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1 Prolog
JVA Masdorf
Neun Jahre zuvor

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Erst am Ende der Hoffnung, wenn es nichts mehr zu verlieren gibt, ist es die Verzweiflung, die die Kräfte des Bösen freisetzt.

Auf manche Orte kann man sich nicht vorbereiten. Egal wie groß die Befürchtungen oder wie niedrig die Erwartungen, alles kommt noch viel schlimmer. Manche Orte sind einfach die Hölle.

Das Gefängnis ist so ein Ort: Vordergründig geprägt von strenger Hierarchie und strikten Regeln, selbst für die privatesten Verrichtungen, öffnen sich hinter den verschlossenen Zellentüren die unheilvollen Weiten eines rechtsfreien Raums, in dem das System von Gut und Böse außer Kraft gesetzt und Sadismus zum obersten Prinzip wird.

Das Wochenende stand bevor, die Wärter waren gut gelaunt, tauschten ihre Pläne aus und rissen Witze über einen unerfahrenen Kollegen, der die Stellung halten musste. Es war fast sechs Uhr, alles wurde für den Schichtwechsel vorbereitet, Türen schlugen laut hallend zu und zunehmend kehrte Ruhe ein. Doch diese Ruhe war trügerisch. Beklemmend.

Der Vorbote des Grauens, das auf ihn wartete.

Er trottete mit den anderen Gefangenen hinter dem keuchenden Wärter her, der süßlich nach Schweiß stank, und starrte auf die silberne Kette mit den Schlüsseln und Schließkarten, die an dessen Hose befestigt war. Den Gürtel konnte man nur erahnen, er war verborgen unter den Speckrollen, die sich weit über den Hosenbund wölbten. Mit jedem Schritt wuchs seine Verzweiflung. Er spürte Übelkeit aufsteigen, Panik. Wie ein gefangenes Tier rasten seine Gedanken und suchten nach einem Ausweg, aber sein Verstand gab ihm klar zu verstehen, dass es den nicht gab. Niemand würde ihm helfen, es gab keine Rettung.

Freitag Abend, achtzehn Uhr, bis Montag Morgen, sechs Uhr. Vor ihm lagen sechzig Stunden Martyrium. Und alles, was er tun konnte, war darum zu kämpfen, am Leben zu bleiben.

Die Gruppe wurde kleiner, einer nach dem anderen bog in eine Zelle ab und wurde eingeschlossen. Er blieb als Letzter übrig. Der Wärter schlurfte zu einer geöffneten Tür, postierte sich daneben und suchte den richtigen Schlüssel: „Rein mit dir.“

Die Übelkeit stieg in ihm hoch und seine Füße wollten ihn nicht weiter tragen.

„Mach schon. Ich habe heute noch was anderes vor.“

Zögernd trat er in die Türöffnung. Sie hockten auf den Betten, die Arme auf die Beine in den Trainingshosen gestützt und warteten auf ihn.

„Nein!“ Der Schrei war in seinem Kopf so laut wie eine Explosion, doch über seine Lippen kam nur ein Flüstern.

„Vito hat darum gebeten, dass ihr das Wochenende gemeinsam verbringen könnt. Dann wünsche ich euch viel Spaß.“ Der Wärter stieß ihn in den Rücken und er stolperte in den Raum, konnte sich gerade noch an der Lehne eines Betts abfangen, um nicht hinzufallen. Die drei Zellenkameraden lachten dreckig. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.

Das Spiel begann.

„Na, du Hurensohn? Freust du dich, uns zu sehen?“ Das Wiesel mit dem eklatanten Lispeln schickten sie jedes Mal vor. Er war der Schwächste des Trios und wurde von den anderen gequält, wenn es sonst kein Opfer gab. Doch wenn sie ihn mitmachen ließen, tat er sich mit besonderer Brutalität und Härte hervor, um sie zu beeindrucken.

„Guck, Schwuli, da ist der Eimer. Du machst dir bestimmt schon in die Hosen.“

Es begann immer mit Worten. Beleidigungen, Beschimpfungen. So pushten sie sich hoch, brachten sich in Stimmung. Versuchten ihn aus der Reserve zu locken, zu provozieren. Damit er einen Fehler machte, ausfallend wurde, womöglich als Erster zuschlug. Fast, als bräuchten sie einen Grund, eine Ausrede, um endlich loslegen zu können. Doch dem war nicht so. Es war lediglich ihr rituelles Vorspiel, das sie zelebrierten. Die Gewaltorgie würde auch beginnen, wenn er nicht reagierte.

Das Wiesel gab ihm einen Stoß. „Los, Hose runter. Du weißt, wir brauchen einen vollen Eimer für den Spaß.“

Ergeben senkte er den Kopf, öffnete mit zitternden Fingern den Knopf und zog den Reißverschluss herunter. Sich wehren half nicht, das hatte er bereits mehrfach versucht, es vergrößerte im Zweifel nur noch ihr Vergnügen und sein Leiden.

Dann blieb die Zeit stehen.

Sie arbeiteten sich an ihm ab. Traten ihn, bis sie müde wurden, tauchten sein Gesicht in die eigenen Fäkalien, bis er dachte, er müsse ersticken, penetrierten ihn von allen Seiten und demütigten ihn auf jede nur erdenkliche Art. Aber so schlimm wie dieses Mal war es noch nie gewesen.

Seine Wahrnehmung bestand nur noch aus Schmerz. Schmerz und Angst. Unterbrochen von gelegentlichen Auszeiten, die ihm sein Bewusstsein gönnte, wenn es sich in eine Ohnmacht verabschiedete, weil der Körper an seine Grenze gelangt war. Doch sie holten ihn immer wieder zurück. Ein Guss kaltes Wasser und Schläge ins Gesicht reichten, um ihn aus gnädig schwarzer Nicht-Existenz zurück in die Hölle der Realität zu zwingen.

Seine Peiniger waren ausdauernd.

Die Freude am Quälen, das Adrenalin und die sexuelle Erregung bildeten einen Drogen-Cocktail, der wirksamer war als jedes Amphetamin. Doch sechzig Stunden waren lang. Selbst wenn sie unterbrochen wurden durch die Kontrollgänge des Wärters, der alle acht Stunden einen Rundgang machte und durch das kleine Fenster in der Zellentür guckte und sogar einmal eine Extrarunde einlegte, weil Zellennachbarn sich über den Lärm beschwert hatten, und er wissen wollte, ob ‚alles in Ordnung sei‘. Oder durch gelegentliche Essenspausen, bei denen immer einer bei ihm blieb, damit er nicht um Hilfe schreien oder fliehen konnte. (Was absurd war, denn wenn es etwas an diesem Ort nicht gab, waren es Hilfe oder die Möglichkeit zu entkommen.) Doch gegen Sonntagnachmittag schien es ihm, als würden sie müde, als schlüge die Stimmung um. Als wollten sie das Ganze beenden.

Und als würde ihnen plötzlich klar, was sie ihm angetan hatten.

Und dass selbst, wenn er sie nicht denunzierte, die Gefängnisleitung davon erfahren und sie anzeigen würde. Vorzeitige Entlassung oder Hafterleichterungen waren damit für die drei Monster in weite Ferne gerückt. Fast regte sich so etwas wie Schadenfreude in ihm. Wenn er dazu die Kraft gehabt hätte.

Doch dann entwickelte sich diese Idee. Er konnte gar nicht sagen, wer zuerst darauf gekommen war, denn er dämmerte nur in seinem Schmerz dahin, erleichtert, für eine Weile Ruhe von den Quälereien zu haben, aber plötzlich sprachen sie nur noch darüber, begeisterten sich mehr und mehr für den Plan, überboten sich an Vorschlägen für die Ausführung.

„Du wirst Selbstmord begehen, du schwule Sau. Du Kindermörder. Hast du verstanden?“ Vito, der Boss, sprach ihn zuerst an. Das tat er selten. Mit ihm sprechen. Meist ignorierte er ihn, während er ihn schlug, trat oder ihn von hinten nahm. Sah ihn noch nicht einmal dabei an. Deshalb wirkten seine Worte umso furchteinflößender.

„Er muss es selbst machen.“ Das Wiesel wippte aufgeregt auf seiner Matratze. „Hast du verstanden, Kindermörder? Allein.“ Er lachte irre.

„Wir reißen einfach das Laken in Streifen und knoten es aneinander. Und dann hängt sich das Arschloch damit auf. Los, Body, dein Job.“ Vito gab dem dritten im Bunde, den sie Body nannten, weil er Muskeln wie ein Berg und ein Gehirn wie Erbsenpüree hatte, einen Wink. Der erhob sich, riss das Betttuch aus der Koje und versuchte, mit bloßen Händen einen Streifen abzutrennen. Doch das gestaltete sich schwieriger als erwartet.

Und erkaufte ihm Zeit. Letzte, kostbare Momente in seinem kurzen Leben, das ihm plötzlich wieder so wertvoll erschien. Die vergangenen zwei Tage hatte er nichts mehr herbeigesehnt als den Tod, sich gewünscht, dass die Qualen endlich ein Ende finden würden – für immer. Doch jetzt, wo er auf der Matratze lag, so wie sie ihn dort hingeworfen hatten - ihm fehlte die Kraft, sich in eine bequemere Position zu drehen - und den dreien bei den Vorbereitungen zu seinem Selbstmord zusah, erwachte sein Lebenswille wieder. Er wollte nicht sterben. Nicht hier, nicht jetzt, nicht durch die Hand dieser Monster und erst recht nicht durch seine eigene.

Das Schicksal hatte sein Leben in einen Albtraum verwandelt, aber es musste auch wieder andere Tage geben. Es konnte doch nicht alles so enden.

Laut ratschend gab das Betttuch nach und Body reichte dem Wiesel den ersten Streifen. Der Muskelprotz schien jetzt den Dreh heraus zu haben, die nächsten Stoffstücke dauerten nur noch wenige Augenblicke und schon bald hatten sie ein improvisiertes Seil hergestellt.

Das Wiesel beugte sich vor sein Gesicht und hielt es ihm hin. „Los, Kindermörder, du bindest dir jetzt den Strang um den Hals, dann machst du es an der Heitzung fest und hängst dich da rein, bis du abnippelst. Klar?“

Er schüttelte den Kopf, wollte sich wegdrehen, doch es war aussichtslos. Erst recht in seinem erbärmlichen Zustand. Sie grölten und johlten, feuerten ihn an, das Wiesel starrte sabbernd mit leeren Augen vor sich hin und wichste.

Das Ringen um den Tod dauerte Stunden.

Auch wenn er bald einverstanden war, sich zu töten, brachte er es nicht bis zu Ende. Es ging einfach nicht. Die Heizung, an die sie ihn gebunden hatten, war zu niedrig, sein Körpergewicht schien nicht auszureichen, um die Schlinge um seinen Hals endgültig zuzuziehen. Jedes Mal, wenn er kurz davor stand, endlich ohnmächtig zu werden und zu sterben, regte sich sein Lebenswille und ließ sich nicht niederkämpfen. Immer wieder kroch er ins Leben zurück, nur um durch Tritte und Schläge zu einem weiteren Versuch gedrängt zu werden.

Die Prozedur zog sich ewig hin. Das Morgengrauen kündigte bereits den neuen Tag und damit die Wachablösung an.

Vito verlor die Geduld. Er gab Body einen Wink: „Mach du das.“

Der nickte, stand auf, sah einen Augenblick unbewegt auf ihn nieder, dann sprang er mit Anlauf und dem Hintern zuerst auf ihn runter.

Die letzten Gedanken bestanden aus der Erkenntnis, dass es geschafft war.

Schlugen um in Wut, Hass.

Und dem Aufblitzen von tödlichem Durst nach blutiger Rache. Er würde wiederkehren. Und sie alle finden.

Mit einem gewaltigen Krachen wurde es dunkel in seinem Kopf.

Endgültig.

Monströse Moral

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