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1. Mein Elternhaus

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Wenn es für ein Findelkind ein erhebendes Gefühl ist, sich selbständig durch die Welt geschlagen zu haben, so hat doch das Bewußtsein, einem edlen Stamm wackerer Vorfahren entsprossen zu sein, einen höheren Wert, in dem Maße, als dankbare Pietät das kühle Selbstgefühl, niemand als sich selbst für sein Leben verpflichtet zu sein, an wärmender und beglückender Kraft überwiegt.


Freilich legt ja auch der Vorzug, trefflicher Eltern sich rühmen zu dürfen, dem Sohne Pflichten auf, die kein Ausruhen auf ererbten Lorbeeren gestatten, und mein Oberlehrer in der Quinta des Gymnasiums wußte, was er tat, als er mir in mein Schülerstammbuch (auf griechisch, das ich damals noch nicht verstand) die homerische Mahnung schrieb:


Immer der Erste zu sein und vorzustreben den Andern,

Ehre zu machen der Väter Geschlecht


In mir aber war der Familiensinn, der allen Heyses im Blute liegt, noch besonders genährt worden, da ich zu dem stattlichen Bilde meines Großvaters in unserer Wohnstube von früh an mit Ehrfurcht aufblicken lernte. Auch von den Brüdern meines Vaters, dem Petersburger Großkaufmann Ludwig1, Onkel Theodor in Italien, dem großen Griechen und Catullübersetzer, und dem Onkel Gustav in Aschersleben, der erst Bergmann, dann bis an sein Ende an der dortigen Realschule ein hochverehrter Lehrer war, von ihnen allen erfuhr ich, daß sie dem Geschlecht der Väter Ehre machten. Vor Allen aber sah ich schon in der helldunklen Knabenzeit im eigenen Vater ein Vorbild alles Edlen und Guten, Selbstlosigkeit mit schlichtem Selbstgefühl gepaart und die Pflichttreue, mit der er eine große, ihm vom Vater überkommene Arbeitslast lebenslang auf Kosten seiner Gesundheit und eigener Lieblingsaufgaben trug. Höher hinauf erstreckte sich meine genealogische Kenntnis damals nicht, und es fehlte mir auch die historische Neugier, in den Wipfel unseres Stammbaums hinaufzuklettern. Erst später erfuhr ich, daß wir unser Geschlecht bis auf einen Johann Heinrich Heyse zurückführen können, der während des Dreißigjährigen Krieges als Landwirt in Lipprechtsrode bei Bleicherode lebte und im Jahre 1683 starb. Nach ihm kam ein Johann Adam, geboren 1669, gestorben in Nordhausen als Ädituus und Schullehrer am Frauenberge. Sein Sohn Johann Georg, der Theologie und Philosophie studiert hatte, folgte dem Vater in dessen Ämtern, war auch als Organist an der Frauenberger Kirche angestellt, und starb 1784.


Dessen Sohn, Johann Christian August, 1764 in Nordhausen geboren, war mein Großvater. Auch er hatte Theologie und Philosophie studiert, dann aber in Oldenburg eine Mädchenschule gegründet und später seinen Wohnsitz in Magdeburg genommen, wo er 1829 als Direktor der dortigen höheren Töchterschule starb.


In Oldenburg war ihm sein ältester Sohn, Karl Wilhelm Ludwig, mein Vater, am 15. Oktober 1797 geboren worden. So bin ich also nur von der Mutter Seite ein richtiges Berliner Kind, da sie am 12. Januar 1788 als die jüngste Tochter des königlich preußischen Hofjuweliers, des »Hofjuden« Salomon Jakob Salomon und dessen Ehefrau Helene, geborenen Meyer (gestorben 1811) zur Welt kam. Fünf Geschwister, zwei Brüder und drei Schwestern, gingen ihr voran, sämtlich von der Natur glücklich ausgestattet mit lebhaftem Geist und einem schönen Äußeren, wie man es in gewissen aristokratischen jüdischen Familien findet. Nur die Züge des ältesten Bruders, Simon, und einer der Töchter, Klara, erinnerten an den bekannten semitischen Typus. Den anderen war ihre Abstammung nicht an den feinen geraden Nasen zu lesen, so wenig wie an den großen blauen Augen unter breitgeschwungenen Lidern. Keines der Kinder jedoch soll, wie ich Mutter und Tanten oft versichern hörte, ihrer eigenen Mutter an Schönheit gleichgekommen sein, wofür freilich zwei treffliche Miniaturbilder, die sie als alte Frau von stark ausgesprochenen orientalischen Zügen mit üppigem grauem Haar, kohlschwarzen Augen und blendend weißer Büste darstellen, nur ein unvollkommenes Zeugnis ablegen.


Von der Anmut aber der jüngsten Tochter Karoline Marie Helene Henriette Julie gibt ein schönes Pastellbild etwa aus ihrem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Jahre eine hinlängliche Vorstellung, die ich freilich aus eigener Erinnerung nicht zu bestätigen vermag, da meine Mutter, als sie mich zur Welt brachte, schon das zweiundvierzigste Jahr erreicht hatte. Auch war jener Jugendreiz schon früh durch einen schmerzlichen Unfall in der Blüte versehrt worden. Eine Blatternepidemie brach in der Stadt aus, und die vorsichtigen Eltern auch unter der jüdischen Gesellschaft ließen ihre Kinder impfen. Nur die jüngste Enkelin, ihren Liebling, wollte meine alte Großmutter, noch ganz im Vorurteil gegen dies neue Schutzmittel befangen, der Impfung nicht aussetzen. Die Folge war, daß meine Mutter allein von der Krankheit befallen wurde, wobei eine Blatter sich auf das rechte Auge setzte. Ein berühmter Arzt tröstete die Eltern, es sei mit einem leichten Eingriff zu helfen, Tag und Stunde der Operation wurden festgesetzt, ein paar Assistenzärzte waren zur Stelle, man wartete und wartete, der alte Arzt wollte nicht kommen. Einer seiner jüngeren Kollegen erbot sich, um das junge Fräulein nicht länger in der bangen Spannung zu lassen, die geringfügige Operation der Entfernung des kleinen Häutchens sogleich vorzunehmen, war aber so unbeholfen, daß er zu tief schnitt. In demselben Augenblick trat der Erwartete herein, das Auge aber war verloren.


An dieses Unglück hat sich eine Legende geknüpft, der ich nur in einigen Zeitschriften, niemals in Erzählungen meiner Familie begegnet bin. Das arme Kind habe, um den Verlust zu verbergen, ein künstliches Auge getragen, das so täuschend dem lebendigen geglichen, daß ein junger Mann, der sich früher um eine der älteren Schwestern beworben, nun der jüngsten seine Neigung zuwandte. Als diese es inne geworden, habe sie sofort auf die Täuschung verzichtet, um dem Glück der Schwester nicht im Wege zu stehen. Seitdem trug sie über der leeren Augenhöhle eine schmale Locke aus ihrem schwarzen Stirnhaar, die durch ein Sammetband darauf festgehalten wurde.


Was an diesem heroischen Geschichtchen Wahres sein mag, weiß ich, wie gesagt, nicht zu entscheiden. Doch würde es durchaus der Gemütsart meiner Mutter entsprochen haben, die von weiblicher Eitelkeit völlig frei war, wie sie auch mit ihren geistigen Gaben nie zu prunken suchte und über ihr Mißgeschick sich selbst mit Humor zu trösten pflegte, indem sie von ihrem »Einspänner« sprach, mit dem sie dennoch den rechten Weg durchs Leben zu finden wisse.


Und in der Tat hat sie, dank der unverwüstlichen Frische und Liebenswürdigkeit ihres Naturells, ihr ganzes Leben lang so viel Liebe und Freundschaft genossen, daß sie jenen Verlust wohl verschmerzen konnte.


Sie war ohne Frage unter den vier Schwestern die begabteste, wenn sie auch an regelmäßiger Bildung ihnen nicht überlegen war, sondern sich nur auf eigene Hand aneignete, was ihre geistigen Bedürfnisse befriedigte. Wie sie und ihre Geschwister erzogen wurden, habe ich die Mutter leider nie gefragt. Ich zweifle aber, daß sie je eine Schule besucht und auch nur im Hause einen regelmäßigen Unterricht genossen haben. In Französisch, Tanzen, Singen, feinen Handarbeiten hat man sie wohl ziemlich zwanglos unterrichtet und es ihnen selbst überlassen, sich nach Belieben weiterzubilden. Sie waren aber alle sprachenkundig, sprachen geläufig Französisch und Englisch, und die zeitgenössischen Literaturen blieben ihnen, die mit den Kreisen der Rahel und Henriette Herz in Verkehr standen, ebensowenig fremd, wie die Werke unserer Klassiker, deren Zeitgenossinnen sie noch eine gute Weile waren. Ich bewahre noch ein Gedicht Goethes (»Herz, mein Herz, was soll das geben«) in der englischen Übersetzung meiner Mutter. In ihrer Bibliothek fanden sich sämtliche Werke Shakespeares, Byrons, Moores, Walter Scotts in englischen Originalausgaben, und die erste Anregung, englisch zu lernen, verdanke ich den Stunden, in denen ich, zuerst ohne ein Wort zu verstehen, nur um die Aussprache zu lernen, meiner Mutter den ganzen Quentin Durward vorlesen mußte, bis ich nach und nach ratend und nach einzelnem fragend auch in den Sinn des Gelesenen eindrang.


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Wann und unter welchen Umständen die sechs Geschwister zum Christentum übertraten und ihren jüdischen Namen Salomon gegen den nicht allzu christlichen Saaling vertauschten, wüßte ich nicht anzugeben, so wenig wie, wer die Paten waren, die meiner Mutter zu ihrem Rufnamen Julie die übrigen Namen gaben. Von dem nicht übergroßen Reichtum des Vaters war, da das Erbe in sechs Teile ging, auf das einzelne Kind nur ein mäßiger Anteil und einiges an Juwelen gekommen, immerhin genug, daß die Geschwister sorgenfrei leben konnten. Der älteste Bruder starb, noch ehe ich geboren wurde. Der zweite, Louis Saaling, brachte es in kaufmännischen Stellungen zu einem etwas ansehnlicheren Vermögen, das er sorgfältig durch eine wunderliche Sparsamkeit zu vermehren suchte. Während er eine offene Hand hatte, wo es galt, seinen Schwestern oder guten Freunden Liebes zu erweisen, kehrte er unter anderem die Kuverte empfangener Briefe um, sie zu den Antworten zu benutzen, kaufte auf einmal mehrere Dutzend Ausschußhandschuhe und rauchte Zigarren, die sein nicht eben verwöhnter Neffe standhaft verschmähte. Dabei war er ein weichherziger, heiterer, allgemein beliebter Mann, der es zu hohen Jahren brachte und bis zuletzt die drei steilen Treppen seiner Wohnung an der Schönen Aussicht in Frankfurt a.M. nachts hinaufstieg, nachdem er in der Ressource stundenlang dem Kartenspiel der Anderen zugesehen hatte.


Noch steht der gute Onkel Louis vor mir, die hohe, wohlproportionierte Gestalt bis in seine achtziger Jahre ungebeugt, in einem langen blauen Rock, dessen Schöße tief hinab über die Nankingbeinkleider fielen, die Schuhe mit Gamaschen verwahrt, auf dem Haupte den grauen Zylinder, unter dem das glattrasierte regelmäßige Gesicht mit freundlich-klugen blauen Augen durch die goldene Brille hervorsah, das Kinn in eine handbreite schwarze oder buntleinene Krawatte eingetaucht. So erschien er alljährlich zur Sommerfrische in Baden-Baden, wo er in jede Bude eintrat, um an die Verkäuferinnen galante Scherze zu richten, ohne je etwas zu kaufen. Er gehörte zu den stehenden Figuren des Orts, und man lachte freundlich über seine eben so stehend gewordenen Witzworte.


Mir, der ich oft in seinem Hause dort zu Gast war, bewies er das herzlichste Wohlwollen, bis ich die Tochter Franz Kuglers heimführte, während er selbst mir eine reiche Erbin zugedacht hatte. Er vergoß Tränen über diese törichte Verbindung, als er zu meiner Hochzeit nach Berlin kam, und seitdem erhielt ich auf alle Briefe, in denen ich die Geburt meiner Kinder oder andere wichtige Neuigkeiten anzeigte, nur eine Bescheinigung des Empfangs mit ein paar freundlich-kühlen Zeilen – in einem umgewendeten Kuvert.


Und doch hatte auch er, da er sich zu heiraten entschloß – in schon etwas vorgerückten Jahren, doch immer noch ein ansehnlicher Freier –, bei seiner Erwählten nicht auf goldene Schätze gesehen, sondern die Tochter eines armen Landarztes zu seiner Frau gemacht, die bei seiner ältesten Schwester Marianne als Zofe im Dienst gestanden hatte. Sie war weder schön noch sonderlich gebildet, er aber folgte seinem Herzen, das ihn auch nicht betrog, und hatte es dieser Heirat wegen auf ein langes Zerwürfnis mit zwei anderen seiner Schwestern ankommen lassen, die ihm eine »ebenbürtige« Gattin gewünscht hatten und sich weigerten, die ehemalige »Dienstmagd« als Glied ihrer Familie zu betrachten. Erst als die Frankfurter Schwester, verwitwet und einsam geworden, von langem Siechtum heimgesucht wurde, kam eine Versöhnung zustande; denn Tante Emilie widmete sich der früheren Gegnerin mit so aufopfernder Treue, daß diese ihr tausendmal alles Unholde, was sie ihr angetan, abbat.


Daß dies so spät geschah, war begreiflich, wenn auch nicht verzeihlich. Diese Frankfurter Schwester meiner Mutter, Tante Klärchen, ihrer Mutter wohl von allen Geschwistern die ähnlichste, da sie dieselben großen, schwarzen Augen und den üppigen Wuchs hatte, war an einen reichen Frankfurter Bankier Herz verheiratet, einen großen, stattlichen, jovialen Mann, an den sich meine früheste Kindererinnerung knüpft. Ich war in meinem dritten Jahr mit den Eltern nach Frankfurt gekommen, wo der Onkel sich nicht zu gut hielt, meinen Spielkameraden zu machen. Er trug mich auf seinem breiten Nacken im Galopp den langen Korridor hinauf und hinab, und wir rasteten von dem Ritt gewöhnlich in einer Speisekammer, wo allerlei süße Vorräte aufgespeichert waren. Ich durfte aber von einer gewissen Himbeermarmelade erst naschen, wenn ich »Esel asinus« gesagt hatte, vielleicht das einzige Latein, über das der Onkel gebot, jedenfalls das erste, das über meine Zunge kam und sich mir mit Hilfe des süßen mnemotechnischen Mittels tief einprägte.


In diesem vornehmen jüdischen Hause aber verkehrte nicht nur die Frankfurter Geldaristokratie, sondern auch die Blüte der Bundestagsgesellschaft, durch den Glanz der Empfangsabende, Bälle und Diners, die Liebenswürdigkeit der Hausfrau und die Schönheit der Töchter angezogen. Die älteste, Adelheid, heiratete einen Rothschild, die zweite und schönste, Helene, einen Attaché der französischen Gesandtschaft, Graf Salignac de Fénélon, die dritte, Marianne, einen Baron von Haber. Es war kein Wunder, daß Frau Klara Herz die Vermählung ihres Bruders mit einer armen, zum Dienen genötigten Landarzttochter für eine Mesalliance hielt, zu der sie ihre Zustimmung nicht geben könne. Sie hatte vergessen, daß sie von einem Vater abstammte, den der Hofmarschall, wenn er ihm schriftlich eine Bestellung zu machen hatte, mit »Lieber Jude!« anzureden pflegte.


Die andere Schwester, die sich unversöhnlich zeigte, Tante Regine, lebte in Wien, in den Kreisen der dortigen jüdischen Aristokratie, der Arnstein und Eskeles. Sie hatte früh eine Ehe geschlossen, die unglücklich war und bald wieder aufgelöst wurde. Seitdem hatte sie sich als geistreiche Frau etabliert und unter dem Namen Regina Frohberg verschiedene Romane verfaßt, die das Leben der höheren österreichischen Gesellschaft zu schildern suchten, ohne das geringste Talent und mit so wenig Erfindungsgabe, daß es ein Rätsel war, wie diese armseligen Produkte einen Verleger finden konnten. Indessen wußte sie ihrem »Salon« doch eine Anzahl treuer Bewunderer und Hausfreunde zu erhalten, zumal sie in jüngeren Jahren mit ihrem feinen, zierlichen Gesicht und ihrer Weltgewandtheit eine anziehende Erscheinung gewesen sein muß. Ich lernte sie kennen, als ein beginnender Staar sie nach Berlin führte, um die Hülfe des berühmten Jüngken in Anspruch zu nehmen. Sie wohnte da einige Monate im Erdgeschoß unseres Hauses, und ich entsinne mich noch, wie betroffen ich war, als ich – ein dreizehn- oder vierzehnjähriger Knabe – die Wiener Tante in ihrem halbverdunkelten Zimmer begrüßte, wo sie in großer Toilette mit weißen Glacéhandschuhen den ganzen Tag wie ein geputztes Götzenbildchen saß und sich von ihrer dicken, blatternarbigen steiermärkischen Zofe den Tee bereiten ließ.


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Daß die geschminkte und gepuderte Salondame von der kleinbürgerlichen Schwägerin nichts wissen wollte, konnte der Bruder leicht verschmerzen. Blieben doch seine beiden Lieblingsschwestern auf seiner Seite, meine Mutter und die älteste Schwester Marianne, in deren Hause er seine Lebensgefährtin gefunden hatte.


Von dieser meiner Tante Marianne Saaling ist vielfach in Büchern, die die Zeit des Wiener Kongresses schildern, die Rede gewesen. Sie hatte damals in Wien durch ihre hohe Schönheit eine glänzende Rolle gespielt, Könige und Fürsten hatten ihr gehuldigt, ein alter portugiesischer Herzog sich mit ihr verlobt. Er starb, ehe sie die Seine geworden war, aber der Nachglanz dieses Erlebnisses und der Wiener Triumphe verbreitete sich über ihr langes, ferneres Leben und verlieh der hohen junonischen Gestalt auch in den bescheidenen, doch nicht ärmlichen Verhältnissen, in denen sie neben uns lebte, einen vornehmen Zug. Da sie der portugiesischen Heirat wegen zum Katholizismus übergetreten war, ließ sie es sich angelegen sein, in den katholischen Kreisen Berlins eine hervorragende Rolle zu spielen, gründete ein Krankenhaus, veranstaltete zu dessen Ausstattung allweihnachtlich einen Bazar, den die katholische Aristokratie besuchte und manchmal sogar die Königin, die sie zu umarmen sich herabließ, und erreichte in stillen, kleinen Befriedigungen ihrer naiven Eitelkeit ein hohes Alter.


Von ihrer späteren Verlobung mit Varnhagen bald nach Rahels Tode und der Aufregung, die die Auflösung derselben bei uns hervorrief, habe ich die dunkle Erinnerung behalten, daß sich vor meinen Knabenaugen hier zum erstenmal etwas zutrug, was einem Roman ähnlich sah. Eine Aufklärung über die seltsamen Motive, die zu der Katastrophe führten, verdankte ich viel später dem Einblick in vergilbte Briefblätter und Varnhagens eigenen Mitteilungen in seinen Denkwürdigkeiten.


Mir waren früh die Augen über die Schwächen dieser Tante aufgegangen, zumal ich an der ganz echten und impulsiven Natur meiner Mutter einen Maßstab hatte für das einzig Wertvolle im Menschenleben. Aber die große Liebe und Treue, die mir die gute Tante bewies, entwaffnete mein rigoroses Knabenurteil und ließ es mich sogar bedauern, daß ich für ihre Schriftstellerei – auch sie, wie die Wiener Schwester, füllte in ihrer kaum lesbaren Handschrift dicke Hefte mit romanhaften Memorabilien und freien Erfindungen – kein anerkennendes Wort haben konnte.


Von solchen literarischen Velleitäten hielt meine Mutter sich immer frei, bis auf die Übersetzung von Lieblingsgedichten ins Englische und Französische zu ihrem eigenen Vergnügen. Sie war aber eifrig darauf aus, alle neueren Erscheinungen auch der deutschen Literatur kennen zu lernen, und eine Zeitlang scheint besonders Tieck sie aufs Lebhafteste beschäftigt zu haben. Auch das Theater verfolgte sie wie das ganze damalige Berlin mit höchstem Interesse, niemals aber mit dem Anspruch, sich als geistreicher Mittelpunkt eines befreundeten Kreises hervorzutun oder gar ein sogenanntes bureau d'esprit zu halten, sondern einzig und allein ihrem innersten Bildungstriebe zu genügen.


So vorbereitet, begegnete sie meinem Vater, auf den diese seltene Verbindung von Anspruchslosigkeit und geistiger Regsamkeit, von warmer Empfindung und sprühendem Witz sofort, wie es scheint, einen tiefen Eindruck machte, obwohl die nicht mehr junge, durch den Verlust des Auges geschädigte äußere Erscheinung durch die noch in voller Blüte stehende Schönheit der älteren Schwester in den Schatten gestellt wurde.


Mein Vater, fast zehn Jahre jünger, fühlte sofort, daß ihm hier »eine Natur« gegenübertrat, und verehrte sie zugleich als die Reifere, Überlegene, die auch im äußeren Leben unabhängig dastand, während er selbst es nur zum Hauslehrer gebracht hatte. Er hatte, da sein Vater im Jahre 1807 nach Nordhausen übersiedelte, am dortigen Gymnasium schon mit fünfzehn Jahren das Abiturientenexamen bestanden und dann sofort an der Erziehungsanstalt eines Herrn von Türk in Vevey eine Lehrerstelle annehmen müssen, da er noch acht Geschwister hatte und so früh als möglich selbständig werden sollte. Von den drei Schwestern ging ihm nur eine voran; er allein konnte dem Vater, der als Mädchenschullehrer, erst hier in Nordhausen, dann später in Magdeburg hoch geachtet und schlecht besoldet war und durch seine Schulbücher, seine Lexika und Grammatiken das Fehlende hinzuerwerben mußte, schon früh die Sorge für den Unterhalt der großen Familie in etwas erleichtern. Drei Jahre lebte er dann im Hause des Ministers Wilhelm von Humboldt als Erzieher des jüngsten Sohnes, dann von Oktober 1819 bis Ostern 1827 in Berlin als Hauslehrer des jungen Felix Mendelssohn-Bartholdy, den er zur Universität vorbereitete.


In diesem Hause lernte er meine Mutter kennen, die eine Cousine von Felix' Mutter war. Sie und ihre Schwester Marianne schlossen sich der Mendelssohnschen Familie an, als diese über Frankfurt a.M. eine Reise in die Schweiz machte. Soviel ich weiß, kam es auf dieser Reise zur Verlobung, zunächst zu einer heimlichen.


Denn wenigstens promovieren wollte der junge Gelehrte, ehe er seinen Hausstand gründete, und durch seine Habilitation als Privatdozent ein Vierteljahr später (Ostern 1827) den ersten Schritt zu einer öffentlichen Wirksamkeit tun. Am 11. Juli 1827 fand dann die Hochzeit statt, und zwei Jahre später kam die Ernennung zum außerordentlichen Professor.


Das junge Ehepaar wohnte die ersten Jahre in einem Hause der Heiligengeiststraße, das, wenn ich mich recht entsinne, der Familie Salomon gehört hatte und wo ich am 15. März 1830 zur Welt kam. Im Jahre 1831 bezogen meine Eltern dann eine Wohnung in dem einstöckigen Hause am Weidendamm, das einem Holzhändler gehörte und mitten auf dem sehr ausgedehnten Holzplatz stand, gegen die Friedrichsstraße durch die hochaufgeschichteten Holzhaufen verdeckt, hinter denen auch das bescheidene Gärtchen nur einen kargen Pflichtteil von Luft und Sonne erhielt. An der anderen Seite lag ein ziemlich geräumiger Hof, der unser Haus von einem niedrigen, nur aus einem Erdgeschoß bestehenden Hintergebäude trennte. In diesem, das sich vorn bis an die Uferstraße erstreckte, wohnte ein Schenkwirt, der für die Schiffer, die hier das Holz auf ihren Spreekähnen landeten, Eß-und Trinkwaren feilhielt. Hinter seinem Grundstück floß ein trüber, schwarzer Kanal mit träger Welle in die Spree.


Vor wenigen Jahren, bei einem Besuch in meiner Vaterstadt, fühlte ich ein Verlangen, diese Stätte meiner frühesten Jugend einmal wieder aufzusuchen. Ich hatte es bisher unterlassen, in der Meinung, alles verändert und statt der wohlbekannten verwitterten alten Mauern und heimlichen Winkel moderne vierstöckige Zinshäuser zu finden. Wie sehr war ich überrascht, alles so wiederzusehen, wie ich's in meiner Erinnerung trug! Unser unscheinbares Wohnhaus, an dem sogar die alten Stuckornamente noch nicht abgebröckelt waren, der Hof, der mir freilich jetzt kleiner vorkam, – so spukhaft alles, daß ich mich kaum gewundert hätte, wenn sich das Fenster oben im Arbeitszimmer meines Vaters geöffnet hätte, wie an jedem Nachmittag, wenn er mich von meinem Spiel heraufrief, um ein paar lateinische Declinationen bei ihm zu schreiben. Nur das Gärtchen war verschwunden, – die Holzhaufen waren bis auf sein Gebiet vorgedrungen. Dafür hatte sich an dem Schenkenhäuschen nichts verändert. Ich sah im Geiste wieder den dicken, jungen Wirt, der dort mit seiner blassen, schwindsüchtigen Schwester hauste. Sie war zu zart für diese Umgebung, saß still in ihrem Stübchen mit einer Näharbeit und sah unseren Spielen zu oder rief uns herein, uns Kuchenwerk zu geben und Geschichtchen zu erzählen. Zuweilen wurde für die Schenke ein Schwein geschlachtet. Dann mußte ich meinen Kopf in den Schoß des Mädchens legen, und sie hielt mir fest die Ohren zu, damit ich das Todesstöhnen und Röcheln nicht hören sollte. Ich hatte sie sehr lieb. Als sie gestorben war, führte mich ihr Bruder in das niedere Zimmer, wo sie im Sarge lag, und deutete stumm auf das feine, wachsbleiche Gesicht, während ein Weinkrampf seine derbe Gestalt erschütterte und er zuweilen laut aufschrie. Es war das erstemal, daß ich dem Tode ins Gesicht sah, und das feierliche Bild steht darum tief eingegraben in meiner Erinnerung2.


Daß ich dies alles wiederfinden sollte, obwohl in der Weltstadt sonst kaum ein Stein auf dem andern geblieben war, hatte seinen Grund nur darin, daß am Weidendamm noch immer die Holzkähne anlegten und eines Stapelplatzes für ihre Fracht bedurften. Hinter den dunklen Holzhaufen aber, die wie eine Stadt mit vielen engen Gassen oder ein Gebirge mit tiefen Schluchten uns Knaben den herrlichsten Platz zu unseren Räuber- und Kriegsspielen darboten, würde ein neues, eleganteres Wohnhaus doch nur verloren gewesen sein, da es von der Straße aus niemand gesehen hätte.


Für mich war, daß ich meine ersten Kinder- und Knabenjahre gerade in diesem Hause verleben durfte, von unschätzbarem Wert. Zunächst für meine körperliche Entwicklung. Besser sogar als in einem wohlgepflegten Garten, dessen Beete Schonung verlangt hätten, konnte ich in diesem weiten Revier meine Glieder tummeln und freiere Luft atmen, als in einem der gewöhnlichen Stadthäuser mit ihren engen, lichtlosen Höfen. Dazu kam die mannigfache Anregung, die meine Kinderphantasie in dieser hochaufgetürmten hölzernen Stadt empfing, die wechselnde Szenerie auf dem Flusse, das Leben und Treiben der Schiffer auf ihren schwimmenden Häusern mit der geheimnisvollen Kajüte, die meine Neugier unendlich reizte, nicht zum wenigsten der stille, dunkle Kanal hinter der Schenke, zu dem vom Hofe aus ein Treppchen hinabführte. Ich entsinne mich, daß ich hier oft gesessen und in das langsam vorbeifließende Wasser gestarrt habe, ja als ein noch sehr kindlicher kleiner Idealist mich darüber grämte, daß es mir nicht möglich war, das Gold herauszufischen, das die Abendsonne in einzelnen breiten Flecken auf die schwarze Flut streute.


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Sechs Jahre lang lebten meine Eltern in diesem Hause, Schwester Marianne schon hier mit ihnen, wie später in dem Hause der Behrenstraße.


Sie waren beide gesellige Naturen. Aber sie verstanden die Geselligkeit im besten Sinne, daß sie sich auf wenige vertraute Menschen beschränken sollte, die zu jeder Zeit an dem gastlichen Tische willkommen sind. So lange ich denken kann, erinnere ich mich nicht, daß meine Eltern eine größere Festivität besucht oder bei sich mehr als ein halbes Dutzend Gäste bewirtet hätten. Noch heute steht mir jener Mittag vor Augen, zu dem mein Vater seinen ehemaligen Schüler, den nun hochgefeierten Leipziger Musikdirektor Felix Mendelssohn mit seinem Bruder Paul eingeladen hatte, als er zum Besuch seiner Schwester Fanny Hensel nach Berlin gekommen war. Ich sehe ihn leibhaftig vor mir, die schlanke Gestalt mit dem feinen, scharfgeschnittenen Gesicht und dem schwarzen Lockenhaar, zurückgelehnt gegen den runden Deckel des Sekretärs meiner Mutter, heitere Scherze wechselnd mit seiner alten Freundin, Tante Julie Heyse, während ich mit schüchterner Bewunderung zu ihm aufsah und kein Wort an ihn zu richten wagte.


Um diese Zeit ereignete sich auch ein kleines Geschichtchen, das für seine Kunstanschauung charakteristisch ist.


Robert Griepenkerl, der Verfasser des Robespierre, erzählte eines Abends bei Moritz Lazarus, er habe neulich mit Mendelssohn einen ganzen Morgen lang disputiert und ihm zu beweisen gesucht, jede Zeit habe das Recht, eine neue Kunst hervorzubringen und sie für die alleinseligmachende zu halten. Felix habe das nicht zugeben wollen, doch ohne sich weiter auf eine Widerlegung einzulassen, immer nur gesagt: »Was scheen is, is scheen!«


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Auch als außerordentlicher Professor gebot mein Vater nicht über reiche Einkünfte, und sein Stolz ließ es nicht zu, von dem Vermögen seiner Frau mehr als das Unumgänglichste in Anspruch zu nehmen. Wohl mehrten sich seine Einnahmen nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1829. Die Fortsetzung und Neubearbeitung der verschiedenen väterlichen Lexika und Grammatiken war testamentarisch ihm, als dem ältesten Sohn, übertragen worden, zugleich aber auch die Sorge für die einzige noch lebende Schwester, die an einen Pfarrer verheiratet und mit vielen Kindern gesegnet war. Ihr sollte die Hälfte aller Honorare zugute kommen, nachdem die anderen Brüder sowohl auf die Arbeit als auch auf den Ertrag verzichtet hatten.


Mein Vater hatte an der Universität als klassischer Philolog begonnen (er las auch später noch einige Kollegien über Plato's Kratylos, Horaz' Epistel an die Pisonen, Catull und Terenz). Aber die persönliche Berührung, in die ihn seine Hauslehrerstelle im Humboldtschen Hause mit dem großen Begründer der Sprachwissenschaft gebracht, hatte seinen Sinn ebenfalls nach dieser Richtung gelenkt, wo die anziehendsten Probleme zugleich historischer und philosophischer Forschung ihrer Lösung harrten. Das Glück aber, das höchste aller geistigen Menschen, sich in voller Freiheit den Aufgaben zu widmen, zu denen man sich berufen fühlt, sollte ihm nicht gegönnt sein.


Denn sein Leben lang hat er als Märtyrer seiner Pietätspflicht vornehmlich am Ausbau der Wörterbücher (von dem großen dreibändigen deutschen waren beim Tode des Vaters nur wenige Bogen gedruckt, das Fremdwörterbuch wurde erst von dem Sohne durch die etymologischen Nachweise zu wissenschaftlicher Bedeutung erhoben), der großen Grammatik und der grammatischen Schulbücher gearbeitet, und sein eigentlichstes Lebenswerk, an das er seine beste Kraft gesetzt, das »System der Sprachwissenschaft«, erschien erst nach seinem Tode, aus seinem Vorlesungsheft und Nachschriften seiner Schüler von dem bedeutendsten unter ihnen, Heinrich Steinthal, herausgegeben.


Ein tragisches Lebenslos, unter dessen Schwere manche robustere Kraft erlegen wäre. Und doch widerstand die zart angelegte Natur meines Vaters dreißig Jahre lang diesem Druck, weil in dem schwachen Körper ein stählerner Wille, ein unerschütterliches Pflichtgefühl lebten. Wohl lag fast immer ein Hauch von Resignation über den stillen Zügen seines nicht regelmäßigen, aber feingebildeten Gesichts, und in dem seelenvollen Blick seines hellen Auges lasen, die ihm nahe standen, den Kummer um ein verlorenes Leben. An Tagen aber, wo er einmal, etwa nach Beendigung eines schweren Abschnittes, ein wenig aufatmete, war die Heiterkeit, die dann aus ihm hervorglänzte, um so ergreifender. Etwas Jünglinghaftes, Reines, ein Strahl »jener Jugend, welche nie verfliegt«, klang aus seinen Worten und gewann ihm die Herzen, wo er sich in dieser Stimmung zeigte. Und er wußte auch einen munteren Lebensgenuß wohl zu schätzen und war glücklich, gute Freunde mit einer Flasche edlen Weins und einer »echten« Zigarre bewirten zu dürfen. Zu dem dritten Luxus, den er sich gönnte, fand er nur selten Teilnehmer, zu seiner Leidenschaft, wertvolle alte Drucke zu sammeln, sie zu ordnen, sauber einbinden zu lassen und so mit der Zeit einen »Bücherschatz« zusammenzubringen, dessen später gedruckter Katalog den Kennern und Liebhabern unserer älteren Literatur ein wertvolles Hilfsmittel ihrer Studien geworden ist. Ich selbst habe diesen Schatz, als mein Vater wenige Jahre vor seinem Tode sich entschloß, ihn als ein Ganzes zu verkaufen, ohne Bedauern, außer so weit es meinen Vater anging, in fremde Hände übergehen sehen. Es hat mir zeitlebens, bis auf sehr bescheidene Ansätze zu einer Käfersammlung, an allem Sammeltrieb gefehlt, und für die literarische und wissenschaftliche Bedeutung dieser alten Drucke besaß ich nicht die Kenntnis, so daß ich an den großen Schränken in unserem Entree, wo die Schätze aufbewahrt wurden, ohne sonderliche Ehrfurcht oder Neugier vorbeiging, zu stetem schmerzlichem Bedauern meines Vaters.


Auf seine philologische Richtung hatte F.A. Wolf den entscheidendsten Einfluß geübt; in der Philosophie stand er unter dem Banne Hegels, der damals, in den dreißiger Jahren, eine unumschränkte Herrschaft über die jungen Geister ausübte. Doch brachte er in diese Schule sein Bedürfnis nach unabhängiger Forschung mit, das er gelegentlich in den Versen aussprach, die ich als den Wahlspruch seines Lebens auf seinen Grabstein schrieb:


In des eignen Busens Schranken

Suche Wahrheit, werde frei!

In dem Irrsal der Gedanken

Finde dich und sei dir treu!


Auch war er von Wilhelm von Humboldts Ideen aus zu seinen eigenen Überzeugungen gelangt und gab sich der Hegelschen Dialektik nicht auf Gnade und Ungnade gefangen. Seine nächsten Universitätsfreunde aber waren entschiedene Hegelianer: Hotho, Werder, Michelet, später der geistvolle Eduard Gans, der auch zu den intimeren Hausfreunden gehörte. Ein nicht minder vertrauter Freund war der Historiker Ernst Helwing, und ich bewahre aus diesen frühen Jahren am Weidendamm eine lebendige Erinnerung an die heiterste Geselligkeit, zumal das chronische Leiden meines Vaters damals noch nicht zu der späteren lebensverderblichen Höhe gediehen war.


Das Bekenntnis zum Hegeltum indessen sollte verhängnisvoll für die weitere Universitätskarriere werden. Nach dem Tode des Meisters hatten sich bekanntlich die Schüler nach den verschiedensten Richtungen selbständig weiter entwickelt, die Autorität des Systems war dadurch erschüttert worden, mit ihr das Ansehen bei den maßgebenden politischen Gewalten. Zugleich kam gerade auf dem Gebiet, das meines Vaters Domäne war, die historische Richtung auf unter der glanzvollen Führung der Brüder Grimm. Nun sollte eine systematische Sprachwissenschaft, mochte sie noch so redlich die Ergebnisse historischer Forschung verwerten, kein Recht mehr auf eine staatliche Förderung besitzen, und der außerordentliche Professor, der mit Unrecht des Hegeltums auch in seinen grammatischen Arbeiten verdächtig war, hatte keine Hoffnung, jemals eine ordentliche Professur zu erlangen.


Zumal wenn er, wie mein Vater, aus seinen liberalen Ansichten über die damals in Staat und Kirche herrschenden Mißstände nie ein Hehl machte, so wenig er sich berufen fühlte, öffentlich damit hervorzutreten.


Und so hat mein Vater über dreißig Jahre an der Universität gelehrt, ohne mehr als eine magere Besoldung und infolge einer durch seine Bücher unterstützten energischen Beschwerde beim Minister statt der Beförderung, auf die er gerechten Anspruch zu haben glaubte, – den Roten Adlerorden vierter Klasse zu erhalten.


Ich war gerade bei ihm, als die Antwort auf seine Eingabe eintraf. Als er den Orden, der beigefügt war, aus seiner Umhüllung hervorzog, sahen wir uns in augenblicklichem Einverständnis an und brachen dann in ein helles Lachen aus, das aus meiner Seele wohl bitterer klang als aus der meines Vaters. Er hat dies allgemeine Ehrenzeichen für redliche Beamtendienste nicht ein einziges Mal angelegt.


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Doch wenn er selbst auch über diese Demütigung mit hoher Seele sich erhob und gelassen in seinen Arbeiten fortfuhr, – meine Mutter war nicht so leicht zu beruhigen, wo sich's um eine Unbill handelte, die diesem leidenschaftlich geliebten, ja vergötterten Manne angetan wurde. Ihr alttestamentarisches Blut wallte auf, sie warf einen unversöhnlichen Haß auf die Personen, die sie für die Zurücksetzung meines Vaters verantwortlich machte. Es war unmöglich, ihr klarzumachen, daß Trendelenburg, den sie vor allen dieser »Kabale« bezichtigte und um so heftiger anklagte, da er früher in naher Freundschaft mit ihnen beiden gelebt, aus sachlichen Motiven gegen die Beförderung zum ordentlichen Professor gestimmt hatte, da er als Aristoteliker gegen den Hegelianer, als Vorkämpfer für das Beckersche grammatische System gegen das Heysesche sich erklären mußte. Von einer unumschränkten Lehrfreiheit an den Universitäten und kollegialer Toleranz war man damals freilich weiter noch als heute entfernt.


Zum Glück hielt der leidenschaftlichen Empörung über diese Kränkung und dem Kummer über die schwankende Gesundheit ihres Mannes gleichwohl das tiefe Dankgefühl die Wage, daß sie ihn überhaupt besaß. Denn ihre Liebe zu ihm war völlig unbedingt und grenzenlos. Sie sah in ihm geradezu die höchste Verkörperung aller menschlichen und männlichen Vollkommenheiten, und kein Opfer, das sie ihm zu bringen gehabt hätte, wäre ihr zu schwer gewesen. Zwischendurch kamen freilich Augenblicke, wo ihr jähes Naturell, ihr orientalisches Temperament auch ihm gegenüber aufloderte. Aber auf solche Szenen folgte eine um so innigere Ergebung in seine Autorität und das Bemühen, durch ein wahres Feuerwerk von übermütiger guter Laune die kleine Trübung des Verhältnisses vergessen zu machen.


Schon in ihren Mädchenjahren war meine Mutter ihres Witzes wegen berühmt gewesen. Sie wußte das natürlich selbst; aber wie sie in allem nicht zu glänzen suchte, ließ sie auch dieser ihrer Gabe wie etwas, das ihr natürlich war, freies Spiel, zumal auch in ihren Briefen, in denen sie sich ihren eigenen, oft etwas dunkeln und geistreich barocken, öfter jedoch heiter mit Worten und Gedanken spielenden Stil gebildet hatte. Von früh an hatte sie viele treue Freunde gefunden. Denn es ging ein Hauch von Herzenswärme, von tätiger Liebenswürdigkeit von ihr aus, der jedem wohltat, während zugleich die Munterkeit und Frische ihres Geistes die Besucher ergötzte. Dabei fehlte es ihr durchaus an eigentlichem praktischem Humor. In ihren menschlichen Verhältnissen verstand sie keinen Spaß, konnte sich nicht zu einer freien Betrachtung der Weltwidersprüche erheben und zwischen den Gefühlen von Liebe und Haß der pauvre humanité ein halb mitleidiges, halb belustigtes Interesse widmen.


In der Tat aber durfte sie ihrem Geschicke danken für das überquellende sanguinische Temperament, das ihr ins Leben mitgegeben war, nicht nur um die trübsinnigen Stunden ihres Gatten zu erleichtern, sondern auch sich selbst in einer der schwersten Prüfungen, die einem Mutterherzen auferlegt werden können, aufrecht zu erhalten.


Sie hatte am 23. März 1828, ein Jahr nach ihrer Vermählung, einen Knaben geboren, der einen oder zwei Monate zu früh zur Welt kam, meinen einzigen Bruder, Ernst Hermann getauft. Es war ein übrigens wohlgebildetes, schönes Kind, mit großen, blauen Augen, und die Eltern waren glücklich, als es der aufopferndsten Mühe, besonders der guten Tante Marianne, gelang, das zarte Wesen am Leben zu erhalten.


Auch zeigte sich in den ersten, nur mit Spielen ausgefüllten Jahren nichts, was eine bleibende Schwäche der Entwicklung befürchten ließ. Erst als das Lernen anfing, das von einem trefflichen Hauslehrer geleitet wurde, kam es zutage, daß der Kopf des Knaben, der etwas zu klein geraten war, nur schwer zu jedem Denkgeschäft sich bequemte. Es wurde ihm sauer, mit mir, dem um zwei Jahre Jüngeren, Schritt zu halten, und als der Vater mich in meinem achten Jahr ins Gymnasium brachte, wurde beschlossen, meinen Bruder in die Realschule zu tun, die glücklicherweise ebenfalls in der Kochstraße lag und unter demselben Direktor stand, so daß wir den langen Schulweg gemeinsam machen konnten.


Dieser Schulweg wurde bald genug ein Dornenweg für mich. Zum erstenmal, nachdem mich im elterlichen Hause nur Liebe und Güte umgeben hatten, lernte ich die Bosheit der Menschenwelt kennen, zunächst der jugendlichen, da die Kameraden meines armen Bruders mit der Herzlosigkeit ihres Alters sich ein täglich neues grausames Vergnügen daraus machten, den Harm- und Wehrlosen zu hänseln, truppweise oder einzeln ihn zu verhöhnen und ihm jeden denkbaren Schabernack zu spielen. Mit erstickten Tränen der Wut und zusammengebissenen Zähnen fuhr ich dazwischen, solange ich an seiner Seite war. Was im Hofe seiner Schule geschah, konnte ich nicht verhindern, und wieviel meine Klagen bei dem alten Direktor Spilleke erreichten, erfuhr ich nicht, da der gute Junge alle Unbill, ohne sich dagegen zu empören, ertrug. Zuletzt scheint gerade dieses stille Erdulden die Tücke der jungen Teufel entwaffnet zu haben, da ich in den höheren Klassen, in die auch er langsam vorrückte, mich nicht entsinne, oft genötigt gewesen zu sein, als sein Beschützer aufzutreten.


Aber wenn mir auch diese Sorge vom Herzen fiel, blieb noch genug, was schwer zu tragen war. Man konnte sich keinen sanfteren, liebevolleren und treuherzigeren Jungen denken als meinen Bruder, und ich liebte ihn zärtlich und gönnte ihm alle Freuden unserer jungen Jahre. Doch bei seiner geistigen Unbeholfenheit spielte er in der Gesellschaft meiner aufgeweckten Schulfreunde, mochte ich nun sie zu mir geladen haben oder bei ihren Eltern mit ihnen verkehren, eine linkische, wunderliche Figur, so daß ich, selbst wenn die Kameraden sich bemühten, es mich nicht empfinden zu lassen, um alle Freude kam und wünschte, der arme Junge möchte zu Hause geblieben sein.


Doch einzusehen, daß dies auch für ihn das Beste gewesen wäre, konnte meine Mutter nicht über sich gewinnen. In ihrer grenzenlosen, blinden Zärtlichkeit hatte sie keine klare Vorstellung von dem, was dem lieben Kinde zu einem normalen Menschen fehlte, wenn sie auch zugab, daß er weniger begabt sei, als sein jüngerer Bruder, und zum Studieren nicht das Zeug habe. Ihr sonst so scharfer Verstand versagte völlig, sobald auf dieses ihr Schmerzenskind die Rede kam; sie sah es als eine lieblose Zurücksetzung an, wenn zu irgend einem meiner jungen Genossen mein Bruder nicht mit eingeladen wurde3, und wie manches Mal schlug ich eine solche Aufforderung ab, um der Mutter Kummer und Tränen zu ersparen.


Sie hatte sich ausgedacht, wenn Ernst die Schule durchgemacht hätte, ihn zu einem Landwirt oder Kunstgärtner in die Lehre zu geben. Vielleicht, wenn dieser verständige Plan beizeiten zur Ausführung gekommen wäre, hätte sich das spätere Leben meines Bruders anders gestaltet. Nun aber wurde er mit den vielen Schulaufgaben geistig und körperlich so lange belastet, bis es zu spät war.


In der kritischen Zeit der Pubertät brach das Unheil aus. Er kam eines Sonntagmittags aus der Kirche, die er gern besuchte, nicht nach Hause, mein Vater ging, ihn dort zu suchen, und fand ihn ganz einsam im Kirchenstuhl sitzend, mit seltsam irrem Blick und blödem Lächeln. So folgte er ihm gutwillig nach Hause, wo er eine kurze Zeit gepflegt wurde, während er tagelang am Fenster stehend in den Hof starrte und Choralverse sang, immer sanftmütig und leicht zu lenken. Als der Zustand sich verschlimmerte, wurde er in eine Heilanstalt gebracht, die er schon nach einigen Monaten verlassen durfte, »geheilt«, aber mit einer unheilbaren geistigen Unzulänglichkeit behaftet. Seine Entwicklung war auf der Stufe eines dreizehnjährigen Knaben stehen geblieben.


Er hat noch lange gelebt (bis zum 28. Dezember 1866), ja die Mutter überlebt, die über diesen größten Schmerz ihrer leidenschaftlichen Seele nie zur Ruhe kam. Die treffliche Schwester meines Vaters, Bertha, die mit einem Landpastor Brennecke verheiratet war, nahm den unglücklichen Neffen in ihre Obhut und liebevolle Pflege, wo er unter seinen vielen gutmütigen Vettern und unter den einfachen ländlichen Verhältnissen wohlaufgehoben war. Er hatte keine ernstlichere Beschäftigung, leistete gelegentliche kleine Dienste im Hause und Hofe, holte Wasser vom Brunnen für die Gartenbeete und fühlte sich, soweit man urteilen konnte, wunschlos glücklich. Wenigstens, als ich ihn zum letztenmal besuchte und fragte, ob ich ihm etwas zuliebe tun könne, schüttelte er den Kopf, streichelte mir den Arm und sah mich mit seinen großen Knabenaugen rührend dankbar an. Auch hatte er das Schreiben nicht verlernt, und seine sehr einfachen, aber nicht konfusen Briefe erhielten die gute Mutter bis zuletzt in der Täuschung, er sei allerdings nicht ganz wie andere Menschen, aber bei richtigem Verstande, der sich nur nicht zu äußern wisse. Daß sie selbst darauf verzichten mußte, ihn bei sich zu haben, da es in der großen Stadt nicht möglich war, ihm leiblich und geistig die für ihn passende Umgebung zu schaffen, war ihr ein lebenslanger Kummer.


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Ob die Freude, die sie an der normalen Beschaffenheit und raschen Entwicklung ihres jüngeren Sohnes haben konnte, dem Gram um den älteren ganz die Wage hielt, möchte ich für die ersten Jahre bis zu der traurigen Katastrophe bezweifeln. Hernach, als der »Schmerzenreich« ihrem leiblichen Auge entrückt war, widmete sie die ganze reiche Liebesfülle ihres Herzens nächst ihrem Manne dem Sohn, der ihr geblieben war. Und dies tat sie mit derselben kritiklosen Überschwänglichkeit, mit der sie sich ihrem Gatten unterordnete und selbst das unglückliche Kind nie im richtigen Licht gesehen hatte.


Ich war indessen schon früh Manns genug, um durch diese mütterliche Verhätschelung in meiner geistigen Selbstzucht nicht beirrt zu werden, zumal das Vorbild meines Vaters mir beständig vor Augen stand. Nur meine körperliche Erziehung litt unter der Verweichlichung, die meine überängstliche Mutter durchführte, so daß ich von mancher Leibesübung, die mir sehr zustatten gekommen wäre, ferngehalten wurde. Zum Glück war das Turnen damals in den Schulplan aufgenommen worden, und zum noch größeren Glück hatte mir die Mutter ihre herrliche körperliche Konstitution, ihr reges, gesundes Blut vererbt, so daß gewisse Unterlassungssünden meiner jungen Jahre in betreff meiner Abhärtung durch diese unschätzbare Mitgift reichlich aufgewogen wurden4.


Im übrigen, wenn ich die Elemente prüfe, aus denen meine westöstliche Natur zusammengesetzt ist, finde ich an mir die alte Erfahrung bestätigt, daß uns die Charakteranlage vom Vater, die geistig-sinnliche von der Mutter vererbt zu werden pflegt. Wie ich dieser verdanke, was an phantastischem Vermögen und warmblütigem, sinnlichem Temperament mein eigen ist, so habe ich von meinem Vater, der aus echtestem germanischem Stamm entsprossen war, die Eigenschaften überkommen, deren ein Künstlerleben zu seiner reinen und freien Entfaltung bedarf, die Gewissenhaftigkeit und den Fleiß – »seines Fleißes darf man sich ja rühmen« – und den unerschütterlichen Trieb zur inneren und äußeren Unabhängigkeit. Zugleich auch neben einer Anlage zu jäh auflodernder Leidenschaft die Kraft, diese gefährlichen Anwandlungen zu bändigen, so daß ich fast immer denen, die mich nur oberflächlich kennen, den Eindruck eines durchaus gleichmütigen, von inneren Stürmen und Kämpfen stets verschonten Menschen gemacht habe, wovon ich weit entfernt bin.


Früh war mir die Ahnung aufgegangen, was ich an diesen Eltern besaß. An meinem Vater hing ich mit einer innigen Verehrung, die der meiner Mutter für ihn wenig nachgab. Ihm etwas Liebes zu tun, ihn zu erheitern, sein Lob zu erringen, war mein beständiges Bestreben. Ich war glücklich, wenn er meine Hilfe bei seinen Arbeiten brauchen konnte, zum Beispiel die peinlich langweilige Korrekturarbeit an den immer neu bearbeiteten Wörterbüchern sich dadurch erleichterte, daß er sich die Bogen von mir vorlesen ließ. Wie gern auch unterzog ich mich der mühseligen Kunst, in den alten Druckwerken, die er sammelte, einzelne Blätter oder ausgerissene Titel nach den Vorlagen wohlerhaltener Exemplare in möglichst ähnlicher Frakturschrift zu ergänzen! Und obwohl er mich früh nicht wie einen Sohn, sondern wie einen Freund behandelte, verlor ich bei aller traulichen Hingebung nie das Gefühl, daß er von einer höheren, edleren Menschenart sei, wofür auch meine gute Mutter ihn ansah.


Diese, so sehr ich sie liebte, stand mir nicht auf der gleichen Höhe, teils weil ich ihr manchmal etwas zu verzeihen hatte, wenn ihr rasches Temperament sie zu einer ungerechten Behandlung fortriß – denn sie besaß nicht das kleinste Teilchen von der pädagogischen Kunst meines Vaters, die nur gerade an ihr, weil sie eben so ganz und gar aus einem Stück war, nichts auszurichten vermochte; – teils weil sie sich unbedenklich in heiteren Stunden zu uns Knaben herabließ, unseren Übermut nur noch schürte, uns ihre alten, drolligen Volksliedchen sang und es hin und wieder nicht verschmähte, wenn wir in dem großen, altmodischen Sofa uns mit Kissen bombardierten, an diesem Scharmützel teilzunehmen. Ich höre noch, wie eines Nachmittags, als mein Vater, der in seinem Zimmer nebenan durch unser Lärmen und Jauchzen in der Arbeit gestört wurde, mit einer vorwurfsvollen Miene hereintrat, mein Bruder ausrief: »O, Mutter ist immer die Dollste!« worauf wir in ein Lachen ausbrachen, in das der nachsichtige Vater, statt zu schelten, mit einstimmte.


Meine Eltern hatten, als ich sieben Jahr alt geworden war, die Wohnung auf dem Holzplatz mit einer anderen im zweiten Stock des Hauses in der Behrenstraße Nummer 58 vertauscht, zu meiner großen Betrübnis. Einen so geräumigen Spielplatz, wie ich ihn dort gehabt, konnte ich nicht leicht verschmerzen. Doch wurde ich bald getröstet. Der neue Hausbesitzer, ein Herr Seifarth, hatte eine acht- oder neunjährige Tochter Antonie, deren orientalische Schönheit auf mein Knabenherz einen tiefen Eindruck machte. Ich huldigte ihr vorläufig nur in einer sehr kindischen und unzweckmäßigen Weise, so daß sie nie eine Ahnung davon bekam. Unter anderm hatte ich schon damals den Trojanischen Krieg in der Beckerschen Bearbeitung für die Jugend gelesen und führte nun allerlei Szenen daraus mit meinen Kameraden auf, wobei ich ihr die Rolle der Helena zuerteilte, von deren Bedeutung sie jedenfalls nicht den leisesten Begriff hatte. Ich selbst war natürlich Achill, und sie sollte mit ihren Freundinnen sich über uns Griechen unterhalten und meine Tapferkeit rühmen. Was die Mädchen über uns Buben plauderten, konnte ich freilich nicht verstehen; und so entsinne ich mich nicht, daß ich einen anderen Gewinn aus diesem glorreichen Kampfspiel davontrug, als einen zerhauenen Helm und Schild und das beschämende Bewußtsein, vor Helenas Augen gegen meine stärkeren Gegner trotz meines Heldennamens den kürzeren gezogen zu haben.


Für meine gute Mutter jedoch hatte die neue Wohnung außer anderen Vorteilen noch den, daß sie aus den Fenstern ihres Wohnzimmers die lange Kanonierstraße hinunterblicken und ihre beiden Söhne jeden Morgen eine Strecke weit auf ihrem Schulwege verfolgen konnte, den wir im Winter, wohleingepackt in wollene Schals, die sie selbst gestrickt hatte, antraten. Sie war überhaupt eine unermüdliche Strickerin, hatte sogar, während sie las, immer das Strickzeug in den Händen und verfertigte dazwischen künstliche Häkelarbeiten, große, rot- und gelbgestreifte Bettdecken für uns oder weite, wollene Tücher, die sie freigebig rechts und links verschenkte.


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Als ich acht Jahr alt geworden war, kam ich auf das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.


Hier sollte ich sogleich erfahren, daß man in der Schule des Hauses, zumal eines so liebevollen wie mein Elternhaus, manches nicht lernt, was man im Leben, und wär's nur das Zusammenleben mit kleinen, oft nichtsnutzigen Schulkameraden, nicht ohne Schaden entbehren kann; daß es nicht genügt, ohne Falsch wie die Tauben zu sein, wie wir zwei so äußerst »wohlerzogene« Brüder unsern teuren Eltern und Verwandten gegenüber es sein durften, sondern auch ein wenig klug wie die Schlangen, ohne welche Kunst man mit dem besten Willen sich nur allzuoft im Lichte steht.


Ich war durch den Unterricht meines Vaters und meines vortrefflichen Hauslehrers Valentin Kutscheit – er hat einen damals sehr gelobten Atlas der Alten Welt herausgegeben – für die Sexta mehr als genügend vorbereitet, im Latein eigentlich schon für die Quinta reif. Daß ich nie im Deutschen einen besonderen grammatikalischen Unterricht erhalten hatte, mag für den Sohn und Enkel zweier Grammatiker seltsam erscheinen. Doch wurden wir auch auf dem Gymnasium mit theoretischen Lektionen in der Muttersprache verschont und lernten das Nötigste von der Terminologie bei Gelegenheit des Lateinischen.


Da ich nun meine Schulaufgaben zu Hause aufs Gewissenhafteste machte und in den Schulstunden mit einer Art Andacht zu den Lehrern aufblickte, konnte es nicht fehlen, daß ich für einen Musterschüler galt und meinen Kameraden, die eine schlechte Zensur ohne sonderliche Gewissensbisse hinnahmen, als Vorbild hingestellt wurde. Das hätten sie mir nun wohl verziehen, wenn ich mich im übrigen kameradschaftlich betragen und auch in den Raufereien auf dem Schulhof und bei den Possen, die gewissen wehrlosen Lehrern gespielt wurden, danach getrachtet hätte,


Immer der Erste zu sein und vorzustreben den Andern.


Das aber konnte mir nicht in den Sinn kommen, da ein Lehrer für mich eine geheiligte Person und das Balgen in den Zwischenstunden und auf der Straße verboten war. Ja, schlimmer als das: ich war von meinen Eltern zur unbedingtesten Wahrhaftigkeit angehalten worden und glaubte nun auch, wenn nach irgend einem mutwilligen Streich ein Verhör angestellt wurde, um den Täter oder Rädelsführer zu ermitteln, verpflichtet zu sein, alles, was ich wußte, auszusagen, ohne in meiner blöden Unschuld ein Gefühl dafür zu haben, wie verächtlich die Rolle eines Denunzianten in den Augen aller tapferen Schelme ist, die lieber unschuldig büßen, als gute Freunde einer noch so wohlverdienten Strafe zu überliefern.


So konnte es nicht fehlen, daß ich meinen Kameraden immer widerwärtiger und verhaßter ward, je mehr ich bei unseren Lehrern »in Tee kam«, – (ein Ausdruck, der wohl daher stammt, daß Lieblingsschüler von ihren Lehrern dann und wann abends in ihr Haus geladen wurden). Ich selbst, durch meine Überlegenheit als kleiner Tugendbold verblendet, achtete nicht auf die sich mehrenden Zeichen der Abneigung, die ich hervorrief. Ich hielt es sogar für unrecht, schwächeren Kameraden bei ihren Aufgaben zu helfen, oder gar eine Arbeit von ihnen abschreiben zu lassen, da die Lehrer dadurch betrogen worden wären. Und sicherlich spielte bei dieser Hypertrophie des Gewissens eine noch minder löbliche Eitelkeit auf meine Erfolge bei den Lehrern mit, zumal ich damals zu keinem meiner Kameraden ein herzliches Verhältnis hatte.


Daß so ein kleiner Heiliger zu Schaden kommt, wenn er es verschmäht, mit den Wölfen zu heulen, sollte mir auf eine beschämend lächerliche Weise klargemacht werden.


Ich saß, wenn ich nicht irre, in der Quinta, als das Reformationsfest gefeiert wurde. Alle Schulen hatten bronzene Medaillen zur Erinnerung an das Fest erhalten, die in der Art verteilt werden sollten, daß auf jede Klasse nur eine kam, über deren Verleihung an den besten Schüler die ganze Klasse abzustimmen hatte.


Als unser Oberlehrer die Stimmzettel ablas, die wir ihm eingereicht hatten, und auf jedem, außer meinem eigenen, mein Name stand, lief ein dumpfes Murren durch die Reihen der Bänke. Wie aber auch der letzte verlesen war, wieder mit meinem Namen, und der Lehrer erklärte: »So hat also Heyse einstimmig die Medaille erhalten« –, da brauste wie ein wahrer Sturm durch das Klassenzimmer der ebenso einstimmige Ruf: »Heyse nich! Heyse nich! Heyse nich!«


Statt mich meines Erfolges zu freuen, saß ich auf meinem Primussitze wie ein armer Sünder, der zu Pranger und Staupe verurteilt wird, kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, auch in dem Lächeln des Lehrers glaubte ich meine Schande zu lesen, als er sagte: »Ihr seid wunderliche Jungen. Warum habt ihr ihm denn die Medaille zuerkannt, wenn ihr sie ihm nicht gönnt? Nun muß es einmal dabei bleiben.«


Bei allem anderen aber, was zu dieser tragikomischen Szene geführt hatte, blieb es nicht. Von dieser Stunde datierte eine gründliche Reformation meiner Weltanschauung vom Standpunkt des Schülergewissens aus. Ich nahm eine entschlossene Trennung meiner häuslichen von meiner Gymnasiastenmoral vor und ließ es mir angelegen sein, mich mehr nach unten als nach oben beliebt zu machen.


Es gelang mir dies auch bald, obwohl ich darum die Gunst der Lehrer nicht verscherzte. Übrigens war kein sonderliches Verdienst dabei, den ersten Platz zu behaupten, um den ich nur zuweilen mit einem guten Kameraden, dem Sohn eines armen Volksschullehrers, zu kämpfen hatte. Zufällig befanden sich in meiner Generation sehr wenige gute Köpfe, was auch daraus erhellt, daß sich kaum einer von all meinen Mitschülern im späteren Leben hervorgetan und mich an seinen Namen erinnert hat, bis auf den einen v. Kardorff, mit dem ich täglich zweimal die lange Friedrichstraße hinabwanderte, ohne zu ahnen, welch eine parlamentarische Größe aus ihm erwachsen würde.


Hermann Grimm und sein Bruder Rudolf traten nur für ein oder zwei Semester in unsere Prima ein und besuchten dann ein anderes Gymnasium.


Von unserer alten Frederico-Guilelma aber ist so viel gesungen und gesagt worden, ich selbst habe meiner Dankbarkeit gegen sie bei verschiedenen Gelegenheiten lyrischen Ausdruck verliehen, und die »Chronik«, die von ihren ehemaligen Schülern alljährlich verfaßt und auch mit Rückblicken in alte Zeiten ausgestattet wird, spricht so beredt zu ihrem Ruhme, daß ich an diesem Ort mich eines ausführlichen Eingehens auf meine Schuljahre enthalten kann. Nur zur Ergänzung des Allbekannten will ich bezeugen, wie weit entfernt wir waren, ein Gefühl der Überbürdung zu empfinden oder, so gründlich wir in den klassischen Sprachen geschult wurden, über grammatischem Formelkram den Blick für die Schönheit der alten Welt, ihre Geschichte und Dichtung uns trüben zu lassen und als junge klassische Philologen in herba das Interesse für die heutige Welt und ihre großen Aufgaben zu verlieren. Ob es sehr ersprießlich war, daß wir im lateinischen Aufsatz unreife Gedanken in ciceronianische Phrasen kleideten oder Cornelius Nepos mündlich ins Griechische übersetzen konnten, will ich dahingestellt sein lassen. Doch übt man ja auch auf dem Turnplatz seine Glieder in allerlei kühnen akrobatischen Exerzitien ohne einen anderen Zweck, als sie geschmeidig zu machen. Und so wird keiner unter uns es bereut haben, daß er dergleichen halsbrechende philologische Künste betreiben müsse, statt, wie es die heutige Richtung auf die Realfächer mit sich bringt, sein Gedächtnis mit einem Übermaß naturwissenschaftlicher Kenntnisse zu belasten, die doch nur halb verstanden und halb verdaut bleiben müssen und für eine spätere praktische Fortbildung eine sehr dürftige Grundlage bilden.


Was mich betrifft, so war ich für Chemie und Physik schon aus dem Grunde verdorben, weil mir das mathematische Organ vollständig versagt war. Was weder meinen Geist noch meine Phantasie anregte, fand keinen Eingang bei mir, und die Welt der Zahlen blieb mir so fremd wie die Geographie des Mondes. Auch mein Gedächtnis sträubte sich gegen die Aufnahme von allem, womit ich keine Anschauung verband, während ich, sobald ich von dieser Seite gewonnen wurde, außerordentlich leicht lernte und lange behielt. Ich habe auf einem Redeaktus einmal den ganzen ersten Gesang der Odyssee auswendig griechisch vortragen können, gewiß zu geringer Erbauung der anwesenden Väter und Mütter. Dagegen kostete mich's große Mühe, nur das Nötigste an historischen Jahreszahlen mir einzuprägen, selbst von den Zeiten, die mich durch die Ereignisse und Gestalten höchlich interessierten. Sobald aber eine Zahl ins Spiel kam, wurde mein Gedächtnis geradezu gelähmt; ich konnte mich dann nur im allgemeinen orientieren, indem ich den Ablauf der Tatsachen in mir wieder rekapitulierte.


Bis in die Untersekunda hatte ich mich in den mathematischen Stunden mitgeschleppt. Vor den Vegaschen Logarithmen machte ich ein für allemal halt, wie ein müder Wanderer vor einem Urwalde, der ihm undurchdringlich scheint. Ein wenig mutiger zeigte ich mich der Trigonometrie gegenüber. Wo es galt, die Höhe eines Mastbaums oder eines Turms zu berechnen, wenn zwei Dimensionen und der Winkel gegeben sind, machte ich mich fröhlich ans Werk. Man sah doch, wo und wie, und freilich kam es mir mehr darauf an, bei dieser Gelegenheit ein stattliches Segelschiff oder einen kühnen Festungsturm zu zeichnen, als die Rechnung selbst richtig zu erledigen. Im übrigen verzichtete ich in den oberen Klassen entschieden darauf, daß mir noch einmal eine Erleuchtung kommen möchte, und zum Glück erbarmte sich unser verehrter Mathematiklehrer, Professor Schellbach, meiner unbezwinglichen Unfähigkeit, da er mich sonst als einen musterhaften Schüler kannte. Er drückte ein Auge darüber zu, daß ich in seinen Stunden Coopers Romane oder Heines Reisebilder las, und wenn die anderen Rechnungen machten, die er dann zur Korrektur mit nach Hause nahm, ließ er sich hernach stillschweigend von mir das Blatt reichen, auf dem ich mein Landschäftchen oder den Kopf eines meiner Kameraden gestrichelt hatte, und ergötzte damit seine Frau und Kinder.


Dieser eine Zug möge genügen zum Beweise, wie wenig pedantisch der Unterricht auf unserem Gymnasium betrieben wurde. Unsere einsichtsvollen Lehrer wußten, daß nicht allen Bäumen eine Rinde gewachsen ist und, was die Natur versagt hat, durch eisernen Drill nicht ertrotzt werden kann. Auch das Abiturientenexamen wurde in diesem Geiste abgehalten. Was ein Schüler im ganzen wert war, welchen Grad der Reife sein Charakter erlangt hatte, wurde schärfer in Betracht gezogen als seine Leistungen in den einzelnen Examenfächern, zumal unter dem Druck der wenigen Prüfungsstunden. Mein teurer Schellbach, als die Mathematik an die Reihe kam und ich hülflos auf das weiße Blatt vor mir starrte, trat an mich heran und fragte: »Nu, nu, Heyse, was haben Sie denn zustande gebracht?« Ich zeigte ihm mit stummer Resignation nur die Aufgabe, die ich niedergeschrieben hatte. »Nu, nu,« sagte er, »das werden wir schon 'rauskriegen. Ich würde das etwa so machen.« Damit nahm er meine Feder und schrieb die Rechnung ausführlich hin, nahm auch hernach das Blatt, zu dem ich nichts hinzugefügt hatte, mir wie allen Anderen ernsthaft ab, und die Prüfung war bestanden.


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Obwohl nun aber über der Tür der Pythagoräischen Schule die abweisenden Worte standen: mhdeis ageometrhtos eisito – kein ungeometrischer Kopf wage sich herein! – war ich doch früh mit heißer Begierde über allerlei philosophische Lektüre geraten und hatte mir begreiflicherweise, da mein Vater ein Anhänger Hegels war, zunächst eine Vorstellung von dieser Philosophie zu verschaffen gesucht. Als ich merkte, daß das für ein fünfzehn- oder sechzehnjähriges Gehirn seine Schwierigkeiten hatte, verstieg ich mich, wohl durch den Titel angelockt, sogar zu der »Kritik der reinen Vernunft«, an der mein Verständnis sich nun vollends als unzulänglich erwies. Ich klagte meine Not nicht sowohl meinem Vater als unserm hochverehrten Professor Yxem, bei dem wir in Oberprima wöchentlich einmal eine trockene Logikstunde hatten. Er fand dies mein heimliches Studium natürlich verfrüht, so daß ich mich denn doch endlich meinem Vater anvertraute. Von ihm erhielt ich das treffliche »Handbuch der klassischen Philosophie« von Ritter und Preller, wo ich die geschichtliche Entwicklung der Systeme in den entscheidenden Äußerungen der einzelnen Denker im Urtext zusammengestellt fand. An diesen befriedigte ich, so gut es ging, meinen neugierig grübelnden Vorwitz.


Professor Yxem, von dem wir in den beiden obersten Klassen im Griechischen und Deutschen unschätzbar gefördert wurden, war unstreitig der interessanteste unsrer Lehrer. Schon sein Äußeres, die schmächtige Gestalt mit dem kleinen verwitterten Gesicht unter einer blonden Haartour, die nervös zitternden Hände und die heiser vibrierende Stimme, ließ ihn zunächst als den Typus eines vertrockneten Schulmagisters erscheinen, dessen Wunderlichkeiten übermütige Jungen zu allerlei Possen und Schabernack reizen mußten. Diese dreiste Laune verging ihnen aber bald, da sie in der ersten Stunde vor dem überlegenen Geist und dem tiefen Wissen, die in dem kleinen Kopfe wohnten, Respekt bekamen. Man erzählte sich, daß er einmal ein Schulprogramm verfaßt habe unter dem Titel: »Goethes Charakter. Ein Versuch.« Der Olympier in Weimar habe ihm dafür in einem eigenhändigen Briefe gedankt, den sein begeisterter Verehrer eingerahmt über seinem Schreibtisch aufgehängt habe und als seinen kostbarsten Schatz betrachte.


Yxem war ein großer Grieche, wir lasen Plato bei ihm. Wohl auf seine Anregung habe ich, als ich eben siebzehn Jahr alt geworden, nachdem mir bei meinem Abgang vom Gymnasium als Primus das mündliche Examen erlassen worden war, die Züricher Gesamtausgabe der Werke Platos vom Jahre 1839 zum Geschenk erhalten, von dem ich jedoch, da ich der klassischen Philologie abtrünnig wurde, weniger Gebrauch gemacht habe, als die gütigen Geber gedacht hatten.


Für den deutschen Aufsatz war uns in der Oberprima die Wahl des Themas freigegeben worden. Als dies zum erstenmal geschah, schrieb ich ein ziemlich übermütiges romantisches Capriccio über »Das Märchen«, zu dem mich Clemens Brentano und, was den Stil betrifft, Heine angeregt hatte.


Als die Hefte dann vom Professor zurückgegeben und kritisiert wurden, nahm er das meine zuerst vor und teilte zur Probe die extravagantesten Stellen mit, sie aufs Unbarmherzigste wegen ihrer logischen Mängel und stilistischen Unmanieren verdammend, so daß ich tief gedemütigt, zumal ich sonst im deutschen Aufsatz einer der besten war, mit gesenktem Kopfe dasaß und die Zensur am Schluß meiner Schreiberei gar nicht anzusehen wagte. Als ich es dann doch zu Hause über mich gewann, las ich zu meinem frohen Erstaunen: »Mit Vergnügen gelesen. Yxem.«


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Ich muß aber aus der Schule in mein Elternhaus, aus der Prima in meine Knabenzeit zurückkehren, zumal Schulgeschichten, so wichtig und merkwürdig sie denen erscheinen, die sie erlebt haben, für jeden Unbeteiligten nur von geringem Interesse zu sein pflegen. Und so fürchte ich, in meiner Pietät für das so oft verwünschte und doch so unvergeßlich geliebte altersgraue Haus an der Koch- und Friedrichstraßenecke schon allzu weit abgeschweift zu sein.


Das Gymnasium ist seitdem ausgewandert, und seine früheren Schüler haben ihm ein gerührtes Abschiedsfest gefeiert, zu dem ich einen poetischen Abschiedsgruß beisteuerte (Lyrische Dichtungen Bd. II, S. 293), wie ich auch meiner Dankbarkeit gegen meinen alten Direktor, Ferdinand Ranke, in dem Gedicht zu seinem fünfundzwanzigsten Direktoratsjubiläum den herzlichsten Ausdruck gegeben habe (ebenda, S. 227).


Mein Elternhaus in der Behrenstraße 58 aber hat sich nur einen Umbau gefallen lassen müssen, bei dem es eine elegante Fassade und, wie ich vermute, auch eine völlige Erneuerung und Verschönerung im Innern erfahren hat. Die jetzigen Bewohner würden sich keine Vorstellung machen können, wie dürftig und schmucklos es damals aussah, wie einfach und altmodisch die Möblierung der Wohnungen im zweiten Stock war, die meine Eltern und Tante Marianne innehatten.


In der damaligen Zeit wußte man in noch so gebildeten Bürgerhäusern kaum etwas von einer künstlerischen Ausstattung der Räume. So kunstsinnig mein Vater war, und so früh ich selbst mich in Malerateliers herumtrieb und des Zeichnens befliß, niemand fiel es ein, die Einrichtung unserer Zimmer mit alten Mahagonimöbeln, einem Potpourri auf dem Eckschrank und einem winzigen Teppich vor dem schwerfälligen Sofa spießbürgerlich zu finden.


Die Bilder an den Wänden waren Familienporträts, ein paar Kupferstiche, kolorierte Schweizerlandschaften und eine Menge jener reizenden Miniaturbildchen auf Elfenbein, die heute leider durch die billigen Photographieen gänzlich verdrängt worden sind.


Nur in meines Vaters Zimmer hingen einige wertvolle Ölgemälde, das lebensgroße treffliche Bildnis Pestalozzis und ein paar niederländische Genrebilder, darunter ein Jan Steen, der noch heut mein Arbeitszimmer schmückt.


Er stammte aus der kleinen Gemäldesammlung, die mein Großvater zusammengebracht hatte, was damals selbst mit den Mitteln eines Töchterschuldirektors noch möglich war. Vor dem Spiegel auf einem niederen Schränkchen standen Rauchs geistreiche kleine Gipsstatuetten Goethes und Wilhelms von Humboldt, oben auf dem Pult die lebensgroße Büste Hegels; ein großes Porträt F.A. Wolfs in Kupferstich hing an der letzten freien Wand, während die ganze lange Wand gegenüber von der wissenschaftlichen Bibliothek ausgefüllt wurde.


Im übrigen waren wir Knaben in dem neuen Hause nicht allzu gut daran, hatten keinen Raum für uns, sondern mußten unsere Schularbeiten in der dunklen sogenannten »Berliner Stube« machen, die zum Eßzimmer diente und der allgemeine Durchgang war. Die beiden hinteren Zimmer, die nach dem Hofe gingen, wurden uns erst eingeräumt, als ich dreizehn Jahre alt war. Bis dahin gehörten sie den Pensionären, die mein Vater bei sich aufnahm, um seine finanzielle Lage zu verbessern. Der erste war ein Hamburger Kaufmannssohn, Adolf Schirmer, den sein Vater, da er schon ziemlich erwachsen war, in eine strengere Zucht zu geben wünschte. Der junge Mann ließ sich aber auch durch einen so erfahrenen Pädagogen nicht auf einen ersprießlichen Weg bringen. Mir imponierte er sehr, da er Dramen schrieb und mir auseinandersetzte, der Lustspieldichter müsse den Torheiten der Zeit den Spiegel vorhalten. Nun arbeitete er lange an einem Lustspiel, das die Anhänger der Gallschen Schädellehre geißeln sollte, und trieb sich halbe Tage und – Nächte lang auf der Straße herum, »Studien nach dem Leben« zu machen, deren Nutzen für sein phrenologisches Stück meinem Knabengehirn nicht eben einleuchtete. In viel späteren Jahren ist mir sein Name als des Verfassers von Kolportageromanen in Wien wieder aufgetaucht.


Erfreulicher waren ein paar junge Franzosen, Tribert, Demion und Anisson, die die Vorlesungen an der Universität besuchten und nacheinander als Pensionäre meines Vaters eine Zeitlang in unserem Hause lebten. Sie fühlten sich bei dem deutschen Professor und seiner heiteren Frau, die beide fließend Französisch sprachen, sehr wohl und ließen sich auch mit uns Knaben freundlich und zutulich ein. Doch so sehr ich gewohnt war, mich in alles zu fügen, was die Eltern bestimmten, begrüßte ich es doch wie eine Erlösung, als uns Brüdern endlich unser eigenes kleines Reich eingeräumt wurde.


Man hat in Süddeutschland stets unter anderer fable convenue über den Charakter der Berliner auch die sehr verkehrte Meinung von ihren anspruchsvollen Lebensgewohnheiten gehegt. Nichts irriger als dies. Wenn einzelne Parvenüs, die auf Reisen gingen, überall die Nase rümpften und nichts so gut fanden, wie sie es angeblich zu Hause hatten, so konnten diese widerwärtigen Berliner snobs nur für Diejenigen maßgebend sein, die sich in den mittleren und unteren Ständen der werdenden Großstadt nie umgesehen hatten. Bei diesen war vielmehr eine so große Genügsamkeit vorherrschend, wie sie in Bayern und Österreich nirgends in den gleichen Schichten der Bevölkerung anzutreffen war. Ihre Wohnungseinrichtung, die engen Höfe, in deren Tiefe kaum ein schwacher Sonnenschimmer fiel und doch ein schwindsüchtiges Gärtchen mit einer Bohnenlaube gepflegt wurde, die Landpartieen im »Kremser« nach Pankow, Stralau, dem Grunewald, bei denen der bescheidene Mundvorrat mitgenommen wurde, die Spaziergänge der Bürger- und Arbeiterfamilien zu den Wirtschaften in Charlottenburg und Schöneberg, wo »kalte Schale« getrunken wurde oder ein Zettel anzeigte »Hier können Familien Kaffee kochen«, – dies alles zeugte für eine Anspruchslosigkeit im Lebensgenuß, die dem Wiener oder Münchener unbegreiflich gewesen wäre. Berlin war eben noch keine reiche Stadt, und die Arbeiter, die es im Laufe des Jahrhunderts dazu machten, mußten sich noch entsagungsvoll nach der Decke strecken. Auch die geistigen Arbeiter, Beamte und Gelehrte, konnten damals nicht daran denken, wie es schon um die Mitte des Jahrhunderts jeder leidlich wohlstehenden Münchener Familie als selbstverständlich erschien, alljährlich zur Sommerfrische vier bis sechs Wochen aufs Land oder in die Berge zu ziehen. Der Tiergarten mußte für die Bedürfnisse nach frischerer Luft selbst in den Hundstagen ausreichen. Aber mit dem Talent zur Selbstironie, das dem echten Berliner angeboren ist, machte er aus der Not eine Tugend, und von sozialer Unzufriedenheit war damals noch nichts zu spüren.


Auch ich habe bis in meine spätesten Jahre nicht aufgehört, mich als »genügsamer Berliner« mit Humor in manches zu schicken, was mir notdürftig genügen konnte, wenn im Augenblick etwas Besseres nicht zu erreichen war. Damals vollends erschienen mir die beiden Hofzimmerchen als ein sehr stattliches Quartier. Wie bescheiden es ausgestattet war, kam mir eigentlich nie zum Bewußtsein, da der Reiz der Freiheit in eigenen Räumen mich allzusehr beglückte. Ich kam freilich in Häuser, wo es weit glänzender aussah, selbst in den Zimmern der noch die Schule besuchenden Söhne. Denn da mein Vater als ein Eingewanderter keine Familienverbindungen in Berlin besaß und mit seinen Kollegen nicht viel von Haus zu Haus verkehrte, beschränkte sich unser geselliger Umgang fast ausschließlich auf die jüdischen Familien, mit denen meine Mutter schon vor ihrer Verheiratung befreundet gewesen war. Dies waren nun fast lauter reiche Häuser, vor allem die verschiedenen Zweige des Mendelssohnschen Stammes, der Patriarch Joseph Mendelssohn mit seiner feinen alten Frau Hinny, zu deren Hausfreunden Alexander von Humboldt gehörte, Alexander Mendelssohn, dessen einer Sohn, Franz, mein Altersgenosse war, Paul Mendelssohn, Felix' Bruder, dann unter anderem eine sehr musikalische Familie Rubens, bei der ich einmal, da ich mich überarbeitet hatte, einen Sommer lang Gastfreundschaft genoß. Sie hatten die Hälfte der Mendelssohnschen Villa in Charlottenburg gemietet, in deren großem Park ich mich lüften konnte. Auch sonst war's eine vergnügliche monatelange Ferienzeit, in der ich auch an guter Musik keinen Mangel litt. Noch ist mir der Besuch Marschners in lebendiger Erinnerung, und die volle, reine Stimme klingt mir im Ohr, mit der seine schöne, rothaarige (zweite) Frau Lieder ihres Mannes zum Klaviere sang.


Außer diesen waren meine Eltern gern gesehene Gäste bei dem Varnhagenschen Ehepaar und jener trefflichen Madame Levy, deren Haus mit dem parkähnlichen Garten die jetzige Museumsinsel fast gänzlich einnahm. Die trotz ihres Uralters völlig geistesfrische Besitzerin sah jeden Donnerstag allerlei Gelehrte und andre notable Leute an ihrem Tische, und auch ich als ein frühreifer Primaner wurde öfters dorthin mitgenommen und aufs gütigste von der alten »Tante Levy« behandelt.


Mit besonderer Dankbarkeit aber gedenke ich all des mannigfachen Guten, das ich in dem Hause der Leipzigerstraße genoß, in welchem späterhin der Reichstag seinen vorläufigen Wohnsitz aufschlug.


Im Erdgeschoß des Vorderhauses wohnte Felix Mendelssohns jüngere Schwester Rebekka, die mit dem großen Mathematiker Dirichlet vermählt war, über ihnen die Familie Böckh. Noch sehe ich den großen Philologen, wie er am Nachmittag in den Garten kam und an dem Bocciaspiel des Henselschen Kreises teilnahm, das von diesem aus einer italienischen Reise nach Berlin mit herübergebracht worden war. Das einstöckige Hinterhaus zwischen dem geräumigen Hof und dem weitgestreckten Garten hatte nämlich der Maler Wilhelm Hensel inne, der Felix' ältere Schwester Fanny zur Frau hatte. Zu allen früheren freund- und verwandtschaftlichen Fäden, die mich mit diesen trefflichen Menschen verbanden, kam noch die Schulfreundschaft mit ihrem einzigen Sohn Sebastian (dem späteren Herausgeber des reichen und anziehenden Memoirenwerks »Die Familie Mendelssohn«). Diesen begleitete ich alle Sonnabende um Zwölf von der Schule nach Hause, um bei einem Schüler seines Vaters, Pietrowski, ein paar Stunden zu zeichnen, leider nach einer unglücklichen Methode, da ich nur große Gipsköpfe in sorgfältiger Durchführung nachzustricheln hatte. Schon seit meinem zehnten Jahre hatte ich eifrig gezeichnet, nicht nur in der Schule, sondern zu Hause nach allerlei Vorlagen, und in den Schulstunden meine Lehrer und Mitschüler abkonterfeit. Auf der Reise 1842 mit dem Petersburger Onkel nach Süddeutschland trug ich in ein Skizzenbüchlein allerlei Umrisse von Gebäuden, die mir gefielen, ein, schon damals ein paar Münchner, die ich heute noch bewahre. Meine Hand und meine Augen übten sich früh, und zeitlebens ist mir die Freude am Porträtzeichnen nicht erloschen, ohne daß ich es hierin, so wie in meinen Landschaftsskizzen, je zu wirklicher Künstlerschaft gebracht hätte.


An jenen Sonnabenden blieb ich dann nach der Zeichenstunde zu Tisch im Henselschen Hause und gewann eine warme Verehrung für die edle, hochbegabte Mutter meines Freundes, die trotz ihrer körperlichen Unansehnlichkeit mit den charaktervollen Zügen und dem ruhigen Blick ihrer schwarzen Augen einen beherrschenden Einfluß auf ihre gesamte Umgebung ausübte. Auch zu Sebastians Vater hatte ich eine herzliche Zuneigung, schon um der Güte willen, mit der er meine junge Zeichenkunst aufmunterte. Er war durchaus an Charakter und der Art, sich zu geben, das Widerspiel seiner Frau, mit der er jedoch in der glücklichsten Ehe lebte: ein heiterer, gern witzelnder, zu Gelegenheitsversen stets aufgelegter guter Gesellschafter, bei Friedrich Wilhelm IV. wohlgelitten wegen seiner schwärmerischen Königstreue, in allen Häusern des hohen Adels eingeführt, wo er seine sehr konventionellen idealisierenden Bleistiftporträts zeichnete. Seit einem Kolossalbilde in der Garnisonkirche, Christus vor Pilatus geführt, das die Höhe seines Könnens bezeichnete, hatte er nicht mehr viel Größeres von Bedeutung zustande gebracht.


Wertvoller aber als die malerischen Anregungen, die ich in diesem Atelier empfing, waren mir die musikalischen, die ich seiner Gattin verdankte.


Meine Erziehung in dieser Hinsicht war leider vernachlässigt worden.


Meine Mutter war sehr musikalisch. In ihrer Mädchenzeit hatte sie Gesang und Klavierspiel gelernt, beides aber nach ihrer späten Vermählung nicht mehr geübt, und ihr altes Klavier stand verschlossen in dem dunkelsten Zimmer jener schon erwähnten »Berliner Stube«. Doch die ersten Lieder, die ich als kleiner Knabe zu hören bekam, sang mir die Mutter vor. Sie besaß ein großes Repertoire kleiner kindischer Reime, die ich sonst nirgends wiedergefunden habe, wie:


Der Kuckuck ist ein alter

Ziesele bum bum basele besele,

Der Kuckuck ist ein alter Mann.

Er muß wohl zwanzig Weiber ha'n.

Er kam vor eines Goldschmieds Haus.

Der Goldschmied sah zum Fenster 'naus.

Ach Goldschmied, lieber Goldschmied mein,

Mach mir ein goldnes Ringelein usw.


Ferner hatte sie einen Vorrat französischer Liedchen:


Ains font font font (bis)

Les petits marionettes (bis)


oder:


Que je vous aime

Das muß ich gestehn.

Sans papa, sans mama,

So ganz allein, ach ja!

Das muß ich gestehn!


oder das bekannte:


Sur le pont d'Avignon ...


Daß sonst in unserm Hause musiziert worden wäre, kann ich mich nicht entsinnen. Nur einmal wurde meinen Eltern ein junger Komponist empfohlen, dessen Name mir entfallen ist. Er hatte das obligate lange Haar der Musikanten und ihren großen Durst. Wenigstens sah ich mit Erstaunen, daß er am hellen Nachmittag eine Flasche Rheinwein, die mein Vater ihm vorsetzte, fast allein austrank. Worauf er das alte Instrument öffnete, das ziemlich verstimmt sein mochte, und mit einer dünnen Komponistenstimme mehrere seiner Lieder sang. Eines davon auf einen Eichendorffschen Text machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich Worte und Melodie bis heute noch in mir trage:


Wenn der kalte Schnee vergangen,

Stehst du draußen vor der Tür.

Kommt ein Knabe schön gegangen,

Stellt sich freundlich dar zu dir,

Lobet deine frischen Wangen,

Dunkle Locken, Augen licht –

Wenn der kalte Schnee vergangen,

Glaub dem falschen Herzen nicht!


Noch weiß ich, mit welcher Bewunderung ich zu dem Künstler aufschaute.


Ich bat denn auch meine Eltern, mir zunächst Klavierstunden geben zu lassen, was sie gern bewilligten. Es war aber kein rechter Segen dabei. Die Stunden, die ich eine Zeitlang bei einer meinen Eltern befreundeten, uns benachbarten Dame, der Gesangslehrerin Frau Johanna Zimmermann, nahm, gerieten bald ins Stocken. Sie fanden in aller Frühe vor der Schule statt, wo mein Kopf teils noch unausgeschlafen, teils mit der Präparation auf die bevorstehenden Stunden erfüllt war. Im Gymnasium selbst nahm ich eifrig am Gesangsunterricht teil, da ich eine gute Stimme und ein treffliches Gehör und Gedächtnis hatte. Aber eine eigentliche Unterweisung im Technischen der Musik wurde uns nicht zuteil; kaum daß wir die oberflächlichste Kenntnis der Noten gewannen. So habe ich bei großen Festaufführungen – wir wagten uns an Händels »Messias«, Haydns »Jahreszeiten« und schwere kirchliche Kantaten – Solopartien frischweg und ziemlich fehlerlos zu singen gewagt, bloß nachdem ich sie einmal von unserm glänzendsten Solisten, dem Sohn des Tenors der königlichen Oper, Stümer, hatte vortragen hören. Meine vielfachen anderen Allotria neben den Schulfächern, Versemachen und Zeichnen, ließen für eine ernstlichere Pflege der Musik keine Zeit, ein so inniges Bedürfnis ich fühlte, meine musikalische Bildung zu fördern, wozu ich begierig jede Gelegenheit wahrnahm.


Damals waren die Symphoniekonzerte vor dem Oranienburger Tor eben in Aufnahme gekommen, wo man gegen ein Eintrittsgeld von zwei guten Groschen unter der Leitung des Kapellmeisters Liebig an gewissen Nachmittagen eine Symphonie und zwei Ouvertüren klassischer Meister zu hören bekam, in einem großen Saal, in welchem trotz des Tabaksqualms und Bier- und Kaffeegeruchs die andächtigste Stimmung herrschte. Ich kann nicht genug sagen, wie sehr ich diesen »populären Konzerten« für Kenntnis und Verständnis der unbegreiflich hohen Werke verpflichtet bin.


Vor dem Oranienburger Tore lag auch die Egellssche Maschinenbauanstalt, neben der Borsigschen damals in Preußen das größte Unternehmen dieser Art. Der Chef des Hauses war als ein Mitglied der katholischen Gemeinde mit meiner Tante Marianne bekannt geworden, und zumal die älteste Tochter, Elise, hatte sich eng an sie angeschlossen. So war auch ich in das Haus gekommen, hatte mich mit den Söhnen befreundet und für jene Elise eine große Verehrung gefaßt, da sie ihr unerfreuliches Verhältnis zu einer jungen französischen Stiefmutter mit klagloser Ergebung ertrug. Ich machte sie in allerlei jugendlichen Herzensnöten zu meiner Vertrauten und weihte sie auch in die poetischen Versuche ein, die sich oft um sie selbst und meine Erlebnisse in ihrer Gesellschaft drehten. In diesem Hause machte ich auch die Bekanntschaft des um mehrere Jahre älteren Peter Cornelius, der mir zu weiterer laienhafter musikalischer Ausbildung verhalf. Er lebte mit Mutter und Schwester in ziemlich engen Verhältnissen in Berlin seinen Studien in der Komposition, und es gereichte mir zu nicht geringer Aufmunterung, daß er – als der erste Musiker, der mir diese Ehre erwies – vier meiner Lieder komponierte, die aus seinem Nachlaß herausgegeben wurden. So oft er mit seinen Kameraden Quartette spielte, durft' ich dabei sein, und hörte dann in meiner Sofaecke eifrig zu, bemüht, das verschlungene viersträhnige Tongewebe genau zu verfolgen. Die geniale Natur des Freundes zog mich lebhaft an, auch seine stille, kluge Schwester war mir sehr lieb geworden. Sie hatten beide, nachdem sie meine »Francesca von Rimini« gelesen, eine sehr gute Meinung von meinem poetischen Talent bekommen. Das viel reifere Gedicht, das darauf folgte, »Urica«, nahmen sie nicht sonderlich günstig auf. Den Grund habe ich nie recht begriffen. Doch als der Jugendfreund später nach München übersiedelte, um dort zunächst die Partitur des »Cid« auszuarbeiten, wollten unsere Wege sich nicht wieder vereinigen, da ich seine Begeisterung für die Meister der Zukunftsmusik nicht zu teilen vermochte.


Alles aber, was mir an musikalischen Genüssen von verschiedenen Seiten zuteil ward, wurde durch die Sonntagskonzerte in Fanny Hensels Gartensaal überboten, zu denen ich ein für allemal Zutritt hatte.


Eine illustre Gesellschaft füllte den weiten Raum, doch war kaum einer darunter, der nicht durch ein intimes Verhältnis zur Musik ein Anrecht auf seinen Platz beweisen konnte, und es galt durchreisenden musikalischen Zelebritäten immer für eine hohe Auszeichnung, der Ehre einer Einladung zu diesen Morgenkonzerten gewürdigt zu werden. Zu den Stammgästen gehörte neben Böckh der alte Steffens, dessen ehrwürdiges Gesicht die reinste Verklärung zeigte, während er dem geistvollen Spiel der Hausfrau oder dem Gesang ihrer Freundinnen lauschte, die Felix' liebliche Quartette vortrugen. Die breiten Glastüren nach dem Garten zu standen offen; zuweilen schmetterte der Vogelgesang mit hinein. Hier wurde die »Letzte Walpurgisnacht«, von dem Komponisten soeben vollendet, zuerst aufgeführt und wie manche der schönen Klavierstücke und Lieder noch im Manuskript frisch vom Blatt gespielt und gesungen. Zuweilen kam auch der geliebte Bruder und Meister in Person von Leipzig herüber und verherrlichte eine dieser Matineen durch sein wundervolles Spiel. Dann war der Saal wie in einen Tempel verwandelt, in welchem eine enthusiastische Gemeinde jeden Ton wie eine himmlische Offenbarung einsog.


Ich selbst stand neben Freund Sebastian zuhinterst auf der Schwelle des Nebenzimmers und reckte meine lange Figur auf den Zehen, um keinen Ton zu verlieren und die Gesichter zu betrachten, die sich um den Flügel reihten. Hier sah ich auch die blonde Löwenmähne des jungen Franz Liszt, der seinen ersten Triumphzug durch Berlin hielt, in der vordersten Reihe der Zuhörerschaft eine schöne, blonde Gräfin, die hernach am Arm des glücklichen jungen Eroberers den Saal verließ5.


Bei jenen Morgenkonzerten im Henselschen Gartensaal hatte noch niemand eine Ahnung, daß einmal die Ära einer Zukunftsmusik anbrechen würde, in welcher dem blondmähnigen jungen Virtuosen eine führende Rolle beschieden war, und deren fanatische Anhänger die Musik eines Felix Mendelssohn mit Achselzucken als abgetan zu den Toten werfen würden.


Die Namen vieler Anderer aus den besten Berliner Kreisen und durchreisender hoher Gäste sind mir entfallen. Doch entsinne ich mich, daß einmal auch das gewaltige Silberhaupt Thorwaldsens über die Menge emporragte. Er war am Morgen vorher von drei Malern zugleich porträtiert worden, dem Hausherrn, Begas und, wenn ich mich recht erinnere, Eduard Magnus. Die drei alla prima gemalten Bildnisse standen noch im Atelier, dessen Flügeltür geöffnet war, um nach der Musik die Bewunderer des Meisters einzulassen. An einem anderen Tage fiel mir ein scharfgeschnittener Männerkopf von entschieden jüdischem Typus auf, in dessen Zügen ein Ausdruck gebieterischer Willenskraft und kalten Hohnes lag. Ich fragte Sebastian nach dem merkwürdigen Gesicht. Er nannte mir den Namen Ferdinand Lassalle, vom alten Böckh hier eingeführt, der ihm wegen seiner Abhandlung über Herakleitos den Dunkeln eine glänzende Philologenzukunft weissagte.


Auch die Konzerte in der Singakademie besuchte ich fleißig, zumal eine alte Freundin, die Witwe eines Kammergerichtsrats Gedike, die mit meiner Tante Marianne zusammenlebte, eine der Vorsteherinnen dieses ehrwürdigen Institutes war. Die künstlerische Haltung desselben war seit Zelters Tode ein wenig gesunken. Ihr damaliger Direktor Rungenhagen galt für einen pedantischen und doch energielosen Anhänger der klassischen Musik, der jedem frischen Hauch der neueren Zeit den Eingang wehrte. (Als man meiner Mutter erzählte, er sei krank, und man fürchte für sein Leben, erwiderte sie: »Da liegt wohl die Singakademie in den ersten Zügen?«6 Immerhin hatte ich auch hier Gelegenheit, mich an guter Musik zu erquicken und meine Kenntnis der hohen Meister zu vervollständigen.


Zu eigenem Komödiespielen auf einem Liebhabertheater war keine Gelegenheit, auch traute ich mir, so leidenschaftlich meine Neigung allem Dramatischen zugewandt war, ein schauspielerisches Talent nicht zu. Wenn es einmal sich fügte, daß ich bei einer Dilettantenaufführung bescheiden mitwirkte, war es nie in jugendlichen Rollen. In einem kleinen Lustspiel, das im Mendelssohnschen Hause am Geburtstage von Felix' Mutter aufgeführt wurde, hatte ich den Papa von Mariechen Böckh, der späteren Frau Professor Gneist, zu spielen und zog mich ohne sonderlichen Ruhm aus der Sache. Ein einziges Mal, in einem französischen Lustspiel, das eine Dame, bei der ich Konversationsstunde nahm, von ihren Schülern aufführen ließ, machte ich einen jungen Ehemann und verliebte mich ein wenig in meine reizende Frau, der ich hernach in einer Menge französischer Gedichte, ohne das geringste Verständnis der fremden Verskunst, zu huldigen fortfuhr. Später aber, auf der Universität, wo Professor Geppert seine Schüler in Stücken des Plautus öffentlich auftreten ließ, gab ich eine Gastrolle als der joviale alte Micio in den »Menächmen«, haud sine laude. Ich hatte aber früh einen zu klaren und hohen Begriff von dem, was zur Kunst des Mimen erforderlich ist, als daß ich an der unzulänglichen Produktion von eigenen oder fremden Liebhaberkünsten Freude gehabt hätte, denen ich auch mein ganzes Leben lang sorgfältig aus dem Wege gegangen bin.


Zu Theatergenüssen kam ich leider nur selten, wegen meines sehr bescheidenen Taschengeldes.


Den ersten vollen Eindruck einer richtigen Bühnenkunst empfing ich durch eine Posse im Königstädter Theater, »Die Reise auf gemeinschaftliche Kosten«, in der mich Beckmanns komisches Talent bezauberte. (Ich konnte ihm lange Jahre später, als er in Wien den Henoch in meinem »Hans Lange« so herrlich spielte, wie ich vor und nach ihm die Rolle von keinem andern gesehen habe, für diese erste theatralische Freude danken.) Mein erster Operneindruck war eine Aufführung des »Fidelio«. Eine sehr liebe Freundin hatte meine Mutter an der Sängerin Milder, deren ich mich in der Rolle der Gluckschen Iphigenie noch dunkel als einer imposanten Erscheinung mit herrlicher Stimme erinnere. Das Königliche Schauspielhaus aber besuchte ich selten, und so vielgerühmt die dort auftretenden Künstler waren, sie hielten in meiner jugendlichen Empfindung den Vergleich nicht aus mit einer französischen Truppe, an deren Spitze das Saint-Aubainsche Ehepaar und der jeune premier Monsieur Péchéna standen. Und als vollends die Rachel zu einem längeren Gastspiel nach Berlin kam, versäumte ich keine ihrer Vorstellungen und verkaufte einige Schulbücher, um mein Parterrebillet bezahlen zu können.


Für unsere deutsche Komödie in Berlin war die große Zeit vorbei. Ludwig Devrient, Iffland, Seydelmann, Beschort lebten nicht mehr. Frau Crelinger mit ihren Töchtern und ihre männlichen Kollegen machten mit ihrem korrekten, etwas nüchternen Spiel stets den Eindruck, als vergäßen sie, selbst wenn es Figuren aus dem Volke darzustellen galt, keinen Augenblick, daß sie die Ehre hatten, königlich preußische Hofschauspieler zu sein. Erst später kam ein anderer Geist in diese Gesellschaft, und Döring, Dessoir, Liedtke, Gern Sohn, Hoppé und Berndal nebst einigen schönen und temperamentvollen Damen, dazu die unvergeßliche Frieb-Blumauer bildeten einen Künstlerkreis, der wohl den Vergleich mit dem Wiener Burgtheater aushalten konnte.


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Mit diesen Erinnerungen bin ich endlich bis in die Zeit vorgerückt, die, wie alle Übergangszeiten, unbehaglich durchzumachen sind, wo man, den Knabenschuhen entwachsen, noch nicht von den Jünglingen für ihresgleichen, von den Männern vollends nicht für voll angesehen wird und bei einem Gespräch, in welchem man für seine Meinung noch so gute Gründe vorgebracht hat, sich sagen lassen muß: »Werden Sie erst älter, dann werden Sie von dieser Ansicht selbst zurückkommen.« Die schönen Mädchen, denen man eine schüchterne Huldigung widmet, lassen sie sich gefallen, solange kein reiferer Anbeter um den Weg ist, oder beim Tanz, wenn sie sonst keinen Tänzer fanden. Der hoffnungsvolle Primaner, der schon ahnungsvoll eine Welt im Busen trägt, gebärdet sich in unbeholfener Blödigkeit zuweilen dreist und hochfahrend, nur um seine Unsicherheit zu verbergen, und nimmt eine Zurechtweisung wie eine tödliche Kränkung hin. Was man vom Glück der Jugend sagt, liegt vor und nach dieser unerquicklichen Zeit, in der gerade die feinsten und begabtesten Naturen das meiste Herzweh zu erdulden haben.


Ich selbst, obwohl auch mir solche Erfahrungen nicht ganz erspart blieben, kam doch gnädig genug durch, teils weil ein tiefgewurzelter Respekt vor dem Alter in Gegenwart reifer Männer meine Zunge im Zaum hielt, teils weil ich meist mit Altersgenossen verkehrte, die weniger dialektisch geschult waren als ich und meine fürwitzigen Urteile mir hingehen lassen mußten. In Mädchengesellschaften gereichte mir meine allzu grüne Jugend eher zum Vorteil, da ich schon früh für einen heimlichen Poeten galt, von dem gelegentlich angesungen zu werden es immerhin wert war, daß man ihm ein Ungeschick oder eine Dreistigkeit hingehen ließ.


In diese Zeit fällt meine Bekanntschaft mit Geibel und mein Eintritt in das Kuglersche Haus. Was das Verhalten meiner Eltern zu den neuen Menschen, die mich nun an sich zogen, betrifft, so kann ich nicht verhehlen, daß meine gute, zärtliche Mutter den immer regeren Verkehr mit jenem Kreise freilich nicht ohne Eifersucht mit ansah. Auch mein Vater empfand es anfangs schmerzlich, daß ich nun häufiger als sonst, oft mehrmals in der Woche, dem stillen, häuslichen Teetisch fern blieb. Aber in seiner weisen, liebevollen Seele gönnte er mir die Förderung meiner künstlerischen Bildung durch so treffliche Freunde wie Kugler und Geibel und die geselligen Freuden, die mir das Elternhaus nicht bieten konnte. Denn je schwankender sein körperliches Befinden wurde, je mehr zog er sich von allem geselligen Umgang zurück. Nur hin und wieder lud er einen Freund zu Tische, oder es stellte sich ein guter Bekannter oder einer seiner Schüler Lazarus und Steinthal abends bei uns ein, um ihn über seine Sorgen und Beschwerden ein paar Stunden hinwegzuplaudern.


Dann aber, als ich die Eltern in meine zuerst noch heimliche Verlobung mit Kuglers Tochter einweihte, schon im Jahre 1851, begrüßten sie die neue Tochter beide mit wärmster Freude, und auch meine Mutter schloß meine Braut ohne Widerstreben in ihr leidenschaftliches, eifersüchtiges Herz, das nur für wenige Menschen Raum hatte, diese aber um so inniger festhielt. Für ihren in blindem Mutterstolz überschätzten Sohn war ihr die Beste gerade gut genug gewesen. Nun erschien ihr ohne weitere Prüfung, die als die Beste, die diesen Sohn glücklich machte.


Daß ihr die Trennung von Sohn und Tochter, die durch meine Berufung nach München notwendig wurde, schwer zu ertragen war, ist begreiflich, und selbst die Befriedigung des mütterlichen Ehrgeizes durch die ehrenvolle Stellung in der Nähe des König Max konnte sie nicht ganz über den Verlust der täglichen Gegenwart trösten. Als dann im Winter des folgenden Jahres mein Vater starb, überkam sie vollends das Gefühl einer tödlichen Vereinsamung.


Sie konnte sich aber nicht sofort entschließen, alle Bande, die sie an ihr heimatliches Berlin fesselten, zu zerreißen und zu ihren Kindern nach München überzusiedeln. Auch fand sie sich, dank ihrer lebensmutigen, sanguinischen Natur, äußerlich wenigstens rascher wieder zurecht, als wir ihr zugetraut hatten. In der kleineren Wohnung, die sie bezogen hatte, empfing sie nach wie vor ihre alten Freunde; Schwester Marianne, die sie um acht Jahre überleben sollte, hielt getreu zu ihr; was sie von meinen dramaturgischen und literarischen Erfolgen hörte, bereitete ihr Festtage, und sie las meine Sachen, so wie sie erschienen waren, mit der lebhaftesten, völlig kritiklosen Begierde.


So lebte sie noch neun Jahre, und ich sorgte dafür, teils durch allwöchentliche Briefe, teils durch Besuche in Berlin oder unser Zusammenkommen in den Monaten der Sommerfrische, daß sie die Trennung nicht allzu schmerzlich empfand. Daß sie meine Kinder mit der zärtlichsten großmütterlichen Liebe umfing, brauche ich kaum zu erwähnen. Besonders meinen ältesten Sohn Franz hatte sie zu ihrem Liebling erkoren und konnte stundenlang mit dem Knaben scherzen und Unsinn treiben und ihm die Liedchen vorsingen, mit denen sie uns Kinder belustigt hatte. Auch daß sie ihrer Schenklaune nun erst recht die Zügel schießen ließ, war natürlich. Zu allen Geburtstagen von Kindern und Enkeln kamen reiche Sendungen ihrer gütigen Hand, darunter nicht wenige große gehäkelte Bettdecken und selbstgestrickte Strümpfe für die erwachsenen bis zu den kleinsten Füßen, und ihre Weihnachtskiste war ein unerschöpfliches Schatzhaus. »Wirst du mir auch nicht böse sein,« schrieb sie mir mehr als einmal, »daß du nichts zu erben findest, wenn ich einmal mit meinem Einspänner aus der Welt hinauskutschiert sein werde?«


Als aber Jahr um Jahr verging, manche alte Freunde wegstarben, ihr Befinden, obwohl sie nie eigentlich krank war, doch zuweilen ihr zu schaffen machte, ihr lebhafter Geist jedoch immer noch Ansprüche erhob, die einer einsamen alten Frau nicht befriedigt werden können, fühlte sie ein immer zunehmendes Ungenügen und den heftigen Wunsch, Berlin, das ihr jetzt öde und kalt vorkam, mit unserm München zu vertauschen. So sehr ich bestrebt war, ihr jeden erreichbaren Wunsch zu erfüllen, konnte ich ihr doch nur zureden, auf diesen zu verzichten. Ich sah eine bittere Enttäuschung voraus, wenn sie, da man ohne Schaden keinen alten Baum verpflanzt, in ihren hohen sechziger Jahren ihr gewohntes Leben aufgegeben hätte, das ihr freilich mancherlei Verzicht auferlegte, wie er aber vom späten Alter in den meisten Fällen unzertrennlich ist. Meine Münchener Freunde waren ihr fremd. Die Kinder, mit denen zusammen sie zu leben hoffte, gingen in die Schule, meine Frau war durch häusliche Pflichten, ich selbst durch meine Arbeiten in Anspruch genommen. Sie hätte uns in der Nähe schmerzlicher entbehrt als in der Trennung und wäre sich vollends verloren und verlassen vorgekommen, wenn weder ihre Schwester noch alte Bekannte, die ihr immer noch treu geblieben waren, zu traulichem Geplauder sich bei ihr eingefunden hätten. Ja, schon ihre gewohnte Spenersche Zeitung hätte sie schwer vermißt, und die Annoncen der »Neuesten Nachrichten« wären ihr keine Entschädigung gewesen für die Ankündigungen von Verlobungs- und Todesfällen mit alten Berliner Namen und die Geschäftsanzeigen der Kaufleute, die ihr seit fünfzig Jahren bekannt gewesen waren.


Sie fügte sich endlich meinem eindringlichen Abraten, und ich überzeugte mich, als ich ihr im Jahre 1863, nachdem ich im Jahr vorher in Meran meine junge Frau begraben hatte, auf ein paar Monate ihre beiden ältesten Enkel brachte, daß ihr Leben in der Tat nicht so verarmt und vereinsamt war, wie sie in sehnsüchtigem Ungenügen es darzustellen pflegte. Auch war es noch die alte geistige und leibliche Frische, all ihre Sinne standen ihr ungeschwächt zu Gebote, sie las ohne Brille, hörte den leisesten Ton, und der heitere Witz, mit dem sie jeden Besucher ergötzte, ließ niemand die Stunde für verloren halten, die er bei der alten »Mama Heyse« zugebracht hatte.


Erst im folgenden Jahre mehrten sich ihre körperlichen Beschwerden, eine nahe Lebensgefahr aber schien bei ihrer glücklichen Konstitution und der Unversehrtheit aller Organe nicht vorhanden. Dennoch wurde ich durch allerlei ängstliche Berichte alarmiert und war drauf und dran, im Herbst zu ihr zu reisen, um mich von ihrem Zustande mit eigenen Augen zu überzeugen. Sie selbst aber beruhigte mich wieder, und so fuhr ich am 20. Oktober nach Wien, um am Burgtheater der dritten Vorstellung meines »Hans Lange« beizuwohnen. Ich konnte ihr noch den glücklichen Erfolg telegraphieren und ahnte nicht, daß es die letzte Freude ihres Lebens sein sollte.


Wenige Tage nachher, als ich schon wieder bei den Meinigen in München war, rief mich ein Telegramm der Tante Marianne an ihr Sterbebett. Die Wassersucht, die langsam aufgetreten und oft wieder zurückgegangen war, hatte sich plötzlich edleren Teilen genähert, und der Arzt gab nur noch eine kurze Frist. Sie selbst, als ich um Mittag an ihr Bett trat, begrüßte mich mit ihrer alten Heiterkeit, ohne daß die Schatten des nahen Todes ihr Gemüt und ihren Geist schon verdunkelt hätten. Ich mußte mich zu ihr setzen, ihr von den Kindern und von der Wiener Aufführung erzählen, dann war ihre Hauptsorge, wie in früheren Tagen, was ich essen und wie ich nachts gebettet sein würde. Nur der etwas schwerere Atem ließ erkennen, daß schon vorgestern ein leiser Lungenschlag gedroht hatte sie hinzuraffen, und ihr liebevolles, großes Auge irrte unsicher umher. Aber ihre gute Laune verließ sie auch jetzt nicht. »Es geht noch nicht ans Sterben,« sagte sie; »kein ordentlicher Mensch stirbt.« Dann wieder: »Meine Mädchen sind treu, ich behalte sie auch beide. Wenn sie mich nur behalten! Aber das kann der liebe Gott ja wohl machen, es ist ja nur eine Kleinigkeit, wenn er sonst Lust dazu hat.« – Als ich ihr Wasser reichte, scherzte sie:


»Ein Schlückchen nur

Dem Troubadour!«


Dann sprach sie noch von Iffland, halb im Traum und ganz abgerissen: »Er war sehr häßlich, aber ein sehr guter Schauspieler. Ja, er lebte in Mannheim. Kinder, ich spreche wohl irre, oder habe ich noch meine gerade Sprache? Ja, und Beschort war auch kostbar!« Dann verstand sie nicht mehr klar, was ich sagte, ihr Auge wurde immer trüber, die Lampe schien ihr dunkel, sie wußte nicht mehr, ob wir bei ihr saßen, und lag ganz still. Die schwache Flamme ihres Bewußtseins erlosch unmerklich, nur der Atem ging noch stundenlang aus und ein, bis auch der am Morgen des 27. stillstand.


Ihre helle, heitere Seele war, wie sie sich's immer gewünscht hatte, heiter und ohne Kampf aus dem Leben geschieden.


Fußnoten


1 Dieser Onkel vor Allen, ein warmherziger Mann von großem Zuschnitt, ließ es sich angelegen sein, auch in den ernsteren Zweigen der Familie das Gefühl der Zusammengehörigkeit wach zu erhalten. Im Jahre 1842 berief er einen Familienkongreß aller Heyses mit y – die sich mit i schreiben, haben wir nie als Stammverwandte anerkannt – nach Magdeburg, wo damals noch die zweite Frau meines Großvaters lebte, eine ehemalige Lehrerin an der Töchterschule, die nach dem Tode ihres Gatten noch ein Mädchenpensionat hielt. Da kamen zweiunddreißig Heyses, verschiedene halbverschollene Vettern, Landpfarrer und Landschullehrer, auf des Onkels Kosten mit ihren Frauen herbei, ärmliche Leutchen, sehr unbeholfen und verlegen, sich plötzlich in einem so großen Verwandtenkreise zu finden. Sie tauten dann aber auf, als bei dem solennen Festmahl im ersten Gasthof der Stadt der Champagner schäumte, den sie früher kaum je zu kosten bekommen hatte, und der Festgeber in seiner gütigen Art freute sich, ihnen einmal einen sonnigen Tag verschafft zu haben. Derselbe Onkel hatte auch den Kindern aus seinen beiden Ehen – er hatte nach dem Tode der ersten Frau ihre Schwester geheiratet – die Namen seiner eigenen Geschwister gegeben.


2 In den »Kindern der Welt« habe ich dem kleinen Maler aus jenem Schenkengebäude seine Wohnung zurecht gemacht.


3 So mußte er zurückbleiben, als ich einmal eine Einladung nach Glienicke zu dem gleichaltrigen Prinzen Friedrich Karl erhielt. Jener Oberlehrer in der Quinta, dessen ich oben erwähnt habe – sein Name war Bogen, seine hohe, schlanke Gestalt und der blonde Kopf mit dem kurzgehaltenen krausen Haar stehen noch heute in hellen Zügen vor meiner Erinnerung – dieser ungemein lebhafte und anregende junge Mann gab dem Prinzen einige Privatstunden, ich weiß nicht in welchen Fächern, und da ich ein Musterschüler war und sich's vielleicht darum handelte, einen Sohn aus guter bürgerlicher Familie zum Schul- und Spielgefährten des Prinzen zu erwählen, hatte er die Einladung vermittelt. Ich entsinne mich nur dunkel, daß es mir in dem schöngelegenen königlichen Schlosse und Garten gar wohlgefiel, während es zwischen mir und meinem fürstlichen Kameraden zu keinem sonderlich traulichen Verhältnis kam. Der spätere schneidige Reitergeneral zeigte schon damals sein heftiges Temperament bei unseren Spielen. Es imponierte mir aber sehr, daß sein militärischer Gouverneur, als der Prinz einmal sich einer Weisung widersetzte, mit größter Strenge sich Gehorsam zu erzwingen wußte. Es blieb dann auch bei dieser ersten Einladung. Ich war aber ein wenig eitel darauf, die Kleidung, die für solche Besuche vorgeschrieben war, eine blaue Jacke mit Perlmutterknöpfen, auch an den folgenden gutbürgerlichen Sonntagen weiter tragen zu dürfen, und dieses harmlose Vergnügen durfte auch mein Bruder mit mir teilen.


4 Doch nicht so sehr, daß ich zum Militärdienst tauglich geworden wäre, was ich aufrichtig bedauert habe, da es mir von großem Wert gewesen wäre, auch in dieser so wichtigen Schule unsrer nationalen Erziehung eigene Erfahrungen zu sammeln. Mein Eintritt als Einjährig-Freiwilliger war immer wieder hinausgeschoben worden. Ehe ich als ein Vierundzwanzigjähriger in meinen neuen Wohnort nach München ging, hatte ich mich einer vorläufigen Prüfung durch einen Militärarzt unterzogen, der mir ein befreiendes Zeugnis ausstellte, da mein Brustumfang nicht genügte. »Treffliche Konstitution, aber verpimpelt!« Daraufhin hatte ich geheiratet und war nach München gezogen, da ich die letzte definitive Untersuchung nur für eine Formsache hielt. Im Herbst aber, als ich mich in Berlin der Kommission stellte, fand der Oberst, der den Vorsitz hatte, Wohlgefallen an meiner langen, schlanken Figur, die unter etwelchen verkümmerten Schneidergesellen sich vorteilhaft hervorhob. Er bestand darauf, gegen das Votum der anwesenden Ärzte, ich müsse »zur Probe« eintreten. Für den jungen Ehemann und königlich bayrischen »Günstling« keine erfreuliche Zumutung, von der mich dann König Max durch diplomatische Vermittlung erlöste.


5 Ob er an jenem Morgen sich herbeiließ, sich an den Flügel zu setzen, der oft unter den Händen der Hausfrau und ihres großen Buders erklungen war, ist mir nicht erinnerlich. Desto lebendiger steht ein Tag in meinem Gedächtnis, wo ich über ein Jahrzent später den hohen Genuß hatte, den wundersamen Künstler für mich allein spielen zu hören. Er war mit seiner Freundin, der Fürstin Wittgenstein, nach München gekommen, um dafür zu wirken, daß Richard Wagner der Maximiliansorden verliehen würde. Zu diesem Zweck lud die Fürstin die Mitglieder des Kapitels der Reihe nach zu Tisch in ihr Hotel, den Bayrischen Hof, und wendete all ihre Liebenswürdigkeit daran, jeden für den Meister der Zukunft günstig zu stimmen. Ich selbst hatte damals zu dem Orden noch keine Beziehung, doch als Mitglied der königlichen Tafelrunde konnte auch ich vielleicht im gewünschten Sinne gelegentlich ein Wort fallen lassen, und so wurde auch mir zuweilen die Ehre zuteil, zu diesen intimen Diners geladen zu werden, öfter sogar als die alten Herren, da die Tochter der Fürstin, die schöne Prinzessin Marie, sonst eines unterhaltenden Tischnachbars entbehrt hätte, wenn die Mutter sich nur ihrer diplomatischen Mission widmete. Bei den Gesprächen über das Musikdrama und seinen Schöpfer konnte es nicht fehlen, daß auch ich bescheiden zu Worte kam, wobei ich aus meinem Unvermögen, mich für den Sprechgesang und die neue Kunst überhaupt zu erwärmen, kein Hehl machte. Ich mußte versprechen, den Tannhäuser noch ein zweites Mal zu hören, und wurde beim Wiederbegegnen sofort examiniert, ob ich nun nicht bekehrt worden sei. Die große Virtuosität, einen dankbaren Stoff theatralisch wirksam zu machen, erkannte ich bereitwillig an, die Musik hatte mich lebhafter angezogen, als das erstemal. Nur mit dem Text konnte ich mich nicht einverstanden erklären. Die trivialen Sprüche der Dichter beim Sängerkampf schienen mir eines Wolframs und Walters unwürdig, wie auch an vielen anderen Stellen mein Ohr beleidigt wurde. Herr Wagner, sagt' ich ganz naiv heraus, sollte sich mit einem Poeten assoziieren, etwa von Peter Cornelius seine Texte revidieren lassen. – Wie diese Gotteslästerung auf die Hörer wirkte, die ihren Abgott auch für den größten Dichter aller Zeiten hielten und, da sie nicht deutscher Abstammung waren, nicht entfernt zu fühlen vermochten, wie ein deutscher Poet von dieser dilettantischen Dichtkunst befremdet werden mußte, kann man sich vorstellen. Die Fürstin insbesondere und ihre Tochter schienen mich ein für allemal als einen Barbaren zu betrachten und einfach aufzugeben. Liszt aber verleugnete seine große Liebenswürdigkeit auch jetzt nicht. Er setzte sich an das Klavier und spielte die Ouvertüre zum Tannhäuser mit so zauberhafter Kunst, daß ich hingerissen lauschte und hernach meine Ketzereien zwar nicht widerrief, aber versprach, von jetzt an mit redlichem Willen mich in diese und alle folgenden Schöpfungen des Meisters hineinzuhören. Daß der redlichste Wille ein angeborenes Widerstreben der Natur nicht zu überwinden vermag, habe ich freilich im Lauf der Zeit regelmäßig erfahren müssen, wenn ich ein neues Werk aus dieser Schule kennen lernte, bis ich endlich darauf verzichtete, noch einmal eine Umwandlung meines ästhetischen Sinns zu erleben. Was an der Musik dieser »Musikdramen« mit Ausnahme einiger herrlicher Stellen mir ungenießbar bleibt, mag auf Rechnung meiner mangelnden technischen Bildung kommen und meiner frühen warmen Bewunderung der Opern Glucks, Mozarts, Beethovens, Cherubinis, Boieldieus, Rossinis und einiger anderen alten Meister, die mich für das Verständnis der Leitmotive und der unendlichen Melodie verdorben haben. Die dichterischen und dramatischen Unzulänglichkeiten dieser in ihrer Art genialen Schöpfungen nachzuweisen, würde hier zu weit führen. Jedenfalls haben sie den enormen Welterfolg bis jetzt nicht beeinträchtigt.


6 Noch einige ihrer orginellen Worte mögen hier angeführt werden. Als Jemand sie zu etwas überreden wollte und sagte: Die Sache ist doch an und für sich recht angenehm – erwiderte sie: »Ja, aber nicht an und für mich!« ... Ein Bekannter fragte: Ist Herr N. denn ein Jude? – Sie: »Das will ich meinen! Jude mit Jude gefüttert.« ... »Die L.schen Kinder sehen aus, als ob ihre Mutter sie beim Trödler alt gekauft hätte.« ... »Der X. macht immer ein Gesicht, als ob er sich's übel nähme, daß er auf der Welt ist. Ich kann doch nichts dafür.« ... »Wenn R. lacht, sieht es aus, als ob er zu lachen eingenommen hätte.« ... »Ist das Konkordiatheater (ein neuerbautes Liebhabertheater) hübsch?« ... Nicht besonders; sehr eng und dunkel. – »Also recht passend für Liebhaber.« ... »Es täte mir sehr leid, wenn ich nächstens abrutschte. Ich habe mich sehr gern gehabt.« ... »Wenn man mir am jüngsten Tag nicht Equipage schickt, bleib' ich liegen.« ... Als man sie bei einem munteren Essen, wo viele Toaste ausgebracht wurden, aufforderte, auch eine Tischrede zu halten, sagte sie: »Nein, Kinder, meine Reden sind nicht so schwach, daß sie gehalten werden müßten.«

Jugenderinnerungen und Bekenntnisse

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