Читать книгу Der Mann, der zu Sophie wollte - Paul Stefan Wolff - Страница 3
Kap. 1
Оглавление„Jeder Mensch befindet sich in einem Wachstumsprozess,
daher darf niemand je aufgegeben werden.“
Leo Tolstoi (1828-1910)
„Was auf alle Fälle bleiben wird? Er sagte, Liebe ist kein Ziel. Sondern der Weg. Er sagte, viele Menschen lieben Ziele. Aber sie lieben die Wege zu wenig. Und wenn Liebe ein Weg ist, dann erklärt sich alles von selbst. Frage dich, betrachte ich Liebe als Ziel – oder als Weg. Und wenn Weg, siehst du dich eher als Empfänger von Liebe – oder als Geber? Der Unterschied ist entscheidend, der Engel sagte immer, der Empfänger von Liebe betrachtet sich selbst als Wesen mit Mangel, immer mit einem Hang zum mehr wollen. Mit einem Hang zum Angst haben, das wenige auch noch zu verlieren. Während jemand, der sich in der Liebes-Position des Gebers sieht, der weiß, es gibt so viel davon – er hat viel davon, kann es ständig zeigen. Also: Geber oder Nehmer?“ Der Mann in der Bar lächelte vielsagend. „Ich ging an einem Februarmorgen, es muss so der 18te gewesen sein, von der Arbeit nach Hause. Ich bin Nachtportier in einem Hotel, ich trug meinen Anzug. Es war mild, ein Geruch von leichter Frühlingsahnung lag in der Luft, ich nahm einen Umweg, ging vom Friedrich-Ebert-Platz in Richtung Heimat. Da kam plötzlich von einer Seitenstraße ein Mann mit Blut an den Kleidern heran. Er hatte wohl Schwierigkeiten beim Gehen, er machte es sehr vorsichtig. Fast wie Besoffene, wenn sie bewusst wegen einer Zeitverzerrung einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen tun. Er hatte komplett weiße Kleidung an. Eine weiße Lederjacke, weißes Hemd, weißen Gürtel in einer weißen Hose. Und auch die Socken waren weiß. Selbstredend in weißen Schuhen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich. Helfen ist eines der ersten Gesetze im Hotel. „Sie bluten ja. Sie haben sich angestoßen.“
„Ja, das ist Blut.“ Er strahlte. Er war mittelhoch, etwa eins achtzig groß und hatte volles blondes Haar, ansonsten ein markantes männliches Gesicht. Und er sprach klar, der war nicht besoffen. „Ich bin gefallen.“
„Haben Sie was getrunken? Haben Sie Kummer?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“
„Nein. Ich habe kein Zuhause. Noch nicht. Aber bald.“ Er lächelte. „Ich suche Sophie.“
„Kenne ich keine. Sophie und wie noch?“
„Wie, wie noch?“
„Ihr Nachname.“
„Ach ja, die Menschen haben Nachnamen. Ja, sie wird einen haben“, meinte er nickend. „Nein, kenne ich nicht.“ Er drehte sich um, deutete auf die lange Straße. „Ich bin dort hingefallen.“
„Haben Sie dort vielleicht bei dem Sturz was verloren?“
„Ich habe davor was verloren. Mein Herz.“ Er strahlte wieder.
„Wie heißen Sie?“
„Alexander.“ Er hielt mir die Hand hin. „Und Sie?“
„Markus.“ Ich gab ihm die Hand und bemerkte, dass er keine Alterungsspuren an der Hand hatte, obwohl ich ihn auf etwas über 30 geschätzt hätte. Er hatte makellose Hände. Fast wie ein Neugeborener. Perfekte Nägel, perfekte Haut. Ich sah ihn mir näher an, es war keine Vergangenheit an seiner Gesichtshaut zu spüren. Ich besah still seinen Hals, auch hier perfekte Haut.
„Duz mich“, sagte er.
„Alexander und wie noch?“ fragte ich.
„Nur Alexander. Keinen Nachnamen. Ich war bis vor Kurzem kein Mensch.“ Er lächelte breit „Ja. Ich kann mir meinen Nachnamen aussuchen.“
„Und was warst du dann – bis vor Kurzem?“
„Ein Engel. Ein Himmelsbote.“ Er deutete auf den Himmel. „Körperlos.“ Er sah an sich herab. „Ich habe meinen Körper erst seit vorhin.“
„Na gut“, nickte ich. „Ich habe ein Faible für solche Sachen. Seltsames. Ich arbeite im Hotel, wir sind die erste Anlaufstelle für komische Leute. Wir im Hotel haben für sehr sehr viel im Leben Verständnis. Komm mit mir, ich kann deine Wunden versorgen. Ich habe zwei Zimmer. Aber nur wenn du am Tag ruhig bist, ich hatte Nachtschicht und ich muss jetzt langsam ins Bett.“
„Dann sind wir Freunde?“
„Nicht so schnell, Alex. Das braucht seine Zeit. Komm, gehen wir.“
„Gehen.“ Er machte einen sehr theatralischen Schritt nach vorne. „Ich habe es erst vorhin kennen gelernt. Mit Gewicht an den Beinen.“ Er sprang hoch. „Ich habe einen Körper. Juhu!“ Er sah eine Dose am Gehsteig, nahm Anlauf, kickte sie fort. „Ich kann treten.“ Er sprang an die Wand, prallte zurück, fand keinen Halt, stürzte. „Aua!“
Ich half ihm auf. Er rieb sich die Schulter. „Ist das nicht toll?“ fragte er. „Ich habe Schmerzen.“
„Ja, so ist die Welt. Es gibt Schmerzen.“ Und jetzt deutete ich wichtig auf ihn. „Und die meisten überlebt man.“
Wir gingen die Straße entlang.
„Ich bin gefallen“, sagte er. „Wie jeder Mensch in seinem Leben einmal fällt. Also einmal so richtig am Ende ist. Die Zwanziger des Menschen sind erfüllt von Hoffnung, etwas zu tun. Und dann scheitert man. So richtig. Meist in den 30ern. Und dann, danach, nach dem tiefen Fall, danach muss man wieder aufstehen. Und zu den Ursprüngen der Hoffnung zurückkehren. DAS ist tiefe Kenntnis des Menschseins.“ Er machte eine Pause. „Danach, mit der Erfahrung zu fallen. Dann wieder zurück kommen, DAS ist die Kunst. Das haben die Menschen den Engeln voraus. Nur wenige Engel fallen. Wie ich. Und stehen danach wieder auf. Wieder zurück auf Anfang. Wieder zurück zu Hoffnung und Zuversicht. DAS ist der Sinn des Lebens. Ich wollte fallen. Ich wollte die Menschen verstehen. Ich wollte nur mein Aufgabengebiet verstehen. Denn die Grundlage der Engelsarbeit ist das Wiederaufrichten. Ihr hört nur so selten auf uns. Sieh, Jesus ist gefallen, er wurde gekreuzigt. Er starb am Kreuz. Und richtete sich danach wieder auf. DAS ist die ultimative Geschichte. Das Wiederaufstehen – nach dem tiefen Fall - DAS ist das zentrale Ding.“
Das war der Anfang der Erzählung von Markus. Ich habe ihn in einer Bar kennen gelernt.
„Ich heiße Markus. Ich habe einen Engel kennen gelernt“, begann der Mann. Er war hochgewachsen und drahtig, deutliche Geheimratsecken zeichneten seinen Kopf. Er hatte ein hageres längliches Gesicht mit kleinen gemütlichen Schweinsäuglein, die schon beim erstem Bier glänzten. Seine Handbewegungen hatten zu Beginn etwas Entschlossenes, Ruckartiges, auf den letzten Millimetern vor dem jeweiligen Ziel überkam sie eine plötzliche Scheu - als hätte jemand die Notbremse gezogen - und dann wurden sie zaghaft tastend, fast sanft. Er trug ein lockeres T-Shirt, das nur über sein kleines Bäuchlein spannte, was seinem Alter von geschätzt Mitte 30 entsprach. Darüber eine Jeansjacke, für den warmen Maiabend des Jahres 2017 fast zu viel. „Er hat die letzten Monate bei mir gewohnt.“
„Ist er übers Badewannenwasser gelaufen?“ fragte ich.
„Nicht Jesus, einen Engel. Einen Engel, der gefallen ist. Vom Himmel. Wegen einer Frau, die Sophie heißt.“ Er deutete mit der linken Hand den Fall an, er war Linkshänder. „Willst du die Geschichte hören? Wenn du das Ende errätst, gebe ich dir ein Bier aus.“
„Ich weiß nicht...“, sagte ich.
„Kennst du das Gefühl, reformbedürftig zu sein. Ohne es genau benennen zu können. Das beißende Gefühl, man arbeitet unter seinen Möglichkeiten?“
„Ja.“
„Es ist ein und dieselbe Geschichte, aber mit zwei Seiten. Wie ein Haus, das sich bei richtigem Lichteinfall in einem See spiegelt. Die eine Seite ist: Alex hat jeden Tag die Wolken gegrüßt. Wirklich jeden Tag. Er sagte, sie seien unsere Beschützer und gleichzeitig neugierige Zuschauer. Manchmal, wenn nur wenige Wolken am Himmel waren, hat er sie einzeln gegrüßt. Er sagte, sie seien eine Näherung an Engel. Drogen hat er keine genommen. Aber dennoch war er wie aus einer anderen Welt. So voller Lebensfreude über die kleinen Dinge.“
Ich sagte nichts.
„Und andererseits ist es ein Krimi, es geht um einen Heiratsschwindler. Die Frage ist, ist das der gleiche Mann? Willst du jetzt meine Story hören? Die Geschichte von dem Mann, der zu Sophie wollte?“
Ich wusste immer noch nicht.
„Er sagte mal, vieles am Glauben an Gott der Menschen versucht von oben Ideale nach unten zum Leben zu senden. Dieses von oben nach unten erzeugt Scheinheiligkeit. Das schreckt die Menschen vom Glauben ab, dieser Unterschied zwischen Soll und Ist. Aber Gott will, dass wir ohne die Ideale von oben wachsen von unten – durch Selbsterkenntnis. Es ist wie ein Bild von einem Hochhaus, das seine Wahrheit im Wasser spiegelt. Vergiss das Hochhaus selber. Es geht um das Spiegelbild. Gott regnet von oben OHNE dass es FORDERT zu wachsen. Wachstum findet von selbst statt. Es geht um Wachstum, gute Taten, nicht, um sich den Regen zu verdienen. Sondern aus Dankbarkeit über den Regen, die Liebe, die von oben kommt. Gott ist kein blindwütiger Idealist, er ist einer, der hofft. Dostojewski sagte mal, jemanden lieben heißt ihn zu sehen, wie ihn Gott gemeint hat. Und Gott hat von Menschen eine sehr hohe Meinung. Er hofft, sie wachsen in der Liebe. Von selber. Nicht um sich was zu verdienen. Sondern weil sie lieben und hoffen. Es gibt wohl die eine Hoffnung, die fordert, dass es so wird, wie man will. Aber die andere Hoffnung ist die Wahrheit. Es gibt keine göttlichere Eigenschaft als die verständnisvolle sanfte Hoffnung. Aus diesem Grunde stirbt sie immer zuletzt.“
„Gott“, sagte ich. „Immer Gott. Und was ist mit dem Wilden auf der einsamen Insel? Darf der nix davon haben?“
„Er sagte mal, jemand, der sieht, wie Regen und Sonne auf alle fallen, die auf der Erde sind. Und der daraufhin versteht, dass die Liebe eines wie auch immer Höchsten JEDEN trifft und sie somit mit Liebe und Verständnis zu behandeln sind – der hat es genauso verstanden, was Gottes Liebe heißt. Es gibt keine Wilden, die nicht irgendwelche Tiere zähmen oder züchten. Das tun ALLE Menschen. Das sind dann deren Nächsten in unserem Gedankenspiel, die müssen sie lieb und verständnisvoll und mit Nachsicht behandeln. Selbst wenn keine anderen Menschen da sind. Wenn andere Menschen da sind, umso besser.“
„Ein Engel, einer von den ganz großen? Ein Erzengel? Fehlt der denn nicht im Himmel? Engel sind Seelenwesen“, warf ich ein. „Die WOLLEN gar nicht Mensch werden!“
„Außer wenn sie kleine Lehrlinge sind und auch mal die menschliche Seite kennenlernen wollen. Was sind schon einige Jahre als lebender Mensch gegen die Ewigkeit? Darf ein Engel nicht auch verstehen, wirklich verstehen, was es heißt, Mensch zu sein? Wir Menschen sind doch ständig auf der Suche nach einem Zeichen des Göttlichen im irdischen Dasein. Ein Beweis für das Dasein Gottes? Ist denn ein Ex-Engel nicht in der gleichen Frage wie ein Mensch? Nur die ERINNERUNG an Gottes Allmacht? Ist ein solcher Engel nicht in der selben Entscheidung, sich zu fragen, es wird nie wieder – das Paradies? Von Gott nur eine AHNUNG haben. Kein entscheidender Unterschied? Und die weitaus wichtigere Frage: herausfinden, ist denn die Liebe einer Frau es wert, diese Unsicherheit auf sich zu nehmen? Ich sage dir ehrlich, ich glaube es nicht. Ich für meinen Teil würde als Engel NIE NIE NIE Mensch werden wollen. Ich habe nur die Story von einem Wesen, der Mensch geworden ist weil er Jesus Leben als Mensch nachempfinden wollte, und das darf ein Engel. Weil vielleicht die nächsten Führer der Gotteswelt die sind, die wissen, wie es ist, als Mensch zu leben. Das Praktikum nach dem Studium – für Engel. Willst du die Story hören, von dem Ex-Engel, der Mensch wurde, um ein besserer Engel dann zu werden? Weil Weiterbildung und Entwicklung das Größte ist. Ich persönlich denke, er tat einen Fehler darin, für die zwischenmenschliche Liebe den Schritt zu wagen, Mensch zu werden. Aber ich denke nicht, dass Mensch zu werden ein Fehler ist. Weil die übergeschlechtliche Liebe es wert ist, Mensch zu werden. Weil Liebe das kann. Wandel. Weiterbildung. Weitergehen. Ich habe diese Art zu reden bei ihm gelernt, willst du diese Story hören? Die Story von einem Ex-Engel, der Mensch wurde für die zwischengeschlechtliche Liebe – und der mehr fand.“
Ich war unschlüssig: „Was ist die Quintessenz? Ich will erst das Ergebnis hören. Ich gehöre zu den Menschen, das Ziel heiligt die Mittel. Sage mir zunächst das Ergebnis.“
„Es gibt dieses Gleichnis von Jesus, der Herr des Weinbergs sagt seinem Sohn, gehe heute in den Weinberg. Und er sagt nein, geht aber doch. Und der Herr geht daraufhin zum anderen Sohn, der sagt ja, geht aber nicht. Es geht in diesem Gleichnis nur vordergründig darüber, welcher selbsternannte Gottesmann sein Werkt tut. Es geht um mehr, es geht um dich. Denn stell dir nun vor, du bist der Knecht des Herrn, du gehst am Abend zum Herrn, du weißt, ein Sohn war da. Und du berichtest von der guten Arbeit im Weinberg. Deine Aufgabe ist alleine das berichten, dass ein Sohn da war. Du kennst das Gespräch nicht, welcher Sohn ja gesagt hat, welcher nein. Wirst du das Vertrauen in den Herrn des Weinbergs haben, dass der schon weiß, welcher Sohn die Arbeit gemacht hat – die nun mal zu machen ist. Die guten Taten, die helfen. Kannst du der Knecht sein, der einfach berichtet über die Arbeit, ohne auf die Intrigen zu achten? Kannst du dem Herrn des Weinbergs vertrauen?“ Er machte eine Pause. „Willst du die Story von einem hören, der wusste, welcher der Söhne ja und nein gesagt hat und trotzdem dem Herrn vertraut hat? Dass der Herr eine Antwort hatte. Dass der Herr die Antwort darauf hatte, welcher seiner Söhne da war und gearbeitet hat? Willst du die Story eines Menschen hören, der so viel Vertrauen hatte, dass er wusste, der Herr hat das GANZE WISSEN? Willst du die Story eines Wesens hören, der wirklich vertraut hat?“
Ich sagte nichts.
„Stell dir vor“, sagte er. „Du bist der Knecht, der weiß ganz genau, welcher Sohn da war und der andere, der gesagt, der geht hin und ging nicht. Und dir wird gesagt, geh hin zum Herrn und sage ihm nur das: Dein Sohn war da und die Arbeit war gut. Hast du genug Vertrauen in den Herrn, dass du ihm nicht sagst, extra sagst, welcher Sohn da war. Willst du die Story von dem hören, von dem einen Engel-Boten, der die Schnauze halten konnte. Der nicht gesagt hat, welcher Sohn da war. Die Story von einem, der genug Vertrauen hatte. Und dem vielleicht deswegen die Gnade erlaubt wurde, für sowas Vergängliches wie die Liebe zu einer Menschenfrau Mensch zu werden. Die Frage ist die gleiche, denn wenn du glaubst, es gibt Boten, die an Gottes Einsicht in die Wahrheit glauben – was ein Wunder wäre - , dann gibt es auch Engel, die die Grenze zum Menschsein, zur Hoffnung auf die Wahrheit, übertreten dürfen. Also, glaubst du, dass es Engel gibt, die Gott wirklich vertrauen? Glaubst du, dass es Boten gibt, die glauben, der Herr weiß alles? Glaubst du schließlich, dass es einen Gott gibt, der alles, wirklich ALLES kann?“
Jetzt bejahte ich, ich wollte die Story hören. Er hat dann angefangen zu erzählen. Und er fuhr fort auf dem Heimweg an jenem Morgen.
„Hast du eine Freundin?“ fragte der Alex Markus.
„Ja. Susanne. Und sie hat ein Kind. Aber nicht von mir. Sie wurde sitzen gelassen. Naja, irgendwie schon, irgendwie nicht. Das ist kompliziert.“
„Ich freue mich darauf, wenn du mich mal setzen lässt. Du hast doch Stühle?“
„Und zwei Betten“, nickte ich lächelnd. „Das kleine, es ist ein Sofa, kriegst du.“
„Das heißt, ich werde schlafen?“
„Sobald du müde wirst, ja.“ Ich hatte mich schon daran gewöhnt, dass für ihn alles neu wäre. „Und du WIRST müde werden, ganz sicher. Ermüden gehört zum Menschsein dazu.“
„Ich freue mich darauf, müde zu werden!“ erklärte er feierlich.
„Aber der Vater kümmert sich noch um Mattis“, hakte ich nach. Ich wollte den Kindsvater nicht in schlechtem Licht stehen lassen. „Der Vater von Mattis ist kein schlechter Mensch. Es hat halt einfach nicht mehr geklappt. Das ist mit die schwerste Aufgabe auf der Erde. Zu lernen, dass Dinge einfach mal passieren. Und die Aufgabe ist es, die Schuld nicht bei sich zu suchen. Im vollen Wissen, dass man sehr wohl seinen Anteil daran hat.“
„Ich werde also Anteil haben?!“ Er lächelte versonnen. „Anteil haben und Anteil nehmen sind etwas Wunderbares.“ Er lächelte. „Anteilnahme ist überhaupt das einzige Nehmen das immer gut ist.“
Ich musste lächeln. Ich hätte ahnen müssen, dass er mir ans Herz wachsen würde. Mir fiel als Gegenbeispiel „sich ein Beispiel nehmen“ sofort ein. Aber andererseits, das war nicht immer gut.
„Hast du schon was gegessen? Getrunken?“ fragte ich und er schüttelte den Kopf. „Essen und trinken ist wichtig im Leben. Es gibt sogar Lebewesen, die machen ihr ganzes Leben nichts anderes. Fressen und... Aber frage mich nicht, was auf Toilette gehen ist.“
„Ich weiß es. Ich habe mit Menschen schon seit meiner Werdung zu tun. Ich weiß, was es alles gibt. Ich weiß nur nicht, wie es sich anfühlt.“
„Wie alt bist du, Alexander?“
„Das weiß ich nicht. Engel haben kein Zeitgefühl. Aber ich weiß, dass es das gibt. Zeit erleben heißt, Chancen nutzen. Chancen. Die man ergreifen kann.“
„Ich sehe schon. Mit dir ist gut philosophieren.“ Ich nickte zufrieden über meinen Fang. „Du kannst mir was von Gott erzählen.“
„Ich weiß nichts mehr“, er war auf dem Gehsteig stehen geblieben, wirkte beschämt. „Ich habe es vergessen. Das ist der Pakt, wenn ein Engel sich fallen lässt. Man vergisst es. Ich konnte nur eines mitnehmen. Und das ist, Gott ist vielleicht mit einem Welpentrainer zu vergleichen. Gott kann sprechen, die universelle Sprache der Liebe. Aber die Welpen verstehen nicht. Und so kriegen sie Leckerli in der ewigen Hoffnung des Welpentrainers, dass sie wenigstens die Tonfolge der Liebe, die Grundmelodie, einigermaßen einordnen können – und dann nicht auf die Straße rennen ins Verderben, wo für Welpen böse Autos sind, deren Fahrer sie wegen ihrer kleinen Natur nicht sehen können. Denn wahr ist, die meisten Menschen sind nicht böse. Sie sind nur von anderen Dingen eingenommen und sehen die Details nicht. Sie rennen Dingen hinterher, statt der Nächstenliebe. Den Rest habe ich vergessen.“ Er deutete auf den Himmel. „Die Brücke ist abgerissen, ich komme nur noch durch den Tod wieder hin. Die Entscheidung ist unumkehrbar.“ Er deutete auf sein Herz. „Ich bin hier wegen Sophie. Im Grunde genommen nur wegen ihr. Sie suche ich.“
„Hattest du schon Kontakt mit ihr?“ Ich hatte mich halb umgedreht.
„Ja. Sicher. In ihren Träumen.“ Er lächelte.
„Weiß sie, dass du kommst? Dass du dich fallen lässt?“
„Ja, ich habe es ihr gesagt. Ich habe es ihr versprochen. Wir haben uns verabredet.“
„Sehr gut. Wann? Wo?“
„Ich habe ihr gesagt, ich finde sie. Ich wusste ja nicht, wo ich lande. Ich wollte nichts Festes ausmachen, das ich dann nicht schaffe.“
„Ich muss dir was sagen, Alex“, ich legte meine Hand auf seine Brust. „Menschen lernen im Leben sehr schnell zwischen Träumen und der Realität zu unterscheiden.“ Ich wusste, es wird ihn hart treffen. „Wenn Sophie halb esoterisch ist, oder auch wenn nicht...“
„Nein, das kann nicht sein!“, er wurde lauter. „Es hatte seinen Sinn! Der liebe Gott gibt immer Hilfe mit – er lässt einen nicht in der Kälte stehen. Es hat seinen Sinn, warum ich dich getroffen habe. Ich kann das nicht glauben!“
„Lass Gott da raus!“, antwortete ich scharf. „Seine Wege ergründen zu wollen, das führt zu nichts Konkretem. Und wir brauchen Konkretes! Menschen brauchen Konkretes.“
„Es hat seinen Sinn“, wurde er leise, traurig. „Es hat DEFINITIV seinen Sinn!“
„Sie wird googeln, weißt du was das ist?“
Er schüttelte den Kopf.
„Egal. Oder auch in einem Traumdeutungsbuch nachschlagen. Und sie wird finden, dass es ein Sehnsuchtstraum von ihr war. Wie gesagt, ich habe ein Faible für Übersinnliches. Ihre Träume von dir sind für sie keine reale Begegnung. Sondern ein Hinweis, dass sie auf der Suche nach dem Traummann ist. Nicht mehr. Die Wahrheit ist, sie wartet nicht wirklich auf dich. Wenn sie nicht ganz naiv ist, wird sie ihren Traum mögen, nicht mehr. Sie wird, das machen erwachsene und tiefsinnige Menschen mit Träumen, sie als Kraftquelle sehen. Und psychisch gestärkt in das wahre Leben gehen. Zu anderen Männern. Für sie ist die Verabredung eine Art Voraussage über einen wahren Mann, einer aus Fleisch und Blut, der da in ihr Leben tritt.“
„Ich bin jetzt aus Fleisch und Blut.“
Ich schüttelte leicht den Kopf. Sah ihn mitleidig an. Er verstand.
„Das heißt, ich muss sie so schnell wie möglich finden.“ Er nickte leicht. „Denn jetzt bin ich ja Mensch und kann ihr nicht mehr in ihren Träumen erscheinen. Ich muss sie finden, ehe sie ihre Träume von mir vergisst.“
„Sie wird sie nicht vergessen“, ich schüttelte den Kopf. „Sie wird ihn als schön in Erinnerung behalten. Und sie wird sich wünschen, die Träume nochmal zu träumen. Aber auch nicht mehr.“
„Das heißt, sie wird mich in ihren Träumen suchen. Und nicht finden! Und dann wird sie langsam verzweifeln. Und nicht mehr daran glauben. Ich muss sie umso mehr finden. Ich muss sie finden, um SIE zu retten. Ich muss mich beeilen. Ich muss sie so schnell wie möglich finden.“ Er wurde ruhig. „Ich kann ihre Sehnsucht nach mir spüren. Sie steht vielleicht jetzt gerade auf und schaut auf den leeren Platz an ihrem Tisch. Ich kann spüren, wie ein kleines ‚Miem‘ als kleiner Ausdruck des sehnsüchtigen Seufzers ihren Blick verlässt. Wie sie sich kämpferisch sagt, dass sie noch warten muss. Dass sie jetzt an ihr Tagwerk muss. Und darin schwingt ein ‚vielleicht heute‘ und ich kann spüren, dass wenn sie sich diesen Satz nicht sagen würde, sie vielleicht nicht aus dem Haus ginge. Ich kann sie spüren, wie diese Hoffnung sie dazu treibt, sich schöne Kleider anzuziehen, sich ausgiebig zu pflegen. Nicht nur, weil sie es genießt, gut zu sich zu sein. Nicht nur, damit sie sich wohlfühlt in ihrer Haut. So sagt ihr doch, oder? Sondern auch damit sie gut aussieht, wenn es vielleicht heute passiert. Dass ich sie finde. Und sie gut finde, durch und durch liebenswert wie sie ist… Ich will die Perlenkette an ihr machen.“
„Was ist das jetzt schon wieder für Engelszeug?“
„Habe ich mal abgeguckt. Es ist, wenn ein Mann eine Frau ab und an beim Vorspiel oder schon davor oder danach, einfach eine Reihe von Küssen direkt hintereinander eine Linie nachzeichnend, gibt. Das macht Appetit. Ich bin anders als die anderen Männer, ich will nicht nur ein oder zwei Küsse z. B. am Hals geben. Sondern ich bin aufmerksam und halte Achtsamkeit hoch. Nicht abhaken, das ist die ZENTRALE Botschaft an dieser Sache. Ganz achtsam diesen einen Part von ihr ganz behutsam mit Küssen bedecken. Eine Mischung aus ALLES küssen und dabei nicht langweilig werden. Halt ein paar Partien mit einer Kuss-Perlenkette veredeln, zeigen, du bist auch WIRKLICH wunderbar und wunderschön.“
So war er, ich hatte einen kleinen Impuls da gerade so, ich sollte mich auch in der Frühe schminken, hahaha.
Zunächst setzten wir uns in die Küche und ich verarztete seine Wunden. Bei jedem Schmerz lachte er. „Schmerz. Ja! So ist das.“ Als ich die Wunde reinigte, lachte er. „Es tut weh! Ja, das ist es.“ Als ich den Verband auf seinem Kopf anbrachte quietschte die Schere weil ich die Mullbinde zerteilte und er quietschte vor Freude. „Geräusche!“ Ich sah ihn fragend an. „Als Engel hört man nicht so deutlich die Geräusche. Engel schweben etwas zwischen den Welten.“
„Weißt du, was mit das Intensivste an Geräusch ist, was Menschen empfinden können?“ Ich holte ein Cent-Stück aus dem Geldbeutel. „Lege das zwischen die Zähne. Und knirsche daran.“
„Knirschen“, wiederholte er. Dann tat er es. Er zuckte zusammen von dem metallischen Kratzen.
„Haha“, entsprang es mir. „Es ist schrecklich, nicht?“
Er knirschte wieder, zuckte wieder zusammen. „Schrecklich. Schrecklich. Ganz ganz schrecklich.“ Und er tat es dennoch wieder. „Fürchterlich“, sagte er. Und tat es dennoch wieder. „Das ist abscheulich!“
„Das hat einen ganz praktischen Nutzen“, sagte ich. „Zu wissen, dass es fürchterlich ist. Zähne sind empfindlich, was Metall angeht“, ich nickte zu meiner Bestätigung. „Das ist eine der Grundlagen für das Schlimmste, was normalen Menschen widerfährt. Der Besuch beim Zahnarzt. Der kratzt und bohrt mit Metallzeug rum, du denkst dir, nimm das bloß raus und er macht aber immer weiter. Und dieses miese Gefühl ist die Grundlage von Zähneputzen.“
So ging das eine gute Stunde weiter. Ich gab ihm Essen und zu Trinken. Er schien es wirklich nicht vorher gemacht zu haben. Er wusste zwar, dass Essen gekaut werden muss, aber er schien es mit einer Hingabe zu machen, als machte er es wahrhaftig zum ersten Mal. Und er kannte die Bedeutung von heiß und kalt, aber er hatte den Unterschied noch nie gespürt. Ich gab ihm „Heiß“ einen Kaffee. Und „Kalt“ Cola. Und als ich sagte, „Davon gibt es sehr viele Abstufungen“, war er sehr neugierig. Er mischte beides.
„Was machst du da?“ fragte ich entsetzt.
„Das ist heiß“, er deutete auf den Kaffee. „Und das kalt“, Cola. „Und wie mischt sich das?“
„Das mischt man nicht miteinander!“
„Warum nicht?“ fragte er.
Ich griff zum Kühlschrank. „Schau, ich zeige dir zwei weitere Dinge die keiner hier normalerweise mischt.“ Ich fischte eine Kartoffel aus einem Topf heraus, eine gekochte und geschälte halbe Kartoffel, ich habe da immer einen Vorrat. „Das ist eine Kartoffel. Sehr lecker, sehr gesund. Und die isst man normalerweise nicht mit“ ich griff mir meine Himbeermarmelade. „dieser Himbeermarmelade.“ Ich bestrich die halbe Kartoffel mit der Marmelade. „Menschen essen gerne Brot. Und Tumore mögen keine Himbeeren. Also esse ich aus Gesundheitsgründen Kartoffeln mit Himbeermarmelade. Machen nur sehr wenige. Susanne isst die Kartoffeln manchmal mit Nutella. Ich liebe sie dafür. Aber sowas macht man nicht in der Öffentlichkeit. Der Unterschied zwischen daheim was tun und wenn andere Menschen zugange sind, ist sehr wichtig.“ Ich machte eine Pause. „Was isst denn Sophie?“
„Das ist mir egal.“
„Das ist eine wichtige Lektion. Das sollte es sein. Viel Leid gibt es auf der Welt, weil einige anderen sagen wollen, was normal ist und was sie zu tun haben oder nicht.“
„Markus!“ er legte das Messer weg, sagte eindringlich aber sanft. „Ich kenne die Welt schon länger als du.“
„Ich weiß ja nicht, was du alles weißt und was nicht!“ ich entschuldigte mich wohl etwas zu aufgebracht, denn er legte auch das Brot weg.
„Markus. Ich kenne Hitler UND Mozart. Und noch dazu ein paar indische Kinder. Ich war als Bote in Krankenhäusern, ich kenne das Leid der Menschen. Und ich kenne die Indianer Nordamerikas seit viel mehr als 10.000 Erdenjahren.“
„Dann haben wir einen Job für dich.“ Ich war froh. „Archäologie. Du kannst uns sagen, wo Troja und wo Atlantis liegt.“ Ich sah ihn an. „Du wirst auf der Erde einen Job brauchen.“
„Ich kenne nur Krankenhäuser, ich war Bote. Ich weiß nichts. Ich weiß nur, dass Gott mir das mitgegeben hat, was ich brauche als Mensch.“
Ich stand auf. „Ich muss ins Bett. Brauchst du etwas?“
„Ein ABC-Buch. Ich kann nicht schreiben. Ich weiß aber, dass jeder hier das können muss.“ Ich habe es ihm gekauft, um die Ecke bei uns befand sich ein Buchladen.
Seine Art hatte etwas Erfrischendes. Ich habe aber die Jacke mit dem Blut aufbewahrt, weiter die Watte mit seinem Blut. Man weiß ja nie...
Ich habe es ihm sofort gekauft, wir haben in Johannis hier einen Buchladen. Und dann bin ich ins Bett und er fing an, Schreiben zu lernen, für sich.
Die Geschichte erhielt schon sehr bald die erste Wendung, die mich etwas ratlos machte.