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II

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Die Kollegen standen plaudernd vor den Türen, als Ove Jens Boye über den Korridor ging.

Die Unfreundlichkeit eines mürrischen Wochenbeginns lag in der Luft, die erfüllt war von staubiger Wärme. Durch die hohen Fenster zeichnete sich bleigrauer Himmel, unterbrochen von den schweren Konturen der Häuser, die den Blick begrenzten; drüben, jenseits des Hofes, starrten vier Etagenreihen vergitterter Fenster in den Morgen.

Ein paar Kollegen riefen Boye heran; sie erzählten Liebesabenteuer — die neuesten Witze aus dem Tivoli — Seglergeschichten vom Sund. Sie waren von gleichmütiger Frische, rosig und bedenkenlos. Dann kam Richter Lystrup vorbei; er winkte Boye vergnügt mit der Hand; man wußte nicht recht: war das Kollegialität oder verhohlener Spott.

Ove blieb ostentativ bei den Plaudernden stehen, obwohl es neun Uhr war.

Er kam mit einer kleinen Verspätung aufs Amtszimmer. Lystrup saß mit hochrotem Kopf über einem Aktenstück; als Boye eintrat, nickte er ihm eifrig zu.

„Es gibt eine interessante Vernehmung, Herr Assessor. Einen Fall… können Sie ermessen, was das bedeutet? Einen wirklichen und wahrhaftigen internationalen Fall!! Raten Sie einmal, wer in einer Minute hier vor uns stehen wird!“

Ove fühlte das würgende Klopfen seines Herzens. Er wußte nur zu gut — aber er vermochte nicht ein Wort herauszubringen.

Lystrop drückte den Knopf. Dann zog er den Taschenspiegel und glättete die Krawatte in der hohlen Hand.

„Helene Wassiliew“ sagte er; er sprach das Wort, als ob er einen Leckerbissen auf der Zunge zergehen ließe. „Helene Wassiliew… in einer Sache… in einer Sache, sage ich Ihnen… Hören Sie, Assessor: Sie müssen mir sekundieren. wir müssen einmal zeigen, was wir können. Ich ermächtige Sie, jede Frage zu stellen, die Ihnen einfällt. Verstehen Sie? Jede Frage, die Sie für förderlich halten. Für förderlich im Sinne der Untersuchung… Wenn es gelingt, sie zu überführen, Boye, wenn es uns gelingt, etwas Gravierendes aus ihr herauszubringen: dann bin ich in einem halben Jahr bei der Regierung. Und Sie amtieren hier an meiner Stelle.“

Auf der Treppe, die vom Hof heraufführte, hörte man Schritte, die näher kamen; Ove fühlte, wie der Schlag seines Herzens zu einem irren Rasen wurde.

„Und was…“ — er erschrak über seine eigene Stimme — „… und was… liegt gegen sie vor?“

Lystrup machte ein Gesicht, aus dem man tausend Dinge herauslesen konnte. „Soviel ich in der Geschwindigkeit aus den Akten ersehen kann, ist sie eine… eine…“

Es klopfte.

Auf Lystrups Herein ging die Türe auf; zwei Beamte meldeten: „Helene Wassiliew!“

Sie trat ein. Die Beamten zogen sich auf einen Wink des Richters zurück und schlossen die Tür hinter sich. Helene, bleich, die dunklen Augen von fiebrigem Glanz erfüllt, trat auf eine Handbewegung Lystrups an die Barriere. Sie war noch in Abendtoilette; offenbar hatte man ihr nicht die Zeit gelassen, sich umzukleiden. Völlig abwesend blickte sie durch die Dinge hindurch; sie gewahrte Boye nicht. Ja, es schien, als ob sie den Sinn ihres Aufenthalts in diesem Raum kaum begriffe.

„Wünschen Sie einen Dolmetscher?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Bitte nehmen Sie Platz.“

Helene blieb unbeweglich stehen, den Blick durch das Grau der Wand hindurch in unendliche Fernen gerichtet.

Lystrup schlug das Aktenstück auf; beim Rascheln des Papiers zuckte sie zusammen. Ove kannte diesen Trick Lystrups: die Nerven des zu Vernehmenden langsam und systematisch zu irritieren.

„Sie hatten gestern in Ihrer Garderobe im großen Zwischenakt Besuch?“

Helene antwortete nicht.

Lystrup wiederholte, ein wenig schärfer im Ton:

„Den Besuch eines Herrn.“

Er fixierte sie drohend. Von seinem Blick angezogen wandte sie ihm das Gesicht zu. Erstaunt sagte sie:

„Nun ja.“

Lystrup lächelte. „Dieser Herr hat Ihnen ein Bild gebracht. Stimmt das, Fräulein Wassiliew?“

„Gewiß.“

„Dieses Bild stellt Sie, Fräulein Wassiliew, dar. In Ihrer Rolle als Königin der Nacht — im Sternenmantel. Geben Sie dies zu?“

Indem sie verständnislos den Kopf schüttelte sagte sie:

„Warum sollte ich es nicht zugeben?“

In Lystrups Gesicht trat ein Ausdruck, den Boye nur zu gut kannte.

„Wollen Sie die Güte haben, uns zu sagen, wer der Herr war, der Ihnen das Bild gegeben hat?“

Helene, betroffen von Lystrups Ton, erwiderte leise:

„Ich habe den Herrn nie in meinem Leben gesehen. Soviel ich weiß, war es ein Maler, der nach einer kleinen Photographie von mir dies Bild gemalt und es mir zum Geschenk gemacht hat.“

Der Richter erhob sich. „Warum sagen Sie die Unwahrheit?“ rief er in lautem Ton, mit einer Stimme, in der aufrichtige Entrüstung zitterte; diesen Tonfall hielt Lystrup für solche Zwecke parat, in denen es galt, das Opfer zu überrumpeln.

Helene, weniger erschrocken als erstaunt, sagte mit abweisendem Gesicht:

„Ich wüßte keinen Grund, die Unwahrheit zu sagen. Der Herr hat sich mir unter einem Namen vorgestellt, den ich nicht verstanden habe.“

„Wirklich nicht?“ höhnte Lystrup; Boye stieg das Blut in die Wangen. Erst jetzt erkannte er, daß Helene jede Phase dieses Kampfes wie einen körperlichen Schmerz empfinden mochte; er sah es an dem Zucken ihrer Hände.

„Der Herr, der Ihnen dieses Bild gebracht hat, war der Chef der bolschewistischen Propaganda in Skandinavien.“

Helene blickte betroffen auf; sie sah stumm auf den Richter, der sie höhnisch betrachtete — und ihre Augen wanderten hilflos weiter. Sie blieb auf Ove haften — und ein jähes Erkennen trat in ihren Blick. Ihre Pupillen weiteten sich; er sah das Zittern, das durch ihren Körper lief.

Sie sah ihm unverwandt in die Augen; hilflos, ein Tier, das sich in einer heimtückischen Falle gefangen hat.

„Was haben Sie dazu zu sagen?“ herrschte Lystrup sie an.

Sie schrak zusammen. Aber sie vermochte nicht zu antworten.

„Wissen Sie, was dieses Bild enthielt?“

„Nein.“

„Sie nützen Ihrer Sache schlecht“, sagte Lystrup scharf, „wenn Sie beharrlich Unwahrheiten antworten. Aber wie Sie wollen. Hinter diesem Bilde — zwischen Leinwand und Holz, steckte ein Brief. Werden Sie wenigstens gestehen, daß Sie seinen Inhalt kennen?“

„Ich kann Ihnen nichts gestehen, Denn ich weiß nichts von einem Brief.“

„Kennen Sie die Gräfin Bunin in Paris?“

„Ja“, antwortete Helene mit offenkundigem Erstaunen.

„Diese Gräfin Bunin bewohnt ein Haus am Boulevard des Capucines?“

„Es mag sein.“

„Sie sagten eben, daß Sie sie kennen.“

„Ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Eine mir nahestehende Person kennt die Gräfin Bunin; ich selbst habe sie nie gesehen.“

„Der Brief, den man bei Ihnen — in jenem Bilde — gefunden hat, ist an diese Gräfin Bunin richtet. Es ist kein Zweifel, daß Sie die Mission hatten, ihn ihr zu übergeben.“

„Selbst wenn es so wäre, so könnte ich darin nichts Strafbares sehen.“

„Nichts Strafbares“, wiederholte Lystrup, ganz Hohn — „Nichts Strafbares, sagten Sie? Sie sind nach Kopenhagen gekommen, unter dem Vorwande eines Gastspiels, um einen Brief in Empfang zu nehmen und an seine Adresse zu befördern — einen Brief, der nicht mehr und nicht weniger enthält als den Invasionsplan einer bolschewistischen Armee. Und Sie haben die Dreistigkeit, mir zu erklären, Sie könnten darin nichts Strafbares erblicken?“

Helene machte eine ungeduldige Bewegung.

„Ich habe Ihnen bereits erklärt, daß ich von diesem Brief nichts weiß.“

„Hm“ machte Lystrup und lehnte sich behaglich zurück. Er ließ seine Augen mit einem zärtlichabschätzenden Blick über ihre Gestalt gleiten — so, als ob er ein seltenes und kostbares Tier im Käfig betrachte. Dann sagte er in einem fast liebevollen Ton:

„Mein liebes Fräulein Wassiliew, ich hatte Sie, wie ich Ihnen ehrlich bekennen will, höher eingeschätzt: es ist die typische Taktik aller Schuldigen, nur das zuzugeben, was man ihnen nachweist, und alles zu leugnen, was nicht beweisbar ist. Wenn ich noch Zweifel an Ihrer Schuld gehabt haben sollte, so sind Sie selbst im Begriff, diese letzten Zweifel zu zerstören. Ich glaube, Sie begehen den grundsätzlichen Irrtum, mich für Ihren Feind zu halten. Ich bin aber nicht Ihr Feind, Fräulein Wassiliew — ich will Ihnen sogar bekennen, daß ich zu Ihren Gunsten voreingenommen bin. Ich habe Sie gestern Abend im Theater gehört, ich habe eine Probe Ihrer großen Kunst empfangen, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß derartige Imponderabilien oftmals einen Kontakt schaffen, der enger sein kann als persönliche Bekanntschaft. Ich muß Ihnen weiter sagen, daß es mir leid tut, gerade Ihnen als Richter gegenüberzustehen — ich hatte Ihnen und mir etwas Besseres gewünscht.“

Ove saß mit geballten Fäusten hinter seinem Protokoll; bei den Worten des Richters mußte er an eine Szene denken, die er einmal im Walde von Klampenborg beobachtet hatte: eine Spinne, eine große entsetzliche Kreuzspinne kroch mit behaglicher Langsamkeit auf eine kleine, muntere, farbenfrohe Libelle zu, die sich in ihrem Netz gefangen hatte. Bei jeder Bewegung, die die Spinne auf sie zu machte, zappelte die Libelle entsetzt mit ihrem ganzen Körper; aber jedes Zappeln verstrickte sie fester in die raffiniert gelegten Fäden. Er wußte, daß jedes Wort des Richters Lüge war, daß Lystrup nur einen einzigen Wunsch hatte, Helene zu überführen, um Karriere zu machen. Das war nicht mehr die Taktik eines Richters, nicht die Strategie eines Wahrheitssuchers; das war Inquisition — sadistisches Raffinement. Er wandte sich zu Lystrup herum; der beachtete ihn nicht.

„Sehen Sie, Fräulein Wassiliew: es gibt eine innere Wahrscheinlichkeit der Dinge. Das werden auch Sie als Laiin verstehen. Der Besucher wußte zweifellos, als er Ihnen das Bild gab, daß Sie es in die Hände der Gräfin Bunin weitergeben würden. Oder vielmehr: die Botschaft, die es enthielt. Die Gräfin Bunin ist uns bekannt als eine gefährliche politische Agentin: sie ist die Leiterin der Pariser bolschewistischen Zentrale für ganz Europa. Und Sie, Fräulein Wassiliew, sind ihre Komplizin!“

„Das ist nicht wahr!“ schrie Helene auf.

„Doch. Es ist wahr. Sie hätten — wenn unsere Beamten den Brief nicht entdeckt und dadurch seine Beförderung verhindert hätten — unser Land in eine furchtbare politische Verwicklung, vielleicht in einen blutigen Umsturz hineingehetzt; Sie wußten, daß die geographische Lage unseres Landes es zu besonderer Vorsicht zwingt. Dieses Land ist das Geburtsland Ihrer Mutter — das läßt Ihre Tat noch verabscheuungswürdiger erscheinen, Fräulein Wassiliew!“

Helene schöpfte ein paarmal tief Atem; dann sagte sie leise, mit geschlossenen Augen:

„Ich hatte keine Ordre, das Bild an die Gräfin Bunin weiterzugeben. Nicht einmal ihre Adresse ist mir bekannt, ich sagte es Ihnen schon. Lediglich ihren Namen kenne ich.“

Lystrup nickte. „Aus Ihren Worten höre ich heraus: Sie hatten den Brief zwar nicht an die Gräfin Bunin, wohl aber an eine andere zwischen Ihnen und der Gräfin Bunin stehende Person abzugeben. Ist es so?“

Helene zuckte die Achseln.

„Es freut mich, daß Sie nicht mit Nein antworten. Sie geben damit wenigstens das eine zu: daß Ihnen die Existenz des Briefes bekannt war. Damit wären wir immerhin einen kleinen Schritt weitergekommen, Fräulein Wassiliew.“

Helene machte eine verzweifelte Bewegung; wieder glitt ihr Blick zu Boye hinüber, der mit trostlosen Augen vor sich niedersah.

„Würden Sie jetzt noch die Güte haben, uns zu sagen, wer die Person ist, der Sie den Brief zu übergeben hatten?“

„Nein!“ sagte Helene kurz und scharf.

„Wirklich nicht?“ Lystrup verzog den Mund zu einer Grimasse. „Nun, es ist nicht so besonders wichtig; wir kennen den Adressaten ohnehin.“

Ove sah, daß Helene wankte. Er wollte sich erheben, um ihr beizustehen; aber schon stützte sie sich mit zitternden Händen auf die Barriere. Die beiden Männer hefteten ihre Augen schweigend, in atemloser Erwartung, auf die vor ihnen Stehende, die in sich zusammenzusinken schien. Sie beugte sich kraftlos über die Barriere. Ihr blasses Gesicht zuckte und ihr flackernder Blick irrte hinüber in die Augen des Richters, der sie unverwandt betrachtete.

„Mein Herr,“ stammelte sie keuchend — „ich bin in eine Situation geraten, die mich völlig verwirrt. Jeder Schritt, den ich tue, jedes Wort, das ich spreche, bringt mir neues Unheil — ich wage nicht mehr zu sprechen, ich wage kaum zu atmen — die Luft dieses entsetzlichen Hauses ist erfüllt von feindseligen und furchtbaren Dingen. Ich bitte, glauben Sie mir: ich bin völlig unschuldig — man hat mir eine Falle gestellt… man hat mich nach einem bestimmten Plan ins Verderben gelockt.“

Lystrup räusperte sich. „Wer sollte daran ein Interesse haben, Fräulein Wassiliew? Wer könnte Sie ins Verderben locken wollen? Und zu welchem Zweck?“

Sie zuckte trostlos die Achseln. „Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Feind. Ich begreife das alles nicht — aber eine andere Erklärung gibt es nicht. Alles muß sich aufklären. Ich flehe Sie an, mein Herr: lassen Sie mich frei… lassen Sie mich frei, Herr Richter!“ Während sie Lystrup ins Gesicht sah, erkannte sie das lächelnde Glimmen in seinen Augen, das ein Nein bedeutete. „Ich bin bereit, eine Kaution zu stellen, ich bin wohlhabend; ich bin bereit, mich zu verpflichten, zurückzukehren, wenn Sie mich rufen; zum Prozeß, zum Termin, zur Verhandlung — ich weiß nicht, wie Sie diese Dinge nennen — aber jetzt, in dieser Stunde noch, muß ich frei sein. Es ist nicht meinetwegen — es gilt, Tausende von Menschen zu retten: vor dem sicheren Tode. Lassen Sie mich frei, mein Herr! Oder Tausende von Menschen müssen sterben!“

In Lystrups Züge trat jener Ausdruck, auf den Boye mit bebender Angst gewartet hatte: das Lächeln des Jägers, der sein Wild in der Falle sieht. „Das ist ja sehr interessant“, sagte er mit seiner zärtlichen Stimme, die erfüllt war von Hohn und Triumph. „Das ist ja außerordentlich interessant, meine Gnädigste. Sie gestehen also, daß weit mehr hinter Ihnen steckt, als wir vermutet hatten. Weit mehr und weit Gefährlicheres.“ Und dann, mit blitzschnellem Instinkt auf einmal seine Taktik wechselnd, richtete er sich auf und lächelte. Ein gütiges, offenes, freundliches Lächeln, das ihm — auch das wußte Boye aus Erfahrung — beliebig zu Gebote stand. „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Fräulein Wassiliew. Sie sehen, ich habe bisher keine Zeile von Ihrer… Verneh… von unserer Unterhaltung protokollieren lassen. Mir liegt daran, Ihnen zu beweisen, daß ich nicht Ihr Feind bin; ja, ich möchte Sie endgültig überzeugen, daß ich selbst den Wunsch habe, Sie in Freiheit zu setzen. Betrachten Sie das, was wir jetzt sprechen, als privat.“ Er drehte den Kopf herum zu Boye, als ob er gleichzeitig an die Diskretion des Mithörers appelliere. „Sagen Sie mir —“ er dämpfte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern — „sagen Sie mir, wer die Menschen sind, von denen Sie sprechen: diese Tausende, die sterben müssen, wenn Sie nicht in Freiheit kommen — sagen Sie mir, um was es sich handelt. Streng privat, ich wiederhole es. Ich werde dann alles tun, was in Ihrem Interesse liegt — wenn ich es erreichen kann, will ich dafür plädieren, daß Sie auf der Stelle in Freiheit gesetzt werden.“

Ove schob den Stuhl zurück, daß er krachend gegen die Wand prallte, und sprang auf. Kreidebleichen Gesichts herrschte er Lystrup an: „Herr Richter…“

„Was wünschen Sie?“ donnerte Lystrup.

„Das ist… das ist kein Verhör mehr… das ist Inquisition!“

Helene machte eine fast beschwichtigende Handbewegung. Der Richter, rot vor Zorn, war gleichfalls aufgesprungen.

„Es scheint mir angebrachter, wenn ich Sie an Ihre Pflichten erinnere, Herr Assessor! Im übrigen sprechen wir uns noch!“

Er schien mühsam nach Luft zu schnappen; dann ging er zur Tür, riß sie auf und sagte mit harter Stimme:

„Die Vernehmung ist beendet.“

Die beiden Männer blieben allein; der Richter zog nervös das Etui. Er nahm eine Zigarette, zündete sie an und trat schweigend ans Fenster.

Plötzlich wandte er sich um.

„Herr Assessor Boye — ich denke zu hoch von Ihnen, um Ihnen dieses kleine Intermezzo ernstlich nachzutragen. Unser Beruf erfordert Nerven, Herr Assessor; er verlangt eine Härte von uns, die wir uns selbst erst, contre coeur, anerziehen müssen. Das weiß niemand so genau wie ich; glauben Sie es mir. Meinen Sie, ich hätte nicht darunter gelitten wie Sie? Sie sind noch in jenem Stadium, da man Vertrauen zu den Menschen hat; in Ihrem Alter bildet man sich ein, die menschliche Gesellschaft sei auf Liebe und Freundschaft gegründet. In zehn Jahren werden Sie begriffen haben, Herr Assessor, daß dies ein fundamentaler Irrtum war. Feindschaft und Haß sind die Wurzeln aller Lebensgemeinschaft. Der Landgerichtspräsident erwartet mich zu einem Bericht über die Sache Wassiliew; Sie erledigen wohl die paar Bagatellsachen. Auf Wiedersehen!“

Er winkte Boye mit der Hand und ging aus dem Zimmer.

In dem kleinen Restaurant, in dem Ove mit Kollegen das Mittagessen einnahm, sprach man von nichts anderem als von der Sache Wassiliew. Ove ließ die andern reden; zu seinem Erstaunen erkannte er, daß alle ohne Ausnahme gegen die verdächtige Ausländerin eingenommen waren. Nieman sprach von ihrer Kunst, niemand von ihrer Schönheit; jeder sah nur den Kriminalfall, nur das Wild, das man hetzen müsse; daß es eine Frau war, erhöhte wohl im geheimen noch den Reiz dieser Jagd, bei der alle Chancen auf seiten des Jägers waren. Deutlicher als je spürte Ove den Haß gegen die Kollegenschaft — und die Kluft, die ihn von jenen trennte; nie hatte er den Abscheu vor seinem Beruf so unerträglich schwer empfunden wie heute. Dann ging er in die kleine Konditorei, in der er sich, ohne daß eine eigentliche Verabredung bestand, mit Ebba zu treffen pflegte. Sie brachte heute eine Freundin mit: die junge Dame aus der Lausanner Pension, mit der sie sich gestern im Theater begrüßt hatte. Ebba scherzte mit der Freundin, sprach von tausend Dingen, die ihn nicht betrafen, von denen er nichts wußte; deutlich fühlte er die wachsende Entfremdung. Er erzählte von der Sache Wassiliew; Ebba wußte schon davon; auch hier hörte er die Freude darüber, daß man eine gefährliche Verbrecherin zur Strecke gebracht hatte.

Gegen Abend wurde Helene Wassiliew zur zweiten Vernehmung hereingeführt. Lystrup hatte seine Taktik geändert; er versuchte Helene einzuschüchtern. Sie starrte mit verzweifelten Augen ins Leere und antwortete auf keine seiner Fragen.

Plötzlich klingelte das Telephon. Lystrup nahm den Hörer ab und führte ein kurzes Gespräch; dann erhob er sich. „Sie müssen die Vernehmung weiterführen, Herr Kollege“, wandte er sich an Ove; „der Präsident bittet mich zu einer Besprechung.“ Er gab Boye ein Zeichen; auf dem Korridor sagte er leise: „Also versuchen Sie Ihr Heil. Wenn Sie mir Material beschaffen, das zu einer Verurteilung ausreicht, verspreche ich Ihnen eine Auszeichnung.“

Ove ging ins Zimmer zurück; während er die Tür hinter sich schloß, fühlte er die lähmende Schwere, die von seinem Körper Besitz nahm. Helene Wassiliew stand in dem nüchternen Raum, die Augen auf ihn geheftet, stumm, bleich und von rührender Hilflosigkeit. Und er, der vor vierundzwanzig Stunden glücklich gewesen wäre, einen Blick von ihr zu erhaschen, ein Wort von ihr zu empfangen — er war ausersehen, sie zu vernichten. Er deutete stumm auf den Stuhl, der vor der Barriere stand; wieder blieb sie stehen. Eben wollte er die Barrierentür zu ihrer Rechten öffnen, da hörte er ihr trostloses Schluchzen. Betroffen blieb er stehen; sie ging einen Schritt auf ihn zu, faßte seine Hände und stammelte mit flehender Stimme:

„Retten Sie mich!“

Er schüttelte hilflos den Kopf, stumm, unfähig, das Nein auszusprechen.

Sie hob den Blick und sah ihm ins Gesicht — er mußte an die Mimi von gestern denken — an ihre Stimme — an den Ausdruck ihrer Augen.

„Ich bin verloren, wenn Sie nein sagen! Nicht nur ich: alle sind verloren.“

Die Gedanken kreisten ihm durchs Hirn in unfaßbaren Wirbeln. Er hörte den Klang ihrer Stimme, doch er begriff die Worte nicht; Melodien schienen den Raum zu erfüllen, das Nokturno von Tschaikowsky schien wie aus zweiter Ferne hereinzuschweben. Nein: es war nicht das Nokturno, deutlich erkannte er die Suite von Lully. Alles war plötzlich wie in dieser Nacht: Duft und Klang und Rausch. Es schoß ihm durch den Kopf: ist dies vielleicht der Weg ins Leben, auf den du gewartet hast alle diese Zeit? Aber, seltsam genug, im gleichen Augenblick drängte sich das Nein dazwischen, ernüchternd, klärend; die Schranken der Bürgerlichkeit waren stärker.

„Glauben Sie mir,“ flüsterte Helene keuchend — „es ist nicht Furcht, wenn ich um meine Freiheit bitte; es ist auch nicht einmal ein Gedanke an mich dabei; ich muß in Freiheit sein — Glauben Sie es mir: es handelt sich um Menschenleben… Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: alle müssen sterben, wenn ich nicht eilen kann, sie zu retten. Sie sind verloren, wenn ich nicht…“ Sie hielt mitten im Wort inne und umklammerte seinen Arm.

„Sprechen Sie von den Verschwörern?“

Sie schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich weiß nichts von dieser Angelegenheit — ohne mein Wissen hat man mich als Botin benutzt. Es ist etwas ganz anderes.“

„Sie müssen mir alles sagen“, murmelte er.

Eine Pause entstand; er blickte an ihr vorüber; das Zimmer war erfüllt von schweren und gefahrvollen Gedanken; sie krochen aus dem Dunkel empor wie Phantome, die drohend ihre Arme nach diesen beiden Menschen ausstreckten.

„In dieser Nacht,“ sagte sie mit heiserer Stimme, „… ich weiß nicht, ob Sie sich entsinnen… in dieser Nacht wurde von der Mongolei gesprochen.“

Er nickte.

„Jemand erzählte von den Krankheitsfällen.“

„Schlafkrankheit“, sagte er bestätigend.

„Nun, mein Herr — um diese handelt es sich. Um diese Menschen.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

Sie brach in hilfloses Weinen aus. „Ich kann Ihnen nicht mehr sagen“, schluchzte sie. „Ich würde andere, die mir nahestehen, ins Unglück bringen; glauben Sie mir doch: jedes Wort, das ich spreche, ist bittere Wahrheit.“

Er zuckte die Achseln.

Sie blickte angstvoll zur Tür, lauschend, sobald ein Schritt sich näherte; dann, ihre letzten Kräfte zusammennehmend, stammelte sie, von Furcht geschüttelt:

„Ich schwöre Ihnen: in dem Augenblick, da ich das Unglück verhütet habe — in diesem Augenblick will ich freiwillig mit Ihnen in dieses Haus zurückkehren. Mich Ihren Richtern stellen — mich den Gesetzen Ihres Landes unterwerfen…“

Boye stand regungslos — vor einer jener großen Lebensfragen, die auch den Besonnensten unschlüssig sehen. Da er noch zögerte, drängte sie sich an ihn. „Fliehen Sie mit mir!…“

Aus dem glitzernden Schwarz ihres Paillettekleides wuchs das matte Weiß ihrer Schultern. Die Berührung entflammte seine Sinne. Er glaubte die Wärme ihres Blutes zu spüren — heiß floß der singende Strom auf ihn über, trieb sein Blut zu gleichem Rhythmus, zu gleichem Rasen; er fühlte sich eins mit ihr in diesem Augenblick; erfüllt von ihren Gedanken, vom heißen Schlage ihres Herzens. Und während Wille und Wunsch in ihm kämpften, sah er die Dinge an sich vorüberrasen, alle die Dinge, die ihn schreckten und peinigten: sein trostloses Leben — eine sonnenlose Ehe — eine lebenslängliche Abhängigkeit — hier aber stand das Leben — die Schönheit — die Kunst — die große Welt — die Freiheit — die Liebe. Er fühlte sich versinken in tiefen Wassern — nichts war mehr wirklich — es gab keine Entschlüsse mehr, keine Kraft — nur Fühlen und Wünschen; alles war Traum, die Wirklichkeit war robuster Abklatsch. Er fühlte die fremde Macht, die Besitz ergriffen hatte von ihm, von seinem Leben, von seiner Zukunft, die stärker war als er, als alles andere; die alle Hemmungen zerriß.

Sie nahm seine Hand; mechanisch, fast ohne es zu wissen, öffnete er die Tür.

Die Straße lag im Dämmer des sinkenden Tages. Bläuliche Schatten waren über den Häusern. Schon blinkten die Lichter; der warme Dunst des Sommerabends hüllte die Straße in einen schmeichelnden Schleier. Die beiden gingen langsam, in betonter Sorglosigkeit, über den Damm. Niemand achtete ihrer, so schien es; aber die Gefahr wuchs von Minute zu Minute. In dem Augenblick, da Lystrup zurückkehrte, war alles entdeckt — und alles verloren.

Helene rief ein Auto an: „Zum Hotel d’Angleterre!“

Ove schüttelte den Kopf. „Sie dürfen nicht ins Hotel fahren — man wird Sie zuerst im d’Angleterre suchen; Sie und mich.“

„Ich muß ein Reisekleid holen.“

„Sie setzen alles aufs Spiel, Sie dürfen nicht ins Hotel zurückkehren.“

Sie drückte auf den Ball. „Wissen Sie ein Modehaus?“

Er nahm den Sprechschlauch. „Zum Magasin du Nord!“

Das Auto bog zur Linken ein und fuhr die Borgergade hinunter. Er zog die Brieftasche; doch sie lächelte und machte eine kleine abwehrende Handbewegung. „Ich habe Geld bei mir.“

Der Wagen hielt. Er wollte mit ihr aussteigen. Aber dann kamen sie überein, daß es besser sei, wenn sie allein hineinginge; wenn man nach ihnen fahndete, so würde alles bestimmt nach einem Paar suchen.

Sie ging hinein; in der Tür wandte sie sich noch einmal um und grüßte lächelnd zurück.

Ove blieb im Wagen; er lehnte sich seitlich in den Rücksitz, unmittelbar hinter dem Fenster; so konnte er alles beobachten, ohne daß man ihn bemerkte. Der Menschenstrom des Kongens Nytorv erfüllte den strahlenden Sommerabend. Musik lag in der Luft, Lachen schwirrte, der Seewind trug erregenden Duft in die Stadt. Aber alles dies zog an ihm vorüber wie Dinge einer fremden und fernen Welt, mit der er nichts gemein hatte: so wie die Szenen auf der Bühne am Zuschauer vorübergleiten. Dies eine hämmerte im Takt seines Blutes durch seine Gedanken: er hatte sich außerhalb der Gemeinschaft der Menschen gestellt. Er hatte sich zu denen gesellt, die auf der anderen Seite standen: jenseits der großen Linie, die den Bürger scheidet vom Gehetzten. Aber während er dies dachte, stieg ein warmes und tröstliches Gefühl in ihm auf. War es nicht der köstlichste Tausch, den ein Mensch sich wünschen konnte? Er hatte mit der Vergangenheit gebrochen, gewiß; aber es war eine Vergangenheit von grauer Monotonie, die er aufgegeben hatte, und was vor ihm lag, war die weite, lachende, sonnige Welt. Er hatte Ebba verloren — aber hatte er nicht von Tag zu Tag deutlicher gespürt, daß sein Verlöbnis der Katastrophe zutrieb? Daß das Ende, das gewaltsame, schmerzvolle Ende unvermeidbar war? Die Frau, die an Ebbas Stelle getreten war — war sie nicht ein herrlicher, beneidenswerter Gewinn?

Unablässig gingen die Türen des großen Kaufhauses. Viele Menschen strömten hinein, viele kamen heraus; Helene war nicht unter ihnen.

Eine leise Unruhe überkam ihn. Aber er wußte, daß es die Nerven waren; sie hielten dem rasenden Lauf der Dinge wohl nicht mehr stand.

Wie wohl das Leben aussehen würde an Helenes Seite? Er würde mit ihr nach Paris fahren. Das war das Einfachste und Selbstverständlichste. Und dann? Nun ja: sie würde seine Geliebte werden, vielleicht seine Frau; er würde in Paris irgendeine Stellung annehmen, sprach er doch fertig französisch; inzwischen konnte er sich nach den Möglichkeiten einer künstlerischen Karriere umsehen.

Er beugte sich vor und lugte durchs Fenster. Helene kam nicht.

Sie hatte ihm versprochen: dorthin zurückzukehren — woher sie mit ihm gekommen war. Das war keine Redensart gewesen — Helene war nicht von dieser Art, so weit kannte er sie schon. Nun wohl, er würde sie beim Wort nehmen. Sie hatte von einer geheimnisvollen Mission gesprochen — eines Tages also würde er mit ihr in diese Stadt zurückkehren, würde vor die Richter treten und alles erklären. War nicht eine Helene Wassiliew einer solchen Tat wert? Einer solchen Sühne?

Er riß nervös das Wagenfenster herunter.

Von Helene war nichts zu sehen.

Von plötzlicher Unruhe erfaßt, öffnete er den Schlag des Wagens und ging hastig ins Haus hinein. Er wußte, daß seine Besorgnisse sinnlos waren; aber seine Nerven verlangten gebieterisch nach Beruhigung. Er mußte sich vergewissern.

Dort war das Atelier. Ein paar Mannequins führten Pariser Moden vor. Er fragte nach Helene; die Direktrice lächelte und zuckte die Achseln. Er beschrieb sie.

„Ja, mein Herr“, gab eine Verkäuferin Auskunft. „Diese Dame habe ich selbst bedient.‘

„Wo ist sie?“

„Sie fragte nach dem zweiten Ausgang. Dann bat sie mich, ein Auto zu bestellen. Ich selbst habe sie hinuntergeleitet.“

„Sie ist also abgefahren?“

„Gewiß, mein Herr. Schon vor zehn Minuten.“

Mit taumelnden Schritten ging er zur Treppe. Er streifte unsanft ein paar Frauen, die eben den Fahrstuhl verließen; geistesabwesend murmelte er sinnlose Worte der Entschuldigung. Wankend, mit den ziellosen Schritten eines Berauschten ging er die Treppe hinunter. Es war ihm nicht möglich, den Sinn der Dinge zu begreifen; nur dies eine fühlte er: daß in diesem Moment alles zusammenbrach. Die Dinge um ihn herum, der Tag, die Stadt, alles war sinnlos, von einer irren Belanglosigkeit, die über allem lag wie eine unbegreifliche Drohung, der nichts entrinnen konnte. Irgendwo aus den oberen Räumen kam Musik. Er emfand sie wie eine freche Verhöhnung, die ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Wie unerträglich die Luft in diesem Hause war! In den schrägen Sonnenstrahlen tanzte der aufgewirbelte Staub; er erfüllte alles. Ja, alles war Staub von Aufgang bis Niedergang. Das bißchen Leben, das dazwischen lag, zählte nicht. Ein Windstoß, in einen Schutthaufen gefahren, ließ ihn aufwirbeln in ein paar lächerlichen Zuckungen; aber wenn der Abend kam, wenn die Stürme schlafen gingen, war alles vorbei, und Staub war wieder Staub geworden.

Jemand riß eine Tür auf. Er tat einen tiefen Atemzug und trat, sich gewaltsam zusammenraffend, in den funkelnden Sommerabend hinaus, der erfüllt war von Menschen, von Duft und von Lachen.

Ein paar Schritte tappte er vorwärts. Doch er fühlte: seine Nerven ließen ihn so völlig im Stich, daß es zu einer Katastrophe kommen mußte. Längst mußte sein Verbrechen offenbar geworden sein; es war sicher, daß man ihn bereits verfolgte. Jemand blickte ihn an. Er zuckte zusammen; aber es war nur ein flüchtiger Bekannter, der ihn vorwundert grüßte und sich nach ihm umsah. War das wirklich nur Verwunderung über sein Benehmen? Oder wußte man schon? Hier auf dem „Strög“ pflegte Richter Lystrup allabendlich um diese Zeit zu promenieren. Wenn er ihm begegnete, war er verloren. Er bog, fast mit einem Ruck, seitwärts ein: in die Ny Adelgade.

Hier war es ruhiger. Er konnte seinen Gedanken nachhängen. Aber das war schmerzlicher noch als jene Furcht vor dem Ungewissen.

Er hatte sich wie ein blinder Narr von einer Abenteurerin dupieren lassen. Als gute Menschenkennerin hatte sie — das gehörte wohl zu ihrem Metier — erkannt, wes Geistes Kind er war: seine Sehnsucht hatte sie erkannt und seine Schwächen und klug, mit eisiger Klugheit, auf sie spekuliert. Was galt es ihr, daß sie das Leben eines Menschen vernichtet hatte?

Zwei Herren kamen ihm entgegen, die er zu kennen glaubte. Er bog fast instinktiv über den Fahrdamm. So völlig hatter er sich schon seiner neuen Lage angepaßt — wie schnell man umlernte!—Jeder Rückweg war abgeschnitten, darüber war kein Zweifel. Nun war er ein Objekt der Justizmaschine geworden — eine Nummer in der Liste der Steckbriefe. Und das Leben ging weiter seinen Gang, als ob nichts geschehen wäre — lachend schritt es über ihn hinweg. So haardünn war die Grenze zwischen Oben und Unten, zwischen Ehrenmann und Verbrecher: man übersprang sie in einem Moment, da man nicht wußte, was man tat — in einem kleinen Augenblick des Rausches — und auf einmal, ohne jeden Übergang, gewahrte man: daß es kein Zurück mehr gab.

So irrte er durch die Straßen, durch Gegenden, die er kaum kannte. Ob sie wohl schon auf sein Nachhausekommen warteten? Überflüssige Frage! Seltsam: wie von dieser anderen Seite, auf der er jetzt stand, alle Dinge so völlig anders aussahen! Eine sichere, behagliche Existenz hatter er in frevelhaftem Übermut von sich geworfen. Einen Beruf, der Scharfsinn und Tüchtigkeit erforderte. Ein Leben an der Seite einer jungen schönen Frau, in Reichtum und Luxus, war ihm wie eine unerträgliche Fessel erschienen. Konnte er nicht Ebba, sobald sie dem Einfluß ihres Vaters entzogen war, aus puritanischer Erziehung langsam zur Lebensfreude führen? Und Gamberg? Eines Tages würde er sich zur Ruhe setzen — das bedeutete für den Schwiegersohn volle Freiheit des Handelns, Herrschaft über ein großes Vermögen! Zitternde Kälte stieg in ihm empor, erfüllte ihn langsam wie das Gefühl einer übermächtigen Scham, die alles andere verdrängte.

Die Reue, diese stumme, würgende, tränenlose Reue wuchs. Während er mit bebenden Gliedern, zerschlagen, übermüdet dem Morgen entgegenwanderte, überkam ihn allmählich grenzenlose Gleichgültigkeit. Er mußte begreifen, was er getan hatte, er hatte eine Nacht lang Zeit dazu gehabt. Nun hörte die Selbsttäuschung auf. Alle Dinge wurden mit ihrem Maß gemessen; er mußte einstehen für das, was er verbrochen hatte. Zu Hause wartete man auf ihn, das war sicher. Er wollte heimgehen, sich den Häschern zu ergeben.

Schüchterne Morgensonne lag über der Straße. Alles war wie sonst: die Jalousien waren geschlossen, schnurgerade, im ganzen Hause, hinter allen Fenstern. So war das Haus zur Rechten, so war das Haus zur Linken. Die Fassade blinkte von Sauberkeit. Man sah: in diesen festgefügten Häusern wohnte behagliches Bürgertum, das sich seiner Arbeit und seiner Muße freute, bewußt seines Wertes, von einer freundlichen, ein wenig kühlen Kultur.

Halt: schimmerte nicht ein Licht zwischen den Stäben? Ja: dieses ungewohnte Licht bedeutete die große Veränderung. Dies brennende Licht, das sich strahlend und unbarmherzig in die Morgendämmerung bohrte — dieses Licht blickte nach ihm aus. Wartete auf ihn.

Er gab sich einen Ruck und ging ins Haus.

Frau Mortensen kam ihm entgegen, aufgeregt, mit verweinten Augen. „Gott sei Dank!“ seufzte sie, als sie ihn ansah.

„Nun, Frau Mortensen?“

Sie lachte. Gerührt erkannte er, daß es ein fast glückliches Lachen war.

„Wo sind sie?“ stieß er hervor.

Sie sah ihn verständnislos an.

Er blickte verwirrt um sich. Dort war das Licht: in seinem Zimmer. „Wann sind sie gekommen?“

Besorgt sah ihm die Alte ins Gesicht. „Sie sind krank, Herr Doktor, ganz sicher; ich werde an Doktor Stroem telefonieren.“

Er schüttelte den Kopf, ihre Verständnislosigkeit machte ihn noch ratloser. „War denn niemand hier?“

„Wer soll denn hiergewesen sein? Mitten in der Nacht?“

Er legte die Hand aufs Herz, das flackernd gegen die Brust hämmerte.

„Ich werde Ihnen Kaffee bringen“, sagte Frau Mortensen. „Vor allem müssen Sie jetzt ruhen.“

„Ist denn wirklich niemand hiergewesen? Hat nicht jemand telefoniert?“

„Nichts, nichts, nichts!“

Damit ging sie hinüber in die Küche.

Er stieß die Tür auf, immer noch ungläubig.Vielleicht war das alles eine List — vielleicht war die Alte im Einverständnis mit den Häschern!

Nein. Das Zimmer war leer. Er blickte mit großen Augen um sich, als ob er dies alles zum erstenmal sähe: die Satsumavasen, die Statuette von Sinding zwischen den Fenstern — das Kirschholz der japanischen Möbel — das Spiel der Sonne auf dem Lack des Flügels — seine Bibliothek, die die ganze Längsseite des Zimmers bedeckte — alles war wie sonst. Hatte er geträumt? War vielleicht das alles, was er in diesen Stunden durchlebt, durchlitten, durchfiebert hatte, nur Phantasie, Rausch, Einbildung? Vielleicht kam jetzt das Erwachen, und er würde ins Amt gehen wie immer, ein geachteter Bürger der Stadt Kopenhagen. Ja, ganz sicher, so war es. Er hatte eine reizende Bekanntschaft gemacht, jene Sängerin aus Paris, deren sich seine kreisenden und übermüdeten Gedanken nur mehr verschwommen entsannen; er hatte sich von ihr verabschiedet. Sie hatte ihm gefallen. Und er hatte sie wohl auf dem Nachhauseweg mit Ebba verglichen. Mit seiner Braut. Dann war er schlafen gegangen, und der ganze wirre Spuk dieser Nacht: sein Verbrechen — die Flucht mit ihr — ihr Verrat an ihm — die Verzweiflung dieser wahnwitzigen Nacht — alle diese Dinge hatten sich in seinem Traum weitergesponnen. Und nun kam das Erwachen, und alles würde sich lösen in einem letzten, großen Lachen.

Damit schlief er ein.

Aber dann kam das Erwachen. Und langsam, während er Schritt für Schritt zurückging in seinen Erinnerungen, stellte sich die Gewißheit ein: daß er nicht geträumt hatte.

Niemand kam. Kein Mensch fragte nach ihm; kein Klingeln des Telefons gemahnte an die Außenwelt. Frau Mortensen erschien, rosig und voll lächelnder Ruhe, mit einem Frühstück, das berufen war, den Kräfteverlust einer durchwachten Nacht wettzumachen.

Dann kam langsam der Mittag, der Nachmittagleuchtete ins Zimmer mit blauem Himmel, mit Sonne, mit kosendem Seewind. Nichts erfolgte.

Aber die Schatten stiegen nieder in die Stadt, und Ove Jens Boyes Unruhe wuchs, so wie das Fieber wächst gegen die Nacht.

Das war nicht zu ertragen. Diese Ungewißheit ging über menschliche Kraft. Eine Katastrophe — gut. Damit hatte er gerechnet. Dieses unausgesetzte Warten auf die Katastrophe, die kommen mußte und die sich Zeit nahm, raffiniert und siegesgewiß, dieses Warten trieb ihn langsam in den Wahnwitz. Die Stille des Zimmers, das Dunkel draußen, die lächelnde Behaglichkeit dieser Straße — alles erfüllte ihn mit einer Furcht, die stündlich zunahm. Aus seinen Grübeleien kristallisierte sich ein Gedanke heraus, wurde zum Entschluß: er mußte Rache nehmen an der Frau, die ihn in den Himmel erhoben hatte, um ihn lächelnd in die Tiefe zu stürzen. Er mußte sie erreichen — sie vernichten, wie sie ihn vernichtet hatte.

Ja, das war gut. Das Schicksal hatte ihn verschont bis zu dieser Minute; es galt, die Freiheit zu nutzen.

Der Nachtzug nach dem Kontinent ging in einer Stunde.

Er machte sich fertig, nahm alles Geld an sich, das er im Hause hatte und ging durch dunkle Seitenstraßen zum Bahnhof.

Während er am Schalter stand, hörte er eine bekannte Stimme. Er wandte sich erschrocken um: dort kam Lystrup, sein Vorgesetzter, mit zwei Beamten. Sie gingen fast geradenwegs auf ihn zu. Er fühlte die lähmende Starre, die an ihm emporkroch. Eben sah er deutlich, daß Lystrup aus den Augenwinkeln zu ihm hinüberblickte; nun machte er leise seine beiden Begleiter auf ihn aufmerksam. Die drei wandten, mit berufsmäßiger Unauffälligkeit, ihre Köpfe zu ihm herum.

Nun wohl. Mochte es sein. Er hatte die ganze Zeit über damit gerechnet. Er ging quer durch die Halle, den dreien entgegen.

Und dann geschah etwas Seltsames: die drei wandten sich zur Seite und gingen mit schnellen Schritten ins Restaurant.

Ungehindert gelangte er in den Zug. Niemand kümmerte sich um ihn diesseits und jenseits der Grenze.

Die ferne Frau

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