicher? Ich will meine Ruhe haben, nichts als meine Ruhe.«

»Bist du krank, Ulf?« fragte Daniel. »Daß ich dich hier finden würde, konnte ich nicht ahnen. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Dr. Norden hielt instinktiv die Angelrute fest, an der anscheinend ein Fisch angebissen hatte, und die ins Wasser zu gleiten drohte. Augenblicklich konnte er nichts anderes denken, als daß Ulf Sommerfeld sich über dieses Wiedersehen nach vielen Jahren keineswegs zu freuen schien und er sich sehr verändert hatte.

»Ich bin nicht krank. Ich muß wieder mal eingeschlafen sein«, murmelte Ulf. »Nachts kann ich nicht schlafen. Frage mich nichts, Daniel. Ich werde doch nichts sagen.«

Seine Stimme klang rauh, noch abweisender als vorher. Aber so schnell ließ sich Daniel nicht abschütteln, wenn er spürte, daß ein Mensch in Not war.

»Herr Jäger hat mir sein Haus überlassen. Er ist mein Patient. Er hat mir erzählt, daß er ein Häuschen an einen Einsiedler vermietet hat. Du bist das also.«

»Im Kombinieren warst du schon immer groß«, sagte Ulf Sommerfeld sarkastisch. »Ich habe Herrn Jäger lange nicht gesehen.«

»Seine Frau ist gestorben, und das hat ihn sehr mitgenommen«, sagte Daniel.

»Seine Frau ist gestorben, das tut mir leid«, wiederholte Ulf schleppend. »Du bist allein hier?«

»Nein, mit meiner Familie.«

»Ich will niemanden sehen. Wer steht denn schon so früh auf.«

»Zum Beispiel ich«, erwiderte Daniel. »Willst du mir nicht sagen, warum du dich hier vergräbst?«

»Nein.«

»Du willst dir nicht helfen lassen?« fragte Daniel, während er sich plötzlich an eine Begebenheit erinnerte, die schon einige Monate zurücklag.

»Nein«, erwiderte Ulf wieder lakonisch.

»Wir haben uns doch mal ganz gut verstanden«, sagte Daniel. »Und vor ein paar Monaten war eine junge Dame bei mir, die nach dir fragte.«

»Rede nicht solchen Unsinn!« herrschte ihn Sommerfeld an. »Wer soll nach mir fragen?«

»Im Augenblick kann ich mich nicht an ihren Namen erinnern, aber ich glaube, sie hat ihre Adresse hinterlassen. Eine Auskunft über dich konnte ich ihr ja nicht geben. Ich glaube, sie erwähnte, daß sie aus Griechenland käme.«

»Aus Griechenland?« fragte Ulf erregt. »Es war tatsächlich jemand bei dir? Du sagst das nicht nur so?«

»Nein, es ist Tatsache. Mir fiel es gerade ein.«

»Wie sah sie aus? Kannst du dich wirklich nicht an den Namen erinnern?« fragte Ulf.

»Sie war ziemlich groß, blond und schlank, soweit ich das im Gedächtnis habe. Aber wie gesagt, es liegt schon Monate zurück. Sie fragte nach dir. Ob ich wüßte, wo du dich aufhältst.«

»Woher kannte sie dich?«

»Sie kannte mich nicht. Sie mußte von irgend jemandem meine Adresse bekommen haben. Jedenfalls wußte sie, daß wir Studienkollegen waren. Warum übst du deine Praxis nicht mehr aus?«

»Das ist meine Privatangelegenheit. Aber sie kam aus Griechenland«, fuhr er fort. »Bist du sicher?«

»Ja, und bestimmt hat meine gute Loni auch die Adresse notiert, die sie hinterließ, falls ich doch etwas von dir hören sollte. Allerdings liegt die in meiner Praxis.«

»Daniel«, schallte da Fees Stimme ängstlich durch die eingetretene Stille. »Daniel, wo bist du?«

»Meine Frau«, erklärte Daniel.

Ulf sprang auf. »Ich gehe«, stieß er hervor, »aber mit dir allein hätte ich doch gern gesprochen.«

»Kann ich zu dir kommen?«

Ulf nickte. »Ich bin den ganzen Tag da.«

Dann eilte er davon. Seine Angelrute hielt Daniel noch immer in der Hand, und daran zappelte ein Fisch, den er vorsichtig befreite und wieder ins Wasser warf.

»Hier bin ich, Fee!« rief Daniel, als sie sich nochmals meldete. »Ich laufe schon nicht davon.«

Sie kam zu ihm und fiel ihm um den Hals. »Ich bin es halt nicht gewohnt, wenn das Bett morgens neben mir leer ist«, sagte sie atemlos. »Ich habe dich nicht gehört.«

»Das wird gut sein«, erwiderte er doppelsinnig, aber er war nicht gleich bereit, über Ulf Sommerfeld zu sprechen.

»War da nicht noch jemand?« fragte Fee. »Mir war es so, als sei ein Mann davongelaufen.«

Daniel legte einen Arm um sie. »Sind die Kinder schon munter?« fragte er.

»Nein, sie schlafen wie die Murmeltiere.«

»Dann haben wir ja noch Muße, Fee.«

»Der Kaffee ist fertig, Liebster. Lenni ist ganz begeistert von dem Wasser, weil sich das Aroma doppelt entfalten kann.«

Seine Gedanken waren ganz woanders, und das spürte sie.

»Was war das für ein Mann?« fragte sie.

»Das erzähle ich dir später. Ich muß mich erst waschen.«

Das war schnell geschehen, aber inzwischen waren die Buben auch aufgewacht, und Anneka mußte ihr Fläschchen bekommen. Und so dauerte es doch noch geraume Zeit, bis sie Ruhe für das Gespräch hatten. Glücklicherweise hatten Danny und Felix einen großen Wassertrog entdeckt, in dem sie Schiffchen schwimmen lassen konnten, die ihnen Lenni mit ihrer Engelsgeduld aus Zeitungspapier gefaltet hatte. Und selbstverständlich hatte sie auch ein wachsames Auge auf die Kleinen.

Daniel trank noch eine Tasse Kaffee. »Er ist wirklich ausgezeichnet«, stellte er fest.

»Und das Brot ist himmlisch. Ich werde genudelt heimkommen«, sagte Fee.

»Du und genudelt«, Daniel lachte, »höchstens zwanzig Gramm schwerer.«

»Lenk nicht ab«, meinte Fee. »Was war das für ein Mann?«

»Ulf Sommerfeld.«

»Ulf Sommerfeld?« wiederholte seine Frau atemlos. »Der Ulf Sommerfeld, der Tropenarzt wurde?«

»Du hast ein blendendes Gedächtnis, Liebes.«

»Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, daß er deshalb die beste Partie, die ein Mann machen kann, ausschlug.«

»Die beste Partie, die ein Mann machen kann, ist die, eine Frau zu finden, die Verständnis für ihn hat. Außerdem hat Anke Berber die Verlobung gelöst.«

»Du hast auch ein gutes Gedächtnis«, stellte Fee fest.

»Es hat genug Wirbel verursacht, und eigentlich fand ich es toll, daß Ulf keine Zugeständnisse machte. Aber jetzt ist er nur noch ein Schatten seiner selbst.«

»Bereut er seinen Entschluß?«

»Ich weiß nicht. Er hat nichts gesagt. Zuerst war er sogar sehr abweisend. Er ist tatsächlich zum Einsiedler geworden. Er hat die Flucht ergriffen, als du kamst. Aber immerhin erinnerte ich mich an etwas, was ihn dann doch zugänglich zu stimmen schien.«

»An was?«

»Es war mal jemand in der Praxis und fragte nach ihm.«

»Anke Berber?«

»Nein. Sie ist doch längst verheiratet. Es war eine fremde junge Dame. An den Namen kann ich mich nicht erinnern, aber ich hoffe doch, daß Loni die Adresse aufgehoben hat.«

»Sie hebt alles auf«, warf Fee ein.

»Sie sagte, daß sie aus Griechenland komme, und das hat Ulf aus der Reserve gelockt. Er hat sich schrecklich verändert.«

»Und du willst dahinterkommen, was ihn verändert hat.«

»Ich möchte ihm helfen.«

Fee nickte. »Er lebt hier?«

»Ja, in dem Häuschen, von dem Herr Jäger sprach.«

»Nur so? Und sein Beruf?«

»Da scheint etwas passiert zu sein.«

»Vielleicht ist er in den Tropen krank geworden.«

»Du würdest es verstehen, wenn ich mich nachher mal zu ihm begebe?«

»Das ist doch selbstverständlich, Daniel.«

Nun aber machten sie erst mal wieder einen langen Spaziergang mit den Kindern, auf dem ihnen sogar Hasen und Rehe begegneten, was für die Kinder ein Erlebnis war. Dann speisten sie wieder bestens beim Kuglerwirt, und danach waren die Kleinen so müde, daß man sie nicht erst zu einem Mittagsschlaf nötigen mußte.

Fee und Lenni streckten sich auf den Liegen in der Sonne aus, und Daniel machte sich auf den Weg zu dem versteckt liegenden Häuschen am anderen Ufer des Weihers.

Ob Ulf vielleicht die Flucht ergriffen hat? fragte er sich, denn er hörte gar nichts, auch als er schon ganz nahe war. Ein altes Fahrrad stand an die Mauer gelehnt, und die Haustür war offen.

Er klopfte, aber es kam keine Antwort. So trat er näher. Ulf saß an einem Tisch, vor ihm eine Schnapsflasche, die fast leer war.

Daniel erschrak, denn Ulf lag halb über der Tischplatte.

»Ulf«, sagte er, an dessen Schulter rüttelnd.

Der zuckte hoch und starrte ihn aus glasigen Augen an.

»Ist das deine Medizin?« fragte Daniel ruhig.

»Ist doch gut«, murmelte Ulf Sommerfeld. »Was willst du?«

»Ich habe doch gesagt, daß ich kommen würde.«

»Moralpredigten kannst du dir sparen.« So benebelt schien er nicht zu sein, daß aller Verstand ausgeschaltet war.

»Hast du was gegessen?« fragte Daniel.

»Ich habe ja nichts geangelt.«

»Ich habe deine Angelrute mitgebracht. Ernährst du dich nur von Fisch?«

»Ist doch gesund.«

Daniel blickte sich um. Eigentlich sah es ordentlich und sauber aus, aber für einen ständigen Aufenthalt war dieses Haus sicher nicht gedacht.

»Wie lange lebst du schon hier?« fragte er.

»Weiß ich nicht. Ich zähle die Tage nicht. Ist doch auch egal.«

»Okay, es mag dir egal sein, mir nicht. Fisch und Schnaps sind nicht die richtige Ernährung für einen Mann. Und was ist mit deinem Beruf?«

»Pah! Mist ist dieser Beruf. Das ganze Leben ist Mist.«

»Du warst ein Idealist, Ulf«, erinnerte ihn Daniel eindringlich.

»War ich das?« Ulf lachte und zuckte die Schultern.

»Woran erinnerst du dich? An Anke?«

»Anke? Guter Gott, das war doch in einem anderen Leben.«

»In einem Leben, in dem man dich bewunderte.«

»Mich bewunderte?« fragte Ulf grinsend. »Warum denn?«

»Weil eine glänzende Partie dich nicht locken konnte, dein Ziel aufzugeben.«

»Ach was, Anke war eine hohle Nuß, hübsch, aber kalt. Und mein Beruf war mir viel wichtiger, bis ich Nana traf.« Seine Stimme sank zum Flüstern herab.

»Nana?« fragte Daniel.

»Es gibt sie nicht mehr, sie ist tot, und ich bin schuld. Alle sagen, daß ich schuld war.«

Sein Kopf sank wieder auf die Tischplatte, aber diesmal riß ihn Daniel schnell empor.

»Sprich dich aus, Ulf.«

Lange Minuten herrschte lähmendes Schweigen, dann blickte ihn Ulf an.

»Fahr nie nach Griechenland, das rate ich dir«, sagte er.

»Ich war schon dort und fand es recht schön«, entgegnete Daniel ruhig. »Fee ist nur das Essen nicht so recht bekommen.«

»Fee?«

»Meine Frau Felicitas, geborene Cornelius.«

»Du bist mit Fee Cornelius verheiratet?«

»Seit fünf Jahren, und wir haben bereits drei Kinder.«

»Du warst immer ein Glückspilz, Daniel«, sagte Ulf leise. »Entschuldige mich bitte einen Augenblick.«

Er ging hinaus, blieb gut zehn Minuten fort. Dann erschien er in einem frischen Hemd, mit noch feuchtem Haar, aber auch mit klarerem Blick.

»Ich möchte wissen, wer nach mir gefragt hat«, sagte er.

»Komm in meine Praxis«, erwiderte Daniel.

»Ich gehe nicht in die Stadt.«

»Dann erfährst du es nicht«, erwiderte Daniel energisch.

»Du willst mich erpressen.«

»Ich will dich zwingen, diese unsinnige Abgeschiedenheit aufzugeben. Es ist schön, hier mal für einige Zeit zu sein, um sich auszuruhen, aber auf die Dauer geht das doch nicht.«

Ulf wanderte mit schweren Schritten in dem kleinen Raum herum.

»Ich werde dir meine Geschichte erzählen, dann wirst du mich verstehen«, sagte er, »oder besser, ich gebe dir mein Tagebuch, dann brauche ich es nicht zu sagen. – Du warst immer ein feiner Kerl, Daniel. Einen anderen hätte ich zum Teufel gejagt. Ich habe gelesen, daß es die Insel der Hoffnung jetzt wirklich gibt. Ich hätte dir nicht den Nerv zugetraut, das durchzuführen. Du kannst nicht so aufs Geld aus sein wie einige andere der lieben Kollegen.«

»Immerhin ist die Insel kein Verlustgeschäft«, sagte Daniel, »und außerdem war sie meines Vaters Lebenstraum. Und mein Schwiegervater ist der Chefarzt.«

»Und du hast eine Praxis? Wieso das?«

»Weil es zuwenig Ärzte für Allgemeinmedizin gibt. Ein paar müssen doch bleiben, Ulf. Die Fachärzte sind außerhalb der Sprechstunden selten zu sprechen.«

»Du sagst es«, murmelte Ulf. »Und manche gehen lieber auf eine Party, anstatt ein Menschenleben zu retten. – Ich bin jetzt müde, richtig müde. Nimm das Buch mit, und wenn du mich auch nicht verstehst, schmeiß es in den Weiher.«

»Was kann ich noch für dich tun?«

»Nichts. Ich werde schlafen, endlich mal wieder schlafen, dank deiner Hartnäckigkeit.«

Er versuchte sogar zu lächeln. Aber es mißlang ihm gründlich. Die Augen blieben trübe, die Falten in dem wettergegerbten Gesicht glätteten sich nicht.

»Ich komme wieder, Ulf«, versprach Daniel.

»Die Tür ist offen«, sagte Ulf. Dann verabschiedete sich Daniel.


Dr. Norden hatte freilich keine Zeit, sich gleich in eine stille Ecke zu setzen. Damit wären seine Söhne bestimmt nicht einverstanden gewesen, obgleich sie von kaum faßbarer Toleranz ihren Eltern gegenüber waren. Anneka krabbelte auf einer Decke herum und war zufrieden, daß Lenni bei ihr blieb, als Daniel, Fee und die Buben nochmals loszogen.

»Heute abend sind sie wieder müde, dann haben wir Ruhe«, sagte Fee.

Nach der reichlichen Mittagsmahlzeit konnten sie sich am Abend mit Wurst und Schinkenbroten begnügen. Außerdem hatten sie herrliche, am Strauch ausgereifte Tomaten und das köstliche Bauernbrot, von dem sie sich einen Laib mitnehmen wollten. Der Kuglerwirt hatte ihnen versprochen, alles für sie bereitzuhalten.

Danny und Felix tobten herum, bis sie sich kaum noch auf den Füßen halten konnten. Es war herrlich für sie in dieser Freiheit, so, als gehörte ihnen die ganze Welt. Kein Auto, nicht mal ein Mensch war zu sehen.

»Daß es so was noch gibt«, sagte Daniel. »Man könnte es öfter gebrauchen.«

»Kann das Haus nicht uns gehören, Papi?« fragte Danny.

»Es gehört Herrn Jäger, aber vielleicht können wir öfter mal hiersein.«

»Hast ja doch keine Zeit«, sagte Danny betrübt.

Zu wenig Zeit jedenfalls, um ein Wochenenddomizil auszunutzen, das meinte auch Fee. Schließlich freuten sie sich auf die Insel der Hoffnung auch, wenn sie mal ein paar Tage kommen konnten. Aber alles in allem war es hier so schön, daß auch das so schmerzliche Wiedersehen mit Ulf Sommerfeld Daniel nicht deprimieren konnte. Vielleicht war der in einer noch viel schlimmeren Verfassung gewesen, bevor er sich hier vergraben hatte, ging es ihm durch den Sinn.

Lenni war vom Nichtstun müde, wie sie sagte. Jedenfalls hatte es auch ihr gutgetan, den ganzen Tag in der frischen, unverbrauchten Luft zu sein. Ihr blasses Gesicht hatte Farbe bekommen. Daß sie sich aber gar so früh zurückzog, war ihrem Taktgefühl zuzuschreiben, denn selten konnten Daniel und Fee einen so ausgedehnten und ungestörten Abend genießen.

Und den brauchten sie, denn Ulf Sommerfelds Tagebuch faszinierte sie schon, nachdem sie die erste Seite gelesen hatten.

Es begann mit den ersten Tagen, die Ulf in Tansania erlebte.

Es ist entsetzlich, diese Armut, dieses Elend zu sehen«, war da zu lesen. Wäre ich nur nicht zuvor in Kapstadt und Pretoria gewesen, nicht bei diesen Kollegen, die es sich in ihren Prunkbauten wohlergehen lassen und mich als einen Idioten betrachten, weil ich es vorziehe, diesen Ärmsten der Armen helfen zu wollen. Aber werde ich es können, werde ich die Kraft haben durchzuhalten? Wie hat doch Professor Jenkins gesagt? Mitleid haben darf man, aber mitleiden nicht, sonst geht man zugrunde.

Viel schrieb er dann von dem Elend, von dem Säuglingssterben, von den Krankheiten, von der Angst der Bevölkerung vor Impfungen.

»Das sollte er veröffentlichen«, sagte Fee.

Daniel äußerte sich nicht. Er überlegte, ob dies allein Ulf so erschreckend verändert hatte.

Aber dann kam ein anderes Kapitel nach ein paar leeren Seiten, die wohl andeuten sollten, daß ein Lebensabschnitt beendet war.

Dr. Nenaos hat mich eingeladen, meinen Urlaub in Griechenland zu verbringen. Ich freue mich, daß ich ihm helfen konnte. Dieser Schlangenbiß hätte ihm den Tod bringen können. Ich werde fahren... Er ist ein Mensch, mit dem sich reden läßt. Er ist reich, aber ein Herz für die Armen hat er doch. Wie selten trifft man solche Menschen.

Dann wurde es für Daniel und Fee erst recht spannend.

Ich habe bei Dr. M. Nana kennengelemt. Welch ein Mädchen! Nein, ich muß wohl sagen, welch eine Frau, denn sie ist viel reifer, als ihre dreiundzwanzig Jahre aussagen, schön, klug und wahrmherzig. Wo findet man das heute noch. Wir haben über die Tropen gesprochen. Sie interessierte sich sehr dafür, aber da ist ihre Familie, die es wohl nicht gern sah, daß sie sich mit mir unterhielt.

Es folgten Tag für Tag Eintragungen über seine Treffen mit Nana, die schließlich in dem Freudenausbruch gipfelten:

Sie liebt mich, sie wird mich heiraten und mit mir gehen, auch wenn ihre Eltern dagegen sind.

Dann hatte Ulf niedergeschrieben, daß ihre Eltern schließlich doch ihr Einverständnis zu der Heirat gegeben hätten, allerdings unter der Bedingung, daß Nana bei ihnen bleiben solle und er sich dann in Athen als Arzt niederlassen müsse.

»Er muß sie sehr geliebt haben, daß er dieses Zugeständnis machte«, sagte Fee nachdenklich, ohne sich bewußt zu werden, daß sie schon in der Vergangenheitsform sprach, bevor sie noch zu Ende gelesen hatten.

Aber auch Nana mußte ihn geliebt haben, denn später schrieb Ulf darüber, daß sie heimlich zu ihm gekommen sei. Ihren Eltern hatte sie gesagt, daß sie nach Rom fliegen wolle, um ihre Freundin zu besuchen.

Wir werden ein Kind haben. Nana wollte es mir selbst sagen. Ein Kind, und Nana wird die Mutter sein. Ich bin der glücklichste Mann der Welt. Mit wem soll ich hier sprechen, da sie nun wieder fort ist? Ich habe nur mein Tagebuch. Es wäre nicht gut gewesen, wenn sie mit mir hier leben würde. All das Elend und die Krankheiten. Nein, ich werde nach Athen gehen und später dann vielleicht zurück in die Heimat. Nana wird mit mir kommen, ich weiß es.

Und doch sollte bald darauf das letzte, schreckliche Kapitel kommen.

Nana ist tot, tot, tot. Ich kann es nicht begreifen. Wie soll ich es jemals begreifen? Ich kam nach Athen, um bei der Geburt zugegen zu sein. Da standen sie, ihre Eltern und Geschwister in der Klinik, mit versteinerten Gesichtem. Ich sei schuld, sagte ihr Mutter, nur ich.

Nana hat mir eine Tochter geschenkt, aber sie selbst ging von mir. Ich bin nicht schuld. Der Arzt war auf einer Party. Er kam zu spät. Ich habe es erfahren, aber was konnte ich tun? Ich bin diesen Menschen ein Fremder. Und die Fremden sind immer schuld. Was soll es auch? Ich habe alles verloren, was ich liebte.

Das Kind wollten sie mir auch nicht geben. Was sollte ich denn mit einem Kind in meinem Urwald, meinten sie. Sie wissen nicht, was ich verloren habe und daß mir das Leben nichts mehr bedeutet. Wie sagte Nana doch, als sie mich in Tansania besuchte und die Kranken sah: In der Ewigkeit ist das Leben nur ein Hauch. Unsere Tochter soll Nana heißen, aber ich werde sie niemals sehen. Mörder nannte mich ihre Mutter. Ich kann es nicht ändern, sagte ihr Vater. Niemand kann es ändern. Nana ist tot. Und ich muß leben.

Fee stand auf und wandte sich ab. Daniel merkte, daß sie ihm ihre Tränen verbergen wollte.

»Nun verstehe ich ihn«, sagte Daniel, »aber ich kann nicht zusehen, daß er dahinvegetiert. Er kann sich noch nicht einmal an dieser schönen, stillen Landschaft erfreuen. Er ist noch jünger als ich, Fee.«

»Ich glaube, das Allerschlimmste ist, daß man ihm die Schuld an Nanas Tod gab«, sagte sie nachdenklich. »Man hat ihn Mörder genannt, Daniel. Das ist furchtbar.«

»Und ihr Arzt war auf einer Party, als er gebraucht wurde. Er hat sogar unseren Beruf hassen gelernt.«

»Wenn er nicht mehr Arzt sein will, dann sollte er schreiben. Sich alles von der Seele schreiben«, sagte Fee. »Auch anklagen, wo man anklagen muß. Es muß ihm doch zu helfen sein, Daniel. Liebster, geh’ zu ihm.«

»Morgen früh, wenn noch alles schläft«, erwiderte Daniel.

»Und wenn es dann zu spät wäre?«

»Nein, Fee, er wirft sein Leben nicht weg. Dann hätte er es längst getan. Er stirbt lieber tausend Tode.«

Sie konnten in dieser Nacht lange nicht einschlafen, und als Daniel im Morgengrauen aufstand, war Fee auch munter.

Er küßte sie auf die Stirn. »Schlaf du noch, mein Schatz«, sagte er zärtlich.

Fee widersprach nicht, aber sie schlief nicht mehr. Sie kleidete sich auch ganz leise an und folgte eine Viertelstunde später seinen Spuren.


Dr. Norden fand die Tür des Hauses offen und Ulf noch schlafend vor. Er lag auf dem Rücken, die Arme seitwärts von sich gestreckt, bekleidet noch, wie Daniel sich von ihm verabschiedet hatte.

Daniel fühlte seinen Puls. Er ging langsam, aber gleichmäßig.

Daniel schaute sich in dem Häuschen um. Es bestand nur aus zwei Räumen und einer kleinen Küche. Als er in den Schlafraum zurückkam, schlug Ulf die Augen auf. Verwirrt schaute er Daniel an.

»Du bist tatsächlich da«, sagte er heiser. »Ich meinte, geträumt zu haben.«

Daniel setzte sich zu ihm auf den Bettrand. »Ich bin wieder da und verstehe dich jetzt, Ulf«, sagte er, ihm das Tagebuch auf die Bettdecke legend. »Es gehört nicht in den Weiher. Wir werden darüber noch sprechen.«

»Was gibt es darüber noch zu reden? Hast du nicht begriffen? Es ist aus, alles ist aus!«

»Nein, keineswegs, Ulf«, erwiderte Daniel energisch. »Du bist nicht der einzige auf der Welt, der einen geliebten Menschen verloren hat. Unsere Lenny hat zwei zur gleichen Stunde verloren, ihren Mann und ihre Mutter. Und manchmal werden ganze Familien ausgelöscht, und ein armes, hilfloses Kind bleibt zurück. Es gibt nicht nur in Tansania Elend, auch bei uns. Es ist jetzt zwei Jahre her, daß dies geschah, und du fügst dieser Wunde jeden Tag eine neue zu, indem du an nichts anderes denkst, nicht daran, wie sehr du anderen Menschen helfen könntest.«

»Ich habe Angst zu versagen, Daniel«, murmelte Ulf. »Ich habe entsetzliche Angst, daß unter meinen Händen eine junge Mutter sterben könnte und mich ihr Mann dann wieder Mörder nennen würde.«

»In diese Situation kann jeder von uns geraten«, sagte Daniel. »Du hast keine Schuld am Tod deiner Frau. Du hast vielen Menschen geholfen, viele Leben gerettet.«

»Vielleicht habe ich doch insofern schuld, weil Nana mich besuchte. Sie hat dieses Klima nicht vertragen.«

»Aber sie ist doch bald wieder heimgeflogen«, sagte Daniel. »Verbohre dich nicht in solche Gedanken. Du solltest jetzt lieber mal richtig frühstücken.«

»Ich habe nichts im Haus.«

»Dann kommst du mit zu uns.«

»Nein.«

»Vielleicht wollte diese junge Frau aus Griechenland dir eine Nachricht von deinem Kind bringen«, sagte Daniel.

Ulf starrte ihn forschend an. »Daß es vielleicht auch tot ist?« fragte er.

»Mein Gott, das ist ja ein Trauma, aber wenn man dir ohnehin verweigert, dein Kind zu behalten oder wenigstens zu sehen, dann träfe vielleicht die Großmutter die Schuld, wenn dem Kind etwas geschehen ist. Aber was sollen solche Gedanken, wenn man nichts weiß? Und du weißt doch seit zwei Jahren nichts mehr von deinem Kind. Ich würde es mir nicht bieten lassen, daß man mir mein Kind einfach wegnimmt. Es ist doch ein lebendes Vermächtnis.«

»Und was würdest du empfinden, wenn...«

»Komm mir nicht damit!« fiel ihm Daniel heftig ins Wort. »Ich verstehe deinen Schmerz. Denk mal an meinen Vater, er war Arzt, ein wunderbarer Arzt. Er liebte seine Frau über alles, aber er konnte ihr nicht helfen. Doch er hat sich nicht ins einer Verzweiflung vergraben. Er dachte an die Menschen, denen noch geholfen werden konnte. So entstand die Insel der Hoffnung. Mein Schwiegervater hat seine Frau verloren, Anne ihren Mann, jetzt helfen sie denen, die Leid und Schmerzen durchleben mußten, in Liebe zueinander und zu den Leidenden. Menschenskind, Ulf, begreifst du denn nicht, daß ich dir helfen will?«

»Es gibt sicher andere, die dir dankbarer sind.«

Einen Teil von diesem Gespräch hatte Fee mitgehört, aber sie hatte sich nicht bemerkbar gemacht. Leichtfüßig war sie wieder zum Haus zurückgelaufen.

Lenni wirtschaftete in der Küche. Fee tuschelte eine Weile mit ihr, damit die Kinder nicht sofort munter wurden, denn die kleinen Rangen waren schon recht neugierig. Dann war ein Korb vollgepackt, und die gute Lenni machte sich auf den Weg, den ihr Fee gewiesen hatte. Sie hätte ja alles getan für die Nordens, wenn es auch noch so unbegreiflich erscheinen mochte, denn die gute Lenni verstand wirklich nicht, warum der Herr Doktor seinen Freund nicht zum Frühstück mitbrachte.

So geschwind wie Fee konnte sie nicht laufen, und außerdem war der Korb auch ziemlich schwer, aber als sie zu dem Häuschen gelangte, hörte sie die energische Stimme »ihres« Doktors.

»Verdammt noch mal, du mußt was essen, Ulf. Ich hole jetzt was, und wehe, wenn du widersprichst.«

Die Haushälterin stellte schnell den Korb vor die Tür und lief flugs wieder davon. Daniel sah gerade noch ihr blaues Kleid und dann auch den Korb.

Ein Leuchten ging über sein Gesicht. Meine Fee, dachte er, meine gute Fee. Und Lenni macht wirklich alles mit.

Ulf stand mit nacktem Oberkörper am Waschbecken, als Daniel wieder hereinkam.

»Kannst du fliegen?« fragte er verblüfft.

»Das nicht, aber zaubern«, erwiderte Daniel.

Nun entdeckte er tatsächlich ein Aufleuchten in Ulfs Augen. »Du bist ein unglaublicher Mensch, Daniel«, sagte er.

Und du brauchst einen, der sich um dich kümmert, dachte Dr. Norden.

»Du verbringst viel Zeit mit mir, die deiner Familie abgeht. Das gefällt mir nicht.«

»Da du meine Einladung nicht angenommen hast, ging es nicht anders. Aber mach dir keine Gedanken, Ulf, Fee hat dafür Verständnis. Ich hoffe sehr, daß du dich bald aufraffst und uns besuchst. Aber jetzt wirst du dir ein ausgedehntes Frühstück gönnen. Wenn du dich durchringen kannst, iß mit uns beim Kuglerwirt zu Mittag.«

»Dazu kann ich mich noch nicht durchringen, Daniel. Bitte, nicht böse sein. Aber in den nächsten Tagen werde ich mich aufraffen und nach München kommen. So unzivilisiert möchte ich deiner Familie doch nicht unter die Augen treten, dann bekämen deine Kinder ja Angst vor mir.«

Aber es mochte auch sein, daß der Anblick kleiner gesunder Kinder ihm noch heftigen Schmerz bereiten würde.

Er war sehr verlegen, als Daniel all die leckeren Dinge auf den Tisch legte. Daniel hatte noch überlegt, aber ihm erschien es besser, wenn er Ulf allein ließ. Er mußte mächtig hungrig sein, und sicher hatte er Hemmungen, wenn ihm jemand zuschaute.

»Bis bald, Ulf«, sagte er. »ich verlasse mich darauf, daß du kommst.«

Ulf reichte ihm die Hand. »Habe Dank, Daniel«, sagte er leise. »Dank für alles. Du ahnst nicht, wie sehr du mir geholfen hast.«

Doch, Daniel ahnte es. Er wäre zu niemandem gegangen mit dieser Sorgenlast auf dem Rücken. Es war höchste Zeit gewesen, daß jemand ihm entgegenkam, und so gesehen schien es wieder einmal eine Fügung des Schicksals gewesen zu sein, daß Herr Jäger ihnen das Häuschen angeboten hatte und sie tatsächlich hergekommen waren.

Daniel Norden hatte im Laufe der Jahre an solche Schicksalsfügungen glauben gelernt.


Fee bekam einen langen, innigen Kuß, Lenni einen herzlichen Händedruck. Gesprochen würde über Ulf nicht, da nun auch die Kinder schon munter waren.

Es wurde noch ein wunderschöner Tag. Als sie mittags vom Kuglerwirt zurückkamen, stand der Korb mit der Kanne vor der Tür.

Tausend Dank der guten Fee, Ulf, stand auf einem Zettel.

Fee lächelte. »Er wird sich langsam zurechtfinden«, sagte sie sinnend.

»Wer?« fragte Danny, der immer sehr aufmerksam war.

»Ein Freund von Papi«, erwiderte Fee.

»Wie heißt der Freund?« fragte der Kleine.

»Ulf«, erwiderte Daniel.

Danny sah ihn nachdenklich an. »Aber Onkel Dieter und Onkel Schorsch sind deine allerbesten Freunde«, sagte er.

»Das bleiben sie auch«, erwiderte Daniel, der die Gedankengänge seines Sohnes erriet. So klein Danny noch war, überlegte er doch schon sehr viel, und jeder, der ihm nicht vertraut war, war in seinen Augen auch kein richtiger Freund.

Doch Ulf brauchte einen Freund. Für ihn war ein Freund wichtiger als das tägliche Brot.

Als sie heimwärts fuhren, blickte Daniel nach rechts, zu dem winzigen Häuschen, das man leicht übersehen konnte. Doch er übersah es nicht mehr.

Ulf stand auf der Treppe und hob grüßend eine Hand. Er mochte ziemlich lange dort gewartet haben, um ihnen nachzuschauen, und für Daniel war es der Beweis, daß er den ersten Schritt in ein neues Leben getan hatte.


Die neue Arbeitswoche begann. »War es schön?« fragte die Sprechstundenhilfe Loni.

»Sehr schön«, erwiderte Daniel. »Aber eine andere Frage, Loni. Hoffentlich erinnern Sie sich noch. Es war doch mal eine junge Dame hier, die nach Dr. Sommerfeld fragte?«

»Freilich erinnere ich mich. Sie war sehr betrübt, daß Sie keine Auskunft geben konnten.«

»Und hatte sie nicht eine Adresse hinterlassen?«

» »Ja. Brauchen Sie die jetzt?« fragte Loni, die schon mit den Gedankengängen ihres Doktors vertraut war.

»Haben Sie sie aufgehoben?«

»Ist doch selbstverständlich, Chef.« Als hätte es anders sein können.

Und bei Loni herrschte Ordnung. Sie hatte diese Karte schnell gefunden. Bettina Terboven, las Daniel. »Am Wiesenhang 3, und darunter in zügiger, klarer Schrift: Es geht um Nana.

»Wir hatten an dem Tag schrecklich viel zu tun«, sagte Loni, »aber an die junge Dame kann ich mich noch genau erinnern. Sie hatte wunderschöne veilchenblaue Augen.«

Es geht um Nana, ging es Dr. Norden durch den Sinn. War nun damit Ulfs Frau gemeint oder das Kind?

»Wenn Dr. Sommerfeld kommt, bin ich sofort für ihn zu sprechen, Loni«, sagte er, aber mehr nicht. Und dann fragte er sich besorgt, ob nicht ein weiterer Schicksalsschlag auf Ulf wartete.

Aber konnte es für Ulf denn noch schlimmer kommen, als es ohnehin schon war?

Dr. Norden Bestseller 63 – Arztroman

Подняться наверх