Читать книгу Schlittschuhläufer - Norwegen-Krimi - Paul Rosenhayn - Страница 5

II.

Оглавление

Das Auto kletterte die felsige Strasse herauf. Ein paar letzte Sterne verglommen am Himmel; fern drüben über dem Wenersee lag ein funkelnder Streifen, der sich in einer langen, rötlich flimmernden Linie nach Osten zog — bis dorthin, wo tief unter dem Horizont der Bottnische Meerbusen blaute.

Die schweren Schatten wichen zurück. Langsam trat das ernste Grün der Tannen aus dem Dunkel, das sich löste und hellte, und das silbrige Licht der beiden Scheinwerfer trat nun in einen scharfen Wettbewerb mit dem jungen Tag, der sich über die nordischen Lande erhob. Ein paar Lichter blitzten auf, schossen vorüber. Für eine Spanne zeigte sich schroffer Abhang der jäh und steil zum Fjord abglitt.

Die Strasse wurde breiter; die Bäume traten zurück. Der Himmel, der nun hell und blau geworden war, weitete sich über einer Hochebene. Dann schob sich langsam wieder Wald heran, öffnete sich zu einer schmalen Gasse, die in einer einzigen geraden Linie durch das Grün geschlagen war. Eine Holzkirche tauchte auf, flog vorüber.

Dann hörte der Wald auf. Die Strasse verbreiterte sich wieder, machte plötzlich eine Biegung nach Osten. Irgend etwas Helles tauchte auf; eine glitzernde Fläche schob sich heran.

Der Chauffeur wandte sich um: „Das ist der See von Sollihögda.“

Der Detektiv warf einen langen Blick auf das stille Wasser. Das Auto glitt weiter. Ein paar Blockhäuser tauchten auf. Hundegebell grüsste das Fahrzeug. Strassen teilten sich ab. Von links her — dort, wo hinten Häuserreihen schimmerten, kamen keine Trupps von Arbeitern, den blauen Kaffeetank über den Rücken gehängt.

Der Chauffeur rief einem von ihnen etwas zu, was der Amerikaner nicht verstand. Der Gefragte gab Auskunft, indem er mit der Hand nach vorn deutete.

Das Fahrzeug bog in eine Querstrasse ein. Saubere Drahtgitter zäunten ein paar Zimmerplätze ab, von denen der Geruch des frischen, feuchten Holzes kam. Ein paar Männer mit Zollstöcken in der Brusttasche, die qualmende Pfeife im Munde, die Hände in den Taschen, wandten sich kurz nach dem Auto um und musterten es mit ihren hellen fühlen Augen. Dann zog der Chauffeur die Bremse und das Auto hielt.

Das efeubesponnene Haus blickte hell und freundlich in den jungen Morgen. Die Fenster waren mit grünen, sauber gestrichenen Jalousien verschlossen; rechts lief ein langer Spalierweg, von Heckenrosen überspannt; dazwischen rechts und links in verschwenderischer Behäbigkeit standen Kirschbäume und Moltebeersträucher.

Joe Jenkins entlohnte den Chauffeur und ging langsam den Spalierweg entlang.

Hinten lag das Bureauhäuschen, ein sauberer kleiner Fachwerkbau.

Porphyrwerke Sollihögda

Hjalmar Waggeryd

stand auf dem breiten blitzenden Zinkschild, das kein Fleckchen trübte. Eben kam ein junger, gut gekleideter Herr aus dem Bureauhause, der den Fremden neugierig musterte und langsam, wie auf eine Anrede wartend, an ihm vorüberschritt. Da jener keine Miene machte, sein Hiersein zu erklären, wandte er sich um und sagte in der ruhigen Art des Nordländers mit dem unverkennbar hochmütigen Unterton:

„Mein Name ist Doktor Brinjulf Jarl. Womit kann ich Ihnen dienen?“

„Ich suche Herrn Waggeryd, mein Herr. Mein Name ist Joe Jenkins.“

Doktor Jarl zuckte die Achseln wie zum Zeichen, dass ihm der Name unbekannt sei. Dann sagte er, indem er nach vorn deutete: „Mein Schwiegervater steht so früh nicht auf. Ich fürchte auch, offen gestanden, dass ein so zeitiger Besuch ihn stören wird. Immerhin — ich könnte ja versuchen Sie anzumelden.“

Der Amerikaner machte eine dankende Handbewegung. „Herr Waggeryd erwartet mich.“

* * *

Die Klingel ging laut und gellend durch das Haus. Das verschlafene Gesicht eines Dieners erschien in der sich spannweit öffnenden Tür.

„Ich möchte Herrn Waggeryd sprechen.“

„Herr Waggeryd schläft noch.“

„Das macht nichts.“ Der Detektiv schob mit leichter Mühe die Tür auf und drängte an dem verdutzt und mürrisch Widerstand leistenden Diener vorüber.

„Führen Sie mich in sein Schlafzimmer.“

„Ich weiss wirklich nicht . . .“

„Es ist gleichgültig, was Sie wissen oder nicht“, sagte der Detektiv lachend, indem er jenem auf die Schulter schlug. „Nun, halten Sie mich nicht auf und führen Sie mich in Herrn Waggeryds Zimmer.“

Der Diener machte ein halb resigniertes, halb beleidigtes Gesicht und ging brummend die Treppe hinauf mit sichtlich betonter, misslauniger Langsamkeit. Endlich blieb er an einer der drei Türen stehen, die auf den Korridor des ersten Stocks mündeten und klopfte leise an.

Keine Antwort kam.

Der Detektiv pochte dreimal laut und kräftig — zum Entsetzen des Dieners, der erschrocken zusammenfuhr.

Keine Antwort.

Joe Jenkins letzte die Hand auf die Klinke. Die Tür war unverschlossen.

Die beiden traten ein. Hell und scharf flutete das Morgenlicht in den kleinen vornehm ausgestatteten Raum. Er war leer. Zur Rechten stand das Bett. Es war unbenutzt.

Aus dem Gesicht des Dieners war mit einem Schlage der mürrische, verschlafene Zug verschwunden. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen im Zimmer herum, sah dann den Besucher an und sagte kopfschüttelnd: „Meiner Seel, das begreife ich nicht. Ich habe ihn doch selbst heimkommen hören.“

„Wann war das?“

„Ein paar Minuten vor halb vier.“

„Haben Sie ihn gesehen?“

„Als ich herunterkam — ich schlafe im zweiten Stock — war er schon auf seinem Zimmer.“

„Darauf gingen Sie wieder schlafen?“

„Nein. Ich klopfte an und fragte ihn, ob er noch Wünsche hätte.“

„Womit war er beschäftigt, als Sie ins Zimmer blickten?“

„Er sass am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Fast schien es mir, als ob er schwere Sorgen hätte — ja einen Moment lang glaubte ich, dass er weinte.“

„Warum kamen Sie herunter, als Sie ihn kommen hörten?“

„Er wünscht manchmal noch ein Glas Grog, wenn er spät heimkommt; ich koche ihm dann etwas Wasser auf dem kleinen elektrischen Kocher in der Küche.“

„Sie sind ein guter Diener. — Hatte er heute nacht derartige Wünsche?“

„Nein. Er schüttelte nur den Kopf und seufzte.“

„Darauf gingen Sie wieder schlafen?“

„Ja. Ich ging auf mein Zimmer.“

„Nun hörten Sie nichts mehr?“

„Doch. Etwas, was mich ein wenig in Erstaunen setzte . . .“

„Nun?“

„Ich hörte ihn telephonieren.“

„Ist das Haus so hellhörig?“

„Je nun — mitten in der Nacht — ich hörte, dass die Glocke anschlug, als er den Hörer abnahm. Dann hörte ich ihn etwas in den Apparat rufen.“

„Konnten Sie verstehen, was er sagte?“

„Nein. Dann nach ungefähr fünf Minuten klingelte das Läutewerk — es scheint sich also um eine Fernverbindung gehandelt zu haben.“

„Sehr gut. — Konnten Sie irgend etwas verstehen?“

„Nein. Ich hörte nur, dass er sehr schnelt sprach. Er muss wohl sehr aufgeregt gewesen sein.“

Joe Jenkins nahm den Hörer des Telephons ab. „Bitte können Sie mir sagen, wohin heute nacht um halb vier von diesem Apparat aus gesprochen worden ist?“

„Einen Moment.“

„Und nun kam das Seltsamste“, fuhr der Diener fort. „Ungefähr eine Viertelstunde später . . .“

Aus dem Apparat kam eine kühle, amtliche Stimme: „Heute nacht um halb vier ist von dort aus ein Gespräch mit Christiania geführt worden — mit dem Hotel Belvédère.“

„Ich danke“, sagte der Detektiv und letzte kopfnickend den Hörer auf die Sabel. „Sie sagen, es hat sich noch etwas weiteres ereignet?“

„Ja. Eine Viertelstunde später hat Herr Waggeryd das Haus wieder verlassen. Das hat er noch nie in seinem Leben getan. Sie können sich vorstellen, wie ich mich darüber wunderte.“

„Hörten Sie ihn oder sahen Sie ihn fortgehen?“

„Ich hörte ihn und sah ihn. Er hatte den Kragen aufgeklappt und ging quer hinten über Asmussens Hof.“

„Welchen Eindruck hatten Sie — wohin ging er?“

Der Diener zuckte die Achseln, als ob er etwas ausspräche, was ihm selbst nicht in den Kopf wollte: „Er ging in der Richtung nach dem See zu.“

„Hörten Sie ihn zurückkommen?“

„Nein. Ich habe etwa eine Stunde gewacht, denn ich hatte natürlich geglaubt, er müsse jede Minute wiederkommen.“

„Haben Sie sich irgendeine Meinung darüber gebildet, was dieser nächtliche Gang zu bedeuten haben könnte?“

„Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, aber mit dem besten Willen habe ich mir keine Antwort darauf geben können. Einen Augenblick habe ich gedacht, er wolle vielleicht einen Brief einstecken; aber das Postamt liegt gegenüber dem Bahnhof, und dieser Hinterweg ist also viel mehr ,um‘ als der Weg über die Lillegade.“

„Demnach kann es Sie doch nicht einmal so sehr überrascht haben, dass jetzt das Bett leer ist.“

„Der Diener machte ein etwas hilfloses Gesicht, dann sagte er: „Mein Herr — ich habe schliesslich geglaubt, ich hätte das alles geträumt — warum in aller Welt sollte der Herr mitten in der Nacht sein Haus verlassen? Als ich heute morgen aufwachte — ich hörte Ihr Auto vorfahren — da hatte ich ein paar Stunden tief und fest geschlafen und die ganzen Dinge der letzten Nacht sahen nun völlig anders aus.“

Der Detektiv blickte auf die Uhr. Sie zeigte auf halb sechs. „Das lässt sich hören“, sagte er. „Könnte es etwa sein, dass Herr Waggeryd schon vorm Morgengrauen nach dem Porphyrbruch hinausgegangen wäre?“

„Das ist ganz unmöglich. Er hatte seinen grauen Stadtanzug an; der würde im Steinbruch in einer halben Stunde schön aussehen!“ Der Diener wies auf den englischen Lederkoffer, der auf einem kleinen zusammenklappbaren Bock stand. „Den hat er gestern abend mitgenommen; ich hatte ihm den Frack hineingelegt. Nein — nein, mein Herr, hier ist ein Unglück geschehen.“

„Wo wohnt sein Schwiegersohn, Herr Doktor Jarl?“

„Drüben, Frydenlunds-Gade 1.“

„Wann pflegen Sie Herrn Waggeryd zu wecken?“

„Gewöhnlich steht er um halb sieben Uhr auf. Heute sollte ich ihn eine halbe Stunde früher wecken; denn um halb sieben Uhr beginnen die grossen Versuchssprengungen.“

„Ziehn Sie sich an und fragen Sie einmal unauffällig im Ort herum; vielleicht finden Sie eine Spur von Herrn Waggeryd — vielleicht klärt sich alles harmlos auf. Sollten Sie mir etwas zu melden haben: Sie treffen mich bei Herrn Jarl in der Frydenlunds-Gade.“

* * *

Doktor Jarl selbst öffnete. In seinem hellen, regelmässigen Gesicht lag eine leise Unruhe. „Was ist mit meinem Schwiegervater?“ fragte er in besorgtem Ton. „Mir ist jetzt eingefallen: ich kenne Jhren Namen, Mr. Jenkins. Ich glaube, dass er für bürgerliche Begriffe sozusagen nichts Gutes bedeutet. Hat sich etwas ereignet, was Ihre Anwesenheit erforderlich macht?“

Der Detektiv trat langsam ein und letzte unter Assistenz Jarls Hut und Mantel ab. „Ihr Schwiegervater ist verschwunden“, sagte er endlich.

„Mein Gott — ich hörte doch heute Nacht das Auto durch unsere Strasse fahren.“

„Das Gleiche sagt der Diener. Er ist auch richtig auf sein Zimmer gegangen, hat es aber eine Viertelstunde später wieder verlassen. Seltsamerweise hat er nicht den Weg über die Lillegade benutzt, sondern ist hinten über das Gehöft des Nachbarn gegangen.“

„Zum See?“ fragte Jarl erstaunt.

„Ja. Nicht wahr, Sie waren mit ihm in Chriftiania?“

„Gewiss.“

„Die Versammlung war ziemlich erregt?“

Jarl sah den Fragenden erstaunt an. „Sie war in der Tat erregt. Aber darf ich fragen, Mr. Jenkins: woher wissen Sie das?“

Die beiden traten eben in das behagliche Wohnzimmer ein. Ein paar mächtige Lärchenbäume grünten, friedlichen Schatten spendend, vor den hoben, blinkenden Fenstern. Drüben von den sanft anschwellenden Wiesen leuchteten Löwenzahn und Königskerze. Ein goldenes Ringelspiel von Sonnenlicht zitterte im Reflex der Blätter auf dem braunlackierten Fussboden. In der Luft stand der appetitliche Duft von frischem Kaffee und warmem weissen Gebäck.

Jarl wies auf einen der Polstersessel. Der Detektiv nickte dankend und blieb stehen. „Sie fragen, Herr Doktor, woher ich von den stürmischen Debatten weiss. Nun — es ist nichts dabei, wenn ich es Ihnen sage: Ihr Herr Schwiegervater war gestern abend nocy bei mir im Hotel.“

Doktor Jarl machte eine hilflose Handbewegung und sah den Sprechenden mit unverändert erstauntem Gesicht an. „Das erklärt nicht das geringste, Mr. Jenkins“, sagte er. Wieder klang jener fühle hochmütige Ton in seiner Stimme auf. „Sie sagen, mein Schwiegervater hätte Sie gestern besucht. Nun, woher weiss denn mein Schwiegervater von dem stürmischen Verlauf der gestrigen Versammlung? Er war ja gar nicht da.“

Der Amerikaner wandte den Kopf in überrascht zu dem Sprechenden: „Herr Waggeryd war nicht auf der Versammlung?“ wiederholte er. „Dann hätte er mir die Unwahrheit gesagt. Ich nehme doch an, dass er mit Ihnen zusammen nach Christiania gefahren ist zu dem ausgesprochenen Zwecke, die Versammlung zu besuchen?“

„Gewiss. Um so erstaunter waren wir, als er nicht kam.“

„Unternahmen Sie irgend etwas . . . versuchten Sie, ihn zu holen?“

„Gewiss. Die Versammlung war im Kunstverein in der Universitäts-Gade. Nachdem wir etwa eine Stunde gewartet hatten, ging ich ans Telephon und rief meinen Schwiegervater an: im Hotel Nobel. Da hörte ich, dass er das Hotel schon vor längerer Zeit verlassen hatte, und zwar in einer Autodroschke. Er hätte also längst bei uns sein müssen; dass er nicht kam, konnte nur eine einzige Erklärung haben: ihm musste irgendeine andere wichtige Angelegenheit dazwischengekommen sein. Und doch — so konnte es auch nicht sein. Ich hörte nämlich von dem Telephonisten des Hotels etwas, was mich in Erstaunen setzte: mein Schwiegervater war im Frack, als er das Hotel verliess.“

„Das stimmt“, nickte der Detektiv. „Ich kann es bezeugen.“

„Er muss also den Frack eigens mit nach Christiania genommen haben, muss also schon in Sollihögda eine ganz bestimmte Absicht mit seiner Christianiaer Reise verbunden haben, von der er mir nichts gesagt hat, und die auch mit der Steinbruchsbesitzerkonferenz nichts zu tun hatte.“

Ein leichter Schritt kam über den Korridor. Es klopfte. Herein trat eine junge dunkelblonde Dame.

„Meine Frau“, sagte Brinjulf Jarl, „und dies ist Mr. Jenkins.“

Auf den schönen jungen Gesicht lag ein Ausdruck der Niedergeschlagenheit, der seltsam mit den reinen, frischen Zügen kontrastierte. Sie ging auf den Detektiv zu und reichte ihm die Hand. „Ich weiss, warum Sie hier sind, Mr. Jenkins; Papas Diener hat es mir gesagt. Grosser Gott — ich bin ja ganz fassungslos. Meinen Sie, dass ihm irgend etwas geschehen sein könnte? Noch nie in seinem Leben ist er später als zwei Uhr nachts nach Hause gekommen.“

„Ich muss gestehen“, fiel Doktor Jarl ein, „auch ich fühle mich mehr als beunruhigt. Haben Sie noch etwas Wichtiges zu fragen, Mr. Jenkins? Sonst möchte ich doch auf alle Fälle ein paar Leute ausschicken — denn irgendwo muss er doch schliesslich zu finden sein.“

„Tun Sie das, Herr Doktor. Ich werde Sie begleiten und einen Blick in die Garage werfen.“

„Ich gehe mit“ entschied Frau Thora.

* * *

Die kleine Garage lag am Ende der Lillegade — dort, wo die letzten Ausläufer des Föhrenwaldes den Ort säumten.

Doktor Jarl schloss auf. „Da ist das Auto“, sagte er.

Der kleine, leichte Wagen trug alle Spuren einer langen Fahrt. Räder und Kühler waren mit einer grauen Kruste bedeckt, und selbst auf der Stirnscheibe sassen ein paar erstarrte Spritzer.

Doktor Jarl winkte einen Burschen, der eben mit Eimer und Besen anrückte, heran und gab ihm ein paar eindringliche Aufträge, dann ging er, indem er sich kurz verabschiedete, mit jenem die Lillegade hinunter.

„Sagen Sie mir, Frau Jarl“, begann der Detektiv nach einer Pause, indem er den beiden Davonschreitenden gedankenvoll nachsah, „können Sie sich für das Verschwinden Thres Vaters irgendeine Erklärung geben?“

Die junge Frau sah ihn an und schüttelte den Kopf.

„Es ist da nämlich etwas, was die ganze Geschichte merkwürdig kompliziert. Ihr Herr Vater war gestern abend bei mir . . .“

Sie fuhr zurück: „Was Sie sagen . . .“

„Er erzählte mir von einer Versammlung der Steinbruchsbesitzer der Drei Königreiche — einer wichtigen Konferenz, der er gemeinschaftlich mit seinem Schwiegersohn — Threm Gatten — beigewohnt hätte.“

„Das stimmt.“

„Und nun erfahre ich zu meinem Erstaunen von Herrn Doktor Jarl: Ihr Vater hat mir die Unwahrheit gesagt. Er ist gar nicht auf der Versammlung gewesen.“

„Das begreife ich nicht.“

Er hat vielmehr im Frack, den er aus Sollihögda mitgenommen hatte, das Hotel verlassen; in demselben Frack hat er mich besucht. — Sind diese Angaben geeignet, Sie auf irgendeine Vermutung zu bringen?“

Die junge Frau sah den Amerikaner verständnislos an.

„Dieser Frack lässt auf einen Reisezweck schliessen, der mit geschäftlichen Dingen nichts zu tun hat.“

Ein Schatten wie ein leichtes Erröten ging über das Gesicht Thora Jarls. „Sie denken an eine Frau, Mr. Jenkins?“

„Vielleicht.“

„Ich habe nie gehört oder gesehen, dass mein Vater auch nur den Schatten einer Absicht hatte, sich wieder zu verheiraten.“

„Nun nun“ — begütigte der Detektiv — „man muss ja nicht immer gleich das Schlimmste denken. Wäre es nicht möglich, dass Ihr Herr Vater . . . schliesslich — er ist ein Mann in den besten Jahren — reich — unabhängig — niemandem Rechenschaft schuldig — warum sollte er nicht wie so viele Leute in Christiania eine kleine Liaison unterhalten?“

„Mr. Jenkins!“ In das Gesicht der jungen Frau trat ein abweisender Ausdruck. „Mein Vater ist ein gläubiger Protestant. Er hat sich nie in seinem Leben mit derartigen Damen abgegeben.“

„Um Gotteswillen“, besänftigte der Detektiv die Erzürnte. „Ich wollte Ihren Herrn Vater nicht beleidigen. Ich sehe, dass es Grenzen gibt, über die hinaus man mit einer Norwegerin nicht geben kann, ohne es mit ihr zu verderben.“

„Ich bin gewiss nicht prüde. Aber es ist geradezu absurd, meinen Vater in derartige illegitime Beziehungen zu einer Frau zu bringen.“

„Weiter wollte ich nichts wissen. — Ihr Herr Gemahl kam mit dem letzten Zuge, nicht wahr?“

„Ja.“

„Der um halb eins den Westbahnhof verlässt und um halb zwei in Sollihögda ist?“

„Ganz recht. Ich freute mich sehr auf die Rückkehr meines Mannes, denn er hatte mir versprochen, Verschiedenes für mich in Christiania einzukaufen: Seife, Parfums und dergleichen.“

„Sie wachten noch, als er kam?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„Gegen dreiviertel zwei. Er brachte einen ganzen Arm voll mit: nicht nur Seife und Parfums und Seide — auch ein ganzes Pfund Konfekt und kandierte Früchte, die ich für mein Leben gern esse. Dann erzählte er mir von dem luftigen Nachtleben in Tostrupgaardens Café; dabei kamen wir in vergnügte Stimmung und er holte eine Flasche Sekt aus dem Keller. Dann plauderten und tranken wir. Brinjulf erzählte ein paar lustige Geschichten, die er in Christiania gehört hatte — denn Sie können sich denken, wenn so ein Rudel Herren aus aller Welt zusammen, kommt . . .“

„Hörten oder sahen Sie in dieser Nacht noch irgend etwas Ungewöhnliches?“

„In dieser Nacht? Nein, Mr. Jenkins. In dieser Nacht habe ich so fest geschlafen wie seit langem nicht. Das macht wohl der ungewohnte Sekt. Ich weiss nicht, wann ich eingeschlafen bin und ich wäre auch sicher noch nicht erwacht, wenn nicht der Diener mir die Botschaft vom Verschwinden meines Vaters gebracht hätte.“

Die beiden gingen langsam die Lillegade hinunter, dem Waggerydschen Herrenhause zu.

Brinjulf Jarl kam ihnen entgegen. „Nichts“, sagte er niedergeschlagen. „Ich habe überall gefragt, kein Mensch hat ihn gesehen.

Die drei gingen in die Villa Waggeryd. Mit unruhig flackernden Augen kam ihnen der Diener entgegen. „Es ist alles wie verhext“, sagte er. „Niemand weiss etwas — ich habe nach verschiedenen Stellen telephoniert.“

In diesem Augenblick kamen stampfende Schritte über den Kies des Sartenweges. Die Entréeglocke ging; der Diener öffnete.

Zwei Arbeiter standen in der Tür. Ihre Gesichter waren starr und ernst. Der ältere von beiden sagte, indem er die Mütze abnahm und sie in der Hand drehte:

„Wir haben ihn gefunden. Er liegt tot im See.“

Schlittschuhläufer - Norwegen-Krimi

Подняться наверх