Читать книгу Dr. Laurin Classic 32 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 3
ОглавлениеVor der Prof.-Kayser-Klinik hielt ein Taxi, dem eine junge Frau in einem hellen Mantel entstieg.
»Warten Sie bitte«, sagte sie zu dem Fahrer, der sie mit einem verwunderten Blick musterte, weil es ein warmer Tag war, sein Fahrgast aber trotz des warmen Mantels zu frösteln schien.
Maren Hellbrogs Hände waren eiskalt, und ihr schmales, feines Gesicht war blutleer, als sie das Vorzimmer des Chefarztes Dr. Laurin betrat.
Hanna Bluhme, Dr. Laurins Sprechstundenhilfe und Sekretärin, erschrak.
Sie vergaß die Begrüßung und fragte besorgt: »Ist Ihnen nicht gut, Frau Hellbrog?«
»Oh, es geht schon«, erwiderte Maren leise. »Mir bekommt das Autofahren nur nicht mehr.«
Maren Hellbrog kannte Hanna Bluhme schon lange. Sie war mit Hannas Tochter Cornelia zur Schule gegangen.
Tiefe Besorgnis drückte sich in Hannas Mienenspiel aus.
»Es trifft sich gut, Dr. Laurin hat sofort Zeit«, sagte sie.
Sie rief zur Station durch. Dr. Laurin hatte gesagt, daß sie ihn verständigen solle, wenn Frau Hellbrog gekommen sei.
»Wie geht es Nele?« erkundigte sich Maren.
»Bestens. Ewig in den Flitterwochen«, erwiderte Hanna.
Hanna Bluhme machte sich ihre Gedanken, als Maren im Sprechzimmer verschwand.
Vor einem Jahr, kurz nachdem Hannas Tochter Nele Tommy Keppler geheiratet hatte, flatterte ganz unerwartet auch Marens Heiratsanzeige ins Haus. Bodo Hellbrog, der Sohn einer angesehenen Architektenfamilie, war der Auserwählte.
»Hoffentlich wird Maren glücklich«, hatte Nele sich geäußert.
Als Maren das erste Mal in Dr. Laurins Praxis erschien, hatte man annehmen können, daß sie glücklich sei. Die Freude, Mutter zu werden, verlieh ihr eine ganz besondere Anmut.
Heute war davon allerdings nichts zu sehen.
»Es ist alles in Ordnung, Frau Hellbrog. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte er.
Auch jetzt hellte sich Marens Miene nicht auf. Kurz traf ihr Blick das markante Gesicht des Arztes, dann senkten sich die Lider.
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich das Kind nicht bekommen würde«, sagte sie bebend.
Wie ein Schlag trafen diese Worte den Arzt. Leon Laurin brauchte Sekunden, bis er sich wieder gefaßt hatte.
»Wovor haben Sie Angst?« fragte er heiser.
»Vor dem Leben«, erwiderte Maren. Dann erhob sie sich. »Vergessen Sie bitte, was ich sagte. Wie sollten Sie das begreifen?« flüsterte sie.
»Während der Schwangerschaft ist das Stimmungsbarometer oftmals schwankend«, sagte Dr. Laurin, bemüht, seiner Stimme einen aufmunternden Klang zu verleihen, was ihm aber nicht recht gelang.
»Ja, das wird es sein«, sagte Maren tonlos. »Ich lasse mich gehen.«
Noch lange, nachdem Maren gegangen war, dachte Dr. Laurin darüber nach. Sie ließ sich nicht gehen. Sie nahm sich sogar mit aller Kraft zusammen.
Er setzte sich zu Hanna auf den Schreibtisch.
»Ich weiß auch nichts über Maren Hellbrog«, sagte sie, als ahne sie seine Gedanken.
»Nele kennt sie aber doch recht gut«, meinte er.
»Ich glaube nicht, daß sie sich in letzter Zeit gesehen haben, aber ich werde Nele fragen. Sie meinen, daß es in der Ehe nicht stimmt?«
»Irgend etwas stimmt sicher nicht, und es sieht aus, als könnte es gefährlich für Frau Hellbrog werden.«
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich das Kind nicht bekommen würde«, klang diese müde, resignierte Stimme in seinen Ohren fort. Und dabei war sie vor drei Monaten so glücklich gewesen.
»Nun, hoffen wir, daß sie in vier Wochen wieder mit lachendem Gesicht erscheint«, sagte er.
Er ahnte an diesem Tag nicht, daß er Maren Hellbrog erst zwei Monate später unter dramatischen Umständen wiedersehen würde.
*
Maren hatte sich von dem Taxi heimfahren lassen. Sie hatte schon von weitem den silbergrauen Sportwagen ihres Mannes vor der Garage stehen sehen.
Ihre Finger bebten, als sie die Tür aufschloß.
Er war groß und schlank, trug Tenniskleidung und hatte eine Sonnenbrille auf. Sein schmallippiger Mund, der immer einen spöttischen, überheblichen Ausdruck hatte, verzog sich zu einem verkrampft wirkenden Lächeln.
»Wo warst du?« fragte er.
»In der Klinik«, erwiderte Maren leise.
»Ich habe für das Turnier trainiert«, sagte er beiläufig. »Meine Chancen steigen.«
»Wie erfreulich.« Es gelang ihr tatsächlich, dies ironisch zu sagen. »Wo ist Martha?«
»Wahrscheinlich in der Küche. Ich fahre jetzt in die Stadt. Übrigens kommen heute abend ein paar Leute. Ich habe ein kaltes Büfett im Restaurant bestellt. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.«
Keine Frage nach ihrem Befinden, kein Wort über das Kind. Nur er selbst war sich wichtig, er und seine Freunde, die sie ertragen mußte, Sie wollte so gern aufbegehren, aber sie konnte es nicht. Er ging an ihr vorbei und tätschelte ihr die Wange.
»Wenn ich dein Arzt wäre, hätte ich dir verboten, ein Kind zu bekommen«, sagte er, um dann in seinem Zimmer zu verschwinden.
Marens Augen brannten von ungeweinten Tränen. Der Boden schwankte unter ihren Füßen, aber plötzlich stand Martha vor ihr mit mütterlich besorgtem Lächeln.
»Sie sollten sich jetzt hinlegen, Frau Hellbrog«, sagte sie.
»Ja, ich werde mich hinlegen«, erwiderte Maren mit klangloser Stimme.
Sie lag auf ihrem Bett und starrte zur Decke, als sie Bodos Wagen mit aufheulendem Motor davonfahren hörte. Rücksichtslos, wie er immer war.
So kann es nicht weitergehen, dachte Maren. Doch war nicht eine Spur Widerstand in ihr.
*
Bodo Hellbrog hielt vor einem modernen Appartementhaus. Mit dem Lift fuhr er zum achten Stockwerk und läutete zweimal.
Die Tür wurde geöffnet. Eine attraktive Blondine stand vor ihm.
»Da bist du ja endlich, Bodo«, sagte sie unwillig. Den Ton mochte er selbst von Gila Dittmar nicht.
Als sie ihre Arme um seinen Hals legte und sich an ihn preßte, schwand sein Unwillen. Er küßte sie voller Leidenschaft. Er, der mit Frauen immer nur gespielt hatte, dem Liebe ein unbekannter Begriff war, war Wachs in den Händen dieser Frau, und das wußte Gila genau. Sie kannte ihn, wie kein anderer Mensch ihn je kennengelernt hatte. Für sie war Bodo Hellbrog Mittel zum Zweck. Reichtum, gesellschaftliche Stellung, gepaart mit dem Vorzug, einen blendend aussehenden Mann neben sich zu wissen, war alles, was Gila erstrebte. Es spielte für sie keine Rolle, daß er erst durch seine Heirat reich geworden war. Sie hatte ihn schon vorher gekannt und es in Kauf genommen, daß er Maren heiratete. Sie wußte, daß diese Frau ihr nie gefährlich werden konnte, und sie hatte es als ganz angenehm empfunden, eine Zeitlang noch so zu leben, wie es ihr behagte, andere Chancen wahrzunehmen und Bodo doch festzuhalten. Vom Charakter her gesehen, von ihrer Einstellung zum Leben, konnten zwei Menschen gar nicht besser zueinander passen als Bodo Hellbrog und Gila Dittmar, das vielbeschäftigte Mannequin. Bodo war blind, was Gila anging. Man konnte sagen, daß er ihr hörig war.
»Du kommst heute abend mit Bernd«, sagte er mit der größten Selbstverständlichkeit.
»Und was sagt deine liebe Frau dazu?« fragte Gila spöttisch.
»Nichts! Was soll sie sagen?«
Seine Gefühllosigkeit war erschreckend, aber Gila nahm davon keine Notiz.
»Das Kind hättest du dir ersparen können«, bemerkte sie.
»Erinnere mich bloß nicht daran, aber so, wie sie aussieht, wird sie es sowieso nicht überstehen.«
Er sagte es so brutal, daß Gila doch ein kalter Schauer über den Rücken lief.
»Und wenn sie sich scheiden läßt, bevor du deine Angelegenheiten geregelt hast?« fragte Gila.
»Darüber mach dir keine Gedanken. Sie wird sich nicht scheiden lassen.«
*
Hanna Bluhme fuhr an diesem Abend gleich von der Klinik aus zu ihrer Tochter Nele, die mit ihrem Mann ein hübsches Haus im Süden von München bewohnte.
»Das ist aber eine Überraschung, Mami!« rief Nele freudig aus.
Zuerst wollte Hanna ihren kleinen Enkel anschauen, der friedlich in seiner Wiege schlummerte.
»Er ist wonnig«, sagte sie mit großmütterlichem Stolz.
»Was hast du auf dem Herzen?« fragte Nele sofort. »Du hast doch einen bestimmten Grund, ohne Voranmeldung zu kommen.«
Sie kannte ihre Mutter.
»Ja, ich habe etwas auf dem Herzen, Nele«, begann sie zögernd. »Hast du in letzter Zeit Maren getroffen?«
»Maren? Liebe Güte, man trifft sie nicht. Wie kommst du denn darauf, Mami?« fragte Nele.
»Sie war heute in der Sprechstunde. Sie ist im fünften Monat.«
»Ja, das weiß ich. Stimmt etwas nicht?«
»Sie macht keinen glücklichen Eindruck.«
»Das wundert mich nicht nach dem, was man so über ihren Mann hört. Ich verstehe nicht, daß sie ihn geheiratet hat. Ein intelligentes Mädchen wie sie und so ein Playboy.«
»Betrügt er sie?«
Nele zuckte die Schultern. »Mir tut Maren leid, aber was kann man machen. Er hat sie doch nur des Geldes wegen geheiratet.«
»Vielleicht könntest du sie einmal einladen«, schlug Hanna vor. »Es sieht so aus, als würde sie einen Menschen, einen Freund brauchen.«
Sie sagte es in so eindringlichem Ton, daß Nele errötete. »Glück macht wohl egoistisch, Mami«, sagte sie kleinlaut. »Weißt du, wir sind uns selbst genug. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß andere junge Ehepaare nicht so glücklich sind wie wir. Wenn man sich für einen Mann entscheidet, muß man es doch mit ganzem Herzen tun.«
»Vielleicht tat sie das und wurde enttäuscht«, sagte Hanna leise. »Das gibt es auch, mein Kleines. Ich bin froh, daß Tommy anders ist.«
»Ich habe meine Frau heute warten lassen«, ertönte da eine fröhliche Stimme.
Tommy Keppler küßte seine Schwiegermutter auf die Wange und nahm dann Nele in die Arme.
»Aber du hattest ja liebe Gesellschaft, mein Schatz«, sagte er zärtlich.
»Deswegen sei dir verziehen«, lächelte Nele.
»Dann werde ich euch mal allein lassen«, sagte Hanna.
»Nichts da«, protestierte Tommy, »du bleibst zum Abendessen. Ich will jetzt nur erst unserem Sohn guten Tag sagen, dann machen wir es uns gemütlich.«
Es wurde gemütlich, und über Maren Hellbrog wurde kein Wort verloren. Aber beim Abschied versprach Nele ihrer Mutter, Maren anzurufen.
*
Mit der größten Selbstüberwindung kleidete sich Maren für den Abend um. Sie wußte, daß sie eigentlich überflüssig war, aber nach außen hin wahrte Bodo das Gesicht.
Warum eigentlich?
Maren schenkte ihrem Spiegelbild kaum einen Blick, und um sich abzulenken, nahm sie eine Zeitung zur Hand. Sie wußte nicht, was sie las, doch plötzlich blieb ihr Blick an einem Namen hängen, der ihr in die Augen sprang:
Götz Hellbrog
Als der geniale Jazzpianist wurde er in der Kritik bezeichnet. Nach einer erfolgreichen Amerikatournee sollte er morgen ein Konzert in München geben.
Als schwarzes Schaf der Familie hatte Bodo seinen älteren Bruder bezeichnet. Maren hatte ihn noch nicht kennengelernt, und das würde wohl auch nie der Fall sein, denn Bodo hatte keinerlei Kontakt zu seinem Bruder.
Was mag wohl der eigentliche Grund dafür sein, dachte Maren. Hatte ein Mann wie Bodo das Recht, auf einen Erfolgreicheren herabzusehen? Bodo lebte doch nur in den Tag hinein. Er lebte von ihrem Geld. Sich selbst gestand Maren dies erst seit ein paar Monaten ein, aber war es nicht ihre eigene Schuld? Sie hatte ihn geheiratet, sie war sogar glücklich gewesen, als er um ihre Hand anhielt. Sie hatte ihm jede Freiheit gelassen.
Plötzlich stand Bodo im Zimmer. Er trug einen neuen, modernen Abendanzug. Bodo war eine Erscheinung, die alle Frauen betörte. Seine Frau nicht mehr.
»Würdest du deinen Hausfrauenpflichten genügen, Maren?« fragte er.
Maren erhob sich. Sie schien plötzlich gewachsen zu sein. »Dein Bruder gibt ein Konzert in München. Willst du ihn nicht einmal einladen?« fragte sie.
Sie erschrak vor dem haßerfüllten Ausdruck seiner Augen. »Das fehlte noch!« stieß er heiser hervor. »Du hast manchmal wirklich seltsame Ideen.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, lähmte sie. Der jäh aufgeflammte Widerstand erlosch sofort wieder.
Ja, sie hatte Angst! Werde ich ihm verzeihen können? fragte sie sich. Ich weiß es nicht, dachte sie.
Sie bewegte sich zwischen seinen Freunden wie eine Marionette. Sie nahm auch keine Notiz davon, als Bodo eng umschlungen mit Gila tanzte.
Doch dann sagte irgend jemand: »Übrigens ist dein berühmter Bruder wieder im Lande, Bodo«, und da horchte sie auf.
»Verschone mich damit«, sagte Bodo.
»Du bist doch sonst ein Jazzfan. Er ist augenblicklich Nummer eins.« Bernd Singe sagte es anzüglich. Maren sah zu ihm hinüber und spürte Bernds Blick. »Maren hat wohl was gegen diese Art von Musik«, fuhr er hintergründig fort.
»Durchaus nicht«, sagte Maren kühl. »Ich würde meinen Schwager gern kennenlernen.«
Nach dieser Bemerkung herrschte sekundenlang Stille, dann versuchte Bodo geradezu hektisch, Stimmung zu machen. Maren zog sich zurück. Sie traf Martha im Gang.
»Man mutet Ihnen allerhand zu«, sagte die treue Seele.
»Nicht mehr lange, Martha«, erwiderte Maren tonlos. Sie ging in ihr Zimmer, aber sie machte kein Licht. Unterhalb der Terrasse standen Bodo und Gila. Sie küßten sich. Maren fühlte sich von diesem Anblick nur abgestoßen, sonst fühlte sie nichts. Leere und Kälte waren in ihr und dann der Gedanke, daß sie das Kind von ihm nicht haben wollte.
Ihr Blick fiel wieder auf die Zeitungen. Sie las die Kritik über Götz Hellbrog noch einmal, und dann suchte sie in der zweiten Zeitung, ob auch darin etwas über ihn berichtet wurde. Da war auch ein Bild von ihm.
Eine eigentümliche Regung erwachte in ihr, als sie es betrachtete. Verwunderung, ja, Staunen, weil er keinerlei Ähnlichkeit mit Bodo aufwies. Sein Gesicht war breiter, fast häßlich. In einer Art häßlich, die schon anziehend wirkte. Sie wünschte sich, ihn kennenzulernen, zu erforschen, wieviel er mit seinem Bruder gemein hatte.
Ich werde das Konzert besuchen, dachte sie.
*
»Na, Hanna, was erwartet mich heute?« fragte Dr. Laurin an diesem Morgen, der grau und trübe war und den Herbst ahnen ließ.
»Ein volles Wartezimmer«, erwiderte sie, »aber wir haben noch ein paar Minuten Zeit. Ich war gestern bei Nele.«
Sie liebte keine langen Vorreden, und Dr. Laurin auch nicht. Sie konnten sich innerhalb kurzer Zeit viel sagen.
»Ein Playboy ist Hellbrog. Nele meint, daß er Maren nur wegen ihres Geldes geheiratet hat. Sie will sie mal anrufen.«
»Wenn sie bloß keine Dummheiten macht«, bemerkte Leon Laurin.
»Sie denken doch nicht etwa an Selbstmord?« fragte Hanna erschrocken.
»Bei so sensiblen Frauen ist alles drin während der Schwangerschaft. Keine Freude auf das Kind, seelisch auf dem Nullpunkt. Wenn man nur wüßte, wie ihr zu helfen ist. Wie geht es Ihrem Enkelchen Nikki?« lenkte Dr. Laurin ab.
»Prächtig. Meine beiden sind glücklich. Na, Sie ja auch.«
Er war es, mit seiner Frau Antonia, den Zwillingen Konstantin und Kaja, Kevin und der kleinen Kyra. Für ihn war seine Familie Ausgleich für alle Probleme, die er Tag für Tag in seiner Praxis hatte. Maren Hellbrog war ein großes Problem für ihn. Er gehörte nicht zu denen, die alles abschütteln konnten, und er wußte, daß Maren seelisch am Ende war.
Als Maren an diesem Morgen aufstand, fand sie ein Chaos vor. Verzweiflung packte sie, als Martha die Hände über dem Kopf zusammenschlug und stöhnte, daß dies zuviel sei.
»Mich wundert, daß das Haus noch steht und daß Sie sich das bieten lassen…« Sie sprach nicht weiter, denn Maren schluchzte auf.
»Ist ja schon gut«, murmelte Martha. »Aber wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich würde ihn vor die Tür setzen.«
Ein paar Minuten stand Maren wie erstarrt da, dann ging sie in das Zimmer ihres Mannes. Er schlief, aber diesmal konnte sie sich nicht mehr beherrschen.
»Steh auf!« schrie sie.
»Scher dich zum Teufel!« stieß er hervor.
»Scher du dich zum Teufel«, gab sie im gleichen Ton zurück.
Das hatte er nun doch nicht erwartet. Er richtete sich auf und starrte sie an.
»Wie redest du mit mir?« fragte er konsterniert. »Entschuldige, ich bin noch gar nicht richtig wach.«
»Dann wird es Zeit. Ich kann Martha nicht zumuten, daß sie die Arbeit allein macht, und ich fahre jetzt in die Stadt.«
Nun war er ganz und gar aus dem Konzept gebracht. »Wieso?«
»Das ist meine Angelegenheit. Du lebst dein Leben, ich meines.« Bevor er sich von diesem Schrecken erholt hatte, denn das war wirklich einer für ihn, fiel die Tür hinter ihr ins Schloß.
»Na, das war eine Wohltat«, sagte Martha, denn sie hatte jedes Wort verstanden. »Nun beruhigen Sie sich mal wieder.«
Maren zitterte am ganzen Körper. Als sie gehen wollte, erschien Bodo in der Halle.
»Wohin willst du?« fragte er. »Mach doch keine Dummheiten, Maren. Es sieht wirklich übel aus. Es tut mir leid. Ich habe wohl die Kontrolle verloren.«
Er widerte sie an mit diesen verquollenen Augen, dem aufgedunsenen Gesicht und dieser kläglichen Haltung. Sie würdigte ihn keines Blickes und ging wortlos.
Woher sie den Mut nahm, wußte sie selbst nicht. Weil ihr jetzt alles gleichgültig war, fuhr sie auch mit ihrem eigenen Wagen. Als sie dann aber eine Kreuzung fast bei Rot überfahren hätte, kam sie zu sich. Nein, das gönnte sie ihm nicht, daß er auf diese Weise von ihr befreit wurde. Aber in ihr war ein Grauen, als sie sich bewußt wurde, wie willkommen ihm das wohl wäre. Fast hätte sie vergessen, was sie sich vorgenommen hatte, aber diesmal schüttelte sie die quälenden Gedanken ab und fuhr zu dem Konzertsaal.
›Ausverkauft‹ stand über dem Plakat.
Ich muß eine Karte bekommen, dachte Maren. Ich muß ihn sehen und ihn spielen hören. Sie konnte sich diesen Zwang nicht erklären.
Eine Kasse war geöffnet. Maren nahm allen Mut zusammen und sagte zu der Kassiererin: »Ich möchte eine Karte. Gleich, was sie kostet.«
»Tut mir leid, wenn Sie nicht vorbestellt haben, kann ich Ihnen keine geben.«
Maren stieg das Blut ins Gesicht. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre sie sofort gegangen, aber jetzt konnte sie es nicht. Sie merkte nicht, daß ein paar Herren dicht hinter ihr standen. Sie sagte: »Mein Name ist Hellbrog. Vielleicht haben Sie doch noch eine Karte.«
Der Frau blieb der Mund offenstehen. Sie starrte Maren irritiert an, und dann ertönte hinter Maren eine Stimme: »Sagen Sie das noch mal. Ihr Name ist Hellbrog?«
Die Männerstimme klang kühl. Maren fuhr herum und sah in das Gesicht, das sie gestern in der Zeitung und heute auf dem Plakat gesehen hatte.
Aber was war das in Wirklichkeit für ein Gesicht! Es sah fast verwegen aus mit den zwei Narben auf der rechten Wange und am Kinn. Das ziemlich lange und sehr volle Haar war schwarz und von grauen Fäden durchzogen, seine Augen dagegen von einem durchsichtigen Grau, wachsam, klug und durchdringend zugleich.
»Ich bin Bodos Frau«, hörte sich Maren sagen, ohne recht zu wissen, ob sie es auch laut gesagt oder nur gedacht hatte.
Götz Hellbrog drehte sich zu seinen Begleitern um. »Entschuldigt mich«, sagte er, dann griff er nach Marens Arm und zog sie mit sich. Widerstandslos folgte sie ihm.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte Götz, als sie auf der Straße standen. »Warum wollen Sie mein Konzert besuchen?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Maren. »Ich wollte Sie einmal sehen.«
»Um das schwarze Schaf kennenzulernen?« fragte er sarkastisch.
Ihr Herz hämmerte wild. Ihr Mund war trocken, und heiser klang ihre Stimme, als sie sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie das schwarze Schaf sind.«
»Ich glaube, wir sollten uns näher kennenlernen«, sagte Götz nach einer gedankenvollen Pause. »Wenn Sie so versessen darauf sind, bekommen Sie eine Karte. Gehen wir jetzt einen Happen essen. Ich habe Hunger.«
Er war ein seltsamer Mann. Er redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und er machte keine Konzessionen an gesellschaftliche Formen. Er war ein Mensch im besten Sinne des Wortes. So begriff sie ihn in diesen ersten Minuten.
»Eigentlich dürfte ich ja wohl du sagen«, bemerkte er, als sie über die Straße gingen. »Oder ist man Bodo blindlings ergeben?«
Maren sah zu ihm empor. »Sehe ich so aus?« fragte sie.
Seine Erwiderung war typisch für ihn. »Mädchen, du mußt ein Brett vor dem Kopf gehabt haben, als du ihn geheiratet hast. Du hattest wohl ein ansehnliches Bankkonto?«
»Das habe ich noch«, entgegnete Maren mit einem leisen Aufbegehren.
»Na, das möchte ich bezweifeln«, erklärte Götz. Er blieb stehen, drehte sie zu sich um und betrachtete sie forschend. »Glücklich bist du nicht, Maren«, stellte er fest.
Es war ein hübsches Lokal, in das er sie führte. Er nahm ihr den Mantel ab, und seine Augen verdunkelten sich, als sein Blick über Maren hinglitt. Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Es tut mir sehr leid, Maren, daß ich nicht sanfter war«, sagte er leise. »Ich bin halt ein rauher Bursche, aber ich habe nicht gleich bemerkt, daß du ein Kind erwartest.«
Wie wenig er ein rauher Bursche war, bewies diese Bemerkung. Maren fühlte sich plötzlich eingehüllt in eine unbekannte Zärtlichkeit und Fürsorge.
»Nein, ich bin nicht glücklich«, sagte sie leise, »und ich freue mich auch nicht auf das Kind.«
Er drückte sie sanft in einen Sessel und gab eine Bestellung auf.
»Du hast Pech gehabt, Mädchen, aber damit stehst du nicht allein auf der Welt.«
»Hast du auch Pech gehabt, Götz?« fragte Maren verhalten.
»Ich? Nein, ich habe meine Musik. Mit der bin ich verheiratet, und sie enttäuscht mich nicht. Ich bin ein komischer Knabe, Maren. Nun essen wir aber erstmal«, fuhr er fort.
Ihr Gesicht hatte jetzt Farbe bekommen, und in ihre schönen dunklen Augen kam Glanz, als er lächelte. Es war ein verhaltenes, scheues Lächeln.
Es gab keine Ähnlichkeit zwischen ihm und Bodo und keinen Weg, der sie zueinander führen würde. Das wußte Maren schon in diesem Augenblick ganz genau, aber sie wußte auch, daß sie einen Freund gefunden hatte.
Er war völlig ungezwungen.
»Wie alt bist du?« fragte er.
»Zweiundzwanzig.«
»Zu jung«, sagte er. »Du hättest dich unter den Männern besser umschauen sollen. Aber verstanden hat Bodo es ja immer, sich ins rechte Licht zu rücken.«
»Jetzt kenne ich ihn auch«, erwiderte Maren.
»Natürlich betrügt er dich«, sagte Götz beiläufig.
»Dir scheint das selbstverständlich.«
»Ich kenne doch meinen Bruder. Weißt du, für mich gibt es nur eine Entscheidung. Entweder meide ich ihn, oder ich bringe ihn um.«
»Du haßt ihn«, sagte Maren leise.
»Für mich ist er nicht existent. Er hat meine Eltern ins Grab gebracht.« Sein Gesicht erstarrte, und fest griff er nach ihrer Hand. »Du wirst dich nicht von ihm ins Grab bringen lassen«, stieß er zwischen schmalen Lippen hervor. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Herrgott, ich muß zur Probe. Das muß sein, Maren. Ich kenne den Saal noch gar nicht. Hier ist die Karte. Du kommst heute abend?«
»Ja, ich komme«, erwiderte sie.
»Wir treffen uns nach dem Konzert.«
»Wo?« fragte Maren.
»Im Foyer. Du wirst vielleicht etwas warten müssen. Tust du das?«
Sie nickte. Sie konnte nichts mehr sagen, als er um den Tisch kam, sich zu ihr herabbeugte und sie auf die Stirn küßte. Vielleicht bedeutete das für ihn nur eine Geste, aber für sie bedeutete es unsagbar viel. Sie sah ihm nach. An der Tür drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu.
Götz Hellbrog, das schwarze Schaf, wie Bodo ihn genannt hatte. Aber Maren wußte jetzt, daß es einen Menschen auf der Welt gab, den Bodo fürchtete, weil er ihm haushoch überlegen war und weil er ihn, Bodo, besser kannte als jeder andere. Heute abend würde sie Götz wiedersehen.
Sie fuhr nicht gleich heim. Sie fuhr zu ihrem Anwalt und hatte ein langes Gespräch mit ihm.
*
Die Zimmer waren aufgeräumt, als sie gegen zwei Uhr ihr Haus betrat. Bodo war nicht da.
»Den Mist hat er tatsächlich selbst weggeräumt«, erklärte Martha. »Sie müssen Ihrem Mann einen ganz schönen Schrecken versetzt haben.«
»Es wird noch besser kommen«, sagte Maren ruhig. »Heute abend gehe ich aus, Martha. Ich werde jetzt eine Stunde schlafen, dann fahre ich zum Friseur«
»Übrigens hat Frau Keppler angerufen«, sagte Martha.
»Frau Keppler? Ach, Nele«, sagte Maren geistesabwesend.
»Sie möchten doch zurückrufen.«
»Morgen. Heute abend möchte ich frisch sein.«
Martha kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Währenddessen machte sich Bodo Gedanken, was Marens Aggressivität bedeuten sollte. Wohin war sie gefahren? Warum begehrte sie plötzlich so energisch auf? Damit hatte er nicht gerechnet. Es war ein höchst unbequemes Gefühl, daß sie zu rebellieren begann. Er hatte Maren seelisch noch mehr zermürben wollen, und nun war es ins Gegenteil umgeschlagen. Er mußte sich etwas einfallen lassen, damit das mit Maren wieder in Ordnung kam, aber zuerst wollte er mit Gila sprechen.
Sie hatte noch geschlafen, als er unangemeldet bei ihr erschien. Nicht zurechtgemacht sah sie ziemlich unvorteilhaft aus. Er mußte sich lange gedulden, bis sie wieder aus dem Bad kam. Sie war mürrisch.
»Ich habe nicht mit dir gerechnet«, sagte sie. »Du schläfst doch sonst immer bis Mittag, wenn eine Party war.«
»Maren wurde aggressiv. Sie hat sich vielleicht aufgeführt. Es bereitet mir Sorgen«, erklärte Bodo.
»Wieso denn das?« fragte sie verwundert. »Du legst es doch darauf an, sie zu schocken.«
»Sie ist in die Stadt gefahren. Sie war so verändert. Wenn sie nun zu ihrem Anwalt gefahren ist?«
»Wovor hast du eigentlich Angst, Bodo?« fragte sie lauernd.
»Laß uns mal vernünftig reden, Gila«, begann er stockend. »Es geht um das Geld, und davon haben wir eine Menge verbraucht.«
»Wir?« fragte sie gedehnt.
»Du hast doch auch davon profitiert. Wenn sie unser gemeinsames Konto sperren läßt…« Er unterbrach sich und starrte auf den Teppich.
»Sie hat doch ihr eigenes Konto«, sagte Gila leichthin.
Er druckste herum. »Ich habe da ein paar Transaktionen vorgenommen«, gestand er ein. »Bisher hat sie sich nicht darum gekümmert, aber es ist allerlei zu befürchten, wenn es herauskommt. Gila, es fällt mir schwer, aber ich denke, es ist besser, wenn wir uns einige Zeit nicht so häufig sehen. Ich muß mir etwas einfallen lassen.«
»Na, dann laß dir aber schnell etwas einfallen«, sagte sie zynisch, »sonst verliere ich die Geduld. Du hast doch immer gesagt, daß du das mit der linken Hand machst und Maren eine einfältige Pute ist. Ich habe nicht die Absicht, mich beiseite schieben zu lassen. Ich habe noch andere Chancen.«
»Sei vernünftig«, stieß er hervor. »Wir gehören zusammen, Gila. Du hast es auch gewollt, daß ich Maren heirate.«
»Aber ich habe nicht geglaubt, daß du einmal vor ihr Angst bekommst«, sagte sie hintergründig.
*
Maren setzte auch ihre Friseuse in Erstaunen, als sie eine lockere Frisur verlangte. Als ihr dann ein paar lose Strähnen ins Gesicht fielen und das kastanienbraun schimmernde Haar weich ihr schmales Gesicht umgab, sah sie sehr apart aus.
Guter Gott, äußerlich brauchte sie Götz doch nicht zu gefallen. Daß er sie mochte, wußte sie ja schon. Himmlisch wohltuend war seine Geradheit und diese unbefangene Art zu sprechen.
Bisher hatte sie von ihm nur gewußt, daß er drei Jahre älter als Bodo und immer aus der Reihe getanzt war. Er war ein Jahr vor dem Abitur von der Schule abgegangen und hatte sich auch sofort selbständig gemacht. Seinen Eltern hätte er nur Kummer bereitet, hatte Bodo gesagt. Götz sagte es anders, und ihm glaubte sie mehr.
Ob sie nicht wieder zu vertrauensselig war? Vielleicht waren sich die beiden Brüder charakterlich ähnlicher, als sie meinte.
Heute abend würde sie länger mit ihm sprechen können, sie würde ihn auch spielen hören. Maren erinnerte sich plötzlich daran, wie sie früher gewesen war, bevor sie Bodos Täuschungen unterlag. Ein kritisches, vielseitig interessiertes Mädchen, immer darauf bedacht, alles zu ergründen. Richtig jung und fröhlich war sie nie gewesen. Ihre strenge Tante hatte ihr auch keinerlei Freiheiten gelassen, und dann war sie durch ihren Anwalt mit Bodo bekannt gemacht worden.
»Du mußt ein Brett vor dem Kopf gehabt haben«, hatte Götz gesagt. Sie war zu unerfahren, um ihn zu durchschauen, und sie hatte Dr. Strobel vertraut, der ihr zu dieser Heirat auch noch geraten hatte.
Seltsame Ideen kamen ihr jetzt. Dr. Strobel hatte sich heute so zurückhaltend ausgedrückt, als sie davon sprach, sich von Bodo zu trennen.
Vielleicht war es besser, sie beriet sich einmal mit Herrn Dr. Hartwig, dem Anwalt ihres verstorbenen Vaters.
Sie war aus ihrer Lethargie erwacht.
»Wie hübsch Sie heute aussehen«, stellte Martha fest. Sie entlockte Maren ein Lächeln.
Sorgfältig machte sie sich zurecht.
Heute legte sie auch etwas Make-up auf, bürstete die seidigen Augenbrauen und die langen dunklen Wimpern. Verwundert betrachtete sie sich.
Bodo ließ sich nicht blicken. Maren war erleichtert darüber, wenngleich sie sich durch nichts von diesem Konzertbesuch hätte abhalten lassen.
Sie trank noch eine Tasse Tee und aß einen Toast. Martha betrachtete sie wohlwollend.
»So ist es recht«, brummte sie.
»Es kann spät werden«, erwiderte Maren. Was erwartete sie eigentlich von diesem Abend? Götz war ihr Schwager, und sie war die enttäuschte Frau seines Bruders, von dem sie ein Kind erwartete.
Sie ließ sich ein Taxi kommen, und kaum war dieses an der Straßenkreuzung angelangt, als sie Bodos Wagen kommen sah.
Ein leiser Triumph war in ihr, als sie sich vorstellte, was er wohl sagen würde, wenn er sie nicht zu Hause vorfand. Aber sie war innerlich so weit entfernt von ihm, daß nicht das kleinste Schuldbewußtsein aufkam.
Wozu auch?
Ihr Platz war in der zweiten Reihe, schräg vom Klavier, dort würde Götz sitzen.
Sie hörte, wie man über ihn sprach, wie ein paar junge Damen von ihm schwärmten, Männer ihn mit bewundernden Worten bedachten. Sie hatte nie etwas von ihm gehört. Als billige Musik hatte Bodo seine Kompositionen abgetan.
Nun verdunkelte sich das Licht. Die Band erschien und dann Götz.
Er sah sie an. Ihre Blicke tauchten ineinander. Götz lächelte flüchtig, aber in seinem Gesicht war ein Ausdruck, der nicht zu ergründen war.
Dann prasselten die Töne durch den großen Saal, ungewohnte Musik für Marens Ohren, und doch so faszinierend, daß sie den Atem anhielt. Für sie hätte der Abend nie ein Ende zu nehmen brauchen, für andere aber auch nicht. Immer wieder wurde Götz herausgeklatscht, zu Zugaben gefordert.
Ein paarmal hatte er zu Maren heruntergeblickt, flüchtig nur, und doch war sein Blick von unbeschreiblicher Intensität. Während er und seine Band noch immer gefeiert wurden, verließ Maren den Saal. Sie war mit ihren Gedanken weit fort. Sie merkte gar nicht,