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Am Grauen Gletscher, vor dem Zugang

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Ihre Hände fanden sich von selbst.

Das taten sie seit einem Jahr, seit jenem Abend am Vogelbaum. Auch in diesem Herbst waren unten im Tale die Abende noch warm und wurden erhellt von Wolken in Rot-Orange. Das letzte Grün des Sommers ruhte in den Wäldern. Die letzten Ernten wurden eingefahren. Die letzten weißen Rehe sprangen über die Wiesen. Auch die letzten Vögel sangen noch Liebeslieder in den Zweigen, wie sie es seit allen Zeiten taten.

Landro und Lanja sahen sich tief in die Augen. Vor einem Jahr hatten sie es zum ersten Mal getan. Damals hatten die Vögel Lieder gesungen. Sie hatten nicht einfach nur gezwitschert. Sie hatten wirkliche Melodien gezirpt und geträllert. Ein vielstimmiger Choral aus alten Sängen und Legenden hatte über die Wälder und Dörfer getönt.

Das Lied war über Äcker und Weiden geweht. Die Pferde hatten ihre Köpfe gehoben, und die Milch der Kühe hatte am nächsten Morgen nach Früchten geschmeckt. Die Kinder hatten Abzählreime verwendet, die sie vorher nicht gekannt hatten.

Landro und Lanja hatten ihre Wanderung begonnen. Aus gegensätzlichen Himmelsrichtungen waren sie aufgebrochen, den Ursprung des Liedes zu suchen. Stunde um Stunde und Tag um Tag waren sie gewandert. Dann hatten sie einander erblickt.

Es war unter dem Vogelbaum gewesen, in dem die Vögel ihr Lied sangen. Nichts hatten sie in ihrem Leben mehr genossen als jenen Anblick. Er war in ihren Augen versunken, und sie in den seinen. Von der Welt selbst angeschoben, waren sie auf einander zugeschwebt. Sie hatten einander in die Arme genommen und nicht mehr losgelassen, bis der nächste Morgen anbrach.

Es war jene Wärme gewesen, nach der sich jeder einzelne Mensch auf der Welt sehnt. Gemeinsam waren Landro und Lanja danach durch die Welt gezogen, erst zu ihren Freunden, dann zu seinen. In allen Landen hatte sich die Kunde von ihrem Glück verbreitet.

Durch malerische Dörfer waren sie gezogen, durch prächtige Städte, und vorbei an gluckernden Bächen, wo die Wäscherinnen seufzend aufschauten von ihrer Arbeit. Hätten sie den Bächen besser zugehört, so wären viele Dinge vielleicht ganz anders gekommen. Wo auch immer aber so ein Mensch ihrer ansichtig wurde, wünschte er sich, in ihrer Rolle zu sein. Viele Völker sahen sie, und in vielen Welten erzählt man sich noch heute von dem Lächeln zwischen Landro und Lanja.

Auch zu ihren Verwandten kamen sie und trugen das Lachen unter sie. Heiter kicherten die Mädchen, und laut glucksten die Jungen, wenn Landro und Lanja ihre Blicke tauschten. Ihre Eltern und Großeltern und Geschwister freuten sich für sie, schenkten ihnen Blumen, und buken Kuchen für sie.

Landros Verwandte fertigten für Lanja eine Brosche. Diese war aus Traumsilber. Auf ihr waren rote und gelbe Edelsteine in Mustern eingelassen, welche die Zeichen von Göttern der Zweisamkeit bildeten.

Lanjas Verwandte fertigten für Landro einen Armreif. Dieser war aus Echtsilber. Er war beschlagen mit Schriftzeichen, geformt aus vielen weiteren Metallen. Sie bildeten rituelle Gedichte und Lieder derselben Götter.

Gleichzeitig mit den Übergaben hoben die Onkel schelmisch ihre Finger und sagten, dass sie doch nun wirklich heiraten sollten.

Dies nahm sich das Paar zu Herzen.

Unter den Blumen des bald angebrochenen Frühlings suchten sie all jene Orte auf, die ein junges Paar aufsuchen sollte. Sie gingen zu den weisen, alten Frauen und ließen sich in den Dingen der Frauen beraten. Sie gingen zu den Handwerkern und ließen sich in den Dingen des Handwerks beraten. Sie gingen zu den Falknern und ließen sich in den Dingen des immer Neuen beraten.

Am Ende gingen sie zu den Priestern, um sich in den Dingen des Glaubens und der Ideale beraten zu lassen. Manche Priester wälzten ihre Schriften. Andere Priester hielten ihnen lange Vorträge. Doch mit je mehr Priestern sie sprachen, desto mehr von diesen wollten sie auch zu einem bestimmten Ort schicken.

Dieser Ort war der Tempel des Gletschers am steten Gebirgsbach. Jener lag in einem Hochtal, wo nur noch wenige und ganz eigene Bäume wuchsen. Von dem Grauen Gletscher oberhalb des Tales hatte sich vor undenklichen Zeiten ein Klumpen mit Eis gelöst, und war zu Tale gerollt. Jenes Eis war nie geschmolzen.

Die Leute aus der Umgebung hatten es Jahr um Jahr beobachtet und bewundert, und auf sein Abschmelzen gewartet. Doch es schmolz nicht, selbst, wenn man Feuer daran hielt. Es schimmerte blau und grün, wie manche Edelsteine es tun. Dennoch ließ es sich bearbeiten und schleifen. So erkannten die Menschen es endlich als das, was es war: Als ein Zeichen des Gletschergottes.

Darum machten sie sich ans Werk, und schliffen in vielen weiteren Jahren aus jenem Eis einen Tempel zu Ehren des großen Gletschergottes heraus. Zu jenem waren viel später auch Landro und Lanja geschickt worden.

Die Priester und Diener des Gletschergottes hatten lange Gespräche mit Landro und Lanja geführt. Die Winde hatten dabei geweht und waren verstummt. Die Wasser hatten gerauscht und waren versiegt. Der Mond hatte geschienen, und war hinter einer Wolke verschwunden.

So war klar geworden, dass Landro und Lanja den Weg zum Gletscher gehen sollten. Die Priester lehrten sie dazu alles, was sie wissen mussten.

Als ein Jahr ihrer Liebe vergangen war, brachen sie auf. Sie folgten dem Tal, das von dem Tempel des Gletschers aus aufwärts führte. Nadelbäume säumten ihren Weg, hoch, alt und verkrümmt. Nicht ein einziger neuer war hier gewachsen in all den Jahrhunderten, seit der ewige Eisblock zu Tale gegangen war. Doch auch keiner der alten Bäume war zugrunde gegangen, wodurch auch immer.

So wanderten Landro und Lanja durch ein uraltes Land, das gleichzeitig kein Alter kannte. Kein Tier suchte diesen Wald auf. Kein Vogel näherte sich ihm freiwillig, und nur die mutigsten Falkner hätten ihren Gefährten einen entsprechenden Befehl erteilt.

Doch auch der ewige Wald hatte eine Baumgrenze zu den Bergen über ihm hin. Diese erreichte das Pärchen und überschritt sie. Dahinter gab es nur noch kahlen Felsboden. Er war bedeckt mit Findlingen, die ihrerseits bedeckt waren mit Adern von blauen und grünen Edelsteinen.

Entlang des Bachlaufes markierten diese Steine einen Weg, der weiter zum Grauen Gletscher hin führte. Während Landro und Lanja ihn bergan schritten, hielten sie einander stets bei den Händen.

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