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I. KAPITEL

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STURMFENSTERS

NACHMITTAGS

GEDANKEN

Der Regen wollte nicht aufhören. Lautlos, in langen, gestrichelten Ketten fiel er zur Erde und sammelte seichte, plätschernde Pfützen in der Mitte der Fahrbahn. Mitunter machte er eine Pause und indessen trocknete der Wind weiße Flecken auf dem Pflaster der Gehsteige aus. Aber dann begann er von neuem. Der Kandidat der Philosophie Gaudentius Sturmfenster saß hinter einer der großen Glastafeln des Café Portugal und hatte eben sein Fruchteis ausgelöffelt. In seinem schlittern Kinnbart waren ein paar Brocken der Waffeln hängen geblieben, deren letzte Reste er jetzt zwischen den Fingern zerbrach. Seine wasserblauen Augen waren weit aufgerissen und starrten auf die Straße hinaus. Gegenüber war der Nordwestbahnhof. Die Droschkengäule vor dem Portal standen geduldig in der Nässe, und die roten Gesichter der Kutscher blickten vergnügt in das Wetter. Die Frauen, die draußen vorbeihasteten und mit dem Schirm das Gesicht verdeckten, rafften die Röcke und wichen behutsam den Kotlachen aus. Sturmfenster sah wohlgeformte Waden über feinen Knöcheln und sein Gesicht bekam allmählich einen merkwürdig gespannten Ausdruck. Er schüttelte eine Zigarette aus dem Papiersack, der vor ihm zwischen Zeitungen und Kuchenteilern auf dem Tische lag, und zündete sie umständlich an.

Es war seltsam, wie dieser Frühjahrsregen ihn erregte. Schon als Kind war er seinem warmen, einlullenden Zauber unterlegen. Er gedachte noch genau der Spiele, die er an solchen Tagen, wenn die Kinder wegen der Witterung nicht in den kleinen Garten hinter dem Hofe durften, in den Stiegengängen des Elternhauses mit den Nachbarsmädchen spielte. Eine verlegene Scheu hatte ihn überkommen, wenn sich ihnen im Eifer die kurzen Röckchen über die Knie schoben und darunter die kindliche Wäsche zum Vorschein kam. Sturmfenster schloß die Augen und ließ die Erinnerung an sich heran. Während der Schulzeit hatte er viel durch diese Dinge gelitten. Von dem Tage an, wo sein älterer Bruder den sechsjährigen Buben über die Verschiedenheit der Geschlechter belehrte, war es mit der Glückseligkeit vorbei. Die Welt, die ihm früher täglich bunte Bilder bot, nach denen er töricht haschte, war verwandelt. Männlein und Weiblein liefen jetzt darin herum und betrachteten einander mit sonderbaren Augen. Frühzeitig wurde in dem Kinde eine Bangnis lebendig, ein unruhiges Wünschen, das später Form und Richtung erhielt und ihn beinah erstickte. Die Not seiner Knabenzeit, die er in tötlicher Scham vor den anderen versteckte, mit der er ratlos in unendlicher Erschöpfung kämpfte, war grenzenlos. Es blieb ihm Unverstand lieh, wie seine Mitschüler untereinander ihre Gefühle sachlich erörtern konnten und mit welcher Leichtigkeit sie auch sonst damit umsprangen. In den Jahrgängen des Gymnasiums, in denen es in Mode kam, lief er mit den übrigen Kameraden nach Schluß des Unterrichtes den Mädchen nach, die das nahe Lyzeum besuchten. Im Winter war es schon finster, und einmal nahm er allen Mut zusammen und sprach in einer menschenleeren Seitengasse eine an, die ihm besonders gefiel, der das Blondhaar noch in Zöpfen über den Rücken hing und die bei der eiligen Flucht vor ihrem Verfolger ihre schönen, schlanken Beine zeigte. Er begleitete sie dann auch ein Stück Wegs bis in die Nähe ihres Hauses und sie sprachen einige mühsam erklügelte Sätze. Zum Abschied gaben sie einander nicht einmal die Hand. Da waren die anderen fürwahr doch bessere Kerle. Die lachten und schwatzten mit den Mädeln, daß es eine Lust war, und faßten sie auch manchmal recht tüchtig an und küßten sie, wenn gerade niemand dabei war. Die Mädchen hielten still und ließen sich's gefallen. Für Sturmfenster wäre das ein unirdisches Glück gewesen, das ihn schon aus der Ferne betäubte.

Als er Tertianer geworden war, hatte der Schuldiener des Gymnasiums ein siebzehnjähriges Ding als Dienstmädchen bei sich aufgenommen. Es war ein dunkelhäutiges, brünettes Geschöpf, das immer barfuß und zerzaust im Hause umherlief und nach der Schule auch die Klassenzimmer in Ordnung bringen mußte. Sie trug meist nur eine dünne, lose Bluse auf dem Leib und ihre Brüste hüpften unter dem Hemde. Die Schüler sahen sie alle mit heißen Blicken an und sie erwiderte mit einem Lächeln. Eines Nachmittags, während die Junisonne draußen in der Gasse lag und eine wollüstige Luft zu dem geöffneten Fenster hereinkam, erzählte während der Schulpause ein schöner, starker Bursch den nebensitzenden Buben, daß er das Mädchen besessen habe. Er sei nach dem Unterrichtsschluß noch eine Zeitlang im Klassenzimmer zurückgeblieben, um ein paar Anmerkungen niederzuschreiben. Da sei sie eingetreten, habe sich scherzend neben ihn auf die Bank gesetzt und ihren Körper an den seinen gelehnt. Und da habe er sie einfach genommen.

Sturmfenster war bei der Erzählung des Knaben das Blut in den Kopf gestiegen. In seinen Ohren brauste ein Wasserfall und er fühlte, wie sein Gesicht über und über flammte. Das also gab's! Unerhörte, ungeahnte Ereignisse, Küsse bis zum Grunde der Sehnsucht, Katastrophen des Glücks. Das gab es nicht bloß für die Erwachsenen, für Väter und Brüder. – Ein Schuljunge, der zu Hause genau so wie er die griechischen Vokabeln memorieren mußte, hatte das braune Mädchen besessen. Hundert Augen schielten in vergeblicher Begierde nach ihr, und ihm war sie zugefallen. Und jener, statt hingerissen, verzückt, angstvoll zu schweigen, sprach laut davon wie von einer Sache, die täglich und jedermann geschah. Der zitternde Knabe konnte es nicht begreifen.

Der Kandidat der Philosophie Gaudentius Sturmfenster erhob sich plötzlich. Was so ein Frühlingsregen doch für dumme Gedanken aufweckte! Was hatte er sich heute um diese Eseleien zu scheren, wo er dreißig Jahre alt und wo es höchste Zeit war, daß er mit dem Studieren zu Rande kam. Er legte die fünfzig Heller für die Zeche auf das Marmortischchen, nahm Hut und Mantel vom Haken und ging auf die Gasse.

Draußen sprühten ihm die lauen Tropfen wohlig ins Gesicht. Im Grunde genommen war er ja immer noch derselbe dumme Junge wie damals, der sich vor den Weibern ängstigte und sie nicht zu nehmen wußte. Die Jahre hatten ihn nicht verändert, nur der Bart war ihm gewachsen. Aber er hatte erkennen gelernt, daß seine Scheu aus der Tiefe der Empfindung kam. Die andern waren sorglose Gesellen, ihre Triebe im Seichten verankert. Aber die seinen gruben Wurzeln ins Innerste. Ein süßes Entsetzen erschütterte ihn, wenn er sich seine ersten Erlebnisse mit der Frau ins Gedächtnis rief. Da war er schon Student im ersten Universitätsjahre gewesen. Er erinnerte sich noch deutlich der bohrenden Qual und Verzweiflung, die vorhergegangen war. Grauenvoller Nächte, die er ohne Schlaf verbrachte, stumpfer Gewissenskümmernis, wenn die heimliche Sünde kam und ihn niederzwang. Lange hatte er sich gewehrt, es den übrigen gleichzutun. Von Sehnsucht zermürbt, wurde er hoffnungslos. Bis er dann endlich ein Ende machte wie die andern.

In seiner Seele stand der Tag wieder auf, grausträhnig, düster, erkältend. An den Häusern streift ein Schatten entlang, blickt rückwärts, steht, zögert. Bist du es, Sturmfenster, Sturmfenster? Die Straße ist eng, winkelig, und die Buben, die im Kehricht mit farbigen Fisolen spielen, lachen so häßlich hinter ihm drein. Irgendwo ist ein Fenster offen und ein Phonograph schreit ihm das Lied vom lieben Augustin, der alles verloren hat, in die Ohren. Das Stiegengewölbe ist schlecht beleuchtet und so niedrig, daß er nicht aufrecht darin gehen kann. Dann tut sich die Türe auf und er steht in dem Zimmer.

Dieses Zimmer, wirst du es jemals vergessen können? Es ist kein gewöhnliches Zimmer, wo Menschen wohnen, wo man ißt, trinkt, schläft. Es ist symbolistisch verdunkelt, ein Inventarstück der Ewigkeit, ein Traumzimmer aus des Lebens tieferer Bedeutung. Ein Bett steht an der Wand, neben dem Bilde des Kaisers Josef hängt ein Spiegel in verblichenem Goldrahmen. In einem verstaubten Papierfächer stecken Ansichtskarten und eine verwelkte Blume. Neben dem Fenster ist die Tapete aus der Mauer gerissen und auf dem Sessel darunter steht eine Schüssel mit dem Wasserkrug.

Das Weib ist groß, trägt den Kopf lachend im Nacken, hat gesunde Zähne und harte Brüste. Sie knöpft ihr Kleid auf, gleißt nackt in dem Traumzimmer.

Der Kandidat der Philosophie Gaudentius Sturmfenster blieb stehen, um Atem zu holen. Diese Erinnerungen erhitzten ihn. Da war bei Gott nur der verfluchte Regen schuld, bei dem man den Weibern auf die Strümpfe sehen mußte, ob man wollte oder nicht. Da, gerade vor ihm ging wieder so eine. Hoch, üppig, das Kleid mit einer lässigen Bewegung geschürzt, mit wundervollen Beinen. Sturmfenster holte sie ein und spähte in ihr Gesicht. Nun, ganz so schüchtern war er ja doch nicht mehr, wie damals, als er das Lyzeummädel aus der Schule begleitete. Er hatte sozusagen die Technik der Frechheit den jungen Leuten abgeguckt, mit denen er verkehrte, die darin die Meisterschaft besaßen. Dem Römerstern zum Beispiel, diesem Laffen, der ihm nicht das Wasser reichte. Woran lag es nur, daß dem alle nachliefen? Der war geschniegelt, leer, hundsschnautzig kalt. Und in ihm war Glut, Reichtum, Seligkeit. Nun hatte die Dame endlich bemerkt, daß er ihr nachging. Sie drehte ihm langsam ihre umrandeten Augen zu und maß ihn erstaunt mit den Blicken. Nun ja, schäbig genug sah er ja aus in seinem Wettermantel und dem großen, zerdrückten Hut. Aber sie hatte ihn ja fast zornig angeschaut! Ein breites, grobknochiges Gesicht mit enger Stirne und einem gemeinen Munde. Das war der Typ, den er eigentlich nicht mochte, der ihn aber sinnlich aufs äußerste reizte. Seiner gläubigen Inbrunst, die sich weich und verlangend dem Weiblichen entgegendrängte, stand er im Wege, aber er machte gefährliche Instinkte in ihm los, die er nicht bändigen konnte. Die Frau vor ihm machte jetzt eine Wendung und schritt quer über die Straße einem kleinen, pavillonähnlichen Häuschen zu.

Sturmfenster sperrte den Mund auf und starrte verblüfft auf die schmale, mit Reklamebildern verklebte Tür, die sie hinter sich zuzog. Da hörte doch Verschiedenes auf! Da lief man wie ein Verliebter hinter der Holden durch die Straßen und am Ende stand man da und konnte warten, bis sie ihre Notdurft verrichtet hatte. Deutlicher hätte sie ihm ihre Mißachtung gar nicht zu verstehen geben können. Er strich grimmig mit den Fingern den Kinnbart und wußte nicht recht, ob er verstimmt oder erheitert sein sollte.

Eine feigherzige Traurigkeit pochte bei ihm an und begehrte Einlaß. Sturmfenster war unschlüssig und unzufrieden. Er verstand nicht recht den geheimen Sinn der Zusammenhänge, die Großes mit Erbärmlichem, Starkes mit Dumpfem verknüpften. Ihm war auf einmal unendlich einsam zu Mute wie einem, der mutterseelenallein auf der Welt ist. Seine Kindheit, sein Leben war eine Fahrt zwischen Wünschen und winzigen Erfüllungen gewesen. Aber nein, er war nicht einer, der sich enttäuschen ließ! Das war gut für die andern, für die Halben und Kalten vom Schlage dieses Römerstern, die ja doch nur nach einem billigen Vorwand für ihre Blasiertheit suchten. Er glaubte. Nein, alle seine Not war nicht umsonst gewesen. Es gab mehr, als was die jungen Leute alle vom Baume der Liebe pflückten, mehr als er bisher erleben konnte. Ja, er war an das Irdische gefesselt. Sein Fleisch war ungebärdig und er mußte den Frauen nachgehen, wie der Hund hinter der Hündin. Aber er wußte, daß einmal das goldene Feuer kommen mußte, das heilige Feuer, aus dem die Schöpfung geschweißt war. Irgendwann würde er jählings davon geblendet werden, irgendwo, und begnadet sein. – – –

Gaudentius Sturmfenster stand und hatte die Hände ausgebreitet. Der Wind fuhr in seinen nassen Bart und schüttelte ihn. Von seinem Hute troff der Regen auf den Mantel. In dem kleinen Häuschen tat sich die Türe auf und die große Frau trat wieder auf die Straße. Eine ärgerliche Röte flog über ihr Gesicht, als sie den Kandidaten gegenüber erblickte. Aber dann lächelte sie entwaffnet und nickte ihm unmerklich zu. Sie faßte die Röcke, hob sie hoch, und Sturmfenster folgte ihren schönen Beinen willig im Zickzack bis in die Straße, wo Frau Bomba wohnte.

Hüter der Freude

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