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I.

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Der Herr und die Dame, die an dem kleinen Tischchen des Speisewagens saßen, blickten sich lächelnd in die Augen.

Die Dame war sehr schön. Sie mochte im Anfang der Zwanzig stehen; man stellte sich ihre Erschernung unwillkürlich in einem Salon der großen Gesellschaft vor, vielleicht in den Appartements eines Ministers. Sie war blond, das typische Blond der Dänin; mit jenem leisen weißlichen Hauch, den die herbe Seeluft des Nordens gibt. Ihre Augen, dunkelblau, groß, mit dem Ausdruck einer tiefen und gütigen Klugheit, wanderten durch den Raum. Der Wagen glitt federnd durch die Landschaft, über der schon das Gold des scheidenden Tages lag. Ein paar Gäste, die beim Mokka saßen, blickten interessiert hinüber; aber schon wandten sich ihre Augen von neuem dem Herrn zu, der ihr gegenüber saß.

Er war, schon auf den ersten Blick, in fast allen Dingen das Gegenteil seiner Begleiterin: Haar und Augen von dunklem Typ, im Blick jenes lächelnde Glimmen, das den Frauen gefällt — und das aus dem Hinterhalt der Gedanken zu kommen scheint.

Man konnte bei seinem Anblick an einen Mann denken, der eben aus Monte Carlo kam — und der vielleicht mit klugen und kühlen Berechnungen ein neues System erprobt hatte.

Mit Erfolg. Das Lächeln in seinen Augen war ein Siegerlächeln.

„In einer Stunde,“ sagte er mit einer Stimme, die gleichfalls seltsam dunkelgetönt war, „in einer Stunde sind wir in Kopenhagen.“

Die Dame nickte, und fast schien es, als ob sie erröte.

„Werden Sie am Bahnhof erwartet?“ fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

Der Kellner ging vorbei; er nahm die Sektflasche aus dem Kübel und füllte die beiden Gläser von neuem.

Die Tür öffnete sich; der Zugführer ging mit bedächtigen Schritten durch den Wagen. Er blickte, fast ohne den Kopf zu wenden, zu dem Paar hinüber; der junge Herr, der die Augen des Beobachtenden auf sich ruhen fühlte, sah auf; schon ging der Zugführer weiter. Wieder blieb er stehen, jenseits der kleinen Glastür; wieder wandte er den Kopf zurück. Die beiden dort drüben flüsterten miteinander; ihre Augen hatten sich zärtlich ineinander versenkt. Der Herr legte seine Rechte einen Moment lang auf die Hand der Dame; sie wandte unruhig den Kopf, aber alle ihre Bewegungen schienen von einer seltsam verhaltenen Zärtlichkeit.

*

Der Telegraphist rollte die Tür des Marconiraums zurück und lief über den Teppich des Korridors. Die Wagen schaukelten in den Kurven; er tastete sich haltsuchend vorwärts, in der Linken das kleine Telegramm-Kuvert.

In der Tür zum Speisewagen prallte er mit dem jungen Paar zusammen; mit einer flüchtigen Entschuldigung stürmte er weiter.

„Wo ist der Zugführer?“

Der Kellner deutete mit dem Daumen nach vorn.

Der Telegraphist riß die Gangtür auf; es war der direkte Wagen Paris—Oslo.

„Ein Telegramm, Herr Zugführer!“

„Für wen?“

„Für Sie.“

Der zuckte die Achseln und riß den Umschlag auf. Der Telegraphist sah dem Beamten verstohlen ins Gesicht, wie um den Eindruck zu erspähen, den die Depesche auf ihn machte. Aber der Gesichtsausdruck des Beamten veränderte sich nicht; der Marconimann wandte sich enttäuscht um und ging schlenkernd den Weg zurück, den er gekommen war.

Der Zugführer hielt das Telegramm nachdenklich in der Hand; er wandte den Kopf in der Richtung nach dem Speisewagen.

Eben ging grüßend ein Schaffner vorüber. Der Zugführer winkte ihn mit den Augen heran. „Ist das nun ein schlechter Scherz?“ fragte er.

Der Schaffner nahm die Depesche und las:

„Zug soll bei Blockstation dreiundvierzig halten.“

*

Die beiden, der Herr und die Dame, saßen sich von neuem gegenüber; in einem Abteil erster Klasse des Kontinent-Wagens. Die Dame hatte ein kleines elfenbeinernes Etui gezogen: russische Zigaretten.

„Wollen Sie nicht rauchen?“ fragte sie. In ihrer Stimme klang heimliches Lachen.

„Danke. Gern.“

„Sie dürfen mich nicht falsch beurteilen“, sagte sie leise. „Es ist das erstemal in meinem Leben. Noch nie habe ich mich auf der Reise in eine Unterhaltung mit einem fremden Herrn eingelassen.“

Er antwortete nicht; er machte lediglich ein Gesicht, so, als ob das, was die Dame sage, eine gewichtige Selbstverständlichkeit sei.

„Sie müssen es mir glauben“, fuhr die Dame fort. „Nur der Zufall hat es gefügt …“

„Ich bin sehr glücklich“, sagte der Herr. „Dieser Zufall hat sich sehr freundschaftlich gegen mich benommen.“

Sie schüttelte den Kopf. „In einer halben Stunde ist es zu Ende.“

„Wenn ich doch nur wüßte, wann der Zeitungsverkäufer auf dem Bahnhof von Gjedser Geburtstag hat“, sagte der Herr.

„Mein Gott, wie interessant!“

„Ich würde ihm ein herrliches Geschenk machen.“

„Das ist reizend von Ihnen“, sagte die Dame. „Sind Sie mit ihm verwandt?“

Er lachte. „Er hat mich für Ihren Mann gehalten. Das war die größte Schmeichelei, die man mir in meinem Leben erwiesen hat.“

„Sie müssen mir erlauben, Ihnen die zwei Kronen wiederzugeben.“

Er nickte düster. „Vorher müßten Sie mich töten.“

„Ich kann unmöglich annehmen, daß Sie für mich …“

„Sie scheinen es darauf abgesehen zu haben, gnädige Frau, alle meine Träume zu zerstören. Er hat Ihnen ein Magazin verkauft — er hat mir ein Magazin verkauft. Er hat uns für Mann und Frau gehalten …“

„… und hat die zwei Kronen, die mein Magazin kostet, voh dem Zehnkronenschein abgezogen, den Sie ihm gegeben haben.“

„War das nicht die herrlichste Idee, die ein Zeitungshändler haben konnte? Er hat unsere Gedanken eine Stunde lang um die gleichen Dinge kreisen lassen.“

„Woher wissen Sie das?“

Der Herr warf einen Blick auf das bunte Heft, das aufgeschlagen, Titelblatt und Schlußblatt nach oben, neben der Dame lag — und er zeigte mit der Hand auf ein zweites Heft, das genau wie jenes, Titelblatt und Schlußblatt nach oben, neben ihm lag. „Bitte: wie heißt die Novelle, die Sie lesen?“

Sie griff nach dem Buch und wandte es herum:

„Roman einer Nacht“ stand über der Novelle.

Der Herr nahm stumm sein Magazin, drehte es herum und hielt es der Dame unter die Augen.

„Roman einer Nacht“ las sie — und wieder, wohl gegen ihren eigenen Willen, errötete sie, so wie jemand errötet, der sich, in einer kleinen zärtlichen Intimität, plötzlich im Spiegel erblickt.

„Wir beide haben eine Stunde lang die gleichen Dinge gedacht“, fuhr der junge Herr fort. „Können Sie begreifen, welch ein glückliches Bewußtsein das für mich ist?“

„Sie meinen: weil die Situation der Novelle …?“

Er nickte. „Haben Sie nicht dasselbe gedacht, als Sie anfingen, diese Novelle zu lesen? Ist es nicht, als ob der Autor von uns beiden spräche?“

Die Dame nahm das Heft und überflog schweigend die ersten Zeilen.

Die Novelle begann mit folgenden Worten:

Roman einer Nacht

„In einem Abteil des Luxuszuges, der den Kontinent mit dem Norden verbindet, sassen ein junger Herr und eine junge Dame. Der Herr richtete zärtliche Blicke auf seine schöne Reisegefährtin, die seine stumme Bewunderung nicht zu bemerken schien. Plötzlich stand der junge Herr auf …“

Der dunkle Herr betrachtete lächelnd die blonde Frau, die vielleicht jetzt erst den seltsamen Zusammenhang begriff. Ein Abteil … des Luxuszuges, der den Kontinent mit dem Norden verband … ein junger Herr … eine junge Dame … der junge Herr zärtliche Blicke auf seine schöne Reisegefährtin richtend …

Sie hob den Blick; der Herr, der sie unverwandt angesehen hatte, ließ schuldbewußt seine Augen zur Seite gleiten; sie senkte den Blick wieder; schon fühlte sie von neuem seine stumme Bewunderung. Nein: mit dem Instinkt der Frau fühlte sie: das war mehr als Bewunderung: das war Verliebtheit, vielleicht sogar eine gewisse begehrliche Verliebtheit.

Ein Schatten fiel plötzlich über das Buch.

Sie hob den Kopf; der Herr war aufgestanden.

Erstaunt folgte sie ihm mit den Augen. Er ging zur Tür und zog die Vorhänge vor.

Während er zurückkehrte, sah sie ihn fragend, wie mit einem leichten Kopfschütteln, entgegen.

„Warum tun Sie das?“

Der Herr stand einen Augenblick stumm vor ihr, so, als ob er auf diese Frage keine Antwort wisse. Der kleine Raum zitterte im leisen Takt der Räder, wie in einer sanften und streichelnden Melodie. Jenseits der Fenster lagen schon die Schatten des jungen Abends; die grünen und roten Lichter der Semaphore glitten vorüber; in rhythmischem Auf und Ab rasten Telegraphendrähte vorbei. Alles klang zusammen wie zu einer weichen und lockenden Melodie; die bläuliche Dämmerung — die Lichter der Stadt, die zusehends wuchsen; und dieser klingende, klirrende Zug, der ihn und sie in eine Nacht hineintrug, erfüllt von erregenden Geheimnissen.

Ein glückliches Lächeln trat in sein Gesicht. Sie sah ihm forschend in die Augen; aber wie unter der suggestiven Gewalt seiner Gegenwart begann auch sie zu lächeln. Er beugte sich zu ihr nieder; sie ließ es geschehen, indem sie, vielleicht um ihm den Ausdruck ihres Gesichts nicht zu zeigen, den Kopf ein wenig senkte. Er schob das Magazin zur Seite und setzte sich neben sie. In stummer Zärtlichkeit nahm er ihre Hand und legte sie an seine Wange; das Magazin glitt auf den Fußboden. Er küßte ihre Hand mit einer scheuen, fast kindlichen Gebärde; langsam wandte er sich zu ihr herum, ihren Blick suchend.

Sie sah mit einer schnellen, unruhigen Bewegung auf ihre rechte Hand, an der ein goldener Trauring blitzte; mit einem leisen Seufzer drehte sie den Kopf. In ihre dunklen Augen trat ein Ausdruck wie ein huschender Schatten — es schien, als ob sich in diesem Moment der Kontakt zwischen den beiden Menschen lockere. Aber von neuem fühlte sie den Druck seiner Hand, den heißen und werbenden Blick seiner Augen. Unschlüssig sah sie auf die dunklen Bäume, die draußen vorüberglitten. Am Horizont tauchten die fernen Türme der Stadt auf — wie eine Mahnung, daß diese Fahrt, diese Stunde, dieser Rausch bald zu Ende sein würde; sie fühlte, wie ihr Herz zu pochen begann; aus dem Takt der Räder hörte sie ein Flüstern; in einer beklommenen Ahnung mochte sie fühlen, daß es das Rauschen ihres eigenen Blutes war. Sie schloß die Augen; er preßte sie an sich; zärtlich schmiegte sie ihre Wange an die seine.

„Ich liebe Sie!“ flüsterte er leise, fast unhörbar; nur mit dem Gefühl begriff sie den Sinn seiner Worte. Noch immer hielt sie ihre Augen geschlossen.

„Ich liebe Sie!“ stammelte er. „Ich werde in Kopenhagen bleiben, solange Sie es mir erlauben. Ich muß Sie wiedersehen!“

Sie antwortete nicht, mit keinem Wort, mit keiner Bewegung. Aber ihre stumme Regungslosigkeit dünkte ihn eine zärtliche Bejahung. Er preßte ihr Gesicht in seine Hände und küßte sie; mit einem leisen Seufzer ließ sie es geschehn. Während er zärtliche und irre Liebesworte stammelte, schmiegte sie sich an ihn; sie legte schweigend die Arme um seinen Hals, schweigend sah sie ihm in die Augen. Der tiefe und leidenschaftliche Ernst seines Blickes verwirrte sie vollends; sie fühlte die heiße Flamme, die auf sie überschlug, die sie einhüllte und die ihren Körper und ihre Sinne verzehrte. Wie in einer stummen Antwort auf eine leidenschaftliche Frage nickte sie; sie schloß die Augen, und während sie stockenden Atems zärtliche Worte flüsterte, küßte sie ihn wieder.

*

Die Glocke der Blockstation 43 hämmerte viermal durch den Abend: bimbam, bimbam, bimbam, bimbam; das Uhrwerk schnarrte auf; zum zweiten Male ging es: bimbam, bimbam, bimbam.

Der Wärter lief aus dem Hause. Rasselnd zog er das Uhrwerk auf. Dann löste er den Sperrhaken der Seiltrommel; drüben an der Kreuzung der Chaussee ging der Schlagbaum nieder.

Ein klingendes Geräusch kam von drüben, von den Flügeln des Semaphors. Erstaunt blickte der Wärter hinüber; vor seinen Augen stellte sich der Arm auf „Halt“; das rote Licht flammte auf.

Der Wärter blickte ratlos den Schienenstrang hinunter; schon kam aus der Ferne das leise Geräusch des sich nähernden Kontinental-Zuges. Er wandte den Kopf nach rechts; nirgends war etwas zu sehen, was das Haltesignal erklärte.

Die Hupe eines Autos gellte durch den Abend. Auf der Landstraße nach Kopenhagen tauchten die Lichtbündel zweier Scheinwerfer auf; der Wagen sauste bis hart an die geschlossene Schranke heran. Es war ein offenes Auto mit dunkelgrün lackierter Karosserie; vorn am Führersitz wehte die Staatsflagge.

Drei Herren stiegen aus; sie blickten dem herannahenden Zuge entgegen, der seine Geschwindigkeit angesichts des kategorischen „Halt!“ zusehends verminderte; einer von ihnen ging an die Seiltrommel und begann den Schlagbaum aufzuwinden.

Der Blockwärter trat hinzu; der Herr sagte, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen:

„Polizei!“

Die Köpfe der Passagiere tauchten an den Fenstern auf; der Zug hielt. Eine Tür ging auf; in ihrem Rahmen stand die breitschultrige Gestalt des Zugführers. Die drei stiegen ein. Ihr Chef zog eine Legitimation; salutierend legte der Zugführer die Hand an die Mütze.

„Paßrevision!“ sagte der Chef der drei; und während ihm der Bahnbeamte verständnislos ins Gesicht sah, setzte er hinzu:

„Politische Polizei. Wir suchen einen Russen. Vielfacher Mörder.“

Der kleine Trupp setzte sich in Bewegung. Der Blockwärter gab irgendeine Meldung ins Telephon; fast augenblicklich erschien das grüne Licht am Signalmast; der Schlagbaum begann langsam vorüberzugleiten. Leises Rollen setzte ein: der Zug hatte die Fahrt wieder aufgenommen. — — —

„Und hier,“ sagte der Zugführer, indem er auf die verhängten Fenster eines Abteils deutete — „und hier: hier sitzt ein Herr mit einer Dame, die beiden fallen mir schon seit Gjedser merkwürdig auf.“

Er wies auf den schimmernden Seidenvorhang und wandte sein entrüstetes Gesicht den dreien zu: auf der Seide zeichnete sich die Silhouette von zwei Köpfen ab, die sich küßten.

Der Führer der drei schob krachend die Tür zurück und riß die Vorhänge auseinander.

„Die Pässe bitte!“

Die Dame, die der Tür am nächsten saß, knipste das Handtäschchen auf. Der Kontrollbeamte war einen Schritt ins Abteil getreten; die beiden andern und der Zugführer sahen neugierig hinein. Die Dame reichte das Paßbüchelchen herüber. Während der Beamte die Blätter durch die Finger gleiten ließ, kamen fremdartige Stempel zum Vorschein der Beweis einer langen internationalen Reise. Er drehte das Heft herum und schlug das Titelblatt auf. Er las den Namen der Besitzerin …

In diesem Augenblick erlebten die drei, die draußen standen, ein seltsames Schauspiel: vor ihren leibhaftigen Augen verwandelte sich ein schnaubender fährtewitternder Büttel in einen lächelnden Untertan. Ein Jagdhund, der hachelnd vor dem Bau des gehetzten Wildes stand, wurde in einer einzigen Minute zu einem kleinen, weißen, zärtlichen Lamm.

Er klappte das Buch zu, gab es mit einer tiefen Verbeugung zurück, trat auf den Korridor hinaus und rollte mit einer behutsamen und schonenden Gebärde die Tür langsam in das Schloß zurück, in das sie schnappend einklinkte.

„Nanu“, sagte der Zugführer.

Jener winkte nur kurz mit dem Zeigefinger und ging den Korridor hinunter; gehorsam folgten ihm die drei. Am Ende des Wagens, in der Ausbuchtung der Tür, blieb der Führer stehen.

„Wißt ihr, wer das war?“ Er warf einen furchtsamen Blick auf das Abteil am Ende des Wagens. „Der Polizeipräfekt von Kopenhagen mit seiner Frau!“

Einer seiner Untergebenen erlaubte sich zu erwidern:

„Aber Sie haben doch bloß ihren Paß gesehen!“

Ungeduldig antwortete der andere:

„Sie werden nie schlußfolgern lernen, Sörensen! Der Paß lautete auf den Polizeipräfekten und seine Frau.“

„Aber, wer sagt Ihnen,“ beharrte Sörensen eigensinnig auf seinem Gedankengang, „daß dieser Herr nun unbedingt der Polizeipräfekt sein muß?“

„Mein Gott!“ stöhnte der Chef. „Mein Gott! Sie haben doch selbst gesehen, daß die beiden sich geküßt haben! Glauben Sie, die Frau des Polizeipräfekten küßt sich mit einem fremden Manne? Noch dazu in der Eisenbahn?“

„Tja,“ sagte Sörensen, „das verstehen Sie natürlich besser. Ich meine nur: es soll ja auch Frauen geben, die auch mal mit einem fremden Manne …“

„Aber keine Frauen von Polizeibeamten!“ belehrte ihn der Vorgesetzte. „Wo ist die drahtlose Station, Zugführer?“

*

Das Telephon klingelte. Der Minister nahm selbst den Hörer ab.

„Anruf von L-Zug 7: kurz vor Kopenhagen. Mit Voranmeldung: der Herr Minister persönlich.“

„Am Apparat.“

„Ich gebe Bericht über die Durchsuchung des Zuges.“

„Haben Sie ihn gefunden?“

„Nein, Herr Minister. Wir haben alle Pässe revidiert — er war nicht im Zuge.“

„Sie sind ein …“ Wütend knallte der Minister den Hörer auf die Gabel. „Er ist ein Esel!“ vollendete er, indem er sich zu dem Herrn herumwandte, der neben seinem Schreibtisch stand.

„Jawohl, Herr Minister“, sagte der.

„Herr Präfekt!“ Der Wütende richtete sich auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Kante des helleichenen Schreibtisches. „Herr Polizeipräfekt!“

„Jawohl, Herr Minister.“

„Es ist keine Frage: mit diesem Zuge ist er gekommen. Das bedeutet, daß wir in dieser Nacht mit einem neuen Verbrechen zu rechnen haben. Alles steht für uns auf dem Spiel; wahrscheinlich werden wir in diesen sieben Stunden etwas erleben, was Kopenhagen noch nicht gesehen hat. Sie haben es für richtig gehalten, Ihre unfähigsten Beamten auf die wichtigste Mission zu entsenden, die es in diesem Augenblick gibt. Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Präfekt.“

„Ich habe drei Beamte an den Zug beordert“, sagte der Belobte.

„… die alle drei nichts entdeckt haben.“

„Allerdings.“

„Wenn in dieser Nacht etwas passiert, Herr Präfekt — und es wird etwas passieren, so wahr ich Minister bin — ich sage: wenn in dieser Nacht etwas passiert: ein Verbrechen — ein Attentat — ein Befreiungsversuch — so sind wir beide erledigt. Sie und ich, Herr Präfekt. Wissen Sie, was das bedeutet?“

„Ich weiß es, Herr Minister“, sagte der Präfekt.

„Das freut mich. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.“

*

„Warum —“ Die Dame wandte sich lächelnd zu ihrem Begleiter herum, der neben ihr den Bahnsteig entlangschritt. „Warum bleiben Sie einen halben Schritt hinter mir?“

Der dunkle Herr warf einen schnellen Blick auf den livrierten Chauffeur, der drei helle Lederkoffer balancierend vor ihnen herschritt.

„Nun?“

Der Hauptbahnhof war erfüllt von Menschen, von Lärm, von Geschrei. Eben ging der Chauffeur durch die Sperre; der Schaffner, der die Uniform kennen mochte, grüßte kollegial und wandte den Kopf erwartungsvoll dem Perron zu; er legte die Hand an die Mütze.

„Werden Sie von Ihrem Gatten erwartet?“

Die junge Dame zuckte die Achseln. „Es ist möglich. Mein Mann hat viel zu tun.“

„Ich habe,“ begann der Herr zögernd, „ich habe eine Verabredung …“

„Ich nehme Sie im Auto mit in die Stadt.“

Die beiden traten ins Freie hinaus. Drüben hielt der Wagen; der Chauffeur stand am geöffneten Schlag.

Der junge Herr blieb stehen. „Es ist sehr gütig, gnädige Frau. Welchen Weg fahren Sie?“

„Durch die Vesterbrogade.“

„Das ist schade: ich muß rechts herum: nach der Glyptothek.“

„Wie Sie wollen.“

Der Herr ergriff die Hand der blonden Frau und blickte ihr stumm ins Gesicht.

„Mein Mann würde kaum etwas dagegen haben.“

„Ich werde kommen“, sagte er leise. „Früher als Sie denken, werde ich bei Ihnen sein.“

„Wollen Sie mich nicht ans Auto geleiten?“

Er zog die Uhr. „Seien Sie mir nicht böse — es geht nicht.“

„Steht so viel auf dem Spiel?“

Er zog die Hand der jungen Frau an die Lippen.

„Ja“, sagte er, indem er sich aufrichtete. „Es steht viel auf dem Spiel.“

Sie wandte sich herum, mit einem kurzen, ein wenig indignierten Gruß. Er blieb einen Moment lang stehen, vielleicht unschlüssig, vielleicht im plötzlichen Gefühl einer begangenen Unhöflichkeit, vielleicht eines begangenen Fehlers. Im Innern des Autos flammte eine Lampe auf; im gleichen Augenblick wandte sich der Herr zur Rechten und verschwand im Menschengewühl, das in unablässigem Strome dem Innern der Stadt zuflutete.

„Warum ist mein Mann nicht gekommen?“ Sie legte die Hand auf den Türgriff.

„Der Herr Präfekt,“ sagte der Chauffeur, immer mit jener schonenden halblauten Stimme; „der Herr Präfekt ist heute sehr gehetzt, gnädige Frau. Er hat in aller Eile diese Blumen in den Wagen gelegt, dann ist er wieder abgefahren. Man sucht jemanden. Etwas mit Politik. Ein ganz schwerer Fall.“

„Was hat mein Mann damit zu tun?“

„Ich weiß es nicht genau, gnädige Frau.“

Die junge Frau zog den Schlag zu; augenblicklich ging die Hupe des Autos. Der Schutzmann, der dienstbereit gefolgt war, gab ein Signal; der Wagen glitt in den dämmernden Abend hinein.

Sie wandte den Kopf zur Rechten, das heimatliche Bild schien ihr neu und ungewohnt; neu in seinen herben nordischen Konturen, die sie erst jetzt, nach den Eindrücken einer langen und abwechslungsreichen Reise, recht begriff. Sie blickte hinüber, angezogen von irgend etwas, was sie fühlte, nicht sah.

An der Ecke der Helgolandsgade stand ihr Reisebegleiter; er blickte dem Wagen entgegen, verstohlen, dennoch mit einem unverkennbaren gespannten Interesse. Sie zog den Kopf zurück, ohne eigentlich zu wissen warum. Schämte sie sich für ihn? Er hatte erklärt, er müsse zur Rechten, nach der Glyptothek. Warum hatte er gelogen?

*

Eben fiel die Gartentür hinter ihr zu, als ein zweites Auto vorfuhr. Es war das Dienstauto der Staatspolizei; ihr Mann stieg aus und kam mit eiligen Schritten hinter ihr her. Er schien ihr nervös, ganz gegen früher fiel ihr seine Zerstreutheit auf. Dennoch, das fühlte sie deutlich, war er froh über ihre Rückkehr; er drückte ihre Hand und preßte sie, wie es seine Gewohnheit war, zärtlich gegen seine Wange.

Aus dem Arbeitszimmer kam das Schrillen des Telephons. Er seufzte auf und nahm den Hörer ab; sie trat zögernd hinter ihm ein. Eben hörte sie, wie er sagte:

„Alle Bahnhöfe besetzen — alle Flugstationen sperren — alle Autostraßen, die zur Stadt hinausführen, unter Bewachung stellen! Ich bin die ganze Nacht telephonisch zu erreichen — der geringste Vorfall ist mir sofort zu melden!“

Die Zofe erschien.

„Der Herr Präfekt denken doch daran, daß die Herrschaften heute abend zum Ball eingeladen sind?“

Er wandte sich seufzend herum. „Du wirst müde sein, Schatz.“

„Ich?“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Müde?“

„Nun — von der langen Reise …“

„Ist das Bad bereit?“

„Gewiß, gnädige Frau.“

„Ich bin nicht müde“, sagte sie, schon in der geöffneten Tür. „Nicht im geringsten. Übrigens: was für ein Ball ist das? Und bei wem?“

Aber in diesem Augenblick klingelte das Telephon, und der Präfekt, der ärgerlich eine gleichgültige Meldung entgegennahm, konnte die Frage nicht mehr beantworten.

*

Draußen, hinter den Fenstern der Villa, lag nordischer Nebel. Der Präfekt war abgerufen worden. Das Zimmer, wohlig durchwärmt, war erfüllt von einem fremdartigen Duft, der sie seltsam einschläferte. Die Zofe huschte herein; die junge Frau wies auf das Heft, das auf dem kleinen Schreibtisch lag.

„Der Herr Präfekt hat eben telephoniert“, sagte die Zofe, während sie ihr das Magazin hinüberreichte. „Es könne noch lange dauern. Wenn es der gnädigen Frau recht ist, möge sie vielleicht allein zum Ball fahren; der Herr Präfekt werde kommen, sobald es der Dienst erlaube.“

„Es ist gut“, sagte sie mit einer ärgerlichen Handbewegung; die Zopfe verschwand.

Das Magazin knisterte in ihrer Hand; sie überblätterte es. Hier war der Kniff; von selbst schlug sich die Seite auf.

Roman einer Nacht

las sie an diesem Tage zum soundsovielten Male. Die aufgeschlagene Stelle lautete:

„Niemand aber wusste, dass der bescheidene junge Mann, der von Zeit zu Zeit in den Kopenhagener Hotels auftauchte, kein anderer war als der geheime Beauftragte Fedor Sokoloff — bis es eines Tages der Behörde auffiel, dass sein Erscheinen jedesmal mit einem geheimnisvollen Attentat zusammentraf. Von da an beobachtete man den Fremden und stellte fest, dass er unter verschiedenen Namen reiste.“

Im Hause schlugen Türen. Ein Schritt kam über den Korridor. Die Tür ging auf. Es war ihr Mann.

„Du bist noch nicht im Frack?“ fragte sie, gegen ihren eigenen Willen ein wenig ungeduldig.

„Nein“, sagte er nervös. „Ich kann dich nicht begleiten. Du mußt allein auf das Kostümfest fahren.“

„Was um Gottes willen gibt es eigentlich? Warum bist du heute in so entsetzlicher Eile — und in so entsetzlicher Stimmung?“

Er zuckte die Achseln. „Ich muß dir etwas gestehen: meine Stellung steht auf dem Spiel.“

Bestürzt sah sie ihm ins Gesicht. „Deine Stellung“, wiederholte sie, sich aufrichtend.

„Die Beamten haben versagt. Der Mann, den wir suchen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Kontinental-Zug gekommen.“

„Mit meinem Zuge?“

„Ich habe alle Abteile durchsuchen lassen. Alle Pässe sind revidiert worden.“

Sie sah nachdenklich zu Boden.

„Alle Pässe“, sagte sie leise. „Alle Pässe …“

„Es ist nicht unmöglich, daß heute nacht etwas passiert. Ein Mord. Irgend etwas, was verhütet werden muß. Leider wissen wir weder einen Namen noch haben wir ein Bild. Du wirst begreifen … unter diesen Umständen … wenn sich etwas ereignet, und ich fürchte es fast, bin ich erledigt.“

„Ich werde lieber daheim bleiben.“

„Nein.“ Er ging auf sie zu und nahm ihre Hand. „Ich möchte dich bitten, nicht zu Hause zu bleiben. Es macht mich nervös — ich habe das Gefühl, daß alles auf mich blickt — das macht meine Hand unsicher. Bitte fahre allein. Wenn du nicht zu müde bist.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es noch nicht. Ich bin ein bißchen unruhig geworden; du wirst es verstehen.“

„Auf alle Fälle werde ich im Laufe der Nacht, wenn auch nur für ein paar Minuten, auf den Ball kommen. Je besser du dich amüsierst, desto leichter, möchte ich sagen, ist mein Gewissen. Ich muß auf die Präfektur. Leb’ wohl.“

Sie blickte sinnend auf die Tür, die sich hinter ihm schloß. Eine Unruhe hatte sie erfaßt, die sie sich selbst nicht recht erklären konnte. Sie kannte ihren Mann — sie wußte, daß er von einer zähen Tüchtigkeit war, die selten ihr Ziel verfehlte. Jedesmal war es so: immer, vor jedem schwierigen Unternehmen, glaubte er eine Stunde lang, diesmal werde es schief gehen, und jedesmal hatte er seine Aufgabe gelöst. Es war etwas anderes, was auf dem Grunde ihrer Gedanken aufklang. Ihre Blicke glitten hinüber zu dem weißen Buch, das auf der Chaiselongue lag, mit seiner schimmernden Glätte, die das matte Licht der Seidenlampe spiegelnd zurückwarf. Irgendwo standen unausgesprochene Dinge gegeneinander, berührten sich zu einem Zusammenklang, den sie nur mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstand begriff.

Plötzlich klingelte das Telephon, das auf dem Schreibtisch stand. Sie fuhr verstört zusammen; mit bebender Hand nahm sie den Hörer ab.“

„Raten Sie einmal, wer hier ist“, kam eine lachende Stimme aus der Membran.

„Sie?“ fragte sie ungläubig; sie fühlte, daß etwas wie Angst in ihr aufstieg.

„Ich bin frei; es ging schneller, als ich gedacht hatte. Wann darf ich Sie sehen?“

Sie holte tief Atem. „Wo sind Sie?“

„Im Hotel.“

Ihr Herz begann zu klopfen. Leise fragte sie:

„Welche Antwort erwarten Sie von mir?“

Flüsternd kam es zurück:

„Eine Antwort, die mich glücklich macht.“

Sie hörte das seltsame Beben in seiner Stimme — und jäh schlug die heiße Flamme in ihr Blut.

„Und wenn ich Nein sage?“ fragte sie unsicher.

„Sie dürfen nicht Nein sagen.“

„Wir wollten auf einen Ball gehen; mein Mann ist abgerufen worden.“

„Darf ich kommen?“

„Wollen Sie mich auf den Ball begleiten?“

„Ich darf bis zum Morgen mit Ihnen zusammen sein?“

„Sie dürfen kommen und mich abholen.“

Sie legte, wie um sich selbst zu überrumpeln, den Hörer auf die Gabel und trat verwirrt ans Fenster. Die Straße lag im Dunst des fröstelnden Abends; der Nebel hatte sich gelockert, Lichter blinkten aus der Ferne, von farbigen Kreisen umzittert. Dieser Abend, fühlbar anders als die Nächte des Südens, bedrückte und erregte sie zugleich. Alle Dinge waren von einer zärtlichen und drohenden Tiefe; sie fühlte die Schatten, die jenseits ihrer Gedanken standen, schneller begann ihr Blut zu jagen. Merkwürdig: ein anderes bäumte sich auf gegen den Zwang, der von außen kam wie die Ausstrahlung einer fremden und gefährlichen Macht. Hier waren Dinge am Werk, die sie zugleich liebte und fürchtete — aus tiefem Dunkel krochen sie heran.

Mit einer unmutigen Bewegung wandte sie sich der Lampe zu. Aus ihrem sonnenfarbenen Licht tropfte es beruhigend auf sie nieder, beruhigend und tröstend. Entschlossen warf sie sich in die Polster zurück; von neuem nahm sie das Buch:

„Fedor Sokoloff war der klügste und rücksichtsloseste von allen Emissären, die der Partei dienten. Er hatte das Unglaubliche erreicht: während einer Reise im Kontinental-Zug hatte er die Bekanntschaft der Frau des Polizeipräfekten zu machen gewusst. Ihr Name öffnete ihm die Salons der Stadt — sie selbst führte den interessanten Ausländer in ihre Kreise ein. Man wusste nicht recht: bestanden zwischen den beiden zärtliche Beziehungen …?“

Betroffen las sie den Inhalt dieser Sätze zum wiederholten Male. Konnten Zufall und Wirklichkeit so seltsam durcheinander spielen? Hatte der Autor dieser Novelle ein Erlebnis vorausgeahnt, das noch nicht Existenz besaß, als er es niederschrieb? Waren diese Dinge aus rein kombinatorischer Spielerei geschaffen — oder lag ein unbegreifliches Erfassen zukünftiger Geschehnisse auf ihrem Grunde? Die Figuren dieser Erzählung waren Fleisch und Blut geworden. Die Ereignisse griffen ineinander, ballten sich zu einem Konflikt, den sie dumpf erfühlte, der um sie kreiste, während sie das dünne Heft in ihrer Hand hielt; aus Gedanken und Gefühlen, aus unbekannten Tiefen stieg es herauf. Das Buch begann ihr unbegreifliche Angst einzuflößen; sie wollte es fortschieben — sie vermochte es nicht. Unter einem unerklärlichen Zwang las sie weiter …

Roman einer Nacht

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