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Kap. 1. Vom Beißen.

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Prolog

Verstehen Vampire mehr was von der Liebe? Das fragte sie mich mal. Ich denke, sagte sie, die meisten Menschen sehen Liebe als App auf dem Handy. Vampire aber, sie sehen das Blut öfter – und das vergrößert ihre Nähe an das Leben zwangsläufig. Vampire verstehen, Liebe ist das Betriebssystem, Liebe ist iOS, Android, Windows, Linux. Auf der Liebe als Haltung verstanden baut alles auf. Deswegen können Vampire dieser Art, Wrukolas, heilen. Auf meine Frage, ob alle Menschen, die die Liebe als Betriebssystem verstehen, heilen können – da hat sie nur gelächelt.

I love you… I‘ll kill you

(Enigma – Return to innocence)

Jeder Aspekt des Lebens hat gute und schlechte Seiten. Und das Rezept zum Glück ist entweder die negativen Auswirkungen klein zu halten, oder die guten zu stärken. Oder anders: es hängt von der Sichtweise ab, ob man das schafft. Von der Sichtweise, die man üben kann. Ganz gleich, wie die Startvoraussetzungen sein mögen. Ja, man kann die Sichtweise üben, und das ist sehr wohl Arbeit. Jawohl! Arbeit. Denn das Leben ist schön. Von einfach war nie die Rede. Und einfach war das Leben Malins in dem nun zu beschreibenden Zeitraum nicht. Ob es schön war, darf nun jede und jeder selbst beurteilen. Ich möchte noch erwähnen, dass als Mann von einer Frau zu schreiben, die man nicht selber liebt oder geliebt hat, ist schwierig. Denn jemanden wirklich zu kennen, zu verstehen, heißt doch ihn zu lieben - oder nicht? Oder ist das eher anders herum: jemanden zu lieben heißt ihn zu kennen. (Zumindest meint man das – bis zur Scheidungsprozedur).

Aber eines ist klar, es gibt Frauen, die passen sich an an den Mann, an den Job, an irgendwas. An alles. Und wollen dafür das, was viele (Frauen) wollen. Und dann gibt es die Sorte Frau, die ist für sich genommen zu eigen. Diese Art will nicht das klassische Repertoire aus Karriere und was auch immer. Sondern diese Sorte würde gerne auf Männer mit Karriere etc. verzichten – wenn sie denn nur als eigenständige Wesen gesehen erkannt schließlich wahrlich geliebt werden wollen. Malin war per se zu speziell, um sich für das vielleicht tradierte Bild zu bewerben. Sie war zu eigen, zu sehr sie selbst, um mit den Anpassungsfähigen konkurrieren zu können. Nein, Malin war zu eigen speziell ausgeformt; vielleicht dachte sie, ich lasse mir zu wenig sagen – oder von einem zu speziellen Typ Mann – als dass tradierte Vorstellungen Einlass fänden. Malin war so: sie hatte nicht nur einen besonderen Namen, sie war auch etwas Besonderes. Sicher, jeder ist etwas Besonderes, aber zu viele Männer mit herkömmlichen Vorstellungen hatten sich abgewandt von ihr. Oder hatten ihre hohen andersartigen speziellen Ansprüche nicht erfüllt. Genug an der Zahl, um zu lernen, dass Liebe einen Preis hat. Und Individualität ist ein umso teureres Gut, je mehr sie sich nachhaltig erhalten will.

Ich habe diese Geschichte von einem Mann in einer Bar gehört, im „Andalusischen Hund“ in Nürnberg. Der Geschichte fehlenden Puzzleteile konnte ich später ergänzen, unter so sonderbaren Umständen, wie die ganze Geschichte ist.

Denn: „Die Geschichte handelt von einer Frau, einer Art Vampir-Werwolf-Mischung, die einen wirklich beißen und aussaugen kann“, sagte der Mann in der Bar. „Und die dich auf der anderen Seite heilen kann. Also von einem Menschen wie jeder andere. Wenn er was Besonderes ist. Wenn er dir geschenkt gesandt wurde.“ Er holte Luft. „Viele denken, der oder die Richtige ist derjenige, der dir das Richtige schenkt. Nein. Es ist der, der dir das Richtige nimmt. Der dir Zweifel nimmt. Und darüber hinaus Schwere, Angst, Ungewissheit, Unsicherheit und noch mehr. Und sie, Malin, kann dazu noch Krankheiten nehmen, Grippe, Beinbruch, sogar Krebs. Ja, ich rede von wirklicher Heilung. Malin ist ein schwedischer Name, das A in der Mitte wird als das oao aus dem mitleidvollen Ooooh ausgesprochen, vielleicht mit einer Idee R unterschwellig!“

Es ist die Geschichte einer Frau, der im heutigen Nürnberg ein Wandel ihres Lebens widerfahren ist, der weitreichende Folgen hatte. Die Geschichte war in keiner Zeitung und wird so gut es geht geheim gehalten. Aus naheliegenden Gründen. Denn die Frau wurde zu einem Leben verdammt, sich am Vollmond so zu verwandeln, dass sie wilde und ungezügelte Züge annimmt. Aber sie wurde auch beschenkt, sich am Neumond so zu verwandeln, dass sie Heilkräfte und zärtlichste Züge annimmt. Kennt nicht jeder diese Wechsel zwischen Himmel und Hölle?

Dies ist die Geschichte der Vampirin, der Werwölfin, der Heilerin. Dies ist die Geschichte einer Frau, die innerhalb jedes 28 Tage dauernden Zyklus der Erdumrundung des Mondes, Monat genannt, zwischen zwei Extremen hin und her pendelt. Dies ist die Geschichte eines Menschen, der angetrieben von externen Einflüssen, zwischen zwei Polen hin und her pendelt. Die Geschichte eines Menschen wie es jeder andere mehr oder weniger auch ist.

Nun stellt man sich einen Werwolf mit Klauen vor, sehr haarig. Der Erzähler bevorzugte die griechische Bezeichnung „Wrukolaka“, was in der Ägäis nicht unterscheidet zwischen Werwolf und Vampir. Er bezeichnete damit seiner Ansicht nach ein Wesen, dass sich zumindest zeitweilig vom Blut anderer Lebewesen ernährt. Mit einer gewissen Zärtlichkeit erinnerte er sich an ihre zeitweilig dichte Behaarung. Er kürzte es mit Wrukola ab, er verschluckte das W und für Fremde hörte es sich an, als redete er von Rucola. Aber das machte nur einen Sinn, wenn er Sätze sagte wie: „(W)Rukola hat mir sehr gut getan.“ Sein Wrukola-Lieblingswitz war: „Warum saugen Wrukolas Blut? - Na, hast du schon mal versucht zu kauen - mit zwei riesigen scharfen Hauern im Oberkiefer?“

Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass er sie liebte. Und die Sprache von Liebenden ist für Außenstehende nur selten zu verstehen. Weil man den dazugehörigen intimen Umstand der Entstehung nicht kennt. Er sprach frei und offen und mit der Zärtlichkeit eines Menschen, der wirklich berührt worden war. Von der Liebe. Mehr noch. Von der wahren Liebe. Viel mehr noch. Von einer Frau. Sehr viel mehr noch. Von der wahren Liebe einer Frau.

Und er sah beim Erzählen immer wieder zur Eingangstür hinüber. Er trank Multivitaminsaft, er sagte, er wäre in einem Zustand, da würde ihn Alkohol umhauen. Er aß auch etwas, aber nur Gesundes.

Am Anfang der Geschichte stand ein Neumond an einem Freitag. Sie hat es ihm erzählt, um die Wirkung zu verdeutlichen. Der Morgen fing an, da war die Nacht noch nicht vorbei, mit Atemnot und heftigem Herzklopfen. Sie hatte das Roemhild-Syndrom, Luft im Magen-Darm-Trakt drückt das Zwerchfell nach oben, engt den Brustraum ein - kohlensäurehaltige Getränke sind mit das Schlimmste, was man sich da antun kann. Sie überlegte, was aß ich gestern? Nichts von der schwarzen Liste, nichts Luftbildendes, einfach ein Anfall ohne besondere Schuld. Abgrundtiefe Widerwärtigkeit, zermürbende Schmerzen, ermüdende Hoffnungslosigkeit, erdrückende Schuldlosigkeit, wahnsinnige Zielerreichungserschöpfung, deprimierendes Steckenbleiben, ernüchternde Planlosigkeit; chronische Krankheiten sind immer Plagen, die die Grundfesten erschüttern.

Aber Rückschläge helfen, starke Persönlichkeiten zu bilden, sie war gewohnt, immer auf Habacht zu sein. Zusammen mit einer demütigen Grundhaltung dem Leben gegenüber begründen diese Vorkommnisse manchmal wissende und mitfühlende Menschen, kämpferische Naturen. Was man sich als Eltern nur wünschen kann fürs Kind. Aber der Preis dafür, der ist...

Die groß gewachsene Malin mit den gefälligen schlanken Zügen vom Kopf bis zur Taille, die am Becken in weibliche Formen übergingen, die zu gefälligen weiblichen Formen von den Hüften abwärts führten, also schon nicht streichholzartig stacksig, sondern festere Oberschenkel, sie hatte ihre Lektionen richtig gelernt. Und das sah man auch an ihrem leichten Schmollmund, denn ihn umspielte immer ein Anflug von Ironie.

Eines der Lektionen war, sich nicht über jeden Mist aufzuregen, der im Leben passiert. Manche Menschen explodieren bei den kleinsten Kleinigkeiten. Ich kenne jemanden, den brauchst du nicht irgendwohin führen, wo er mit der U-Bahn hinkommt. Nach einer U-Bahnfahrt ist der auf 120.

Wenigstens psychische Ereignisse sind bei Roemhild ohne große Bedeutung. Malin hatte von der Uni eine schlechte Note erhalten. Die Arbeit war zu wenig psychologisch fundiert, zu viel Mutmaßungen. Zu viel Einblick in Philosophie, Geschichte sonstwas. Merke wohl, auch Psychologie will sich nicht überall einmischen. Viele Psychologiestudenten sind enttäuscht von ihrem Fach. Weil das Studium per se will weniger Probleme lösen, sondern hinführen zur Technik der wissenschaftlichen Fragestellung - und zwar für sich isoliert und mathematisch fundiert. Wer Psychologie als Therapie betrachten will, der braucht dazu die zusätzliche Therapeuten-Ausbildung. Sonst ist nichts mit Praxis und Patienten.

Auch Sport hilft beim Roemhild-Syndrom, das Zwerchfell stärken. Daher wohl die festen Oberschenkel, wenn man Sport machen will in Hinblick auf Kalorien hilft der Oberkörper nicht viel. Die richtig energiefressenden Muskeln sucht man in den Beinen richtig. Schnelle Bewegungen waren gefragt, Anstrengung und insbesondere Bauchmuskelsport - sie war Tanzen gegangen, nach der Arbeit in die Disco. Auch war sie ausgegangen nur im Geheimen mit dem Wunsch, jemanden kennen zu lernen. Tatsächlich jedoch sah sie die Zärtlichkeit in den Augen des Rumänen namens Sandu schon von Anfang an.

„Hallo. Wie würdest du denn am Liebsten von einem Mann angesprochen werden?“ fragte er.

Sie war verwundert und lächelte nur im Mundwinkel, blieb aber stehen.

„Ich habe dich gesehen und du bist so bezaubernd“, fuhr er fort. „Dass ich mir gesagt habe, ich will dich unbedingt kennen lernen. Und bevor ich was Blödes sage, fange ich gleich damit an. Und würde gerne wissen, wie ein Engel wie du denn am Liebsten angesprochen werden möchte.“

„Das ist schon mal kein schlechter Anfang“, antwortete sie lächelnd.

„Weil es gibt ja so schlechte Sprüche...“ sagte er. Und dann redeten sie, sie hatten ja schon ein Thema, nämlich schlechte Anmachsprüche.

Und er machte sie darauf aufmerksam, sie solle auf ihren Tryptophan-Spiegel achten. Falls sie öfter traurig wäre – ohne Grund. Tryptophan ist eine essentielle Aminosäure, muss mit dem Essen zugeführt werden und ist eine Vorstufe des Glückshormons Serotonin. Ist viel in Nüssen, Kakao, Eiern und Haferflocken. Ist auch ein in Deutschland frei verkäuflich in Apotheken, in Österreich und der Schweiz braucht man ein Rezept dafür. Sie kannte den Trick schon, aß Schokolade mit ganz viel Kakao. Zustimmende Meinungen sind gut beim Kennenlernen, sagte er und sie musste lachen.

Er sagte weiter, man kriegt Frauen nicht, wenn man viel redet. Sondern wenn man sie zum Reden bringt und als Mann zuhört, am besten aktiv. Er erklärte es ihr und sagte, normalerweise halte er sich nicht daran, sondern sie wäre etwas Besonderes. Sie hatte es später herausgefunden, es war der Neumond, der diesen Mann an diesem Abend besonders machte. Sie hatte wohl anfangs Angst, dass er abgebrüht war. Aber sie hat später herausgefunden, er hatte fast nur Gelegenheit zu sowas, wenn der Neumond aufs Wochenende fällt.

Und er fuhr fort mit ausgefallenen Komplimenten. „Was hast du mit der Sonne gemein?“ fragte er. Sie war nicht dumm: „Das Strahlen?“ - „Nein. Du hast einen Himmelskörper.“ Und er sagte gleich darauf, dass als sie „Das Strahlen“ geantwortet hatte, hatte sie einen misstrauischen Gedanken ob einem dummen Spruch und das Misstrauen hätte sich in einem Kräuseln ihrer Nase bemerkbar gemacht. Und er sagte, er werde immer darauf achten, wenn sich dieses Kräuseln bemerkbar mache und er werde immer wissen, dass sie dann ein misstrauischer Gedanke quält. Und er fügte hinzu, dass er diesen Gesichtsausdruck jetzt schon an ihr liebe. Weil er möge Frauen, die bei neuen Männern den Alarm in Griffweite haben.

Und mit solchen Sprüchen, über lange Zeit hinweg, schaltete er ihren Alarm aus, langsam. Was vielleicht gar nicht so schwer war, denn Frau lernt so selten Männer kennen, die die Verführung einigermaßen beherrschen. Weil Frau arbeitet und strengt sich an, die ganze Woche, den ganzen Tag. Und dann möchte sie etwas Vergnügen haben. Und wenn sie Single ist, ja dann möchte sie auch ab und zu verführt werden. Und jede Frau hat es schon erlebt, dass sie in Stimmung ist, aber die Männer, denen sie begegnet sind so… naja, halt. Und dann ist dann mal einer da, der weiß was er tut. Der weiß, dass er ihr gut tun kann. Der will, dass es ihr gut geht.

Er zeigte es auch, schon auf dem Nachhauseweg, die Perlenkette hat er nachgezeichnet. Das ist, wenn Mann (oder Frau) am Hals eine Art Perlenkette von Küssen zeichnet, d.h. ruhig den Hals entlang 6, 8 Küsse dicht hintereinander eine Linie nachziehend. Nicht von der Linie abweichen, man will ja nicht den ganzen Hals abschlecken, es wird auf die Fläche auch langweilig für die Frau. Eine Linie, eine aber dichte Linie – die Ungeduldigen setzen nur 1-3 Küsse. Eine Perlenkette. Danach war Malin willig, mehr zu erfahren.

Sah er besonders aus? Der Waschbrettbauch? Nein. Na gut, er war schon der eher schlankere Typ, den er sein muss als Paketzusteller, ständig auf den Beinen. Es war mehr, dass er wohl verinnerlicht hatte, wie es ist, jemandem was Schönes zu bringen. In seinen milden Augen hatte er diese Zuversicht, dass er erwartet wird, darüber hinaus die Wachheit, jemanden zu fixieren geübt in der Unterstreichung der Bitte, dass man das Paket für den Nachbarn annimmt. Darüber hinaus hatte er den wohligen Geruch ausgesuchten teuren stimmigen Parfüms. Und seinen Sätzen fügte er oft ein lachendes „Hah“ bei, das die Stimmung lockerte. Das Taxi lenkte er zu ihm mit der Bestimmtheit seiner Ortskenntnis, er versäumte es nicht, ihr sein Lieblingssternbild zu zeigen, den Schwan des Augusthimmels. Er trug sie über die Türschwelle des Hauses und bewies damit seine Offenheit im Bekenntnis zu ihr – man hätte sie ja sehen können. Er bat sie, ruhig zu sein, seine Mutter wohnte nebenan. Aber er stand zu ihr, er engte sie nicht übermäßig ein, es war ok, die alten dunkelbraunen Holztreppen durchs breite Treppenhaus mit das Knarzen verstärkenden Schwung zu nehmen. Sie sagte später, er habe auch Frauen mit nach Hause genommen, die er nicht gebissen habe. Er sagte ihr, er habe auch Frauen mit nach Hause genommen, mit denen er nicht geschlafen habe. Auch Freunde. Einfach so, Musik hören, kiffen, reden, was auch immer.

Er hat ihr das Kiffen angeboten, sie wollte nicht. Er hat ihr Wein angeboten, den wollte sie schon. Er hat ihr ein Buch ausgeliehen, Virginia Woolf „Orlando“ mit dazugehöriger Verfilmung. Ein Werk über den Wandel einer Person. Sie unterhielten sich über den Wunsch, ein anderes Leben zu führen. Sie, mittlerweile vaterlos und chronisch krank und gegen Ende des Studiums noch zusätzlich sehr wohl veränderungswillig. Vielleicht nicht so sehr. Vielleicht aber doch. Und ganz sicher war sie affin gegenüber Gesundheitsthemen, schon allein weil sie angefangen hatte, überflüssige Pfunde anzusetzen. Er hatte in seiner Wohnung für sie auch ein Wasserglas mit witzigem Motiv, ein Vampir mit offenbar ausgerissenen Beißzähnen heult darüber neben einem Elefanten: Schützt Elefanten – nehmt die Zähne von Vampiren. Schließlich hatte er sogar Nuss-Nougat-Pralinen in seinem Wohnzimmer. Und geeignetes Dämmerlicht im Schlafzimmer. Dort fand er auch noch Komplimente für ihre weiblichen Formen. Vollendet.

Er fragte, ob sie was Rauchen wolle. Sie verneinte. Andere Drogen, er habe da Pep oder sogar etwas Koks. Nein, gar keine. Nichts, danke.

Die nachfolgende Szenerie ist mit ausgiebiger Deutlichkeit erzählt. Nicht aus voyeuristischen Gründen. Sondern die Frage gilt es zu klären, an welchem Punkt der Biss stattgefunden hat. Der Biss, der sie zur Wrukola gemacht hat. Der Biss, der sie vom Roemhild-Syndrom geheilt hat. Der Biss, der ihr Leben verändert hat.

Und eines sei gleich verraten, sie hatte danach Liebeskummer. Wenn aber jemand – und auch eine Frau – Liebeskummer wegen einer Geschichte hat, die es körperlich gegeben hat. Dann frage auch immer, wie catchy, wie, im Vergleich zu den anderen, außergewöhnlich der Sex war. Lass sie davon erzählen, lass sie es zerpflücken, halte die Details aus, lasse sie reden. Lasse sie reden und unterbreche sie nicht, außer um sie zu fragen, wie es sich angefühlt hat. Lasse sie reden damit sie es begreifen kann. Denn Begreifen steht unverrückbar vor dem Begraben.

Er hat Musik aufgelegt, Nocturnal Emission – Never give up in der Instrumental-Version.

Den Zungenkuss hatten sie bereits ausgiebig in der Disco und im Taxi hinter sich gebracht. Mit nicht zu feuchten Küssen erkundete er noch im Stehen ihr gesamtes Gesicht, den Hals hinunter, mehrfach und drehte sie sanft um. Nachdem sie das nachtschwarze Lederjackett und das schwarze T-Shirt abgestreift hatte, massierte er erst zärtlich ihren Nacken, ehe er sanft zur Abwechslung leicht auf die Haut biss, aber ohne sie zu durchbeißen. Den Rücken küsste er langsam hinab, zuerst den Bereich mit der Hand streichelnd, dann folgten die Lippen. Einem längeren Ausflug über ihre beiden Arme folgte die ausgiebige Berührung ihrer Hände mit Händen und Mund. Und zwar auch die Handrücken. Kleine zärtliche Bisse in die Fingerkuppen, und zwar unregelmäßig, um nicht Routine oder Berechnung aufkommen zu lassen. Damit war sie ihm dann wieder zugedreht und er streichelte und lobte ihre Jochgrube (am Hals unten) ausführlich und natürlich die sie eingrenzenden Sehnen. Schließlich der obligatorische Gang zu den Brüsten, denen er sich länger und länger und noch länger widmete. Bei der einen Brust sich kreisend küssend auf die Brustwarze sich zubewegend, bei der anderen führte er direkte Linien nach. Und dabei hatte er die Hände teils zu Hilfe genommen, teils wanderten diese wieder über den Rücken und ihre Arme und zu ihren Händen. Als er weiter nach unten zur unteren Brust und zu ihrem Bauch wanderte, hat er die Seiten auch nicht vergessen. Die Seiten der gesamten Länge nach bis zum kleinen Hüftspeck. Sie lag währenddessen und genoss wohl, dann bat er sie, sich aufzurichten. Damit sich der Bauch wellte und er die kleinen Wellen mit den Nägeln der umgedrehten Hand leicht streifte. Er benutzte überhaupt gerne die gewendete Hand, um dabei mit den umgedrehten Nägelenden über längere Flächen zu streifen. Dabei passierte es hin und wieder, dass er die Finger tiefer in die Haut einlegte, was einen Kontrast bildete zu dem davor oder danach folgenden Streicheln mit der ganzen flachen Hand. Weitere Abwechslung kam vom Küssen und dem ganzen Eingraben des Kopfes in ihre Bauchmulde. Auch durch das leichte Kratzen des Kinns und dem zarten Streicheln mit der Nasenspitze wurde es nicht langatmig. Und wieder mal dazwischen das Reiben des eigenen Körpers an der anderen warmen Haut. Wieder auf dem Bauch liegend nahm er schließlich ein paar Tropfen von Massageöl mit einer Idee Pfefferminz zu Hilfe und massierte den Rücken und den verspannten Hals.

Und einen verspannten Hals hatte sie schon, denn durch ihren Kopf schossen Gedanken wie das Feuer einsamer Pistolenschüsse in der tiefsten Nacht aufflackern. Die wildesten Gedanken hatte er am Anfang besänftigt, er hatte sie angelächelt und gesagt: „Es wird nichts passieren, was du nicht willst oder dem du stillschweigend zustimmst.“ Aber auch Egoisten können Wörter formen, auch Gierige können Versprechungen aussprechen. Und wenn dann jemand sich etwas mehr Mühe gibt als der Durchschnitt, dann wird das im Kopf von nicht nur paranoiden Persönlichkeiten zu der Vorbereitung vom dicken Ende, der da kommen könnte. Ich als Erzähler habe als Mann ausreichend Erfahrung mit Frauen gemacht, um sagen zu können, dass diese Bedenken kaum ausgesprochen werden. Sondern die Frau möchte nicht als Spielverderber dastehen und behält sie für sich, auf hab Acht vorsichtig die nächste Aktion prüfend. Frau genießt und prüft die nächste Handlung. So ist das immer beim ersten Sex. Da führt kein Weg daran vorbei.

Als er den Bauch tiefer in Richtung Venushügel wanderte, mit Händen, Küssen und allem, da war der letzte Wegkreuzung verlassen vom Normalen. Denn er verweigerte das Schlussendliche, sondern zweigte ab zu den Beinen. Begleitet von ihren Erwartungen bezüglich Aktionen den Analsex einleitend streichelte und küsste und knetete er leicht ihren Po. Aber er ging weiter zu den Oberschenkeln. Sie machte sich wohl Gedanken über die Form dieser Problemzone, aber er war mit den Augen zu nah dran, um „Probleme“ zu erkennen oder er hielt sie auch geschlossen. Dem mehrfachen Streicheln und küssen der Oberschenkel von allen Seiten folgte das leichte Massieren mit dem Öl, das er sparsam einsetzte. Einmal biss er auch in den Oberschenkel, aber an der Außenseite, und sie lachte auf.

Da war die Stille der atmosphärischen Musik durchstoßen und sie fragte ihn, ob sie ihm auch was Gutes tun könne. Er antwortete nur, dass er sie ja mit seinem ganzen Körper streichele, das ist ja auch für ihn was Gutes. Und dann sagte er: „Shhhhhht. Ganz ruhig und entspannt.“

Der eine Teil der Menschen ist an den Kniekehlen empfindlich, der andere am Knie und der dritte Teil an beiden. Als er ihr Knie in Bauchlage durchdrückte und mit den umgedrehten Fingernägeln über die ausgebreiteten Kniekehlen sanft entlangstrich, da erschauderte sie das erste Mal. Das war auch der Punkt, ab dem sie dachte, er kann ruhig abbrechen und ihn einführen, ab jetzt wäre das ok. Aber er dachte nicht daran. Das Arsenal an Küssen, behaartem Handrücken, Nasenspitzenstreicheln

Streicheln mit und ohne Massageöl ergoss sich über ihre Unterschenkel. Ergänzt durch eine kleine Feder, die er irgendwoher herbeigezaubert hatte, und die er ihr gezeigt hatte. Ehe er damit von ihrem Hals die Runde über ihre Brüste, ihren Bauch und Oberschenkel, diesmal schneller, nachzeichnete. Die Fußrücken streichelte und küsste er länger, dann hatte er einen kleinen igelähnlichen Hartgummi-Massageball in der Hand und rollte ihn mehrmals über beide Fußreflexzonen.

Als er ihre Zehen nacheinander küsste, den einen Fuß in einer Größenreihenfolge, am anderen Fuß der Abwechslung halber wild durcheinander, dachte sie fast, er wäre Fußfetischist. Was ihr an diesem Punkt auch längst absolut gleich war, sie wollte es so und es war wunderbar. Dass er den Weg wieder nach oben schneller absolvierte, als er hinab gesunken war, war ihr nur recht. Es wurde jetzt auch Zeit!

Aber für was?

Na, fürs erste Streicheln der Intimregion von Außen heran auf die Schamlippen zu. Langsam küssend und vorsichtig tastend, dann erstmal die Schamlippen als Ganzes. Dann wagte er sich mit dem Finger dazwischen, aber noch nicht ganz hinein. Die Zunge wagte sich an die Klitoris heran, das restliche genaue Vorgehen soll ihr Geheimnis bleiben. Aber klar wurde, dass er genau wusste, dass beim Cunnilingus ab einem bestimmten Punkt die Klitoris sich versteckt und nicht mehr direkt angesprochen werden möchte, sondern indirekt stimuliert werden sollte. Er kannte diese Regel und leckte sie zum Orgasmus, nachdem er angefragt hatte, ob sie mit Finger innen oder außen es lieber mag. Die Antwort gehört zum Intimbereich von Malin und nicht hierher.

Um eine längere Prozedur abzukürzen, sie hatte einen Orgasmus ehe er mit seinem warmen und harten Penis in sie eindrang.

An welchem Punkt er sie gebissen hatte, lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Aber es war nach dem Sex, dass sie feststellte, dass ihr Roemhild-Syndrom stark nachgelassen hatte. Sie hatte zum ersten Mal den Ganzkörper-Sex kennen gelernt und vermutete, dass es daher käme. Bestürzt über diese Macht, die dieser im Grunde genommen Fremde über sie ausübte, wartete sie nicht lange, nachdem er eingeschlafen war. Sie hatte es auf einmal mit der Angst zu tun und zog sich eilig an. Und suchte das Weite.

Sie landete bei McDonald‘s, wo sie die neue Fähigkeit testen wollte, zu essen, was sie wollte. Kardinalfehler bei Roemhild sind wie schon erwähnt kohlensäurehaltige Getränke, sie trank zwei große Cola und ein Mineralwasser, spritzig. Keine Verschlechterung. Vielleicht nach dem Schlaf würde sie es bereuen, und sie war auch müde. Ganzkörper-Sex ist keine 5-Minuten-Sache.

Als sie daheim spät am Nachmittag aufwachte, war ihr Magen immer noch gesund, ihr Herz gesund und nicht eingeengt, ihr Bauch nicht gespannt. Und sie hatte wirklich göttlich geschlafen. Nicht wie all die Jahre davor.

Nicht wie mit den ganzen Männern davor. Das war der Gedanke, der Moment, in dem sie begriffen hatte, dass sie bis über beide Ohren bis in die Haarspitzen in Sandu verliebt war. Das war der Moment, an dem sie anfing, richtig Angst zu haben. Große Angst.

Sie rief sich zur Räson, vielleicht war er ja auch etwas von ihr angetan. Sie würde ihm einiges an Sex anbieten. Fesselsex und was sonst noch. Den Dreier. Und was sonst noch. Die Affären? Würde er das wollen? Bei diesem Gedanken kroch es ihr eiskalt den Rücken hoch, wenn noch mehr Frauen so eine Behandlung erführen, was dann? Sie sah nackt an sich herunter und fragte sich mit feuchten Augen, was an ihr wohl ihn bewegen konnte, nur mit ihr so Sex zu haben. Ganz ehrlich? Nichts. Alles fast wie bei allen anderen Frauen.

Sie rannte aus dem Haus und fuhr zu ihm. Nervös Nägeln kauend. Sich besinnen, auf Nägelkauen steht der garantiert nicht.

Und dann kam sie wieder dem Haus näher. Und sah die vier Polizeiautos, drei normale Autos, zwei BMW 3er, ein Audi und ein VW Bus. Die gerade wegfuhren. Sie versuchte, ihn im Bus zu erkennen, sie war aber zu weit weg. Und sie hatte auch Angst, hatte sie etwas bei ihm vergessen? Sie erinnerte sich an sein Drogenangebot. Und war entsetzt.

Drei Tage später war das Entsetzen nicht gewichen. Sie hatte ihre Freundin Bettina besucht und ihr alles berichtet. Bettina hatte nicht reagiert. Was sicher daran lag, dass Malin Bettinas Freund Christian in der Disco mit einer anderen Frau knutschen gesehen hat.

„Hat nichts mit dir zu tun“, hatte Bettina gesagt. „Ich muss alleine sein.“

Bettina wollte alleine sein, damit war Malin alleine gelassen. Frauen sind Menschen und Menschen wollen nicht in erster Linie Schuhe kaufen oder Urlaub machen. Sie wollen Orgasmen haben. Und haben sie sie, brechen die Dämme. Du musst ihre Orgasmen kennen. Du musst sie sehen, sie verstehen, ihre Orgasmen. Um ihre Liebeskummer zu verstehen. Ohne funktioniert das nicht vollständig.

Wir waren nicht dabei, wir wären ja auch nur Zuschauer gewesen. Es ist ohne dieses Wissen aber schwer zu beschreiben, wie langsam die Erkenntnis tröpfelt. Einer untergehenden Sonne gleich wirft das Erkennen der Wahrheit Feuer auf die angefauchten Wolken. Malins Gedanken kreisten um die Zeit zwischen dem ersten Sex ihres Lebens und jetzt, die vollen sechs Jahre. Sie schob ihre Heilung von Roemhild auf den Ganzkörper-Sex und wurde mit jeder Sekunde wütender auf all die Idioten davor, die sie anders geliebt hatten. Widerwärtig wurde es ihr, die hatten sie nur benutzt. Ihr dieses Geschenk der Heilung verweigert. Weil sie allesamt Arschlöcher gewesen waren! Alles Wichser, nur Sandu nicht. Sie malte ihn in wunderbaren Farben, erkannte das englische „Sun“ der Sonne in seinem Namen.

Dann verfluchte sie sich dafür, seine Drogen nicht gesehen zu haben. Wie viel war es? Anscheinend genug, um damit in Nürnberg, also Bayern, für lange hinter Gittern zu wandern. Scheiße! Sie war sich sicher, sie würde auf ihn draußen warten. Dann fiel ihr ein, der würde ihr alles erzählen, nur um sie als Tussi draußen zu haben, die ihm Geld und alles Mögliche ins Gefängnis schickt. Das war jetzt jedoch SCHEISSEGAL.

Eine Woche später wusste sie, man kann jemanden nicht einfach in Untersuchungshaft besuchen. Man braucht eine Berechtigung. Und dafür muss der Gefangene bekannt sein. Was er aber nicht war. Malin hatte die Beamten angeschrieen, sie wurde abgeführt, sie durfte schließlich unter Zuhilfenahme eines Anwalts die gesamte Liste der Gefangenen einsehen. Kein Sandu darunter, niemand mit Geburtsland Rumänien.

Kurz nachdem der Anwalt sie als verrückt bezeichnete, gab sie auf. Da waren 8 Tage vergangen. Sie war davor schon mehrfach zu seiner Mutter gefahren und die wusste ebenfalls von nichts. Sandu galt als vermisst. Die Polizei hatte die Vermisstenanzeige wortlos aufgenommen. Warum hatte Malin kein Foto gemacht von der Szenerie mit dem Audi und den BMW?

Und jetzt saß Malin wortlos vor sich hin starrend auf die weiße Wand ihres Zimmers, die Hände zwischen ihre Beine wärmend. Dann wieder sich auf die Hände aufstützend, die Finger krallten sich in die hellgrüne wärmende Tagesdecke. Er ist weg. Mein Heiler.

Für

Immer

Und

Ewig

Punkt

Sie suchte mit glasigen Augen die Decke ab, dann sog sie tief Luft ein. Und schrie einen lautlosen Schrei heraus. Den sie mit einer derartigen Macht unterdrückte, dass sie keine Kraft mehr hatte, die Tränen zu unterdrücken. Sie weinte fast eine ganze Stunde. Es klingelte an der Tür und sie glaubte an ein Wunder. Der Anblick des Paketmanns löste einen weiteren Heulkrampf aus. Als dieser kurze Anflug von Realität vorbei war, ließ sie das Paket vor der Tür fallen und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Nicht fest. Aber hart. Es war sehr hart für Malin. Im Paket befand sich der Kratz-Schneebesen für die Kopfmassage, den sie bei Sandu kennen gelernt hatte, er war nicht teuer gewesen.

Zwei Tage später hatte sie ihr Bett immer noch nicht verlassen, da kam Bettina vorbei und sagte ihr herzlichen Dank für die Beobachtung des Fremdgehens ihres Freundes, sie überlege, ihn in die Wüste zu schicken. Bettina selber könne jetzt nicht Urlaub nehmen, der Quartalsabschluss stand vor der Tür. Aber sie schenkte Malin ein Wochenende im Bayerischen Wald.

„Weit weg“, strahlte Bettina gegen Malins verheulte Augen an. „Bäume. Natur. Tiere.“

Und da war Malin dann und trank auf der Terrasse des Hotels einen großen Milchkaffee. Ohne Zucker. Zeiten riesiger Trauer sind gute Zeiten, um etwas zu reformieren im Leben. Und sie hatte sich gesagt, jetzt sei die Süße aus ihrem Leben verschwunden. Sie saß alleine am runden Holztisch, auf der Nase eine riesige Sonnenbrille, ein Modell wie aus den 70ern. Hinter ihr bäumte sich das Hotel auf als übergroßes Bauernhaus designt, weiße Wände, rotes Dach. Der Tisch aus grob lackiertem haselnussbraunem Holz mit nur wenig Luft zwischen den Stelen, rund eingefasst im gleichen Holz. Der Boden hatte die gleiche Farbe, die Klappstühle waren aus ähnlichem Holz. Sie saß alleine mit ihrer Trauer links außen am Rand der Terrasse und sah hinaus auf das Tal. Links und rechts sanken baumreiche Wälder sanft ab, direkt vor dem Hotel begann eine saftig grüne Wiese, die sich trapezförmig ins Flusstal weiter unten verbreiterte. Pferde grasten oder galoppierten alleine oder mit Reitern.

Malin fiel eine blonde Reiterin auf, aber auch das erinnerte sie daran, wie toll es war, Sandu zu reiten. Sie war wie in einem Tunnel, die Unterhaltung der anderen Gäste über ein Autokauf war belanglos und fast ausgeblendet, obwohl die Diskussion über die Automarken zwischen dem Vater und der burschikosen etwa 20jährigen Tochter hitzig geführt wurde. Malin hatte ähnlich der Tochter nun auch einen Kurzhaarschnitt, ansonsten keinerlei Ähnlichkeit. Die Tochter war das blühende ranke und aufgerichtete Leben, Malin ein zusammengesunkenes Haufen Elend. Rechts schob sich eine die Bedienung sich sichtbar machend ins Bild, Malin interessierte es nicht.

Malin war von den Sinnen her tot, da war die Nacht mit Sandu bereits 13 Tage her. Der Vater bezahlte die Getränke mit einem Schein, Malin hörte das Rascheln überdeutlich. Er erhielt Münzen zurück, Malin hörte das Zischen im Geldbeutel. Die Bedienung ging wieder hinein, der Vater versuchte ein Machtwort und wurde laut. Die Tochter hielt dagegen, ein Suzuki ginge gar nicht. Der Vater wurde wütend und er schlug mit der Hand auf die Kaffeetasse. Aus Versehen. Und dann roch Malin Blut. Ein beißender Geruch. Eine scharfe Süße. Malin war erschrocken, sie leckte sich automatisch über die Lippen. Dann suchte sie Halt und griff zur Zuckerkanne. Schüttete den halben Inhalt in ihren halb ausgetrunkenen Milchkaffee. Der Hunger, der Durst, irgendwas dazwischen, irgendwas beides beinhaltend, wurde drückender. Sie stürzte den Milchkaffee hinunter. In ihr war auf einmal eine nicht gekannte Gier. Der Zucker war noch nicht ganz gelöst, die zähflüssige Masse schob sich in ihren Mund. Sie schmeckte ein riesiges NICHTS.

Ich muss was essen, dachte sie stürmisch und stand mit einem heftigen Ruck auf. Der Stuhl fiel hin, Vater und Tochter waren mit der Wunde beschäftigt. Malin sah zur Wunde und sie konnte nur mühsam ein Verlangenszischen unterdrücken.

Als sie aufwachte, lag Malin am Waldrand und es war noch dunkel. Ihre Kleider waren noch ganz, aber teilweise verdreckt. Und vor allem: überall Blut. Sie schrie kurz auf, sie richtete sich auf. Auf. Auf. Blickte um sich, ein Tierbein. Das Schaf neben ihr war tot, es war gerissen worden von einem Wolf. Und der Wolf hatte auch ein anderes Schaf angefallen, beide lagen da. Das Schaf direkt neben ihr schien noch zu atmen, während es langsam verblutete. Und das Schaf hatte einen furchtbar ängstlichen Blick und sah sie noch einmal an, ehe es verendete.

Dann kehrten die Sinne zu Malin zurück. Und sie hörte die ganze Herde um sie herum blöken und wild hin und her laufen. Sie waren in einem Freigehege, Malin stand direkt am Zaun. Sie erblickte einen Widder, sie hatte auf einmal Angst. Der Widder war schon wütend, jetzt roch er ihre Angst und setzte zum Angriff an. Nur mit viel Glück konnte sich Malin über den Zaun retten. Sie erkannte den Weg zurück zum Hotel. Sie hatte bei ausgiebigen Spaziergängen die Schafe im Gehege gesehen. Sie rannte den Weg zum Hotel zurück. Dann fiel ihr auf, dass sie ja voller Blut war. Sie zog sofort alle Sachen aus und rannte bis auf die Unterwäsche nackt auf das Hotel zu.

Sie musste vorsichtig sein. Sie dachte nicht an einen Vergewaltiger. Nein, sie dachte daran, dass sie sicher mit Kleidern beim Weggehen gesehen worden war. Nur, wann? Sie hatte keine Erinnerung, der totale Blackout musste mindestens fünf bis sechs Stunden angedauert haben. Nein, eher neun bis zehn. Sie schlich ins Hotel. Keiner da. Alles noch dunkel, nur die Nachtbeleuchtung war an. Sie schlich eilig zu der Treppe, keiner da. Was wäre mit dem Schlüssel? Wo ist der? Scheiße, wahrscheinlich in den Kleidern vergessen. Wie komme ich auf mein Zimmer? Sie rannte die Treppen hoch, versuchte zu verstehen. Ihre Tür war offen. Sie rannte hinein und fing an, wie wild zu packen. Als sie fertig war mit Packen fiel ihr auf, dass sie immer noch halbnackt war. Sie zog sich an. Dann suchte sie ihre Sachen aus dem Nachtkästchen und der Toilette zusammen und verstaute sie. Als sie ihren Koffer vom Bett holte und auf dem Boden setzte, fiel ihr ein, dass sie ja hier nicht anonym war. Und sie konnte nicht einfach so abhauen. Sie sank aufs Bett.

„Was ist nur mit mir lohohos?“ weinte sie wieder los. „Was ist denn passiert – mit mir?“ Sie schluchzte und heulte los.

Eine Stunde später hatte sie sich wieder mehr gefangen. Sie stand unten am Empfang, lächelte tapfer den braunhaarigen kleinen Mann in der adretten Tracht an.

„Sie verzichten auch wirklich auch auf das Frühstück?“

„Entschuldigen Sie meine verheulten Augen“, sie zwang sich zu einem Lächeln. „Meine Mutter ist gestorben.“

„Darf ich Ihnen was einpacken, Frau Lösel?“ Der Mann schien ihr wirklich helfen zu wollen und war doch so machtlos. Gegen das Blut. Gegen die Wucht eines Ganzkörper-Sex mit Sandu.

„Keinen Hunger.“ Sie lächelte, während sie den Kopf schüttelte und dann fiel es ihr auf. Sie war tatsächlich satt. Übervoll. Ihr Entsetzen steigerte sich, ihr war gerade bewusst geworden, sie hatte das Blut der Schafe getrunken.

„Ist was?“ fragte der Mann.

„Mir ist nur aufgefallen, die Tracht steht Ihnen sehr gut“, sie versuchte ein freundliches Lächeln, aber sie schaffte es nicht. Sie grinste hinterhältig. Ihr war gerade der Gedanke gekommen, was sie vielleicht geworden war. Und sie wusste, sie würde es verheimlichen müssen.

„Danke“, sagte der Mann. „Und gute Fahrt!“ Er hatte ihren Hinterhalt erraten, er wollte sich abwenden, durfte nicht, musste die Situation tapfer durchstehen.

Ganz in Gedanken verließ Malin den Bayerischen Wald. Mit einem leichten wahrhaftigen Lächeln war sie aus dem Hotel gegangen. Der Mann am Empfang sah wirklich gut aus. Und es war ihr aufgefallen. Das heißt, dass der Liebeskummer vielleicht nachließ. Sie fuhr mit dem Zug, die ganze Zeit Musik hören, sehr oft Within Temptation – What have you done.

Sie kam daheim in Nürnberg an und googelte erst einmal alles, was sie über Vampire und Werwölfe finden konnte. Und fand sich darin wieder. Zum Teil ja. Zum Teil nein. Das war der Moment, an dem Malin Susanne Lösel, 27, 172 cm groß, Studentin der Psychologie an der FernUniversität in Hagen im 6. Semester und Arbeiterin im Ersatzteillager anfing sich zu fragen, ob Sandu ein Vampir war. Oder ein Werwolf. Weil natürlich wusste sie da, dass gestern Vollmond gewesen war. Und ob er sie gebissen hatte. Sie würde sich absuchen müssen nach dem Biss. Und sie würde Bettina natürlich nichts von alledem erzählen können. Sie sagte sich die ganze Zeit über, ich bin gefallen, ich habe das Schrecklichste getan. Ich habe getötet. Leben getötet. Ich muss wieder aufstehen. Ich muss nach dem schrecklichen Niedergang wieder aufstehen und zu alter Blüte zurückfinden. Ich muss, sagte sie sich, ich muss wieder neu lernen, der Liebe den Vorzug zu geben, vor dem Hass. Der Gemeinsamkeit vor dem Entzweienden. Ich muss zurück – mit neuen Vorzügen, mit neuer Erkenntnis, mit neuer Energie und mehr Wissen – zurück zu dem Pfad, den ich als Studentin eingeschlagen habe. Und der Weg ist, zu helfen. Für andere da zu sein. Ein steiniger Weg. Mühsam und tricky.

Wie wahr, liebe Malin.

Und wie schwer.

Drei Tage später.

Es klingelte an der Tür. Malin drückte den Summer, wahrscheinlich nur Werbung. Sie war so in Gedanken, aufgewühlt, aufgeschreckt, sie schreckte zusammen, als es wieder klingelte und jemand an der Tür klopfte.

„Ja, bitte“, öffnete sie die Tür und sah einen großen Mann vor sich. Er hatte schwarzes Haar, pechschwarz. Wenn man ein undeutliches Foto von ihm sah und beim deutlich werden würde ein älterer Keanu Reeves auch möglich. Aber dieser war nicht nett. Und er schien auch nicht auf der guten Seite zu stehen. Das fiese Grinsen schien nichts Gutes zu verheißen.

„Malin Susanne Lösel?“ er zeigte mit links seinen Ausweis, Polizei. Noch schlimmer hätte es kaum kommen können.

„Ja?“ stieß sie hervor, augenblicklich überrannt von Angstschauern. Ihr kamen die toten Schafe in den Kopf.

„Kommissar Anton Fuchs. Sonderabteilung Vampirkriminalität“, er hatte seine rechte Hand hinter seinem Körper verborgen gehabt, jetzt richtete er die Waffe in seiner Hand auf sie. „Ich bin befugt, Sie zu erschießen, wenn Sie sich wehren. In ihrer Filmgucker-Sprache: Ich habe le Doppelnull-Lizenz.“

„Ich kenne meine Rechte!“ wehrte sie sich. Aber nur halb mutig.

„Vampire haben keine Rechte. Weil sie nicht existieren“, er grinste und entsicherte die Pistole mit dem charakteristischen Klicken, sie war auf sie gerichtet. „Meine Tat würde sehr gut vertuscht werden. Und ich will mich mit dir auch über Vertuschungen unterhalten. Die im Bayerischen Wald vielleicht als Anfang?“

„Ich werde mich nicht wehren“, sie hob die Hände hoch und trat zur Seite.

„Kannst Du gar nicht, wir haben kein Vollmond“, er grinste noch frecher, sicherte die Pistole wieder und steckte sie in seinen Halfter als er einen Schritt in die Wohnung hinein tat.

„Ich wurde da hineingezogen“, ihr Ton hatte viel Flehendes, als sie die Tür schloss. Sie hatte den Impuls, draußen nach Hilfe zu sehen. Aber als ihre Gedanken diese Neigung prüften, erkannte sie die Ausweglosigkeit.

„Kaue nicht an le Vergangenheit, hat meine Mutter immer gesagt“, er schritt auf einen Stuhl zu. „Besonders nicht, wenn die Zukunft dir jetzt sofort auch ein paar ordentlich zähe Fleischbrocken vor den Latz knallt.“ Er setzte sich und grinste immer noch.

„Du kannst mich Toni nennen“, er stellte das Grinsen ein. Der fest zupackende Unheil verheißende Ernst in seinem Blick war aber noch schlimmer. „Der ohne Prozess eingekerkerte kleine Sandu hat dir le Fahrt zur Hölle geschenkt. Verkleidet in einem schneeweißen puffigen Federkleid der Leichtigkeit. Mit dem im Abgang im Gaumen säureartig beißenden ach so blöden Beigeschmack der Machtlosigkeit. Ausgeliefertsein ohne ein Codewort, welches es beenden könnte. Das ist nun mal le Preis der guten Orgasmen. Hallo“, er machte eine eisige Pause, „Giftkrallen-Täubchen! Die Schlange ist da.“

„Was wollen Sie?“

„Als gläubiger Christ, der ich bin“, sagte er dann ernst. „Mag ich eine bestimmte theologische Richtung der Neuzeit sehr. Der sagt, le Vorwurf, der der Kirche zu machen ist, sie versucht immer von oben herab auf le Menschen unten Ideale überzustülpen. Das führt zu Scheinheiligkeit, weil le Menschen NATÜRLICH scheitern an den hohen Idealen. Und diese Scheinheiligkeit schreckt le Nicht-Gläubigen ab. Aber Gottes Liebe kann nicht VERDIENT werden, und schon gar nicht, indem wir Idealen nachstreben. Sondern es ist das Gleiche genau anders herum. Wir sollen durch Selbsterkenntnis wachsen, so weit wir eben nach oben kommen. Wir sollen gute Dinge tun, aber eben im Bewusstsein, dass uns Gott BEREITS so liebt, wie wir sind. Le Auswirkungen sind die gleichen, gute Taten. Vampire jagen, die Böses tun als Beispiel. Aber eben nicht, um sich dadurch Lohn zu VERDIENEN. Sondern aus einem Gefühl der Dankbarkeit für le Liebe Gottes. Kennst du den Unterschied dieser Sichtweisen?“

„Nein.“

„Ich muss eben in meinem Beruf genau untersuchen, welcher Vampir ist böse. Und welcher ein versteckter Heiler. Sandu verdient le Gefängnis, weil er dich nicht gefragt hat. Gleichwohl war seine Entscheidung, dich zum Wrukola zu machen, vielleicht richtig. Das gilt es herauszufinden. Wir werden etwas Zeit miteinander verbringen, dann werde ich meine Entscheidung treffen, einen Bericht schreiben. Vielleicht dich töten. Vielleicht dir helfen.“

Ja, er hat alle bezeichnenden Artikel verschluckt und durch das französische LE ersetzt, dass er, wie mir erzählt wurde, auch französisch aussprach. Wegen einer Lehrerin hatte er diese Macke: merke wohl, eine Sprache wird wie jedes Attribut der Welt von den Trägern mies gemacht. Ich kenne jemanden, der isst mit über 50 noch keine Suppe, weil seine Tante, die auf ihn aufgepasst hat, ihn immer dazu gezwungen hat…

Malin - Vampir und Heilerin

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