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1. Kapitel
Montag, 7 Tage zuvor

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Das Gelände der nahe am Ortsrand von Grünendeich gelegenen Gesamtschule wirkte still und verlassen.

Die niedrigen Gebäude der Schule, flankiert von zwei Sportplätzen, umrahmten den großzügig gestalteten Innenhof mit seinen zahlreichen Bäumen und Sträuchern, und die warme Luft, die ins Klassenzimmer strömte, war erfüllt vom Blumenduft und dem leisen Gezwitscher der Vögel. Sehnsüchtig schweifte der Blick des Mädchens aus dem Fenster, glitt über die Dächer der Grundschule und verlor sich für einen Moment in der Ferne der dahinterliegenden weiten Apfelplantagen, die sich bis zum Horizont erstreckten.

Der Klassenraum der Neunten lag zur Südseite, ließ die Sonne ungehindert herein, die ihre Strahlen tastend, suchend in das Zimmer reckte, in jede noch so kleine Ritze drang und überall, wo ihre strahlenden Finger reflektierten, schuf sie Abertausende von winzigen goldenen Lichtpünktchen. Verträumt genoss Anne den Anblick der tanzenden Staubpartikel, die feenhaft in der Luft flirrten und scheinbar keinerlei physikalischen Gesetzen gehorchten, ihr Atemhauch verwirbelte die Flusen, bis sie wieder zur Ruhe kamen und ihren unermüdlichen Reigen erneut begannen.

Seufzend wandte sich das Mädchen den Arbeitsblättern zu. Ihre Mitschüler waren so konzentriert mit dem Ausfüllen ihrer Bögen beschäftigt, dass ausnahmsweise einmal absolute Ruhe im Klassenraum herrschte. Sie schrieben ihre letzte Fachklausur, Annes Leistungen in Englisch waren schwach und diese Arbeit ausschlaggebend für ihre Gesamtnote.

Grübelnd, das Kinn in die Hand gestützt, las sie den Text. Der erste Abschnitt mit dem Vokabeltest war ihr leicht gefallen. Der zweite jedoch bereitete ihr größte Probleme, und gerade für dessen Übersetzung gab es die meisten Punkte.

Punkte, die sie unbedingt für die bessere Zensur brauchte! Schweißtropfen rannen ihr über Stirn und Rücken hinab.

Insgeheim verwünschte sie die Lehrerin, suchte erschöpft nach brauchbaren Informationen, doch ihr Kopf fühlte sich leer an, kein verstecktes Wissen, das sie retten konnte!

Verzweifelt hatte sie diesen Text Wort für Wort übersetzt, aber es ergab einfach keinen Sinn! Dabei hatte sie sich das ganze Wochenende auf den verfluchten Test vorbereitet, aber was nutzten ihr nun all die sinnlos gepaukten Vokabeln?

Nein, Fremdsprachen waren ganz und gar nicht ihr Ding!

Zaghaft hob Anne den Kopf und schaute ratlos nach vorn.

Frau Rösen saß auf der Kante ihres Schreibtisches, die Arme vor der Brust verschränkt, blickte sie in den Hof hinaus. Von kleiner elfenhaft zarter Statur wirkte sie kaum älter als ihre Schüler, ein Umstand, den sie mit ihrem äußerst ausgefallenen Kleiderstil und einer Vorliebe für kräftige Farben ausglich, was an der Schule schon legendär war. Es schien die Rösen nicht im Geringsten zu interessieren, was Kollegen oder Pennäler über sie dachten oder ob die blaue Bluse gerade zu ihrem irisch roten Haar passte. Sie hatte Temperament und war für ihre Strenge bekannt, deshalb hätte kein Schüler es je gewagt, in ihrer Gegenwart Witze darüber zu machen, selbst die Hartgesottensten der Halbwüchsigen schien sie eher zu verschrecken als zu belustigen. Unauffällig beobachtete Anne die Pädagogin, und als die ihren verträumten, abwesenden Blick beibehielt, schielte sie aus den Augenwinkeln auf den Zettel von Alexander, der seit dem Halbjahr ihr neuer Banknachbar war. Die geänderte Sitzordnung sollte das Schwatzen in der Klasse unterbinden, was Alex nun nicht länger daran hinderte, regelmäßig sein kleines Nickerchen im Unterricht einzulegen.

Mann, musste der immer so krakeln? Angestrengt kniff Anne die Augen zusammen, um aus Alex‘ Gekritzel schlau zu werden, aber als sie die Worte endlich entziffern konnte, begriff sie sofort, dass seine Übersetzung sogar noch bescheuerter als ihre eigene war. Was hatte sie denn auch erwartet?

Alex war noch nie ne Leuchte gewesen! Verdammt!

Ihre Mutter würde sie umbringen, sollte sie diese Arbeit in den Sand setzen. Die Stunde näherte sich unerbittlich dem Ende, und panisch überflog Anne zum wiederholten Male ihre stümperhafte Arbeit. Es blieb ein einziges Kauderwelsch!

Wieso musste ein und dasselbe Wort auch verschiedene Bedeutungen haben? Das konnte doch keiner verstehen!

Sie brauchte nur ein klein wenig Hilfe.

Ihr Blick flog zu Jasmin hinüber, Anne zischte leise deren Namen, erleichtert, dass diese sofort begriff und ihr Blatt zur Tischkante schob. Beginnende Unruhe machte sich in der Klasse bemerkbar, während Frau Rösen nun in Zeitlupe zwischen den Tischreihen entlangschlenderte. Als sie Annes Platz passierte und sich mit einer Schülerin unterhielt, ergriff sie ihre Chance. Anne beugte sich zu Jasmins Bank hinüber, überflog deren Zeilen, korrigierte hastig, indem sie strich und die neuen Sätze kurzerhand darüber schrieb. Eine schlechte Note auf Form und Schrift war jetzt ihre geringste Sorge. Abermals linste sie auf Jasmins Blatt und spürte eine Bewegung. Anne schrak zusammen, mit hochrotem Kopf fuhr sie herum, doch die Rösen stand bereits direkt hinter ihrer Bank und musterte sie aus blitzenden Augen.

***

Reglos stand die ältere Frau in dem schummrigen Flur ihres Hauses, sie bemerkte nicht, dass sich eine graue Strähne aus dem sonst sorgfältig frisierten Haardutt gelöst hatte und nun widerspenstig über dem Ohr herabhing. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einzig dem Telefon.

Nervös zuckte ihr Blick zur Uhr.

Es war genau zehn, die gewöhnliche Zeit seines Anrufes, doch der Apparat schwieg hartnäckig. Hatte der mysteriöse Fremde etwa aufgegeben? Ausgerechnet an dem Tag, an dem sie hoffte, endlich seine Identität aufzudecken?

Als die Anrufe vor einigen Wochen begannen, hatte sie an eine harmlose Verwechslung geglaubt und maß dem keinerlei Bedeutung bei. Irgendwer hatte sich verwählt, jedoch ärgerte sie die Unsitte seines Stillschweigens. Eine Entschuldigung wäre immerhin angebracht, sobald man seinen Irrtum bemerkte, was wohl einem Mindestmaß an Höflichkeit entsprochen hätte. Erst als sich der Vorfall wiederholte befürchtete sie, dass sich hier jemand einen bösen und recht geschmacklosen Scherz mit ihr erlaubte, und sie glaubte, je weniger sie darauf reagierte, umso schneller würde dem schon der Spaß vergehen und er sie letztendlich in Ruhe lassen!

Doch was sie auch tat, der gewünschte Erfolg blieb aus. Jeden Montag um Punkt zehn klingelte das Telefon unaufhörlich, bis sie schließlich den Hörer abnahm. Wer auch immer da anrief, gab sich jedenfalls nicht zu erkennen! Lauschte sie angestrengt, konnte sie seinen leisen Atem wahrnehmen, er selbst gab kein Sterbenswörtchen von sich, bis er nach einigen Sekunden auflegte. Weder üble Beschimpfungen noch Drohungen ihrerseits hatten ihn bisher zum Reden oder gar zum Unterlassen dieser Anrufe bringen können! Aber ein anderer Umstand bereitete ihr weitaus mehr Kopfzerbrechen. Diese Person musste sie sehr gut kennen!

Doch sie fürchtete sich nicht im Geringsten. Vor niemandem! Falls er also nur vorgehabt hatte, eine alte Dame zu erschrecken, musste ihm inzwischen bewusst sein, dass sein Plan nicht aufging. Trotzdem fand sie es merkwürdig, dass der Unbekannte sie weder bedrohte noch auf andere Weise einzuschüchtern versuchte! Das war kein gewöhnlicher Stalker! Das hier schien etwas völlig anderes zu sein!

Also warum dann diese ganze Mühe? Was wollte er?

Das ging ihr einfach nicht aus dem Kopf! Bald kam ihr ein ungeheurer Verdacht, ein Gedanke, der wie ein Samenkorn auf nahrhaften Boden fiel und sie seitdem bis in den Schlaf verfolgte. Was, wenn sie gar nicht zufällig ausgewählt worden wäre? Wenn dieser Anrufer nur nicht redete, weil ihn jedes Mal der Mut verließ? Vielleicht versuchte hier jemand Kontakt aufzunehmen, und sie hatte nun eine Ahnung, wer das sein könnte. Jemand aus ihrer Vergangenheit!

Wie lange hatte sie auf ein Lebenszeichen von ihm gehofft?

Von dem Mann, der ihr einst so vertraut gewesen war. Bevor das Schicksal sie so hart für ihren Fehler bestrafte, denn das Geheimnis, das sie teilten, hatte einen anderen das Leben gekostet. Für dieses Vergehen hatten sie beide bitter büßen müssen, seit jener Nacht, die sie so gern aus ihrem Leben löschen würde. Es war so einfach gewesen, ihm die Verantwortung dafür zu geben. Deshalb hatte sie ihn verstoßen und wie einen räudigen Hund vom Hof gejagt.

Er war nie mehr zurückgekehrt.

Wusste nichts von der Existenz seiner Tochter, wusste nicht, was sie alles hatte aushalten müssen. Es waren so viele Jahre vergangen, dass es ihr fast schien, als wäre die Begegnung mit ihm in einem anderen Leben gewesen. Wie er jetzt wohl aussah? Ob sie ihn wiedererkennen würde?

Warum nur schwieg dieses Telefon?

Fahrig knetete sie die schmerzenden Finger, pumpte das Blut zurück in die steifen, eiskalten Glieder. Es gab nicht viel, was sie sich noch im Leben wünschte oder davon erwartete, aber diesen Anruf sehnte sie mehr als alles andere herbei.

Gewiss konnte sie nicht ungeschehen machen, was sie damals angerichtet hatte, aber wenn sie es sich schon selbst nicht vergeben konnte, vielleicht konnte er es tun.

Jede Faser ihres Körpers war bis zum Zerreißen gespannt, die Geräusche ihrer Umgebung nahm sie überdeutlich wahr, sie hörte das leise Knarren des Gebälks und das stete Vorrücken des Sekundenzeigers. Zehn Uhr zwölf!

Mit zäher Langsamkeit zeigte die Uhr die verstrichenen Minuten an, und obwohl ihr die Beine vom langen Stehen schmerzten, rührte sie sich nicht vom Fleck, weigerte sich entschieden, diesen Platz zu verlassen. Verbissen verharrte sie bereits seit zwanzig Minuten, doch was bedeutete schon diese Zeit gegen achtunddreißig Jahre? Sie würde warten! Zehn Uhr sechzehn. Als das Telefon schrillte und die Stille im Haus grob zerriss, ließ sie das plötzliche Geräusch zusammenfahren. Ihr Blick glitt zum Display, die Nummer war unterdrückt und ungelenk griff sie mit zitternder Hand nach dem Hörer.

„Hallo?“

Fremdartig vernahm sie ihre eigene krächzende Stimme, räusperte sich und sprach erneut in die Muschel. Keine Antwort! Stille! Da, sie konnte ihn hören, sein Atemzug klang rasselnd. Ungesund. War er etwa krank?

„Chrishan?“

Sie spürte das Beben ihrer Stimme. In der Leitung wurde es so totenstill, als hätte der Anrufer die Luft angehalten.

„Chrishan? Bist du es?“

Keine Antwort! War er wirklich so feige?

Das passte gar nicht zu ihm, nicht zu dem Mann, den sie mal gekannt hatte. Dieser Mann war mutig und waghalsig gewesen!

Konnte er sich so sehr verändert haben? Oder fürchtete er nur ihren Zorn? Immer noch?

„Was damals passiert ist, war nicht deine Schuld! Es war ein dummer Unfall! Du kannst nichts dafür! Niemand kann das!“

Warum reagierte er nicht?

Bitte, rede mit mir! flehte sie still.

Beschwörend sprach sie erneut in den Apparat.

„Chrishan, wenn du es bist ... Komm nach Hause! Bitte!“ Ein schreckliches Stöhnen drang durch den Hörer bis an ihr Ohr. Zuerst leise, schwoll es immer lauter an. Es hatte nichts Menschliches mehr an sich, sondern den Klang eines waidwunden Tieres. Zutiefst erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, dieser Laut hatte sie bis ins Mark getroffen!

Was hatte sie ihm nur angetan?

Bevor sie reagieren konnte, trennte sie ein plötzliches

Klacken in der Leitung, gefolgt von der monotonen Abfolge des Besetztzeichens. Fassungslos starrte sie auf den Hörer.

Die Verbindung war unterbrochen.

Er hatte aufgelegt!

***

Frau Rösen hatte sie eindeutig ertappt!

Anne wusste, sie hatte es vergeigt, und ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass die Klausur nun mit einer Sechs benotet wurde. Was für ein Desaster!

Wie sollte sie das nur ihrer Mutter erklären?

Abwartend stand die Pädagogin vor ihr, sah nachdenklich auf das Mädchen herab und sprach sie schließlich freundlich an.

„Fräulein Imhoff, möchten Sie Ihre Arbeit nicht abgeben?“

Fassungslos starrte Anne die Lehrerin an. Was hatte die vor? Erwartete sie allen Ernstes, dass sie vor der ganzen Klasse ihre Tat gestand? Selbstmitleid trieb ihr die Tränen in die Augen, und da sie sich sonst nicht rührte, nahm ihr Frau Rösen behutsam die Blätter aus der Hand und legte sie auf den Stapel der bereits abgegebenen Seiten. Im selben Moment ertönte der erlösende Pausengong, die Schüler verließen eilig ihre Plätze, und ohne Anne weitere Beachtung zu schenken, übertönte Frau Rösens helle Stimme mühelos den anschwellenden Lärm im Klassenzimmer.

Zögernd packte Anne ihr Schreibzeug in den Rucksack, sie konnte es kaum fassen, so unbeschadet davongekommen zu sein, trotzdem saß ihr der Schreck noch in den Gliedern. Mit wackeligen Knien erhob sie sich vom Platz und wurde resolut von Jasmin aufgehalten. Die hatte sich wütend vor ihr aufgebaut und bedachte Anne mit bitterbösen Blicken.

„Mann, stellst du dich vielleicht blöd an!”, blaffte sie, warf sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und huschte mit unschuldigem Augenaufschlag und einem liebenswürdigen „Tschüss, Frau Rösen!“ zur Tür hinaus.

Beschämt folgte Anne den letzten Schülern, als die Lehrerin sie zurückrief.

„Fräulein Imhoff? Einen Augenblick, bitte!“

Sie hatte es doch gewusst!

„In der nächsten Stunde werden Sie ein Referat halten. Ihr Thema ist das Alte Land. Bitte bereiten Sie sich gut vor!“

Irritiert blickte Anne ihre Lehrerin dümmlich an.

„Haben Sie noch eine Frage, Fräulein Imhoff?“

Zum zweiten Mal in dieser Stunde verschlug es Anne die Sprache, und langsam dämmerte dem Mädchen, dass soeben ihre Strafe verhängt worden war.

„Nein, nein. Altes Land“, stammelte Anne monoton. „Nächste Stunde.“ , fügte überflüssigerweise mit Entsetzen hinzu: „Und alles auf Englisch?“

„Aber das versteht sich doch von selbst!“

Niedergeschlagen dachte Anne nach. So ein Mist, das würde sie etliche Nachmittage kosten!

Aber es hätte weitaus schlimmer kommen können!

Frau Rösen konnte ihr die Erleichterung ansehen.

„Ich bin mir sicher, dass ich weitere interessante Themen für Sie finde! Aber nun können Sie erst mal in die Pause gehen.“

Als die Lehrerin sich abwandte und die Klassenarbeiten in ihrer abgewetzten ledernen Aktentasche verstaute, hätte Anne schwören können, dass sie dabei lautlos lachte.

Fluchtartig machte das Mädchen auf dem Absatz kehrt, rannte auf den Gang hinaus und stieß im vollen Schwung mit Maike zusammen, die sie offenbar gesucht hatte.

„Au, Mensch Anne, kannst du nicht aufpassen? Wo bleibst du überhaupt so lange?“

Ihre Freundin rieb sich stöhnend die Seite, dort wo sie versehentlich Annes Ellenbogen zu spüren bekommen hatte, und sah dann überrascht in deren hochrotes, glühendes Gesicht.

„War irgendwas?“

„Mmh. Komm, lass uns bloß hier abhauen!“

Alarmiert linste Maike in das Klassenzimmer hinein und nickte ihrer Freundin verstehend zu.

„Sag bloß, du hattest Stress mit der Rösen?“

Eiligst zog Anne sie am Arm fort.

„Jetzt mach schon!“

„Was auch immer du angestellt hast, verdirb es dir nicht mit der! Wir hatten heute bei ihr Musik, naja, und Sascha kam auf die glorreiche Idee, den Unterricht ein wenig, na abwechslungsreicher zu gestalten. Dafür durfte er uns allen ein Lied vortragen. Du hättest ihn sehen sollen, wie er da stand, mit knallroter Birne, und `Alle Brünnlein fließen` zum Besten geben musste und das auch noch total schräg! Mensch, ich hatte echt lange nicht mehr so ´nen Spaß! Der obercoole Sascha hat sich voll zum Affen gemacht, das wird in die Schulmemoiren eingehen!“

Glucksend hielt sie sich den Bauch. Da die Freundin aber keine Miene verzog forschte Maike nach: „War es so schlimm?“

Anne nickte unmerklich: „Hat mich beim Spicken erwischt!“

„Scheiße! Und?“

„Und jetzt darf ich nächsten Montag ein Referat halten, auf Englisch!“ Seufzend fügte sie hinzu: „Wahrscheinlich jeden verdammten Montag!“

„Scheiße!“, wiederholte Maike noch einmal innbrünstig und legte ihr mitfühlend den Arm um die Schulter.

„Ich sag‘s ja, die Rösen ist echt zum Fürchten.“

Sicher wirkte die Lehrerin manchmal ziemlich schräg, gleichwohl engagierte sie sich sehr in ihrem Beruf, ging an jede Unterrichtsstunde mit einer Ernsthaftigkeit und Begeisterung heran, als ob das Überleben jedes einzelnen Schülers von der erfolgreichen Teilnahme abhinge. Das konnte jedenfalls selbst für eine Lehrkraft nicht normal sein! Vielleicht war ihr ganzes komisches Benehmen nur Show, nur Theater? Anne dachte darüber nach, dass es gewiss kein Zufall war, dass diese Lehrerin es so mühelos schaffte, in ihren Unterrichtsstunden für Ruhe und Aufmerksamkeit zu sorgen, und zwar in allen Klassen! Bei ihr gab es keine Einträge wegen fehlender Hausaufgaben oder gar Anrufe bei den Eltern von Störenfrieden. Ihre Strafmaßnahmen waren sehr viel effizienter und sorgten immer dafür, dass derjenige, den es getroffen hatte, es sich demnächst zweimal überlegte, in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu geraten. Natürlich würde Anne das Referat halten und Vokabeln pauken, so gut sie konnte, und hoffen, dass die Lehrerin sie danach in Ruhe ließ. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, ihre Klassenarbeit wurde trotz Abschreibens gewertet, und damit hatte sie Anne eindeutig in der Hand. Die Rösen war nicht verrückt, die war eiskalt und raffiniert! Mann, die letzten Wochen bis zum Beginn der Sommerferien konnten noch verdammt lang werden.

Die Klingel kündigte das Pausenende an, und ein Strom lärmender Schüler bahnte sich seinen Weg vom Schulhof in den Gang hinein, um sich sogleich in alle Richtungen zu zerstreuen. Die beiden Mädchen standen mitten im Weg und wurden durch den sich stetig drängenden Pulk getrennt.

„Ich muss jetzt zu Mathe! Hast du heut Nachmittag Zeit?“

Anne winkte ihrer Freundin über die Köpfe der an ihr Vorbeieilenden zu, bevor sie es aufgab, gegen die sie vorwärtsschiebende Masse anzukämpfen.

***

Charlotte Ehlers ließ das Fahrrad auf der Hofeinfahrt ausrollen, hievte sich mühsam vom Sattel und schob den Drahtesel zurück in den Schuppen, bevor sie etwas kurzatmig ihr Heim betrat. Kaum fiel die Tür ins Schloss, entledigte sie sich ihrer Kostümjacke, die sie achtlos auf die Kommode warf, und streifte schwerfällig die flachen Pumps von den Füßen, um sie gegen robuste Arbeitsstiefel zu tauschen.

Es war ein sehr warmer Tag, die Sonne schien hell durch die Fenster herein, trotzdem begann Charlie zu frösteln. Seufzend wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, spürte die Nässe unangenehm kalt auf dem Rücken.

Zögernd blieb sie im Flur stehen.

Ach, was soll‘s. Ein Schnäpschen wird mir nicht schaden.

Behände nahm sie den Apfelbrand und ein kleines Gläschen aus dem oberen Schrank der Anrichte. Als der Alkohol ihr die Kehle herunterrann, trat sogleich das gewünschte wohlige Gefühl ein. Meine Güte, tat das gut!

Für einen Augenblick schloss sie die Augen und genoss die Wärme, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete.

Die Anrichte schmückte ein kleiner Spiegel, und Charlie betrachtete sich selbstvergessen. Über ihre einst so strahlend blauen Augen hatte sich im Alter ein grauer Schleier gelegt, das Gesicht, von Wind und Sonne gegerbt, war schmal und hager geworden. Feine Fältchen durchzogen die Haut, an Stirn und Mundwinkeln hatten sie sich tief eingegraben und verliehen Charlotte ein strenges, fast verbittertes Aussehen. Bald wurde sie fünfundsechzig.

„Du bist alt geworden“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

Eine Strähne hing widerspenstig über dem Ohr herab, und Charlotte steckte sie fest. In ihrer Jugend hatte sie wunderschönes Haar gehabt, hellblond mit langen weichen Wellen, die Freundinnen hatten sie immer darum beneidet. Nun war es dünn und spröde, zu einem Knoten im Nacken gesteckt, von unbestimmbarer Farbe und durchzogen mit grauen Strähnen.

Als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch die Flasche und das Glas in den Händen hielt, schenkte Charlotte sich noch einen Schnaps nach und stürzte ihn in einem Zug hinunter.

„Wirklich gutes Zeug“, flüsterte sie zufrieden und beförderte den Apfelbrand an seinen Platz zurück.

Nicht dass sie sonst Alkohol trank, aber dieser Tag war auch nicht wie jeder andere. Er gehörte mit zu den schlimmeren Tagen in ihrem Leben, und davon hatte es wirklich reichlich gegeben, eigentlich mehr als ein Mensch allein verkraften konnte. Immerhin hatte sie diesmal ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, heute war es nicht unerwartet und unvorhersehbar über sie hereingebrochen.

Nein, sie hatte eine Entscheidung getroffen!

Eine, die ihr nicht gefiel, die sie zutiefst schmerzte, aber es war ein richtiger und notwendiger Entschluss gewesen.

Es war Mittagszeit, und sie musste den Arbeitern das Essen bereiten, doch vorher wollte sie noch eben auf ihrem Hof nach dem Rechten sehen. Durch den Vorratslagerraum und die dahinter befindliche Nebentür stapfte Charlotte in den Garten hinaus. Dieser lag etwas höher als das angrenzende Obstgebiet und bot einen wunderbaren Blick über das Land.

Die Apfelblüte neigte sich langsam dem Ende zu, und da es kaum Nachtfröste gegeben hatte, würde sie voraussichtlich in diesem Jahr eine gute Ernte einfahren. Ihre letzte Ernte!

In einem halben Jahr würde ihr dieses Land nicht mehr gehören, das Land, das seit sechs Generationen von ihrer Familie bewirtschaftet wurde, jeweils an den ältesten Sohn vererbt, das zwei Kriege und mehrere Sturmfluten überstanden hatte. Als bei der großen Flut damals die Deiche brachen, war sie gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen, und diese Katastrophe hätte ihre Familie fast das Leben gekostet.

Nie wieder hatte sie seitdem so ein gewaltiges Ausmaß an Zerstörung erlebt, aber das Land hatte sich davon erholt. Ihr Vater steckte all seine Kraft in den Hof, gab sein ganzes Wissen und die jahrelangen Erfahrungen an sie weiter, und sie hatte später seine Arbeit fortgeführt.

Das war immer ihr Lebensinhalt gewesen!

Mit diesem Land war sie auf ewig und auf eine ganz besondere Weise verbunden.

Gut, dass ihr Vater das nicht mehr erleben musste!

„Charlie, geht es dir nicht gut?“

Unbemerkt war Pavel, ihr polnischer Vorarbeiter, an sie herangetreten.

„Geht schon. Ich hab es jetzt endlich hinter mich gebracht!“

„Alles geklappt, so wie du wolltest?“

„Ja, die Papiere sind unterschrieben. Ende Oktober ist Schluss für uns! Die Schlepper und Pflückwagen bringt Helge nach der Ernte selber wieder in Schuss, ich brauch mich also später nicht mehr um die Maschinen zu kümmern.“

„Du hast Köpkes Sohn wirklich dein Hof verkauft? Es steht mir nicht zu, Charlie, aber vielleicht hätte anderer Bauer dir besseren Preis gegeben?“

Schon möglich. Aber sie wollte den Hof in guten Händen wissen! Wenn sie schon verkaufen musste, dann doch lieber an die Familie eines Freundes als an Fremde. Außerdem war es praktisch, da Köpkes Grundstück an das ihre grenzte.

Sorgenvoll schaute Pavel sie an.

„Was willst du später machen, Charlie?“

„Meine wohlverdiente Rente genießen! Ausschlafen. Was weiß ich? Was alle Rentner so machen! Kaffeefahrten?“

Pavel lachte schallend los.

„Du und Kaffeefahrten? Das will ich sehen mit meine eigene Auge!“

Er hatte ja recht! Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, was sie mit so viel freier Zeit anstellen sollte! Noch hatte sie ihren geregelten Tagesablauf. Es gab immer Arbeit auf dem Hof, sieben Tage in der Woche, einzig im Dezember herrschte Arbeitsruhe. So war sie es ihr ganzes Leben lang gewohnt! Freizeit? Darüber musste sie erst noch nachdenken.

Pavel sorgte sich wirklich rührend, er wollte wissen, ob sie zurechtkommen würde. Warum sollte sie das nicht?

Irgendwie würde sie schon über die Runden kommen.

Charlotte hatte ihr Haus! Was brauchte sie mehr?

„Du solltest nicht allein sein!“, warf er ein.

„Ach, ich bin nicht allein! Aber du, du wirst mir fehlen!“

„Weil du keinen hast, den du dann rumkommandieren kannst!“

Sie stimmte in sein Gelächter ein, Pavels Fröhlichkeit war ansteckend. Sein Abschied würde ihr schwer fallen. Pavel war immer da, wenn sie Hilfe brauchte, und er verstand etwas von seinem Fach. Wie viele Nächte hatten sie sich gemeinsam mit dem Spritzen oder Beregnen der Obstbäume um die Ohren geschlagen? Bei Hagelschlag oder Wanzenbefall der Bäume bangte er genauso wie sie um den Ertrag. Im Laufe der Jahre hatte er sich ihr Vertrauen redlich verdient.

Nachdenklich schaute Charlotte ihren Mitarbeiter an, sie beide kannten sich schon so lange, dass er fast zur Familie gehörte, und er war eine liebe und treue Seele. Also warum sollte sie nicht wenigstens etwas für ihn tun können?

„Pavel, ich kann bei Helge ein gutes Wort für dich einlegen, bestimmt würde er dich gern übernehmen.“

„Oh, Charlie. Ich immer arbeite gern für dich, aber nicht für Köpke. Ich habe nichts gegen Helge. Aber sein Vater? Dem Alten ich nie getraut, ich sag dir, der ist nicht koscher!“

Scheinbar meinte er das ernst, doch sie wollte nicht mit ihm streiten, und so ließ sie das Thema fallen.

„Also gehen wir beide bald in Rente“, bemerkte sie trocken.

„Ja. Ich freu mich auf meine süße Enkel. Kann sie dann alle Tag verwöhnen.“

Verschmitzt grinste er bis über beide Ohren.

„Deine Schwiegertochter wird entzückt sein.“

„Glaubst du, Charlie?“, fragte er augenzwinkernd.

Sie lachte ihn an. „So sicher wie das Amen in der Kirche!“

Pavel hatte sie da gerade auf eine Idee gebracht. Vielleicht lag ihre Zukunft doch nicht in Einsamkeit und Langeweile! Warum sollte sie ihren Ruhestand nicht in vollen Zügen genießen? Bald gab es etwas, was sie in ihrem ganzen Leben nie hatte. Zeit, unermesslich viel Zeit!

Sie könnte viel öfter ihre Freundin Cordula besuchen, mit ihr ausgehen, ins Theater oder in ein Restaurant, und sie könnte sich mehr um Anne kümmern! Wer weiß, vielleicht würde sie sogar mit ihrer Tochter wieder ins Reine kommen? Silke konnte gewiss nicht ewig auf sie wütend sein!

Am Ende hatte dies alles doch noch sein Gutes?

Das Geschrei und Gezänk zweier Möwen riss sie aus ihren Gedanken und erinnerte sie an ihre Pflichten.

„Kommt in einer halben Stunde zum Essen rüber!“

„Charlie, besser du ruhst aus! Siehst nicht gut aus!“

„Herzlichen Dank auch! Ausruhen kann ich mich im nächsten Jahr genügend! Wahrscheinlich mehr als mir lieb ist!“

Obwohl das Angebot verlockend war, sich einfach ins Bett zu legen und diesen furchtbaren Tag zu verschlafen. Es gab viel zu tun, und noch war es ihr Hof!

„Ist ja gut, ich sag Marek und Georg Bescheid.“

Bereits im Gehen gab Charlotte weitere Anweisungen.

„Und Pavel? Heut Nacht soll es Regen geben, sobald es etwas kühler ist, fahren wir zum Spritzen raus! Marek kann am Nachmittag schon mal das Fass vorbereiten.“

„Klar. Wieder ganz die Alte!“, murmelte er leise.

„Das hab ich gehört!“, rief sie lachend zurück.

***

Anne wartete bereits eine ganze Weile am Haupteingang der Schule, als Maike eintraf und sich lauthals beschwerte.

„Mann, ich hasse Montage! Kommen sie dir nicht auch viel länger vor als alle anderen Tage?“

„Nö. Na obwohl, heut war‘s schon blöd.“

„Mmh, siehst du! Ich komm grad von Erdkunde, wir gehen Bevölkerungsentwicklung durch, total ätzend! Das ist so langweilig, ich wär fast eingeschlafen, und dann haben wir ausgerechnet auch noch ne Doppelstunde.“

Langsam schlenderten sie über den Schulhof, an der Turnhalle vorbei, zu den dahinterliegenden Fahrradständern, und Anne bemühte sich, das ihre zwischen all den anderen Rädern möglichst unbeschadet herauszuzerren, während Maike munter über den Sinn des Unterrichtsstoffes lamentierte, bis sie sich endlich beruhigte und abrupt das Thema wechselte.

„Ich hab die neue!“

Triumphierend hielt sie Anne eine CD vor die Nase.

„Ich sag dir, die ist absolut klasse! Im Herbst geben die Jungs ein Konzert in Hamburg. Mein Vater hat Karten bestellt. Und ich darf dich mitnehmen!“

Aufgeregt hüpfte sie auf der Stelle.

„Was sagst du?“

Anne hob bedauernd die Schultern. Ihre Mutter würde das nie erlauben, der fielen auf Anhieb bestimmt hundert Sachen ein, die schiefgehen könnten! Dabei war sie schon fünfzehn! Furchtbar gern würde Anne auf das Konzert gehen. Einfach so fragen, ging nicht! Sollte sich ihre Mutter erst einmal dagegen entscheiden, würde sie nichts auf der Welt wieder umstimmen. Auf jeden Fall musste sie den richtigen Zeitpunkt abwarten. Am besten bat sie zuerst ihren Vater, der würde es bestimmt erlauben. Solche Probleme kannte Maike nicht, ihr wurde meistens jeder kleine Herzenswunsch erfüllt, da käme ihr eine Ablehnung gar nicht in den Sinn. Trotz allem ließ sich Anne von der Begeisterung anstecken, und gemeinsam fantasierten sie über den geplanten Auftritt in der Hamburger Arena. Die Freundinnen waren so vertieft in ihre Träumereien, dass sie nicht bemerkten, wie sie in den Fokus zweier Schülerinnen gerieten, die sich ihnen streitlustig in den Weg stellten.

„Was seid ihr denn für Tussis?“

Überrascht verstummte das Gespräch. Was wollten die nur von ihnen? Anne kannte die kaum, vermutlich waren das Zehntklässler, die standen in der Pause meistens in einer der abgelegenen und von den Lehrern nicht so leicht einzusehenden Ecken des Schulhofes, um dort zu rauchen oder was auch immer sie da eben trieben. Der letzte Jahrgang blieb lieber unter sich, mit den „Kleinkindern“ wollten die nichts zu tun haben.

„Mann, guckt ihr vielleicht dämlich! Hat's euch die Sprache verschlagen, oder was?“

Ratlos blickte Anne zu ihrer Freundin rüber. Die guckte ebenso irritiert, zuckte mit den Schultern und raunte: „Komm, lass uns abhauen, das ist mir zu blöd!“

Zeitgleich setzten sie sich in Bewegung, als eines der Mädchen in Annes Fahrradlenker griff und sie aufhielt.

„He, mal nicht so eilig, wo wir uns doch gerade so schön kennenlernen“, grinste sie schadenfroh.

Vereinzelt zogen Schüler vorbei, doch niemand schien Notiz von der kleinen Gruppe zu nehmen.

„Lasst uns gefälligst in Ruhe, ja!”, keifte Maike neben ihr.

„Oh, es spricht!”, piepste die andere mit hoher Stimme und krümmte sich lauthals lachend über den eigenen Witz.

Als Maike wütend das Gesicht verzog, bedeutete Anne ihr mit einer Geste, Ruhe zu bewahren, vielleicht würde es den beiden schnell langweilig, wenn sie sich nicht provozieren ließen. Doch im Moment schienen sie sich noch köstlich zu amüsieren. Abrupt verstummte das Gelächter, beide Parteien nutzten die Zeit, sich gegenseitig in Augenschein zu nehmen.

Die kräftig gebaute Platinblonde hatte scheinbar das Sagen, ihr langes Haar war mit einer Spange festgesteckt, sodass der Pony in einer Welle etwa handbreit aufrecht über der Stirn stand. Was, wie Anne befand, etwas seltsam aussah. Ihr Gesicht, grobschlächtig mit kleinen Schweinsäuglein, war mit einer dicken und viel zu dunklen Make-up Schicht bedeckt. Die Zweite war der offensichtliche Gegenpart. Deren Haut war leichenblass, sodass die langen schwarzen, fast bläulich schimmernden Haare einen harten Kontrast bildeten. Sie hatte ein sehr schönes Gesicht, die Augen mit Kajal umrandet und die Lider dunkel bemalt, ließen sie gefährlich aussehen.

Die Blonde hatte sie währenddessen umrundet, schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne und ergriff schmatzend das Wort.

„Mann, seht ihr vielleicht scheiße aus! Und du bist echt besonders hässlich!“, deutete sie feixend auf Anne.

„Ja, echt scheiße“, bestätigte die andere. „Wo kriegt ihr denn eure Klamotten her? Vom Flohmarkt?“

Während sie johlten und sich gegenseitig anerkennend die Faust gaben, lief Anne puterrot an.

Wofür hielten die sich eigentlich?

Wenn sie sich die zwei so ansah, wollte sie ganz bestimmt nicht so wie die herumlaufen. Von wegen hässliche Klamotten! Die Blonde trug einen Sportanzug, mit den dazu passenden Turnschuhen, und die Dunkelhaarige machte einen auf Rapper. Also eventuell hatte sie ja keine Ahnung in Sachen Mode, aber aus welcher Faschingskiste hatten die denn ihre Klamotten her?

Maike musste der gleiche Gedanke in den Sinn gekommen sein. „Habt ihr eigentlich schon mal in den Spiegel geschaut?“, meldete sie sich zu Wort, und Anne entfuhr ein Kichern.

Drohend baute sich die Blondine vor Maike auf, sie war gut einen Kopf größer.

„Halt bloß deine Fresse, ja! Oder willst du 'n paar aufs Maul, Miststück?“

„Halt doch selber die Fresse, du dämliche Kuh!“

Maike konnte sich scheinbar nicht länger zurückhalten. Doch Anne war längst nicht so mutig, sie wollte auf keinen Fall Ärger mit denen, lieber ließ sie sich weiter beleidigen, wenn sie dafür nur heil aus dieser Sache herauskamen. Panisch versuchte sie, dem ein Ende zu setzen.

„Nun lasst uns schon gehen. Okay? Vergessen wir das Ganze einfach!“

„Na, Schiss in der Hose? Ich mach euch fertig, da könnt ihr Gift drauf nehmen!“

„Du hast doch bloß ne große Klappe! Ich lass mir gar nichts von dir gefallen! Und Schiss habe ich schon mal gar nicht!“

Maikes Stimme überschlug sich fast, wahrscheinlich hatte auch sie Angst, aber klein beigeben war noch nie ihre Stärke gewesen. Warum konnte sie denn nicht ein einziges Mal den Mund halten? Die Situation lief aus dem Ruder, und ihre Freundin musste natürlich noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Instinktiv spürte Anne die drohende Gefahr, sie wollte die Flucht ergreifen, doch Maike rührte sich nicht vom Fleck, stand der Blonden stocksteif gegenüber, so dicht, dass sich ihre Köpfe fast berührten, und spie ihr wütend Beleidigungen ins Gesicht. Ohne Vorwarnung stieß die Anführerin Maike grob die Hände vor die Brust, sodass die völlig überrascht einige Schritte zurücktaumelte. Darauf schien das andere Mädchen nur gewartet zu haben, denn im selben Augenblick versetzte sie Annes Fahrrad einen kräftigen Tritt, sodass es scheppernd auf dem Gehweg landete. Gerade als Maike sich auf ihre Kontrahentin stürzen wollte, schallten laute Rufe von den Wänden des Schulgebäudes wider und verhinderten Schlimmeres.

„He, he! Was ist denn hier los? Sofort aufhören!“

Leitner, der Physiklehrer, eilte mit großen Schritten herbei. Streng und ein wenig außer Atem sah er alle der Reihe nach an.

„Was war das gerade?“

Maike stand der Blonden mit geballten Fäusten gegenüber, bereit, sofort zum Angriff überzugehen. Den Kopf hochrot vor Zorn, konnte man glauben, sie wolle ihre Gegnerin zu Boden starren. Die hob gänzlich unbeeindruckt die Schultern und wandte sich mit engelsgleichem Lächeln dem Lehrer zu.

„Rein gar nichts, Herr Leitner. War nur Spaß!“

„Nach Spaß sah mir das aber ganz und gar nicht aus!“

Mit scharfem Blick musterte er die kampfeslustige Maike.

„Und was habt ihr beide dazu zu sagen?“

„Wir haben schließlich nicht angefangen!“, maulte sie störrisch.

„Die haben uns provoziert, und wie!“, beschwerte sich die Dunkelhaarige sofort. „Überhaupt, wir kennen die gar nicht!“

Anne schnappte hörbar nach Luft, das war ja wohl der Gipfel der Gemeinheiten!

„Das glaubt ihr doch wohl selber nicht! Wir euch provoziert? Mann, ihr seid dermaßen feige, ihr ...“

„Jetzt beruhigen sich mal wieder alle!“

Leitners tiefe Bassstimme überdröhnte Maikes hysterisches Gekreisch.

„Sehen Sie ...!“, triumphierte die Dunkle.

Maike gab ein schnaufendes Geräusch von sich, und Leitner blickte misstrauisch von einer zur anderen.

„Na, dann wäre die Sache jetzt ja geklärt. Wir wollten sowieso grad gehen!“

Die Zehntklässlerinnen kehrten ihnen einfach den Rücken zu und setzten sich kichernd in Bewegung.

Wütend beschwerte sich Maike bei dem Lehrer.

„Das war alles? Damit kommen die durch?”

Leitner schien einen Augenblick nachzudenken.

„Na, ganz unschuldig wart ihr bestimmt auch nicht.”

Er entschied den Vorfall für erledigt und lenkte seine Schritte in Richtung Parkplatz.

„Das ist doch nicht zu fassen!”

Maike konnte sich immer noch nicht beruhigen, empört gaffte sie den Mädchen hinterher. Blondie winkte ihnen von der Straße triumphierend und lachend zu.

„Dann bis zum nächsten Mal!”

Wutentbrannt reckte Maike ihr zur Antwort den ausgestreckten Mittelfinger entgegen.

„Mensch, lass die doch. Die haben eh nur den IQ eines Huhnes”, versuchte Anne sie zu beschwichtigen. „Sei doch froh, dass uns nichts weiter passiert ist!”

„Ach ja? Du hättest ja ruhig auch mal was sagen können!”, schnauzte ihre Freundin zurück.

Sprachlos starrte sie Maike an. Was hatte die denn auf einmal?

„Ach vergiss es, ich hab die Schnauze gestrichen voll!“

Voller Zorn und ohne ein weiteres Wort ließ sie Anne einfach stehen und stapfte davon.

***

„He, Petrow, guck mal die Weiber da drüben bei Leitner. Mann, sind die klasse! Mensch, jetzt guck doch mal!“

Mürrisch blickte Sascha in die Richtung, die ihm sein Freund Robert Kröger so aufgeregt anzeigte.

„Hä, du meinst doch wohl nicht die Maike Enders aus unserer Klasse, Mann?“

„Quatsch, die andern beiden Chikas natürlich. Die Blonde kenn ich, heißt Anja oder so. Mann, was für `n geiles Gestell! Alter! Wolln wir nich mal rübergehn und die klar machen?“

„`n ander Mal, ja?”

„Wieso denn nich? Ist doch `ne günstige Gelegenheit?“

„Mann, du Schwachkopf! Kapierst du es endlich? Ich hab keine Lust!“

Mit Robert gingen scheinbar in letzter Zeit die Hormone durch, nur noch die Weiber im Kopf! Das ging ihm langsam tierisch auf die Nerven.

„Du hast ja wieder ne schlechte Laune. Alter, die sind doch echt Zucker! Wäre doch nicht schlecht für uns, so ne feste Braut!“

„Du willst ne Braut?“

„Willst du vielleicht ewig Jungfrau bleiben?“

„Halt bloß die Fresse! Ich glaub‘s ja wohl nich, ne feste Freundin! Haste dir das auch genau überlegt?“

„Na, wenn sie so aussieht wie die da drüben!“

„Ach, ja? Ich sag dir, dann ist es vorbei mit deiner Freiheit. Guck dir doch bloß mal meine Schwester an. Wenn sich ihr Lover nicht jeden Tag bei der meldet, macht sie gleich einen Aufstand. Mann, die Bräute wollen ständig wissen, was du gerade machst und wo du bist! Und wenn du lieber mit deinen Freunden abhängst, sind sie sauer und machen dir ne Szene! Nee, ich hab keine Lust auf so`n Rumgezicke!“

Robert schien von den Argumenten seines Freundes nicht überzeugt zu sein. Er schaute bedauernd zu den beiden Mädchen zurück, die jetzt lachend an einer der Haltestellen standen. Grummelnd stapfte er Petrow hinterher.

„Alter, wieso bist du denn so angepisst in letzter Zeit? Is irgendwas?“

„Ja, du sollst mir nich auf‘n Sack gehen!“

„Du hast doch wohl nich Schiss vor den Prüfungen oder so?“

„Was hab ich dir grad gesagt?“, schnauzte er Robert an. „Pff, ich und Schiss. Die können mir gar nichts! Okay? Noch ein paar Wochen und dann ist Schluss. Wird ‘n Kinderspiel!“

„Ja, ich hab‘s verstanden!“

Beschwichtigend legte er seinem Freund die Hand auf die Schulter.

„Mann, du hast es echt gut! Ich muss noch ein ganzes Jahr in dem Laden abreißen. Eigentlich müsste ich sauer sein, dass du mich einfach so im Stich lässt. Wir wollten doch zusammen von hier abhauen! Was soll ich das nächste Jahr bloß machen ohne dich? Das wird voll ätzend! Alter, du wirst mir echt fehlen!“

Petrow schüttelte wütend Roberts Hand ab.

„Bist du vielleicht meine Mutter oder was? Was laberst du hier rum?“

Kröger brachte schnell einen Meter Abstand zwischen sich und Petrow. Obwohl Sascha gern mal bei anderen aus sehr viel nichtigeren Gründen zuschlug, hatte Robert noch nie Angst vor ihm gehabt, sie waren schließlich von klein auf beste Freunde. Sie trafen sich fast jeden Tag und machten so gut wie alles zusammen, auch wenn Petrow derjenige war, der den Ton angab. Aber in letzter Zeit war sein Kumpel verschlossen und reagierte sehr überempfindlich, mehr als gewöhnlich. Robert hätte gern gewusst, was ihn so beschäftigte, aber in diesem Moment schien es ihm klüger zu sein, vorsichtig den Rückzug anzutreten und ihn lieber nicht weiter durch seine bloße Anwesenheit zu provozieren.

„Ich geh dann mal“, verabschiedete er sich brüsk und eilte die kleine Straße hinauf, an der ein paar hundert Meter weiter sein Elternhaus stand.

„Und reg dich ein bisschen ab, Alter!“, rief er aus sicherer Entfernung zurück.

Schlecht gelaunt und ohne eine Antwort ging Petrow weiter die Hauptstraße hinauf. Sein Kumpel Robert war ja schon immer sehr redselig gewesen, aber heute reizte ihn sein Geschwätz besonders. Unbewusst hatte er bei Petrow einen empfindlichen Nerv getroffen. Ja, Sascha freute sich darauf, endlich die Schule hinter sich zu lassen. Keine Lehrer mehr, die ihn ständig triezten, keine nervigen Eltern. Keiner, der ihm mehr Vorschriften machte. Endlich frei!

Bald würde er in Pinneberg seine Ausbildung als Automechatroniker beginnen. Sein Schwager hatte ihm die Stelle verschafft, obwohl Petrow nur mit dem Abschluss der neunten Klasse abging. Wen interessierte das schon? Denn von Autos, davon verstand er was. Es war sein absoluter Traumjob! Er sollte überglücklich und zufrieden sein! Und trotzdem, mit jedem Tag, der ihn näher an sein Ziel brachte, sank auch seine Stimmung. Hier war ihm alles vertraut, und alles hatte seinen geregelten Ablauf, jede Straße und jede Abkürzung durch die Gärten fand er im Schlaf, und fast jeder hier kannte ihn! Bei den anderen Jungs hatte er sich im Laufe der Jahre Respekt verschafft, manche von denen fürchteten ihn sogar. Das gefiel ihm, hier war er wer!

Aber in Pinneberg? Was würde ihn dort erwarten?

Er würde von vorn anfangen und sich vor den anderen erst mal beweisen müssen. Da war er auf sich allein gestellt.

Kröger hatte ja recht, sie hatten sich geschworen, zusammen aus diesem Kaff zu verschwinden. Aber Petrow glaubte nicht, noch ein Jahr an dieser Schule auszuhalten. Acht Stunden, tagein tagaus, immer das gleiche Gelaber, das er weder verstand noch ihn irgendwie interessierte. Alles, was er wollte, war, an Autos zu schrauben, und dazu brauchte er keine Rechtschreibung und kein Erdkunde oder den ganzen anderen nutzlosen Kram! Da kam ihm das Angebot seines Schwagers gerade recht, im September mit der Ausbildung zu beginnen. Am Ende ist sich doch jeder selbst der nächste!

Außerdem wollte doch Kröger unbedingt Koch werden. Koch!

Schon wieder so‘n Weiberkram, er meint, da stehen die Frauen jetzt drauf. So ein Quatsch, die stehen auf Autos, weiß doch jeder! Und wenn er erst mal seinen getunten Schlitten hatte, dann kämen die Weiber ganz von allein. Sobald er genug Kohle verdient hätte, würde er sich einen schwarzen VW-Golf besorgen und die Karre so richtig aufmotzen, mit Breitreifen und Alufelgen, in denen die roten Bremsbacken leuchteten, und natürlich tiefer gelegt. Ein protziger Heckspoiler würde dem Wagen den letzten Schliff geben, und er könnte im Kofferraum die große Boxenanlage für den richtigen Sound einbauen, damit jeder auf der Straße die Bässe schon von weitem hören konnte. Auf so einen geilen Wagen, da fahren die Frauen drauf ab. Das würde Kröger schon noch einsehen.

Kröger! So lange er denken konnte, hatten sie beide alles gemeinsam gemacht. Er hatte mehr Zeit mit Robert verbracht als mit seiner eigenen Familie. Mann, Robert war sein bester Freund, sein einziger, und er hatte keine Ahnung, wie oft sie sich nach Beginn seiner Lehre treffen könnten.

Jedes Wochenende, einmal im Monat? Wie lange würden sie dann noch Freunde bleiben? Am Ende fand Robert doch noch seine Braut und würde seinen alten Kumpel einfach abservieren.

Dies war ihr letzter gemeinsamer Sommer!

Mensch, jetzt wurde er schon wieder sentimental!

Er sollte sich lieber zusammenreißen und das in den Griff kriegen, solche Gefühlsduselei war nur was für Mädchen oder Weicheier. Ein Mann muss eben tun, was ein Mann tun muss!

Sein Vater sagte ihm das auch immer, und vielleicht hatte er damit ausnahmsweise einmal recht!

***

Lauernd stand Nik in der Seitengasse, einen Fuß auf die Pedale seines Fahrrades gestellt, und wartete ungeduldig.

Nach dem Unterrichtsschluss hatte er sich furchtbar beeilt, um seine Vorbereitungen zu treffen und noch rechtzeitig vor dem Mädchen hier an der Kreuzung einzutreffen.

Sie kam doch immer hier entlang. Hatte er sie etwa verpasst?

Hätte sie nicht schon längst in Sichtweite sein müssen?

Er hatte seinen Platz mit Bedacht gewählt, eine Bushaltestelle verdeckte an dieser Stelle die Sicht auf die Nebenstraße, in der er stand. Hoffentlich fiel trotzdem keinem auf, dass er hier schon die ganze Zeit herumlungerte. Vorsichtig lugte er über die Schulter.

Wenn er es jetzt noch einmal durchging, befand er, dass es ein absolut bescheuerter Plan war. Einfach alles konnte schief gehen! Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Ja, gestern schien sein Vorhaben noch total simpel, und er war geradezu überwältigt von seinem ach so geistreichen Einfall. Was für eine vollkommene Schnapsidee!

Der präparierte Beutel mit den Lebensmitteln wurde ihm mit jeder Minute des Wartens schwerer. Die Henkel der großen Plastiktüte waren um den Lenker geschwungen und das untere Ende mit dem eingerissenen Loch umklammerte er fest mit seiner rechten Hand. Er war bereit!

Andererseits wurden die Zweifel mit jeder verstrichenen Minute größer, er schalt sich einen alten verblödeten Esel und beschloss, nach Hause zu fahren und die ganze Sache zu vergessen, bevor ihn noch einer bei diesem idiotischen Vorhaben erwischte, als er unversehens eine Bewegung durch die spärlichen Sträucher an der Hauptstraße bemerkte.

Nik duckte sich und sah angestrengt durch die Äste hindurch. Ein Mädchen mit einer blauen Bluse und wehenden blonden Haaren radelte die Straße hinauf. Endlich! Sie kam.

Es war so weit! Er könnte sich jetzt einfach ganz still verhalten und ruhig abwarten, bis sie die Seitenstraße passiert hatte, bestimmt würde sie ihn nicht mal bemerken.

Oder er könnte den Plan jetzt durchziehen!

Der blaue Farbklecks wurde zunehmend größer, er musste sich entscheiden. Schnell trat er die Pedale durch und nahm mit ein paar kräftigen Tritten Geschwindigkeit auf. Das richtige Timing war ausschlaggebend.

Anne erreichte gerade die Bushaltestelle, und zufrieden

bemerkte er gerade noch, dass sie Kopfhörer trug und recht abwesend wirkte, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Mit ein wenig Glück konnte sie ihn nicht mehr rechtzeitig wahrnehmen, aber sicher fuhr sie gleich langsamer, um die Straße zu überqueren, also ließ er sich von seinem Fahrrad riskant um die Kurve tragen und heftete seinen Blick so weit nach unten, dass er mehr ahnte, als dass er sah, wo genau das Mädchen sich befand. Dann ging alles sehr schnell.

Wie durch Nebelschwaden hörte er ihren entsetzten Aufschrei, bevor die Räder krachend gegeneinander stießen. Als sich der Lenker schmerzhaft in seinen Bauch grub, ließ er die Tüte los und versuchte seinen Sturz etwas abzufangen, dabei verfehlte er nur knapp das Busschild und landete ungelenk auf dem Rasenstreifen. Nik brauchte einen Moment, um sich wieder aufzurappeln und nach dem Mädchen zu sehen.

Der Zusammenstoß war viel heftiger gewesen, als er es vorgesehen hatte. Eigentlich wollte er sie nur ein wenig streifen und nicht gleich umbringen. Erschrocken stellte er fest, dass sie vor Schmerzen jammerte und halb über ihrem Fahrrad lag. Das hatte er so nicht gewollt!

Es war allein seine Schuld, wenn sie sich dabei verletzt hatte. Eilig half Nik dem Mädchen aufzustehen.

„Bist du in Ordnung?“, fragte er ängstlich.

Sofort stellte diese das Stöhnen ein und starrte ihn finster an. Für drei Sekunden herrschte absolute Stille, bevor ihre Stimme lautstark und wütend aus ihr herausbrach.

„Bist du völlig bescheuert? Hast du keine Augen im Kopf? Kannst du nicht gucken oder bist du immer so rücksichtslos? Du bist einfach so in mich reingebrettert! Du Vollidiot!“

In diesem Augenblick fühlte er sich so erleichtert, dass ihr nichts Schlimmeres zugestoßen war, sodass ein breites Grinsen sein Gesicht überzog.

„Du siehst echt total süß aus, wenn du so wütend bist!“

Sprachlos und mit großen Augen sah Anne den Jungen an.

„Außerdem bist du in mich reingebrettert!“

„Ich bin WAS?“

„In mich reingebrettert! Schließlich bist du auf der falschen Straßenseite gefahren!“, erwiderte Nik lächelnd.

„Jetzt hör mal gut zu. Ich hab dich genau gesehen, als du um die Ecke gefahren bist. Du warst viel zu schnell! Ich hab sogar noch versucht anzuhalten, aber du hast nicht mal geguckt! Das ist alles deine Schuld, denn du bist in mich reingefahren! Man könnte fast glauben, du hast das mit Absicht gemacht!“

„Okay, okay, du hast recht. Ich hab nicht geguckt und ich war wohl möglicherweise etwas zu schnell, aber du bist trotzdem auf der falschen Seite gefahren. Also trifft uns beide wohl ein wenig Schuld!“

„Ach ja? Und wenn nun hier Fußgänger längs gekommen wären? Dann hättest du die doch ebenso umgekachelt! Oder spazieren die dann auch auf der falschen Seite?“

Zwar hatte er Anne mit seiner Behauptung ein wenig aus dem Konzept gebracht, aber sie war immer noch furchtbar wütend.

„Ehrlich, es tut mir wirklich leid. Ich entschuldige mich!“ Der Junge versuchte seine Worte mit einem möglichst niedergeschlagenen Gesichtsausdruck zu unterstreichen.

„Entschuldigung angenommen?“

Statt einer Antwort kam von Anne nur ein Grunzen, was Zustimmung oder auch Ablehnung bedeuten konnte, aber immerhin hatte sie das Schreien eingestellt.

„Gut, dann wollen wir uns mal die Räder ansehen!“

Nik zog Annes Fahrrad am Lenkergriff herauf, und bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte, schwang er sich auf den Sattel, fuhr ein paar Meter den Weg zurück, wendete und kam mit einem bedauernden Gesichtsausdruck zurück.

„Der Lenker ist ein bisschen verzogen, und der Bautenzug ist leider gerissen.“

„Na super! Und jetzt?“

Er beteuerte ihr, das sofort wieder in Ordnung zu bringen.

„Danke, ich verzichte. Nachher machst du es noch ganz kaputt!“

Das lief ganz und gar nicht gut. Hätte er sich ja gleich denken können, dass die ganze Geschichte sich nicht so entwickelte, wie er sich das vorgestellt hatte.

„Kann ich jetzt mein Fahrrad zurückhaben?“

Fordernd stand sie vor ihm, als sein Blick auf die an der Wegseite verstreuten Lebensmittel fiel. Er sollte sich an seinen Plan halten, vielleicht hatte er ja noch eine Chance.

„Nein!“

Er zog Annes Fahrrad einfach am Lenker mit sich und hob theatralisch den freien Arm.

„Meine Einkaufstüte ist gerissen!“, bemerkte Nik vorwurfsvoll.

Anne schaute verwirrt auf die am Boden verstreuten Pakete, machte jedoch keine Anstalten, ihm zu helfen. Also bat er sie darum, mit ihm die Sachen nach Hause zu schaffen.

Entrüstet stemmte sie die Fäuste in die Hüfte.

„Das glaubst du doch wohl selber nicht!“

„Ich kann das doch nicht einfach so liegen lassen, und du hast einen Fahrradkorb! Dauert auch nicht lange, ich wohn praktisch gleich um die Ecke.“

Sie schien überhaupt nicht begeistert zu sein.

„Bitte! Außerdem könnte der Vollidiot auch gleich dein Fahrrad reparieren. Sozusagen als Wiedergutmachung!“

Unentschlossen sah Anne zu ihm hinüber.

„Lass bloß diesen Hundeblick!“

Überraschenderweise setzte sie sich in Bewegung und hob die verstreuten Sachen auf.

„Und beeil dich, ich hab schließlich nicht ewig Zeit!“

Während Nik innerlich triumphierte, dirigierte er Anne zu seinem Haus, und sie trugen die etwas angeschlagenen Lebensmittel in die Küche. Er versuchte ein aufmerksamer Gastgeber zu sein und bot ihr etwas zu trinken an, aber Anne lehnte schulterzuckend ab.

„Mein Fahrrad, schon vergessen?“

Behände nahm Nik zwei Gläser aus dem Schrank, drückte sie ihr einfach in die Hand, klemmte sich eine Colaflasche unter den Arm und forderte sie auf, ihm zu folgen. Er führte sie durch den am Flur angrenzenden Lagerraum in die große, völlig in Finsternis gehüllte Garage des Einfamilienhauses, wo Anne instinktiv im Türrahmen stehen blieb. Der Junge spürte ihre Verunsicherung und verschwand in der Dunkelheit. Ohne große Schwierigkeiten fand er den Weg zum Rolltor, um es zu entriegeln und mit einem kräftigen Stoß nach oben zu befördern. Scheppernd rastete es in die Halterung ein und ließ helles Tageslicht in die Garage fluten.

Nachdem er die beiden Fahrräder hereingebracht hatte, stellte er das kleine Werkstattradio an und bot er ihr, ganz Gentleman, einen Klappstuhl an. Sie sollte sich bei ihm wohlfühlen. Er selbst nahm neben Anne auf einer alten Holzkiste Platz und breitete die ausrollbare Werkzeugtasche vor ihren Füßen aus.

Zuerst richtete er den Lenker und Sattel ihres Fahrrades, danach kümmerte Nik sich um die Gangschaltung, was, wie er zufrieden feststellte, etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Geduldig erklärte er ihr während der Reparatur die einzelnen Werkzeuge und ihren Gebrauch.

Tatsächlich taute Anne langsam auf, ihre einsilbigen

Kommentare wurden von neugierigen Fragen abgelöst, und

allmählich begann sich ein richtiges Gespräch zwischen ihnen zu entwickeln. Dass er Anne dabei ausfragte, bekam sie gar nicht mit. Obwohl er sich mit der Reparatur extra viel Zeit ließ, verging der Nachmittag wie im Fluge.

Er war ihr noch nie so nahe gewesen und genoss diese Zeit. Während Anne erzählte, musterte er unauffällig ihr Gesicht mit den frechen Sommersprossen auf der Nase.

Die Sonnenstrahlen ließen ihr Haar schimmern, und er fand, dass sie wundervolle grüne Augen hatte, fast geheimnisvoll.

Ihre natürliche Art und ihr glockenhelles Lachen gefielen ihm. Ein erstes zartes freundschaftliches Band begann sie beide zu verknüpfen, er spürte, dass sie ihm vertraute und Sympathie empfand. Stundenlang hätte er hier hocken und ihren Worten lauschen können, es kam ihm vor, als würden sie sich bereits ewig kennen.

Plötzlich fuhr ein Wagen die Einfahrt hinauf und zerstörte den magischen Moment. Niks Gesicht verfinsterte sich.

Musste sein Alter ausgerechnet jetzt auftauchen? Mann, sonst ließ der sich doch nie so früh blicken! Immer machte der alles kaputt!

„Was willst du denn hier?“, schleuderte Nik ihm unfreundlich entgegen, während der Mann aus dem Auto stieg.

„Falls du dich erinnerst, ich wohne hier!“

Die schroffe Begrüßung seines Sohnes schien ihn nicht zu stören, neugierig sah er sich um, erspähte die Räder und das Werkzeug, bis sein überraschter Blick an dem Mädchen hängen blieb.

„Willst du uns nicht vorstellen?“

Da Nik keine Anstalten dazu machte, trat Anne artig ein paar Schritte vor und reichte dem Herrn die Hand.

„Ah, Anne. Aus Niks Klasse?“

„Nein, ich geh erst in die Neunte.“

Mit verschränkten Armen sah Nik seinen Vater drohend an.

„Ich geh dann mal“, sagte das Mädchen unwohl in den Raum hinein. „Und danke fürs Reparieren.“

„Du kannst auch noch bleiben!“

Überhastet sprang der Junge auf und versuchte sie umzustimmen.

„Nee, wirklich, ich muss jetzt.“

Anne klappte den Ständer ihres Fahrrades hoch und schob es hinaus.

Krampfhaft versuchte er seine Enttäuschung zu verbergen.

„Na, dann. Vielleicht sieht man sich ja mal?“, fragte er leise hoffend.

Eilig schwang sich Anne auf den Sattel und winkte ihm zum Abschied zu. Betrübt blickte Nik ihr nach.

„Mmh, nettes Mädchen. Hab ich euch gestört?“

Abrupt drehte er sich zum Vater um und starrte ihn für einen Augenblick wütend an, bevor er ihn hartnäckig ignorierte und sich geschäftig ans Aufräumen machte.

Als sein Vater achselzuckend und ohne ein weiteres Wort die Garage verließ, atmete der Junge erleichtert auf.

Verträumt blickte er die Straße hinunter.

Eigentlich konnte Nik sein Glück kaum fassen!

Sie war hier gewesen, bei ihm!

Bis sein Alter aufkreuzen musste, war es doch gut gelaufen, sogar sehr viel besser, als er es geplant hatte.

***

Diese Kopfschmerzen plagten Silke schon seit dem frühen Nachmittag, und obwohl sie bereits zwei Aspirin genommen hatte, fühlte sie sich keinen Deut besser.

Ehemann und Tochter saßen schon an dem von ihr gedeckten Tisch und warteten darauf, mit dem Essen zu beginnen. Emsig stapelte Silke die frischen Brotscheiben in das kleine, mit einer Serviette ausgelegte Bastkörbchen und brachte dieses zum Esstisch hinüber. Kaum dass der Korb abgestellt war, angelte ihr Mann sich ungeduldig eine Schnitte heraus.

„Haben wir noch Käse?“

Suchend blickte Holger in die Runde. Automatisch machte Silke auf dem Absatz kehrt, inspizierte den halbleeren Kühlschrank und fand ein ganzes Stück Edamer. Das Surren der elektrischen Schneidemaschine verstärkte nur noch das schmerzhafte Pochen hinter ihrer Stirn. Mit dem Käseteller in der Hand nahm sie ihren Platz ein und bemerkte entrüstet, dass beide längst ohne sie aßen.

„Das war der letzte.“

Polternd stellte Silke den Teller ab.

„Wir müssen morgen einkaufen!“

„Kannst du dann gleich eine andere Sorte mitbringen? Du weißt doch, ich mag den Gouda lieber.“

Verärgert schaute Silke von einem zum anderen, allerdings waren beide viel zu sehr mit dem Essen beschäftigt, um es zu bemerken. Glaubten die etwa, sie wäre deren Dienstmagd?

„Ich dachte eigentlich, du könntest ...!“

„Das ist ganz schlecht“, erwiderte ihr Gatte schnell, „wir haben im Moment so viel in der Firma zu tun, ich weiß noch gar nicht, wann ich nach Hause komme. Außerdem fährst du doch jeden Tag am Laden vorbei!“

Natürlich, da konnte sie ja auch gleich selber einkaufen! Auf seinem Arbeitsweg lag zweifelsohne kein Geschäft!

Was verlangte sie eigentlich?

Mit verschränkten Armen blickte sie prüfend zu ihrer Tochter

hinüber, die unbeteiligt und gedankenverloren an einem Stück Paprika kaute.

„Und, wo warst du heute, Anne?“

„Ich?“

Fast entsetzt kam die Gegenfrage, und das machte Silke umgehend misstrauisch. Ihr untrüglicher mütterlicher Instinkt alarmierte sie sofort, blieb nur noch zu klären, auf was sie hier so unabsichtlich gestoßen war. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass Anne den Nachmittag wie immer bei ihrer Oma verbracht hatte.

Aufmerksam studierte Silke das Gesicht ihrer Tochter, um jede kleinste Lüge sofort darin abzulesen, denn sie hatte Anne eindeutig bei etwas ertappt, man konnte direkt sehen, wie es hinter deren Stirn arbeitete.

„Also nicht bei Charlotte?“

„Ähm, ich wollte ja. Aber mein Fahrrad war kaputt.“

„Dein Fahrrad. Aha. Und wo warst du dann die ganze Zeit?“

Selbst Holger schien jetzt aufmerksam geworden zu sein, obwohl ihn ein ganz anderer Aspekt der Geschichte interessierte.

„Was ist denn mit deinem Fahrrad? Das war gestern doch noch vollkommen in Ordnung!“

„Naja, ein Junge ist mir versehentlich reingefahren.“

„Welcher Junge?“, hakte Silke sofort nach.

„Aus der Schule.“

Langsam wurde Silke ungeduldig.

„Mensch, jetzt lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Ist dein Fahrrad kaputt, oder was? Dann muss er das eben bezahlen. Kennst du den Jungen? Weißt du, wie der heißt?“

„Och, Mutti! Er heißt Nik und kennen tu ich ihn eigentlich nicht, der ist nämlich schon in der Zehnten! Aber er hat das Fahrrad repariert! Okay? Es ist alles in bester Ordnung.“

So leicht ließ Silke sich nicht täuschen.

„Gut, wenn alles in Ordnung ist, dann kannst du mir ja jetzt erklären, wo du den ganzen langen Nachmittag warst!“

Entnervt rollte ihre Tochter mit den Augen.

„Na bei ihm zu Hause! Hab doch gesagt, er hat‘s repariert.“

„Hab ich das gerade richtig verstanden? Du gehst mit einem jungen Mann nach Hause, den du nicht mal kennst, und ohne dass wir wissen, wo du bist? Wie kann man nur so naiv und sorglos sein? Da hätte sonst was passieren können! Wie alt bist du eigentlich?“

Bockig warf Anne das angebissene Gemüsestück auf den Teller und verschränkte die Arme auf der Tischplatte.

„Eben, ich werde bald sechzehn! Und ich weiß gar nicht, was du schon wieder hast? Ist doch überhaupt nichts passiert!“

„Also ich denke, dass du die Sache ein wenig überbewertest, Silke“, meldete Holger sich zu Wort. „Schließlich wohnen wir auf dem Land und nicht in Kleinchicago. Was soll hier groß passieren? Außerdem kann unsere Tochter schon auf sich selbst aufpassen! Nicht wahr, Anne?“

War ja klar, dass Holger ihr wieder in den Rücken fiel.

Missmutig blickte Silke zu ihrem Mann hinüber, während dieser verschwörerisch seine Tochter anblinzelte. Die beiden verstehen sich ja wirklich prächtig, dachte Silke wütend.

„Willst du denn gar nichts essen?“, wollte er von ihr wissen, doch sie ignorierte ihn einfach und setzte die angefangene Diskussion mit Anne fort.

„Wozu hast du ein Handy? Es kann wohl nicht zu viel verlangt sein, eben anzurufen und Bescheid zu geben, wo du steckst!“

„Mensch Mutti, ich bin doch kein Baby mehr, dass du auch immer gleich so übertreiben musst! Ich war pünktlich wieder zu Hause, du hast also gar keinen Grund, sauer zu sein!“

„Wieso ich sauer auf dich bin? Statt dich irgendwo rumzutreiben, hättest du mal lieber deine Aufgaben erledigen können! Wir hatten abgemacht, dass du heute das Geschirr ausräumst und die Stube saugst! Schon vergessen?“

Und wieso hatte sie eigentlich das Gefühl, sich verteidigen zu müssen?

„Nein. Mach ich noch!“

„Ach ja? Wann denn?“

Seufzend erhob sich Anne sogleich vom Tisch und öffnete die Spülmaschine. Klappernd entnahm sie dem Geschirrkorb einen Stapel Teller, um sie in den Schrank zu räumen.

„Doch nicht jetzt! Wir sind beim Abendbrot!“

Entnervt haute Silke mit der Faust auf den Tisch.

„Dir kann man es auch nie recht machen!“

Polternd schlug Anne die Klappe des Geschirrspülers zu, rannte die Treppe hinauf und schloss lautstark die Tür ihres Zimmers. Empört überlegte die Mutter, ob sie ihrer Tochter nacheilen und zur Rede stellen sollte, denn so ein respektloses Benehmen wollte sie nicht auf sich sitzen lassen, als Holger das Besteck zur Seite legte und sich ebenfalls erhob.

„Also man könnte erwarten, wenigstens zu Hause seine Ruhe zu haben und den Feierabend zu genießen.“

Vorwurfsvoll schaute er auf Silke herab.

„Ich schau mir jetzt mal Annes Fahrrad an. Und nimm was gegen deine Kopfschmerzen!“

Entgeistert blickte sie ihm nach.

Das war super, wirklich super! Jetzt war sie auch noch an allem schuld? Sie hatte schließlich auch den ganzen Tag gearbeitet, und nachdem sie heimgekommen war, hatte sie die Küche aufräumt, die nasse Wäsche zum Trocknen aufgehängt und das Abendessen bereitet, ohne dass die beiden auch nur einen Finger krumm gemacht hätten.

Ihr Blick fiel auf den eingedeckten Tisch, und sie schob ihren unbenutzten Teller zur Seite.

Der Appetit war ihr längst vergangen.

Das war doch nicht zu glauben! Die zwei spielten die beleidigte Leberwurst, und sie war mal wieder die Böse!

Einfach prima!

Sieben Tage

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