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I

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Gustav Raymund öffnete den Pelzmantel, was die herzliche Heiterkeit der beiden anderen erregte.

Cornelsen stiess mit dem Ellenbogen den neben ihm gehenden Westermann in die Seite und deutete mit den Augen auf den Schnee, der fusshoch in frostiger Pracht den Rand des Trottoirs säumte.

Die drei passierten eben den Stadtbahnbogen, über den donnernd ein D-Zug nach dem Osten raste. Das Gewühl der Friedrichstrasse schlug gegen die schwärzlichen Träger wie zischendes Wasser gegen die dunkle und ruhige Mole; es brandete in unruhigen Spritzern zurück in den wirbelnden Dunst, über dem klar und erbarmungslos die bläuliche Kette der Bogenlampen stand. Rechts und links rotierten Drehtüren, lockten farbig glühende Lämpchen, und auf der Brücke raschelte die Halbseide der beginnenden Vorstadt.

Westermann wies hinüber nach dem Kabarett. Raymund schüttelte den Kopf.

Drei junge Damen, die Röcke im Geschmack dieser Gegend schulmädchenartig gerafft, fassten sich unter und schwänzelten den dreien mit beziehungsvoller Ahnungslosigkeit entgegen.

Prompt öffnete sich die Kette der Herren und liess die drei passieren — eine respektvolle Geste, die den Rücksichtsvollen ein paar enttäuschte Zurufe eintrug.

Die Strasse verbreiterte sich, aber Duft und Farbe hatten sich verändert; nun war sie eine völlig andere geworden. Was hier im harten Lichte vorüberstrich, kam aus den Mietskasernen des Nordens, in Kleidung, Sprache und Art kleinbürgerlicher, robuster, nuancenloser.

Westermann blieb an einem Auto stehen.

„Altes Ballhaus!“

Die beiden andern protestierten: „Wir wollen zu Fuss gehen. Das kleine Stück!“ Mit einer verzweifelten Gebärde zuckte Westermann die Achseln und versenkte die Hände in den Raglan.

Sie bogen schräg über die Strasse. Die Gegend der Kellerwirtschaften tat sich auf; kratzend gingen grelle Geigen. Dann wurde es dunkler, eine Strasse von unabsehbarer Länge öffnete sich, das elektrische Licht wich dem Gas, und rarer wurden Paletot und Stehkragen.

Aus einem der Toreingänge, die wie schwere Schlagschatten gegen das harte Glühlicht standen, kam hastiges Laufen. Schimpfworte gellten auf, hallend flogen Füsse über den Zement. Im Lichtkegel der Lampe erschien ein Mädchen. Sie sah sich einen Moment verzweifelt um, dann rannte sie die Strasse hinunter, den dreien entgegen. Ihr folgte, fast auf den Fersen, ein breitschultriger Bursche. Er war schneller als sie, und seine Verwünschungen grölten drohend vor ihm her. Sie, mit einem letzten Zusammennehmen aller Kräfte, beschleunigte ihren Lauf, und atemlos stand sie vor den dreien, die Hand auf das Herz gepresst.

Da hatte der Verfolger sie schon eingeholt. Aber er mochte, obwohl er die drei nicht zu sehen schien, das Unvorteilhafte der Situation schlau erfasst haben; denn er begnügte sich damit, die Keuchende am Arm zu packen.

„Was ist denn?“ fragte Raymund, der zum erstenmal den Mund auftat. „Was gibt es, was wollen Sie von diesem Mädchen?“

„Das ist meine Sache“, sagte der Bursche knurrend, dennoch mit einem Unterton des Respekts. „Sie ist meine Schwester und will mir nicht gehorchen.“ Damit zog er die Widerstrebende an sich.

Raymund drängte sich zwischen die beiden. „Was ist das, Fräulein? Ist dies Ihr Bruder?“

Das Mädchen nickte.

„Da hören Sie es selbst“ — die Stimme des jungen Menschen wurde lauter — „und nun stören Sie uns gefälligst nicht, wir müssen in den Zirkus.“

Plötzlich begann das Mädchen zu schluchzen. „Ich soll mein Leben aufs Spiel setzen. Bloss damit er Geld verdient!“

„Also hören Sie mal“, Westermann, Mitglied des Athletenklubs „Knockout“, hatte das Gefühl, dass er hier etwas tun müsse. Er befreite den Arm der Geängstigten aus der Umklammerung. „Ich werde es nicht zulassen, dass Sie Ihre Schwester hier so einfach mit Gewalt zu etwas zwingen, was gegen ihren Willen geht. Und überhaupt, wenn Lebensgefahr dabei ist ...“

„Mein Herr,“ sagte der Gescholtene, indem er sich zu edler Pose aufrichtete, „was meine Schwester sagt, ist dummes Zeug.“

„Er lügt“, schluchzte sie.

„... ist dummes Zeug. Überzeugen Sie sich selbst davon, meine Herren. Nämlich die Sache ist die, wir treten zusammen auf im Zirkus ‚Salandra‘.“

„Salandra?“ wiederholte Raymund kopfschüttelnd. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wo ist denn das?“

„Der Zirkus Salandra ist der schönste Zirkus Deutschlands, und er befindet sich auf dem Rummelplatz in der Ackerstrasse. Ich denke, das genügt.“

„Durchaus“, sagte Raymund.

„In zehn Minuten fängt die neue Vorstellung an. Und zu dieser sind die Herren ergebenst von mir und meiner Schwester eingeladen. Sie müssen nämlich wissen, meine Herren, ich bin die Hauptattraktion des Zirkus ‚Salandra‘, und wenn ich jemand einlade, so hat der Direktor gar nichts dagegen zu haben. Sollte er aber trotz alledem vielleicht — Sie verstehen— er sitzt selbst an der Kasse, es ist so ein kleiner Dicker, dann hauchen Sie ihn, bitte, gehörig an. Oder geben Sie einfach dem Billetteur einen Schubs und gehen durch. Ach so, das geht vielleicht nicht, ich verstehe, ich habe mit Schentelmännern zu tun; also wenn Sie ihm keinen Schubs geben wollen, gehen Sie doch bitte um das Zelt herum; am Hintereingang des Zirkus, dort, wo das kleine Fenster eingelassen ist, dort brauchen Sie bloss anzuklopfen, dann lasse ich Sie durch den Garderobenkorridor.“

„Schon gut,“ sagte Cornelsen beunruhigt, „wir werden schon hineinkommen in den Zirkus. Aber was ist denn das mit Ihrer Schwester — Sie sehen doch, sie zittert am ganzen Körper.“

„Ich darf es Ihnen eigentlich nicht verraten, mein Herr, denn ich nehme Ihnen die Spannung weg. Aber so viel auf alle Fälle: unsere Nummer heisst ‚Die glühende Gasse‘, und sie ist fabelhaft interessant. Und von wegen Gefahr, das sieht bloss so aus, und meine Schwester ist nur wütend, weil ich gestern abend in gerechtem Zorn den Vorschuss versoffen habe.“

„Soso!“

„Keinen Pfennig haben wir im Hause,“ flüsterte die junge Artistin, „alles bringt er durch; und das ist noch nicht das schlimmste. Ich darf nicht nach Hause gehen, wenn die Vorstellung zu Ende ist, immer hat er irgendwelche Bekanntschaften parat ...“

„Also die Vorstellung beginnt, und ich muss eine Million Konventionalstrafe bezahlen, wenn wir nicht ...“

Überwältig von der geschäftlichen Logik dieser Worte liessen die drei es geschehen, dass der junge Mann seine Schwester mit sich fortzog. Er wandte sich noch einmal zurück und sagte, indem er mit der charakteristischen Eleganz des Akrobaten eine fabelhafte Verbeugung hinlegte:

„Ich heisse Jean Coupot — und dies ist meine Schwester Ninon Coupot. Und im übrigen können Sie ganz beruhigt sein, Ninon wird so wenig etwas geschehen wie Ihnen in Ihrer Loge. Also vergessen Sie nicht: er ist ein kleiner Dicker und sitzt an der Kasse, oder Sie schubsen den Billetteur, oder Sie klopfen hinten an mein kleines Fenster. Auf baldiges Wiedersehen! Danke sehr!“

Er blickte verstohlen in die hohle Hand und sagte mit einem tiefen Ton der Hochachtung: „Nochmals ergebensten Dank!“

Damit segelten die beiden um die Ecke.

„Wofür bedankt er sich eigentlich?“ sagte Cornelsen.

Raymund lachte: „Ich habe ihm hundert Mark in die Hand gedrückt.“

*

Die drei hatten weder um die Gunst des kleinen Dicken an der Kasse gebuhlt, noch hatten sie den Billetteur geschubst, noch hatten sie an Herrn Jean Coupots kleines Fenster geklopft. Vielmehr hatten sie drei Logenplätze gekauft, die der Herr Direktor an der Kasse — der im übrigen noch kleiner und noch dicker war, als sie erwartet hatten — erst unter besonderen Zeremonien zu Logenplätzen umgewandelt hatte; als die drei den Zuschauerraum betraten, sahen sie mit Erstaunen den kleinen Dicken unter Assistenz desselben Billetteurs, dem Herr Coupot hinterhältigerweise einen Schubs zugedacht hatte, eine Loge herrichten. Dies geschah unter Anwendung einer drohenden Schnur aus Stacheldraht, die rostig und feucht war und auf einen längeren unbewachten Aufenthalt draussen auf dem Rummelplatz schliessen liess.

„Wir könnten jetzt warm und weich im ‚Alten Ballhaus‘ sitzen“, sagte Kurt Cornelsen kopfschüttelnd. „Statt dessen paradieren wir mit unseren Pelzmänteln mang die Bowkes.“

„Das ist doch gerade amüsant“, widersprach ihm Westermann mit einem mutigen Blick auf seine Muskeln, die schwellend in den Ulsterärmeln prangten. „Ausserdem findest du hier viel mehr wahre Ethik als in den parfümgeschwängerten Salons des Westens.“

„Stimmt!“ bestätigte Raymund mit einem Blick auf eine knospende Schönheit, die die drei mit der Ungeniertheit der wahren Unschuld anstaunte, wobei sie sinnend in der Nase bohrte.

Zuerst trat ein Mann auf, der ein kleines Schwein im Arm hielt. Es war als Baby angezogen, und sein Herr steckte ihm eine Milchflasche mit einem Schnuller ins Mäulchen, an dem das kleine Schwein begierig lutschte.

„Bravo!“ sagten ein paar Leute in den hintersten Reihen.

„Pst!“ mahnte jemand, gerade so, als ob man Gefahr liefe, einen Ohrenschmaus zu versäumen.

Dann zog der Produzierende seinem Schweinchen eins der Kleidchen nach dem anderen aus, Windeln kamen zum Vorschein, was bei den Damen, die dies unendlich pikant fanden, Husten und Kichern hervorrief. Endlich kam ein nackter kleiner Schweinekörper zum Vorschein, und als Clou setzte der Artist das Schweinchen auf ein kleines Töpfchen.

Ein Beifallssturm raste durch das Haus; unter vielen Verbeugungen, an denen sich auch das Schwein beteiligte, verschwand die erste Nummer, und eine Bierpause trat ein.

Dann erschienen ein paar Männer, die das Publikum aufforderten, sich mit ihnen im Boxkampf zu messen. Sie sahen mit ernsten Gesichtern um sich, den Körper schlaksig wiegend, muskulöse Treuherzigkeit im Gesicht. Ihr Auftreten wirkte entschieden vertrauenerweckend, man hatte das Gefühl: wenn man mit einem dieser Männer des Nachts durch die Ackerstrasse ging, konnte einem nichts passieren (es sei denn von ihm selbst, aber dagegen sprach eben jene muskulöse Treuherzigkeit). Sie verhiessen dem, der sie werfen würde, die unerhörtesten Goldpreise, und als sie mit ihren Angeboten auf fünfzehn Mark angelangt waren, stieg ein Tiroler entschlossen, noch treuherziger im Gesicht als jene, über das Tau, das die Manege säumte. Er hatte klimpernde Orden auf der Brust, die um so mehr imponierten, als niemand sich erklären konnte, wofür sie eigentlich verliehen waren.

„Dieser Mann, Herr ... Herr ...“

„Alois Huber.“

„... Herr Alois Huber aus ...“

„Aus Ober-Nieder-Tupfingen.“

„... aus Oberbayern ...“

„... aus Ober-Nieder-Tupfingen!“

„... aus Ober-Nieder-Tupfingen will den Versuch machen, den von der Direktion gestifteten Goldmarkpreis in Höhe von fünfzehn Mark zu gewinnen. Meine Herrschaften, es wird im Zirkus Salandra nach allen Regeln des Sports geboxt, das Publikum selbst wird gebeten, die einzelnen Gänge zu beobachten und eventuell verbotene Griffe auf der Stelle zu rügen.“

„Gemacht!!!“

Der Sprechende schien den Ausruf als ein Kompliment zu nehmen, denn er verbeugte sich geschmeichelt.

„Und nun, Herr Tupfer aus Ober-Nieder-Bayern ...“

„Huber aus Ober-Nieder-Tupfingen!“

„Pardon, Herr Huber ...“

„Mensch, tu nich so,“ schrie einer, der am Büfett stand, „du kennst ihn doch, er ist doch hier angestellt und ringt jeden Abend mit euch!“

„Ach, Herr Billetteur, befördern Sie diesen jungen Mann doch einmal an die Luft!“

„Gibt’s nich, Fritze bleibt hier!“

„Dann soll er ruhig sein!“

„Wenn da aber doch ...“

Der Rekommandeur streifte die Ärmel auf; man wusste nicht recht, ob er mit dem Boxkampf anfangen oder ob er Fritze eine Drohung zukommen lassen wollte. Da nichts erfolgte, nickte er befriedigt und sagte mit ruhiger, siegesgewisser Stimme: „Nu geht es los.“

„Wann kommt denn eigentlich die ‚Glühende Gasse‘?“ fragte Cornelsen.

„Wird schon kommen.“ Westermann sah ein wenig ungeduldig zu den Boxern hinüber; Raymund stand auf, und auch Cornelsen erhob sich.

„Was wollt ihr?“

„Was kann er wollen,“ sagte Cornelsen achselzuckend, „durch das kleine Fenster will er glupen.“

„Wie kann man bloss, wo es jetzt interessant wird!“

„Warum boxt du eigentlich nicht mit?“ fragte Cornelsen, indem er geschickt über den Drahtverhau kletterte.

„Kommt noch.“

„Also Hals- und Beinbruch!“

„Ihr werdet euch erkälten.“

„Und wenn du mit Engelzungen redetest,“ lachte Raymund, „wir gehen doch!“

Der Direktor sah die beiden erstaunt und sichtlich beleidigt an; aber als sie ihm erklärten, sie würden zur Hauptnummer wiederkommen, gab er ihnen Kontermarken.

„Schieber!“ scholl es hinter ihnen her. Überrascht sahen sie sich um.

„Er meint die Boxer“, belehrte sie der Direktor.

Da waren sie beruhigt.

Kalte Winternacht schlug ihnen entgegen. Der Schein der Gaslaternen flimmerte über die Spanten des Vielecks, die die Konturen des grossen Zeltes bildeten. Durch das verwitterte Segeltuch drang gedämpft das Träträ der Blechmusik. Schutt und Gerümpel säumten den dunklen Platz, der ausgespart war zwischen Brandmauern und Hinterfronten hoher Mietkasernen; die düsteren Reihen der Fenster wurden hie und da unterbrochen von starrem Lichtschein, der die Finsternis teilte, ohne sie zu erhellen.

Selbst diese elende Baracke schien nicht des seltsamen Reizes zu entbehren, den die Mischung von geheimnisvoller Erwartung, verhaltener Erotik und Menschengeruch hervorbringt. Habitués des Rummelplatzes, die Hände in den Hosentaschen, die Mütze schief auf dem vorgekämmten Haar, strichen schattenhaft zwischen den Mauern, das unruhige Auge spähend, verschlagen und keck. Kichernd flüsterten frühreife Vierzehnjährige in den Schlagschatten der Ecken und Winkel, mit Röcken von betonter Kürze. Ihre Blicke, in denen längst erwachtes Zielbewusstsein flimmerte, trafen sich mit denen der Vorübergleitenden. Der Geruch von Schmalzgebackenem mischte sich mit der erregten Atmosphäre zum charakteristischen Duft der Vorstadt.

Von innen hörte man Händeklatschen, die Musik setzte aus, Zurufe, gedämpft und unverständlich, schwirrten. Ein Tusch stieg, wieder setzte Applaus ein.

„Es klingt, als wenn Erbsen niederprasseln“, sagte Cornelsen.

Eine niedrige Tür an der Hinterfront des Zeltgebäudes tat sich auf, Lichtschein fiel einen Augenblick auf das schmutzige Brachland. Es war Jean Coupot, der Artist; es schien, als hätte er die beiden erwartet, vielleicht beobachtet.

„Gleich ist es so weit, meine Herren“, sagte er verheissungsvoll. „Meine Schwester ist schon fertig für die Vorstellung. Wollen Sie sie einmal sehen?“ Und dann, auf das zögernde Achselzucken der beiden, setzte er ermutigend hinzu: „Es ist nichts dabei, und ob Sie sie nun auf der Bühne so zu sehen kriegen oder privatim, das ist schliesslich egal.“

Er ging voraus; die beiden folgten. Sie zwängten sich, immer hinter jenem, durch einen unglaublich schmalen Gang; es roch nach Latten, nach Gas und Brennschere.

Eine winzige Treppe von drei Stufen führte zu einer kleinen Tür. Ohne zu klopfen, öffnete sie der junge Mensch.

Von innen kam ein kleiner Aufschrei. Die beiden blickten in einen winzigen niedrigen Raum, in dessen Mitte ein junges Mädchen stand, das völlig nackt war. Was indessen im Schein des Glühlichts rosig schimmerte, war nicht der warme Ton des Fleisches; ein Gipsfirnis, eben zu einer schützenden Haut erstarrend, bedeckte den ganzen Körper, der übrigens von bewundernswürdigem Ebenmass war. Sie griff mit einer scheuen und erschreckten Bewegung nach dem Mantel; aber ihr Bruder nahm ihn ihr mit sachlicher Selbstverständlichkeit aus der Hand.

„Verzeihung, mein Fräulein“, sagte Raymund; „wir hatten nicht die Absicht, Sie zu überrumpeln; wir wussten überhaupt nicht, dass Sie ... dass Sie ... Wir werden sofort wieder gehen. — Warum lassen Sie übrigens Ihrer Schwester nicht den Mantel?“

„Weil sie noch nicht trocken ist“, sagte Coupot.

„Wir bitten um Entschuldigung.“ Damit drängte Raymund den Freund hinaus; auf der Stelle kam Coupot ihnen nach, die Tür heftig hinter sich schliessend.

„Wie konnten Sie nur ...“

Der Bursche machte ein Gesicht, als wolle er sagen: Blödian! Aber laut sagte er: „Was ist denn dabei — nachher in der Manege kriegen Sie sie doch genau so serviert.“

„Ihre leibliche Schwester!“

„Meine Herren,“ sagte Coupot, indem er ein halb beleidigtes, halb feierliches Gesicht machte, „Sie verkennen diese ganze Sache vollkommen. Ich habe geglaubt, ich hätte es mit Herren aus den Kreisen zu tun, in denen man für die Kunst etwas übrighat.“

„Für die Künstler, wollten Sie sagen.“

Coupot schnippte mit Daumen und Mittelfinger auf die Leinwand des Zeltes, was einen krachenden Trommelschlag verursachte. „Ich sehe, wir verstehen uns wieder falsch.“ Fast traurig zuckte er die Achseln und ging langsam, die zwei führend, dem Haupteingang der Bude zu. „Es gibt auch noch anständige Artisten, mein Herr; und weil ich einer von dieser anständigen Sorte bin, hatte ich geglaubt, dass es andererseits auch anständige ... na ja ... anständige Kavaliere gibt. Aber man sieht es immer wieder: was ich denk und tu, trau ich andern zu.“

Cornelsen stiess Raymund an, und dieser sagte: „Wir wollten Sie natürlich nicht kränken.“

„Na ja, is schon gut. Also ich wünsche viel Vergnügen.“

Der Raum war schon in feierliches Dunkel getaucht, als die beiden in ihre Loge kletterten. Die Musik schwieg erwartungsvoll; man hörte nichts, als den Viertakt des Motors, der gleich nebenan die Lichtmaschine trieb. Dann setzte, verschleiert unter der Sordine, eine Suite ein, und in der Manege flammte rotes Licht auf. Zwei Flammengarben schossen aus unsichtbaren Tiefen hervor; im roten Mantel, das Kruzifix in den Händen, trat Coupot, der Henker, feierlichen Schrittes in die Arena. Er inspizierte mit symbolischen Gesten eine abgezirkelte Strecke und winkte; Messnerknaben erschienen, dampfende Becken in den Händen, aus denen sie glühende Kohlen auf den Weg streuten. Dann schichteten sie am Ende der Gasse Reisig zu einem grossen Scheiterhaufen zusammen, den sie entzündeten. Knisternd prasselten Flammen auf, leckten am trockenen Holz hinauf.

Die Beleuchtung war so unbestimmt und verwirrend, dass niemand recht erkennen konnte, ob diese Dinge, diese Flammen, diese Kohlen, dieses Holz echt waren. Alles konnte ebensogut eine Täuschung sein, eine Illusion der Beleuchtungseffekte, der Stimmung, der Autosuggestion; die drei mussten an indische Fakire denken und an ihre Produktionen, die, wie jene hier, ständig zwischen Trug und Wahrheit balancierten.

Dann kam Ninon, die Sünderin.

Coupot hatte recht gehabt: ihre Nacktheit wirkte, selbst unter den zielbewussten Blicken dieser illusionslosen Menge, nicht wie Selbstzweck. Sie ergab sich aus der Situation; das sprach für die Überzeugungskraft der „Nummer“.

Irgendein Schalthebel mochte gerückt sein — das Licht veränderte sich, ohne dass man die Veränderung so recht erklären konnte. Die Stimmung wurde düsterer, drohender — die Musik ging über in ein erwartungsvolles diminuendo. Der Henker gab ein Zeichen — und die Sünderin schreckte, halb rollengemäss, halb sichtlich voll Angst, zurück. Die Musik brach ab.

Man hörte das Atmen der Menge, als nunmehr Ninon wie in bebender Todesfurcht langsam einen Fuss vor den andern setzte. Es schien, als ob die Kohlen drohender glühten, und ein zischender Dampf stieg auf, wo Ninon den Fuss hinsetzte. Sie schritt langsam die glühende Gasse hinunter, und die flammenden Kohlen wurden dichter und lohender, je näher sie ihrem Ziel kam. Ganz leise setzte das Cello ein; die nervöse Melodie unterstrich die Beklommenheit, die über dem Raum lastete.

Unentschlossen, die Hand auf das Herz gepresst, blieb sie stehen: dort, einen Fuss breit von ihr entfernt, flammte der Scheiterhaufen. Sie wandte sich um, ihrem Peiniger zu; der streckte die Hände aus — wie aus dem Boden gewachsen tauchten spalierbildend ein Dutzend Mönche auf, eine lebendige Mauer, durch die es kein Entrinnen gab.

Wieder winkte Coupot; mit einem Ruck zogen die Mönche gesträhnte Geisseln aus ihren Gürteln, hoben sie drohend und schlagbereit ... da stieg sie die Stufen empor.

Es war, als ob ein Schrei sich lösen wolle und in den Kehlen erstarre.

Es konnte keine Täuschung sein — die Flammen schlugen an ihr empor. Das Geheimnis musste in der Zusammensetzung der alabasternen Haut liegen, die ihren Körper bedeckte. Ein Scheinwerfer flammte auf; er tauchte Körper und Kopf der Brennenden in grelles Licht.

Erst jetzt sah man, wie schön sie war. Das dunkelblonde Haar fiel gelöst in ihren Nacken — es kontrastierte verwirrend mit dem weichen Rund der Schultern. Die furchtbare Beklemmung ihrer Lage kennzeichnete sich deutlich im nervösen Spiel der Sehnen ihres Körpers. Sanft und zärtlich rundeten sich ihre jungen Hüften, die der hochbeinigen Gestalt eine schmale und mädchenhafte Silhouette gaben.

Ihre dunkelblauen Augen, halb geschlossen, schienen niemand im Raum zu sehen, niemand zu suchen. Ein strenger, abweisender Ausdruck lag um ihre Lippen, die fest aufeinander gepresst waren; ihre Augenbrauen liefen in schmaler dunkler Kurve zu der kleinen Nase, die von völligem Ebenmass war. Sie hob langsam die Arme zum Himmel — wie auf dieses Zeichen sprühten die Flammen an ihr empor, hüllten sie ein wie ein roter Mantel, verbargen ihre Gestalt plötzlich, stiegen zischend auf, als hätten sie neue Nahrung bekommen.

Dann, wie auf ein zweites Zeichen, erlosch mit einem Schlage die Glut — und unversehrt stieg Ninon lächelnden Gesichts die Stufen hinab. Ihr Bruder reichte ihr den Mantel, den sie um die Schultern legte; donnernder Applaus brach los. Die beiden verbeugten sich, Ninons Blick streifte die Loge der drei; ihr Bruder sah gleichgültig ins Leere, während er sich lächelnd, sichtlich abwesend, verneigte. Drei-, viermal wurden sie hervorgerufen; sie dankten, immer mit der gleichen unpersönlichen Liebenswürdigkeit — dann wechselte das Licht, nüchternes Blauweiss erfüllte wieder den Raum. Die beiden verschwanden. — Im allerletzten Augenblick, als sich schon die Portiere hinter ihr schloss, sandte die junge Artistin einen Blick zu den dreien zurück.

Zwei Clowns kugelten in die Manege; während sie sich überschlugen, wurde auf der Rückfront ihrer Beinkleider das Wort „Pause“ sichtbar.

„Wir könnten sie eigentlich einladen“, meinte nachdenklich Westermann.

Cornelsen zuckte die Achseln. „Es kommt noch ein Fakir.“

Türen wurden geöffnet; alles drängte hinaus. Voll Entdeckerneugier liessen sich die drei vom Strome mittreiben. Draussen war Grossbetrieb am Bierbüfett: warme Würstchen und Bockbier, Bockbier und warme Würstchen.

An einem Seitentisch in einer bevorzugten Ecke stand Jean. Er hatte kein Bierglas vor sich, sondern ein Gläschen mit irgendeiner vornehmen Flüssigkeit. Er sah gedankenvollgeschäftig ins Leere, während die drei an ihm vorübergingen; sie erkannten daraus, dass er sie längst gesehen hatte.

„Man muss ihm etwas sagen“, meinte Raymund. „Ich glaube, er ist mir überhaupt böse. — Guten Abend, Herr Coupot!“

Der Angeredete machte ein bewundernswürdig überraschtes Gesicht. „Guten Abend, meine Herren!“ erwiderte er in einem Tonfall, der den höchsten Gesellschaftskreisen Ehre gemacht hätte.

Raymund legte ihm die Hand auf die Schulter. „Famos, Herr Coupot, Ihre ‚Glühende Gasse!‘ Ganz ausgezeichnet!“

„Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen hat.“

„Wir sind ehrlich überrascht. Ist das alles Ihre eigene Erfindung?“

„Ich habe zwei Jahre daran gearbeitet. Die Geschichte ist noch nicht so ganz fertig, aber ich denke, sehen lassen kann sie sich auch so schon. Ich arbeite noch ständig daran. Denn Sie müssen wissen, meine Herren: ich habe nicht die Absicht, hier in der Ackerstrasse mein Leben zu beschliessen. Wenn ich diese Nummer richtig verkaufe ...“

„Sie wollen sie verkaufen?“ fragte Cornelsen bedauernd.

„Das nennen wir so. Es bedeutet: wenn ich sie richtig serviere, verstehen Sie? In der richtigen Aufmachung, mit den nötigen Lichteffekten, mit einer Wechselstromdynamo, mit echtem Material, dann sollen Sie mal sehen, dann leckt sich jeder europäische und amerikanische Zirkus alle Finger nach der ‚Glühenden Gasse’. Und nun sagen Sie einmal selbst: hat meine Schwester irgendeinen Grund, abzuhauen?“

„Was will sie denn abhauen?“ fragte Cornelsen.

„Ich meine: hat sie recht, die Arbeit zu verweigern?“

„Gefährlich sieht es aus“, meinte Raymund sinnend.

„Is ja alles Trick. Haben Sie das nicht gemerkt?“

„Nein.“

„Das freut mich.“ Er blickte wie gedankenverloren zu der schmutzigen Zeltdecke empor, dann, indem er einen schnellen und forschenden Blick von oben herunter über die drei gleiten liess, setzte er harmlos hinzu: „Wenn Sie das nicht glauben wollen, wird sie es Ihnen sicher bestätigen ...“

Die beiden blickten auf Raymund. „Kommt Ihre Schwester noch in den Zirkus?“

„Sie ist kontraktlich verpflichtet, bis nach der Fakirnummer zu bleiben, damit sie einspringen kann, falls irgend etwas passiert.“

Eine Glocke schrillte. Gleichmütig reichte Coupot den dreien die Hand, indem er eine kurze Verbeugung machte; darauf ging er, ohne ein Wort weiter zu sprechen, durch irgendeine kleine verborgene und geheimnisvolle Tür in irgendwelchen Raum, dessen Zweck niemand erraten konnte.

Es wurde eben dunkel, als die drei in ihre Loge traten. Rotes Licht schimmerte auf; in der Mitte der Arena sass mit gekreuzten Armen und Beinen der Fakir. Schüchterner, wie atemloser Beifall setzte ein, erstarrte wieder; der Inder dort unten gab durch keinerlei Geste kund, dass er ihn überhaupt vernommen hatte.

Das Licht wurde dunkler; um den Inder herum schien grünlicher Glanz emporzusteigen. Von einer unsichtbaren Schalmei kamen seltsame, zusammenhanglose Töne, die sich dennoch zu einer verlorenen und erregenden Weise zusammenfanden. Die Töne stiegen wie bunte Glaskugeln zur Decke, spielten umeinander und rieselten über die Zuhörer hinab, die sich vergeblich dem Bann dieser fremdartigen Musik zu entziehen suchten.

Dann, mit einem Ruck, stand der Fakir auf und hob die Hände.

Auf das Zeichen brach die Musik ab, der Fakir hob langsam das rechte Bein, nach einer Weile auch das linke. Ohne jede Berührung mit dem Erdboden, in einer Höhe von nahezu einem Meter, blieb er unbeweglich in schwebender Stellung stehen — ein unbegreifliches Wunder, über das die Anwesenden flüsternd und scheu quittierten. Ein Theaterdiener erschien mit einem Stab. Er führte ihn unter den Füssen des Schwebenden hindurch, hin und her — frei und ungehemmt durchschnitt der Stab die Luft.

In den letzten Reihen erhob sich Beifall, er pflanzte sich lawinenartig durch das Haus fort, a tempo wechselte das Licht, gemächlich setzte der Fakir beide Füsse auf den Boden zurück und nahm wieder seine gleichmütige Stellung ein.

Von neuem begann die Musik: eine unbekannte, diesmal melodiösere Weise, die dünn, wie schattenlos, emporstieg, seifenblasenartig, ohne Schwere. Der Fakir nahm eine Ziehharmonika, der Theaterarbeiter brachte einen dünnen Draht. Er wurde von den Zuschauern geprüft und erwies sich als ein Tau, wie es solche zu Hunderten gibt. Der Fakir befestigte die Ziehharmonika an dem Tau und hängte dies über einen Haken; die Ziehharmonika schwebte etwa in Haupteshöhe über dem Fussboden, das andere Ende des Taues wurde an einem zweiten Haken festgeknotet.

Darauf begann der Inder ein paar Takte leise zu singen: die Tonleiter. Er schwieg wieder, und mit atemloser Erwartung sah alles auf das schwebende Instrument, das leise pendelte.

Plötzlich begann die Ziehharmonika die gleiche Tonleiter im gleichen Takt nachzuspielen; ihre Balge und ihre Tasten bewegten sich so, als ob unsichtbare Hände sie berührten.

Wieder begann der Magier zu singen. Diesmal eine indische Melodie.

Er schwieg, eine seltsam müde Unruhe grub sich in seine Züge, während er die Augen auf das Instrument richtete.

Die Ziehharmonika wiederholte gehorsam die Melodie, die ihr der Fakir vorgesungen hatte; mit allem Auf und Nieder der Bälge und der Tasten.

Wieder brach Beifall los; der Inder nickte mit blassem Lächeln.

Darauf legte er einen Holzstab in den Sand der Manege, und mit einem Ruck wandte er sich herum zu den dreien in der Loge.

„Bitte,“ sagte er zu Raymund, „haben Sie einen Notizblock?“

„Gewiss.“

„Und einen Bleistift?“

„Ja.“

„Dann, bitte, zeichnen Sie mit Ihrem Bleistift auf ihren Notizblock irgendeine Figur. So, dass niemand das Gezeichnete sieht. Halt — warten Sie, bis der Stab im Sande der Manege sich erhebt.“

Die drei blickten gespannt auf den Stab, mit ihnen warteten dreihundert Augen auf das Unbegreifliche.

„Mein Gott“, sagte jemand.

Langsam begann sich der Stab aufzurichten.

Der Magier gab Raymund ein Zeichen. Dieser begann, unter dem Schutze der Dunkelheit und von den übrigen getrennt durch die lebendige Mauer um ihn herum, irgend etwas Geheimnisvolles zu zeichnen.

Der Stab in der Mitte der Manege pflügte mit zeichnenden Bewegungen den Sand.

Der Vorgang dauerte zwei volle Minuten. Dann nahm der Inder den Block mit einem Ruck an sich und hob ihn empor.

Raymund hatte einen sechszackigen Stern gezeichnet.

Alles sprang auf die Füsse, drängte zur Manege.

Im Sande wiederholte sich, in hundertfacher Vergrösserung, der sechszackige Stern, den Raymund gezeichnet hatte.

„Wünschen Sie irgendeine weitere Probe meiner bescheidenen Fähigkeiten?“ fragte der Inder mit fremdartiger Stimme.

Raymund zuckte die Achseln. Aber mutig sagte Westermann:

„Können Sie mir den Titel des Buches nennen, das ich hier in der inneren Manteltasche trage?“

Der Magier sah ihn an, blickte auf den Stab. Dieser erhob sich langsam und begann zu schreiben. Wieder drängte alles zur Manege; im Sande standen die Worte: „Lichter im Strom.“

Der Inder nahm das Buch in Empfang, das ihm Westermann reichte. Er zeigte es, ohne auch nur einen Blick auf den Umschlag zu werfen, ins Publikum hinein; die vordersten Reihen lasen laut vor: „Lichter im Strom.“

Das rote Licht erlosch; wie eine Flut schoss das nüchterne Blauweiss in den Raum. Der Magier ging, ohne sich umzusehen, von irrem Beifallssturm geleitet, zur Ausgangstür. Auch die drei applaudierten. Eben nahm Raymund das Buch, von dem er selbst keine Ahnung gehabt hatte, von der Brüstung, als er einen warmen Hauch verspürte.

Er wandte sich um. Hinter ihm stand Ninon.

Die drei, als wohlerzogene junge Leute, standen auf, was die glucksende Heiterkeit der Umsitzenden erregte.

Westermann blickte herausfordernd um sich; Raymund legte ihm die Hand auf den muskelstrotzenden Arm. „Wir wollen gehen.“

Der Direktor dienerte halb respektvoll, halb verdrossen; er ärgerte sich, dass man ihm seine Hauptattraktion entführte.

Ein unglücklich dicker Mann trat auf. Aber er hatte ein normales Gesicht, was den Schluss zuliess, dass seine Korpulenz künstlich war.

Und siehe: er schlug den Kragenmantel zurück ...

„Dallesmantel“, sagte einer.

... Und nahm eine Violine daraus hervor. Er setzte den Bogen an und spielte eine schmelzende Weise. Dann faltete er die Violine zusammen wie eine Landkarte; sie war nichts anderes als ein Stück Pappe, und er hatte die Töne mit dem Munde erzeugt.

Ninon lachte. „Ist er nicht ausgezeichnet?“

Nun holte der Artist gar ein Cello unter dem Mantel hervor, das ebenfalls verdächtig klapperte. Dann praktizierte er ein ungeheures Notenheft aus der Tasche, endlich zog er einen endlosen Gegenstand hervor, der sich als ein Notenständer entpuppte, auf den er die Noten stellte. Er spielte ein paar gefühlvolle Töne; hierauf zerriss er das Cello in kleine Fetzen — denn es war ebenfalls aus Papier. Jetzt zog er unter dem Jubel der Zuhörer einen Papierkorb unter dem Mantel hervor, warf die Fetzen hinein, faltete den Notenständer zusammen und schleuderte auch ihn in den Korb.

Laute Beifallsrufe umschwirrten ihn; er dankte, indem er einen dritten künstlichen Arm zog und damit winkte.

Auch die drei klatschten.

„Guten Abend“, sagte jemand.

Es war Jean Coupot.

„Lassen Sie sich nicht stören, meine Herren; ich wollte bloss meiner Schwester ein paar Worte sagen. — Hör mal, Ninon, du musst allein nach Hause gehen. Ich habe mich mit einem Agenten verabredet; er erwartet mich im Café Stern. — Guten Abend, meine Herren.“

Die drei verbeugten sich, von seinem fulminanten Kratzfuss einfach überwältigt.

„Dürfen wir Sie zu einer Flasche Sekt einladen, Fräulein Ninon?“ fragte Cornelsen und sah ihr entzückt in die blauen Augen.

Sie schüttelte den Kopf und lächelte.

„Wir wollen erst einmal gehen“, schlug Westermann vor.

Draussen harrte der Direktor. „Ich kann den Herrschaften ein feines Restaurant rekommandieren“, sprach er geölt, in dem merkwürdigen Tonfall der Artisten, der sämtliche Dialekte der Erde zusammenfasst. „Dort drüben, wenn ich bitten darf: bei Arditi, Guiseppe Arditi. Er hat Asti spumante und Separés.“

„Wir wünschen kein Separé“, sagte die junge Künstlerin; aber der Direktor schien ihren Wünschen wenig Gewicht beizulegen, denn er fuhr fort: „Ich würde mich gern anschliessen, aber ich habe mit der Cassa zu tun.“

„Sehr bedauerlich“, sagte Westermann. „Wir werden versuchen müssen, uns allein zu behelfen.“

Eisige Winternacht stand im Schwarz der Strasse, drohend und feindselig. Ein paar verlorene Lichtstreifen schrägten den Platz, die das umgebende Dunkel um so undurchdringlicher erscheinen liessen. Die obskuren Gäste des Rummelplatzes hatten sich zu kleinen Kolonnen verdichtet; mit der zwinkernden Sachverständigkeit von Kennern musterten sie die junge Artistin und ihre Begleiter.

Ninon trug einen dunkelblauen, bis zum Hals völlig geschlossenen Mantel. Er war dünn und offenbar aus billigstem Stoff; dennoch schritt sie über das trübe Brachland der Vorstadt wie eine junge fremde Schönheit, die mit ihrer zufälligen Umgebung nichts gemein hatte.

Raymund bot ihr verstohlen den Arm, aber sie schien es nicht zu merken. An ihrer rechten Seite ging Cornelsen, während Westermann die rechte Flanke bildete, den Abschluss gegen jene Welt jenseits der Bordschwelle. Cornelsen machte ein paar tiefsinnige Bemerkungen über das Wetter, in deren Verlauf er sich über die Prognosen der Berliner Wetterwarte des näheren ausliess. Ninon schien das Thema nicht in der erwarteten Weise zu interessieren, wogegen Westermann lebhaft widersprach — Westermann widersprach immer lebhaft. Raymund sagte kein Wort.

Einmal berührte Raymund die junge Artistin am Arm. Da fühlte er, dass sie am ganzen Körper zitterte. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob daran nur die Kälte schuld sei.

„Guiseppe Arditi“, las Cornelsen. Raymund zögerte ein wenig, aber schon hatte Westermann mit festem Griff die Tür zum Restaurant geöffnet.

Die Luft, die sie empfing, war heiss und erfüllt mit jenem muffigen Parfüm, das ungenügend gelüfteten Räumen die besondere Note gibt. Der Geruch scharfgewürzter Speisen mischte sich in den warmen Brodem.

Herr Arditi hatte mit Kennerblick die Qualität seines neuen Besuches erkannt; er dirigierte, obwohl seine Augen niemand ansahen, zwei Kellner hinüber zu den Neuangekommenen, die im Nu ihrer Mäntel entledigt waren.

„Ein Separé gefällig?“

Ninon blickte vor sich nieder, Westermann und Cornelsen wollten abenteuerlustig bejahen, aber Raymund schüttelte den Kopf.

Zum ersten Male berührte Ninons Hand die seinige.

„Asti!“

„Sehr wohl.“

Funkeläugig zog sich der Befrackte zurück, nicht ohne noch einmal einen zärtlichen Blick auf seine vornehme Kundschaft zu werfen.

Westermann lachte.

In der kleinen Villa am Matthäikirchplatz standen zur gleichen Zeit zwei alte Leute am Fenster. Eisige Winternacht lag hinter den hohen Jalousien. Der Himmel war sternenlos, und der flackernde Reflex der Laternen glitzerte auf funkelndem Reif.

„Er kommt wieder nicht“, sagte die alte Frau.

Ihr Gatte zuckte die Achseln. „Es geht seit vielen Wochen so. Ich will es dir gestehen: ich habe dir nicht immer die Wahrheit gesagt, denn ich wollte dir die Aufregung ersparen.“

Die Frau seufzte: „Er ist jung. Man kann es wohl begreifen, dass er sich nach Jugend sehnt.“

„Hat er hier nicht alles, was sein Herz wünscht? Er kann seine Freunde einladen, sooft er will. Er kann mit ihnen musizieren, und er mag sogar mit ihnen toben, wie an seinem letzten Geburtstag. Wir freuen uns doch, wenn er zu Hause ist. Nicht wahr?“

Die Frau nickte traurig. „Wo mag er nur sein?“

Der Mann liess die Stäbe der Jalousie mit einem Ruck zusammenrasseln.

„Weiber!“

„Wenn er ein nettes Mädchen gefunden hat, das er liebt, so wollen wir ihm erlauben, sie bei uns einzuführen. Wenn er nur ...“

„Was du redest“, unterbrach sie der Mann ungeduldig. „Das Zeug, mit dem er sich herumtreibt, führt man nicht ein. Ich wette mit dir, es handelt sich überhaupt gar nicht um eine regelrechte Liebschaft mit einer einzelnen, sondern um Liebe im Plural. Orgien.“

„Mein Gott ... er war doch sonst ein so netter Junge!“

„Mag sein, dass er zu sich und zu uns zurückfindet. Vielleicht sind diese Entgleisungen nötig; das überschäumende Temperament muss sich am Ende austoben. Aber wie lange soll das dauern? Sollen wir beide darüber hinsterben? Auf die Gefahr hin, dass er in diesem Strudel zugrunde geht?“

„Er hat einen guten Fond. Und ich glaube, Männe, er wird Unehrenhaftes ... nein, dazu ist er nicht fähig. Glaubst du nicht auch? Gib acht, schneller, als du glaubst, hat er dies Leben satt. Wenn ich die Wahl hätte zwischen diesen geschminkten Dirnen, die nichts wollen als sein Geld, und einer vornehmen geborgenen Häuslichkeit — dann kann es doch im Ernst kein Schwanken geben!“

Der Vater griff in die Tasche. „Hier ist ein Brief für ihn; er kam mit der Abendpost, als er schon fort war.“ Er gab ihn der Frau hinüber.

„Herrn Gustav Raymund, Matthäikirchplatz 66, Berlin W. Dringend“ stand darauf.

„Ich lasse mich totschlagen,“ sagte der Alte, „wenn er nicht von irgendeinem Manichäer ist. Gustav mag Gott danken, dass er einen wohlerzogenen Vater hat; ein anderer hätte diesen Brief längst geöffnet und ihn seinem Sohn unter die Nase gehalten.“

„Ich werde morgen mit ihm sprechen“, entschied die Frau. „Es geht so nicht weiter.“

„Was willst du ihm denn sagen?“

„Überlasse das mir. Eine Mutter hat andere Wege zu ihrem Kinde als nur die des Verstandes.“

Er öffnete das Schränkchen und nahm eine Zigarre aus der Kiste. „Versuch’s immerhin. Ich habe mein möglichstes getan. Schliesslich — er ist majorenn, er muss wissen, was er tut, wir haben im Ernst nicht das Recht, ihm Vorschriften zu machen.“

„Vernachlässigt er das Geschäft?“

„Das kann ich nicht eigentlich sagen. Er ist ziemlich pünktlich, und der Prokurist sagt mir, dass er die englische Korrespondenz mit Verständnis erledigt. Aber ich vermisse die eigentliche Freudigkeit bei ihm. Und mehr als das: ich habe das Gefühl, dass sich etwas zwischen uns schiebt, dass sich der Abstand zwischen ihm und mir mit jedem Tage vergrössert. Bald wird kein Verstehen mehr möglich sein, so weit kommen wir auseinander.“

„Ich werde mit ihm sprechen“, sagte die Frau.

Der ersten Flasche Asti waren drei weitere gefolgt. Das Restaurant des Herrn Guiseppe Arditi war jetzt, um halb eins, auf der Höhe des Vollbetriebs. Die Luft bestand nur noch zum geringsten Teil aus dem, was man gemeinhin „Luft“ nennt; in der Hauptsache setzte sie sich zusammen aus dem Dampfe der Zigaretten aller Qualitäten der Tabakindustrie. Der kleine Raum war angefüllt mit jenem fiebernden Summen, das man mehr mit dem Gefühl als mit dem Gehör wahrnimmt; er glich in Wahrheit einem brodelnden Kessel, dessen Dämpfe zur Decke steigen, bereit, sie jede Sekunde explodierend zu sprengen. Über dem Lärm und dem Dampf lag das Quäken der Mandolinen, die verschwenderisch neapolitanische Gassenhauer in das erhitzte Publikum schrillten.

Signor Caldi stand auf, der sich bescheiden den „Caruso der Ackerstrasse“ nannte. Er begann, und alles stimmte ein: „Funiculi Funicula“ ...

Ninon war im Laufe des Abends immerhin zugänglicher geworden. Sie hatte auf das fröhliche und harmlose Geplauder Cornelsens mit sichtlichem Vergnügen gelauscht und ein paarmal herzlich gelacht, als Westermann, wie gewöhnlich, widersprach. „Warum reden Sie eigentlich gar nicht?“ fragte sie, indem sie sich an Raymund wandte.

Er lächelte und sah ihr in die Augen; sie entzog ihren Blick dem seinigen. „Ich bin zufrieden, wenn Sie fröhlich sind“, sagte er.

„Aber Sie wissen gar nicht, ob ich fröhlich bin.“

„Sie haben fröhliche Augen.“

„Sie können meine Augen ja gar nicht sehen!“

„Momentan nicht, denn Sie haben sie mir mit Absicht entzogen. Warum tun Sie das?“

Sie wollte eben antworten, als eine jähe Veränderung in ihr Gesicht trat. Er folgte der Richtung ihres Blickes.

Hinter ihnen stand Jean Coupot.

„Ich danke Ihnen, meine Herren,“ sagte er, „dass Sie meine Schwester so freundlich behütet haben. Ich muss sie jetzt abholen, sie muss nach Hause.“

„Es ist erst halb eins.“

„Ich weiss es. Ich habe auch nichts dagegen, wenn Sie den Wunsch haben, meine Schwester einmal wiederzusehen. Aber wir Artisten sind solide Leute, das bringt unser Beruf so mit sich. Wo kämen wir hin, wenn unsere Nerven und unsere Muskeln zittrig würden. — Komm, Ninon!“

„Trinken Sie ein Glas Asti mit uns.“

„Ich danke — nein.“

„Aber Sie sind etepetete wie eine Geheimratstochter!“

„Mein lieber Herr“, sagte Coupot, indem er Ninon den Mantel um die Schultern legte. „Wir Artisten, und besonders wir aus der Vorstadt, stehen nicht im besten Ruf. Glauben Sie, wir wissen das nicht? Gerade weil es so ist, müssen wir uns in unserem Privatleben doppelt vorsehen.“

„Das leuchtet mir ein“, sagte Raymund. Fast gegen seinen Willen warf er einen beifälligen, beinahe bewundernden Blick auf den Sprechenden.

„Glauben Sie, ich würde nicht viel lieber mit Ihnen ein wenig kneipen, als in die kalte Winternacht hinauswandern? Aber glauben Sie mir, es ist richtiger so. Und dann, nicht wahr, ich bin doch für meine Schwester verantwortlich! Also nichts für ungut; gute Nacht, meine Herren.“

„Gute Nacht, Herr Coupot!“ sagten die drei, und es war ein unverhohlener Respekt in dem Ton ihrer Stimmen. Und indem sie sich erhoben, setzten sie hinzu:

„Auf Wiedersehen, Fräulein Ninon.“

„Ist das nun echt oder ist es Bluff?“ fragte Westermann. „Ist das wirklich ein so fabelhafter Kerl, dass er ein Vergnügen ausschlägt, das ihm sicher nicht jeden Tag geboten wird, nur aus Liebe zu seiner Schwester? Und aus Besorgnis, unsere Achtung zu verlieren? Oder will er sich kostbar machen? Sich und seine Schwester?“

Cornelsen stellte die Flasche in den Korb zurück und nahm eine Zigarette. „Sie hat uns vorhin erzählt, dass ihr Bruder jeden Abend sein Geld vertrinkt. Danach wäre also alles, was er gesagt hat, Bluff.“

„Was sollte er denn beabsichtigen?“ erkundigte sich Raymund. „Wir werden weder ihn noch seine Schwester wiedersehen; er hat sich also selbst im Licht gestanden, wenn er ‚nein‘ gesagt hat.“

Cornelsen sah ihn an und kniff die Augen zusammen. „Wir werden sie nicht wiedersehen? Wirklich nicht?“

„Ich wüsste nicht, wie sich das ergeben sollte.“

Da sagte Cornelsen mit glucksendem Lachen: „Tu nicht so, mein Junge. Ich habe doch selbst gehört, wie du dich auf morgen mit ihr verabredet hast!“

Die glühende Gasse

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