Читать книгу Cäcilie - Patricia Weiss - Страница 9

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Kapitel 1

Gute Absichten führen oft auf direktem Wege in die Hölle.

„Willkommen in der verlassenen Nervenheilanstalt zur Nacht der wandelnden Leichen. Willkommen an dem Ort, wo die Seelen gequälter Patienten keine Ruhe finden, durch die Korridore streifen und nach Vergeltung für die erduldete Schändung lechzen. Willkommen zu einer Nacht des Horrors und des blutigen Gemetzels. Zeigen wir den Kreaturen der Dunkelheit, dass wir standhaft sind in unseren Werten, ebenbürtig in einem Kampf ohne Ehre oder Moral, und jagen wir sie zurück in die Hölle!“

Detektivin Laura Peters wies schwungvoll auf die mächtige Villa mit den Türmchen und Erkern, die hinter dem schmiedeeisernen Tor dunkel in den Nachthimmel ragte.

„Möge die Halloweenparty beginnen. Aber wie kommen wir jetzt da rein?“

Das Team stand um sie versammelt, bepackt mit Kerzen, geschnitzten Kürbisköpfen, Getränken und Snacks, und war mehr oder weniger kunstvoll verkleidet für den gruseligen Partyabend. Assistentin Gilda, weiß geschminkt mit roten Lippen, von denen ein Rinnsal Theaterblut zum Kinn hinunterlief, die langen Haare offen wallend über einem dunklen Cape, trug eine Tasche mit italienischen Vorspeisen und Fingerfood aus dem Restaurant ihrer Eltern über der Schulter.

Detektiv Drake Tomlin, ganz in Schwarz mit weißem Kragen und überdimensionalem, silbernen Kreuz vor der Brust, stellte den Bierkasten ab und atmete tief durch.

„Was bist du eigentlich? Eine Punkerin?“, fragte er Lauras Freundin, die Pianistin Barbara Hellmann, in deren Tasche drei Flaschen feinster Champagner leise klirrten. Sie hatte die goldblonden Haare unter einer schwarzen Irokesenperücke versteckt, trug schwarzes, eng anliegendes Leder mit Reißverschlüssen und ins Gesicht hatte sie sich eine Narbe geschminkt.

„Ich bin Lisbeth aus diesen Jahrtausend-Krimis. Ist doch klar, du Exorzistenpriester. Zeigst du nachher, was du drauf hast? Wir tanzen dann das Böse aus diesem Kasten heraus.“

„Lisbeth. Wusste ich direkt.“ Justin, dessen hochgewachsene, schlaksige Gestalt in einem Werwolf-Ganzkörper-Plüschanzug steckte, grinste breit. Er war erst fünfzehn und damals für den ersten großen Fall der Detektei als Unterstützung für eine Observierung angeheuert worden. Seitdem hatte er in der Agentur sein zweites Zuhause aufgeschlagen. Da seine Eltern sich nicht sonderlich um ihn kümmerten, hatte es Laura zugelassen, dass er seine Hausaufgaben bei ihnen machte und mit durchgefüttert wurde.

„Du hast die Bücher gelesen?“ Barbara sah ihn überrascht an.

„Nein. Aber ich habe den Film gesehen. Den mit James Bond. War ganz ok.“

„Den hab ich auch gesehen. Hätte nicht gedacht, dass du so was magst.“

„Ich auch nicht. Aber ein Mädchen aus meiner Klasse ist Fan von so alten Filmen und wollte ihn unbedingt gucken.“

„Ah, ein Mädchen aus deiner Klasse ...“ Barbara zog das letzte Wort in die Länge, doch da er nicht reagierte, ließ sie das Thema fallen. Stattdessen wandte sie sich zu Laura um: „Wann kommt Swetlana? Sollen wir hier draußen auf sie warten?“

Swetlana Braun gehörte eigentlich nicht zum Team, hatte aber beim letzten großen Fall der Detektei Peters ausgeholfen, weil die Detektive zu dem Zeitpunkt in alle Winde verstreut gewesen waren und weil sie über bemerkenswerte Talente verfügte. Eine Mischung aus Skrupellosigkeit, Tatkraft und Unerschrockenheit. Kurz darauf war sie von Mareks früherer Kollegin Maria, die ein Spezialteam eines osteuropäischen Geheimdienstes leitete, angeheuert worden.

Laura schüttelte den Kopf. „Ihr Flug aus Kasachstan oder von wo auch immer hatte Verspätung und ich weiß nicht, ob sie den Anschlussflug noch bekommen hat. Wir sollen nicht auf sie warten, hat sie geschrieben. Aber ich habe ihr den Standort geschickt und sie kann uns finden, wenn sie es noch rechtzeitig schafft. Sag mal, Marek, es war deine Idee, die Party in dieser verlassenen Irrenanstalt zu feiern. Wie überwinden wir die erste Hürde und kommen jetzt auf das Gelände?“

Sie rüttelte leicht an dem Tor und starrte durch die eisernen Stäbe in den dunklen, verwilderten Park. Und auf eine gewundene Auffahrt, auf der vereinzelt Kieselsteine im Mondlicht glitzerten und die sich bis zum Haupteingang der Villa schlängelte.

„Nichts leichter als das.“

Detektiv Marek Liebermann, der auf ein Kostüm verzichtet hatte mit dem Kommentar, echte Männer bräuchten keine Verkleidung, drängelte sich durch die Kollegen, hantierte einarmig an dem Schloss (denn unter dem anderen Arm trug er eine Weinkiste), ließ den rechten Torflügel aufschwingen und nickte ihnen zu, ihm zu folgen.

Das Team betrat den nächtlichen Garten und der Detektiv schob das Eisentor wieder hinter ihnen zu.

Es fiel metallisch klackend ins Schloss.

Barbara drehte sich um und sah kurz zurück, auf das geschlossene Gitter, die dahinter liegende, nächtlich verlassene Promenade, auf den dunkel glitzernden Rhein, der nur wenige Meter entfernt lag, und erschauerte. „Hoffentlich haben wir uns jetzt nicht selbst unseren Fluchtweg versperrt.“

„Hast du Angst?“ Marek grinste sie an. Im fahlen Mondlicht konnte sie außer seinen Zähnen und den silber reflektierenden Reißverschlüssen seiner Lederjacke kaum etwas von ihm erkennen.

Sie gab sich einen Ruck. „Quatsch. Natürlich nicht. Wir werden einen Monsterspaß haben. Let’s go!“

Sie wanderten die Auffahrt entlang, vorbei an wuchernden Büschen und herunterhängenden Zweigen mächtiger Bäume. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Von Zeit zu Zeit knirschte ein Stein unter ihren Füßen, ansonsten war es still. Justin hatte sich an die Spitze gesetzt, ließ die Taschenlampe über den Weg wandern und machte die anderen auf kleinere Hindernisse und Unebenheiten aufmerksam. Trotzdem kam Laura ins Straucheln und konnte sich gerade noch an Drake festklammern. „Upsi, danke, Hochwürden, fast hätte es mich hingebrezelt.“

„Es gehört zu meinen vornehmsten Aufgaben, gefallene Frauen zu erretten und der Läuterung zuzuführen.“ Er bemühte sich um einen salbungsvollen Tonfall, dann lachte er. „Mir ist fast das Herz stehen geblieben, ich dachte schon, ein Zombie fällt mich an.“

„Das soll ein Zombie sein?“, mischte sich Barbara ein. „Ein bisschen mehr Mühe hättest du dir schon geben können, Laura. Ich habe dir x-mal angeboten, dir mit dem Make-up zu helfen.“

„Ja, ja“, wiegelte Laura ab. Genauso wie Marek war sie kein großer Fan von Verkleidungen und hatte sich nur dem Team zuliebe in letzter Minute in ein zerrissenes Hemd und ausgefranste Jeans geworfen und grünlichen Lidschatten über das Gesicht verteilt.

Der Schrei eines Käuzchens drang durch die Nacht. Sie blieben kurz stehen und sahen sich an.

„Du hast wirklich ganze Arbeit geleistet, Marek, atmosphärisch stimmt alles.“ Laura klopfte ihm leicht auf die Schulter, dann drehte sie sich zur Villa um und musterte die Fassade.

Drei halbrunde Steinstufen führten zu einem monumentalen Portal, die großen Sprossenfenster reflektierten das Mondlicht. „Wenn man zu lange guckt, hat man das Gefühl, da drinnen ist jemand und starrt einen an. Da unten ist eine Scheibe kaputt. Sollen wir dadurch einsteigen? Das wird aber eng.“

„Natürlich nicht. Im Dunkeln und mit unserem ganzen Partyzeug viel zu gefährlich. Wir gehen selbstverständlich durch den Haupteingang.“ Marek stieg die Treppenstufen zum Eingang hoch, machte sich am Schloss zu schaffen, öffnete die Tür und ließ die anderen in die verlassene Villa.

Sie betraten eine weiträumige Eingangshalle, von der eine breite Treppe in die oberen Etagen führte. Justin ließ den Strahl der Taschenlampe über die verblichenen, vielfach zerbrochenen Bodenfliesen wandern. „Sollen wir zuerst einen Rundgang machen?“

„Auf keinen Fall“, japste Gilda. „Ich will die Tasche mit den ganzen Fressalien loswerden, sonst bricht gleich meine Schulter ab. Meine Eltern haben es wirklich gut mit uns gemeint und Berge von Essen eingepackt. Ich hoffe, ihr habt Hunger, denn ich werde das Zeug auf keinen Fall wieder mit zurückschleppen.“

„Gute Idee“, stimmte Drake zu. „Justin, guck mal, wohin die Tür da vorne führt. Wenn wir Glück haben, ist es ein Wohnzimmer oder Aufenthaltsraum, wo wir unsere Party feiern können.“

Justin näherte sich der hölzernen Kassettentür, drückte mit dem Ellenbogen seines Werwolfkostüms die Klinke herunter und leuchtete in den Raum. „Strike. Sogar ein Kamin. Ganz schön smart von dir, Drake.“

„Na ja“, murmelte der bescheiden und grinste.

Sie schleppten die Kisten und Taschen in das Zimmer und sahen sich um.

„Das ist ja ein Saal!“ Barbara stellte die Umhängetasche auf einen langen Esstisch und nahm die Champagnerflaschen heraus. „Gilda, stell die großen Kerzen in den Kamin und die Kürbislaternen auf die Tischchen daneben. Und zünde die Duftkerze an. Hier riecht es ganz schön muffig.“

„Zu Befehl, Boss!“ Die Assistentin stakste mit langen, dünnen Beinen und schwingendem Cape durch den Raum, entzündete die Kerzen und Teile des Wohnzimmers wurden im flackernden Schein sichtbar: ein mannshohes Porträt eines streng dreinblickenden Arztes im weißen Kittel und mit geschwungenem Schnurrbart, zerschlissene Sessel und ramponierte Möbel, schwere Samtvorhänge vor den breiten Fenstern.

„Perfekt“, lobte Drake. „Jemand ein Bier?“

„Wir sollten mit dem Schampus starten“, wandte Barbara ein. „Er ist noch schön kalt, wäre schade um das gute Zeug, wenn es warm würde.“ Mit sattem Ploppen entkorkte sie die erste Flasche und schenkte die Gläser voll. „Bedient euch!“ Dann hielt sie inne. „Was war das? Habt ihr das auch gehört?“

„Sehr witzig.“ Laura nahm sich ein Glas und nippte daran.

„Nein, ernsthaft. Ich glaube, jemand ist im oberen Stockwerk.“

„Unwahrscheinlich“, beruhigte Marek. „Höchstens irgendein Tier, das durch das kaputte Fenster reingekommen ist. Aber wir können nachher mal nachsehen.“

„Machen wir Musik? Ich habe die Box mitgebracht. Wir können die Halloweenplaylist von meinem Handy hören.“ Justin platzierte den Lautsprecher auf dem Kaminsims und schon drang leise die Titelmusik einer bekannten Mystery-Serie durch den Raum.

„Lasst uns ein paar Sessel hierher stellen. Dann erzählen wir uns unheimliche Geschichten und später, wenn wir richtig in Gruselstimmung sind, erkunden wir das Gebäude.“ Drake zog einen Lehnsessel näher und kurz darauf saß das Team mit Getränken versorgt rund um den Kamin versammelt.

Laura hob das Glas: „Noch mal herzlich willkommen zur wahrscheinlich schrägsten Halloweenparty in der Stadt. Nur Marek kommt auf so eine hirnrissige Idee, die Nacht der Toten und des Horrors ausgerechnet in einer verlassenen Irrenanstalt zu feiern. Wo die Seelen der gequälten Patienten in der Zwischenwelt gefangen sind und nur darauf warten, uns um Mitternacht heimzusuchen. Stoßt mit mir an, auf dass wir heil wieder hier rauskommen!“

„Auf dass wir heil wieder hier rauskommen“, antworteten die anderen im Chor und ließen die Gläser klirren.

„Noch ein paar Hinweise vorweg, bevor ihr zu sehr in Partylaune geratet“, schaltete sich Marek ein. „Wir müssen ein paar Regeln beachten. Zuerst ist da der Ehrenkodex der Urbexer, denn dies ist ein verlassener Ort, ein sogenannter lost place.“

„Was sind Urbexer?“, fragte Justin.

„Das Wort ist eine Abkürzung für Urban Explorers. Das sind Leute, die verlassene Orte erkunden. Ähnlich wie Pilzsammler verraten sie aber die Standorte nicht. Zudem machen sie nichts kaputt, nehmen nichts von dort mit und lassen auch nichts dort zurück. Vor allem keinen Müll. Das müssen wir auch so machen.“

Die anderen nickten zustimmend.

„Außerdem sollten wir nicht zu laut sein und möglichst sehen, dass kein Licht nach außen dringt. Die Villa liegt zwar sehr abgeschieden, aber gerade an Halloween kontrolliert die Polizei gerne die eher verlassenen und gruseligen Orte. Und wir wollen ja nicht, dass unsere Detektei wegen unbefugten Betretens oder gar Einbruchs verurteilt wird.“

„Ich dachte, das wäre das Ehrenabzeichen unter den Detektiven“, witzelte Barbara.

Marek grinste. „Das ist das Abzeichen für die Noobs. Oder besser gesagt: das Kennzeichen für die Anfänger und Nichtskönner. Ein guter Detektiv lässt sich nicht erwischen. Ok, Leute, das war es. Feuer frei für die Party.“

Drake räusperte sich. „Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt ‚Wahr-oder-falsch‘ spielen? Ich erzähle euch eine unheimliche Geschichte und ihr müsst raten, ob sie wirklich passiert ist. Es ist die Geschichte dieser Villa, ok? Also: Vor fast hundert Jahren hat ein Industrieller das Grundstück am Rheinufer gekauft und darauf dieses Haus für seine Tochter bauen lassen. Das Mädchen hieß Cäcilie, hatte früh ihre Mutter verloren und war der Augapfel ihres Vaters. Die Kleine liebte den Rhein, deshalb war dieser Ort perfekt und ihr Vater unternahm gerne Ausflüge mit dem Schiff mit ihr. Doch eines Tages traf sie das Verhängnis. Sie wurde übermütig, kletterte auf die Reling, um einem anderen Boot zuzuwinken, und fiel über Bord. Natürlich wurde ihr sofort ein Rettungsring zugeworfen, den sie sich auch umlegen konnte, doch es war zu spät: Sie war der Schiffsschraube schon zu nahe gekommen. Als man sie an Deck zog, waren ihr Gesicht und ihr Körper überall zerschnitten und der rechte Arm abgetrennt worden.“

Barbara schüttelte sich. „Jetzt übertreibst du. Das ist doch nicht wahr.“

Drake machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Wer weiß. Aber wartet erst mal ab, wie es weitergeht. Die kleine Cäcilie war schwer verletzt, die Ärzte kämpften mehrere Wochen um ihr Leben, bis klar wurde, dass sie es schaffen würde, und es dauerte fast ein Jahr, bis sie endlich das Krankenhaus verlassen konnte. Ihr Vater soll ihr eine Spieluhr ins Hospital gebracht haben, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und deren Melodie sie sich immer wieder anhörte. Angeblich spielte sie ‚Guten Abend, gute Nacht‘, das Wiegenlied von Brahms (der das Musikstück übrigens hier in Bonn komponiert hat). Sie hat sich das Lied sogar so oft angehört, dass eine Tonzunge, also eine dieser kleinen Metallkammzinken, abbrach. Die Spieluhr und die Erinnerung an ihre Mutter haben ihr sicherlich geholfen, langsam wieder gesund zu werden. Aber sie war nie mehr dieselbe, ihr Gesicht war völlig zerstört. Aus dem kleinen, hübschen Mädchen mit den blonden Zöpfchen war ein einarmiges, humpelndes Monster geworden, das sich nur noch mit grunzenden Lauten verständigen konnte.“

„Wehe, die Geschichte ist wahr“, warf Laura ein, als er eine kurze Pause machte. „Dann hast du uns nämlich gehörig den Abend verdorben. Die arme Kleine.“

Er zwinkerte ihr zu und lächelte leicht, dann fuhr er fort.

„Der Vater wollte sich nicht damit abfinden. In der ganzen Welt suchte er nach den besten Ärzten, die Cäcilie ihre Lieblichkeit und die Stimme zurückgeben sollten. Aber vergebens. Jeder sagte ihm, es sei unmöglich und man könne nichts tun. Bis auf einen.“

Er trank theatralisch einen Schluck Champagner und sah in die gespannten Gesichter seiner Zuhörer.

„Jetzt erzähl schon weiter“, drängte Gilda und stupste sein Bein mit dem Fuß an.

„Es war ein Arzt aus Montevideo. Er hatte einen schrecklichen Ruf. Es gab Gerüchte, dass er an lebendigen Menschen experimentierte, um selbst eine Kreatur zu erschaffen. Aber es konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden.“

„Montevideo, ja?“, fragte Marek spöttisch.

Drake zuckte mit den Schultern. „Cäcilies Vater holte ihn hierher, in diese Villa, richtete ihm ein Labor und ein Operationszimmer ein und zahlte ihm so viel Geld, wie der Arzt verlangte. Und damit begann das wahre Martyrium für Cäcilie. Es heißt, sie wurde fast jede Woche operiert. Vor allem das Gesicht und die Stimmbänder. Sie muss Unglaubliches ertragen haben, einmal soll der Arzt sogar versucht haben, ihr den Arm eines toten Kindes anzunähen. Da sie nicht mehr sprechen konnte, war es ihr nicht möglich, ihren Vater um Hilfe zu bitten. Und der verstieg sich immer mehr in der irrsinnigen Hoffnung, der verrückte Arzt könnte doch noch Erfolg haben, und stoppte das unheilige Treiben nicht. Gute Absichten führen manchmal auf direktem Wege in die Hölle.“

Drake machte erneut eine Pause.

Barbara verdrehte die Augen und nippte an ihrem Champagner. Gilda stupste wieder mit der Spitze ihres schwarzen Stiefels gegen Drakes Bein.

„Sechs Monate nachdem der Arzt aus Montevideo hier eingezogen war und sein schändliches Treiben begonnen hatte, starb Cäcilie. Obwohl sie unglaublich geschwächt war, hatte sie trotzdem eines Nachts versucht, zu fliehen. Angeblich war sie aus dem Bett gestiegen, die Treppen hinuntergewankt und in der Nacht verschwunden. Allerdings hat man sie nie gefunden. Der Vater schickte Suchtrupps mit Hunden los, um die Umgebung zu durchkämmen, und heuerte Boote und Schiffe an, um den Rhein mit Schleppnetzen absuchen zu lassen. Doch vergeblich. Das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen war wie vom Erdboden verschluckt. Genauso wie die Spieldose. Der einzige Gegenstand, der ihr in der ganzen Zeit des Martyriums Trost gespendet hatte.“

„Gruselig.“ Laura sprang auf, lief zu dem großen Tisch und schenkte sich Champagner nach.

„Es geht noch weiter: Nach einigen Tagen verzweifelte Cäcilies Vater. Eines Nachts drehte er völlig durch und erwürgte den verrückten Arzt mit bloßen Händen auf dessen Operationstisch. Dann nahm er ein rasiermesserscharfes Skalpell und zerfleischte seine Leiche. Es muss ein furchtbares Blutbad gewesen sein. Außerdem schnitt er seinem Opfer den kleinen Finger der rechten Hand ab. Vielleicht als Zeichen der Sühne? Oder als Tribut? Für Cäcilies verlorenen Arm? Und all ihre erduldeten Qualen? Wer weiß. Anschließend zündete er im ganzen Haus Kerzen an, legte sich in die Badewanne, öffnete sich die Pulsadern und wartete auf den Tod. Als er bereits völlig geschwächt war, schleppte er sich noch in sein Schlafzimmer, legte sich auf das Bett, schnitt sich auch den kleinen Finger der rechten Hand ab und starb. Jedenfalls vermutet man, dass es so abgelaufen ist, denn die beiden wurden erst Wochen später gefunden und waren schon so stark verwest, dass eine Herleitung der genauen Umstände nicht mehr möglich war.“

Drake trank einen Schluck Champagner und hob den Zeigefinger zum Zeichen, dass er mit der Erzählung noch nicht fertig war.

„Aber vielleicht war ja alles ganz anders? Vielleicht ist Cäcilie gar nicht geflohen, sondern hat sich im Haus versteckt? Vielleicht auf dem Dachboden? Oder in einer verborgenen Kammer unten im Keller? Vielleicht hat sie auf ihre Chance gelauert, um sich zu rächen für all das Leid, das man ihr angetan hatte. Und eines Nachts, als der verrückte Arzt aus Montevideo sich für einen Augenblick auf seiner Operationsliege ausgestreckt hatte, um eine Pause von seinen schändlichen Experimenten zu machen, kroch sie aus ihrem Versteck. Leise wie ein Schatten. Griff mit den zarten, kleinen Fingern ihrer verbliebenen Hand nach dem glänzenden, scharfen Skalpell ... und zerfleischte den arglosen Arzt. Kam wie eine Furie über ihn und richtete ein unsagbares Blutbad an. Nahm Rache an ihrem Peiniger genau an dem Ort, wo sie ihr Martyrium durchleiden musste.“

Drake nahm wieder einen Schluck und sah einmal in die Runde.

„Anschließend tötete Cäcilie ihren Vater. Weil er es gewesen war, der sie diesem sadistischen Monster ausgeliefert hatte. Und vielleicht lauert sie ja immer noch hier? Irgendwo in den Tiefen der alten Villa. Und wartet darauf, auch uns zu erwischen. Einen nach dem anderen. Und uns abzumetzeln mit dem blutigen Skalpell ihres Peinigers, dem verrückten Arzt aus Montevideo. Also macht nicht den Fehler wie in den Horrorfilmen und entfernt euch von der Truppe. Bleibt schön zusammen. Nur so sind wir sicher vor ihr.“

Drake drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger, dann wurde er wieder ernst.

„Das Haus stand danach zehn Jahre leer, bis daraus eine Nervenheilanstalt von zweifelhaftem Ruf gemacht wurde. Aber auch die wurde vor fünfundzwanzig Jahren geschlossen und seitdem ist das Gebäude ungenutzt. Außer heute Abend.“ Er hob sein Glas und deutete eine leichte Verbeugung an.

Die anderen applaudierten.

„Toll erzählt“, lachte Barbara. „Wirklich gruselig. Aber die Geschichte stimmt natürlich nicht. Ich bin mir sicher, ich hätte sonst davon schon einmal gehört.“

Drake grinste. „Wer weiß. Natürlich habe ich die Story ein bisschen ausgeschmückt. Aber ein kleines Mädchen namens Cäcilie hat wohl wirklich hier mal gelebt. Ich habe es irgendwo gelesen. Aber vielleicht war sie auch nur eine Patientin.“

„Jedenfalls sah sie bestimmt nicht wie ein Monster aus und wurde auch nicht von dem verrückten Arzt gequält. Das hast du dir ausgedacht.“ Gilda sprach noch lauter als gewöhnlich. Anscheinend war ihr die Geschichte nahe gegangen und sie wollte sich nun selbst beruhigen.

„Ist der Mann auf diesem Bild der Arzt aus Montevideo?“ Laura war wieder aufgestanden, um das Porträt aus der Nähe zu betrachten.

Marek schüttelte den Kopf. „Nein, das ist der erste Direktor der Nervenheilanstalt. Genauso wie der gute, alte Drake habe ich mich auch über das Gebäude schlaugemacht. Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt den Rundgang machen und ich euch erzähle, was ich herausgefunden habe?“

Laura sprang auf. „Gute Idee! Los Leute, schauen wir uns das Spukhaus mal genauer an.“

„Und vielleicht finden wir die kleine Cäcilie“, witzelte Barbara und senkte die Stimme dann zu einem geheimnisvollen Flüstern: „Ich glaube zwar nicht, dass sie hier herumspukt und auf uns lauert, aber es kann ja sein, dass sie sich damals aus Versehen in einem Wandschrank eingeschlossen hat, aus dem sie nicht mehr herauskam, und nie gefunden wurde. Vielleicht steckt sie noch irgendwo hier, mumifiziert oder skelettiert, und wir können dafür sorgen, dass sie ein christliches Begräbnis erhält. Ich werde jedenfalls alle geheimen Schränke untersuchen.“

Gilda lachte nervös auf. „Hör auf mit dem Quatsch, Barbara. Ich möchte erst mal nichts mehr von Cäcilie hören. Mir ist so schon spannend genug.“

Laura sah sie überrascht an. „Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Du hast es schon mit den erbarmungslosesten Verbrechern aufgenommen und jetzt macht dir Drakes kleine Gruselgeschichte Angst?“

„Die Kriminellen kann man bekämpfen. Sie sind real. Doch vor den Toten müssen wir Respekt haben, sonst bringt es Unglück.“

„Aber Drake hat die Geschichte nur erfunden.“

„Ja. Vielleicht. Trotzdem.“ Gilda ließ sich nicht überzeugen.

Laura entschied sich, es vorerst darauf beruhen zu lassen. Gilda hatte sich bei der Lösung der Fälle der Detektei immer als mutig und unerschrocken erwiesen. Nicht selten sogar mehr, als es Laura lieb gewesen war. Dass sie sich jetzt, wo es um die Toten ging, so dünnhäutig zeigte, war überraschend. Vielleicht lag es an ihren süditalienischen Wurzeln. Laura wusste, dass Gildas Mutter sehr fromm war, vielleicht steckte in ihrem Glauben aber auch ein Hauch paranormaler Esoterik, der auf die Assistentin abgefärbt hatte und sie jetzt nervös machte.

Sie beschloss, Gilda im Auge zu behalten.

Cäcilie

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