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2 NAH BEI DEN MENSCHEN

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Eine riesige Menge hatte sich versammelt, um den neuen Papst zu sehen. Der Petersplatz war voller aufgeregter Menschen, die laut rufend und lachend nach vorne drängten, als das lange, weiße Papamobil mit Franziskus auf der abgesperrten Bahn zwischen den Zehntausenden von Besuchern hindurchfuhr. Über den Köpfen wehten die Fahnen vieler Länder. Pilger und Touristen riefen mit lauter Stimme; ihnen war ganz schwindelig an diesem windigen Tag. Eltern hielten ihre verunsicherten kleinen Kinder hoch, auf dass der neue Papst sie beim Vorbeifahren segnete. Manche drängten sich mit ihren Babys zu den Sicherheitsleuten durch, die sie hochheben sollten, damit der Papst ihnen das Haar streicheln oder sie auf den Kopf küssen konnte. Die Freude war ansteckend.

Wie Papst Franziskus inmitten des Tumults eine einzelne Person ausmachen konnte, ist ein Rätsel. Auf einmal aber wies er seinen Fahrer an, zu halten. Er stieg zu den Menschen hinunter, winkte und schüttelte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Dann blieb er vor einer in Schwarz gekleideten winzigen Frau mit einem runzeligen Walnussgesicht stehen. Seinen Arm ergreifend, redete sie auf ihn ein, überschüttete ihn regelrecht mit Worten. Sie war zu weit weg, als dass ich hätte hören können, welche Sprache sie sprach. Doch ob er es nun wusste oder nicht, egal, ob ihre Worte Sinn ergaben – er nahm ihr uraltes Gesicht in seine großen Hände und hielt es mit riesengroßer Zärtlichkeit fest. Seine Großmutter Rosa Margherita Vassallo Bergoglio hatte dafür gelebt, ihn als geweihten Priester zu sehen. Wie stolz hätte es sie da erst gemacht, ihren ältesten Enkelsohn als Papst zu sehen! Franziskus jedenfalls muss bei sich gewusst haben, dass sie so empfunden hätte.

Oma Rosa war es, die ihm zu beten beigebracht und ihn im Glauben unterwiesen hatte. Sie war 1929 aus Italien nach Argentinien gekommen, nur sieben Jahre, bevor ihr Enkelsohn geboren wurde. Der Familienlegende nach war sie in einen langen Mantel aus Fuchspelz gehüllt, als sie an einem glühend heißen Morgen die Gangway des Dampfers Giulio Cesare herunterkam. Sie hatte nicht etwa vergessen, dass sie auf der Südhalbkugel ankommen würde, wo im Januar Hochsommer herrschte. Vielmehr trug sie das gute Stück, weil in sein Futter die gesamten Einnahmen aus dem Verkauf des Familienhauses und der Confiserie in Piemont eingenäht waren. Mit ihr zusammen waren ihr Ehemann Giovanni und ihr Sohn Mario José Bergoglio in der dritten Klasse des Schiffes gereist. Sie hatten sich verspätet. Der Verkauf ihres Besitzes hatte sich verzögert, und so waren sie gezwungen gewesen, sich für ihre ursprünglich erworbenen Billetts neue ausstellen zu lassen. Das Ganze war ein großes Glück, wie sich herausstellte, denn das Schiff, mit dem sie eigentlich fahren wollten – der Ozeandampfer Principessa Malfalda –, erlitt eine schwere Havarie, bei der die Schiffsschraube brach und den Rumpf durchbohrte. Das Schiff sank im Atlantik und riss 314 Menschen mit in den Tod, die meisten von ihnen waren Passagiere des Zwischendecks, auf dem auch die Bergoglios untergebracht gewesen wären.

Fünf Jahre später begegnete Mario bei der Messe in der Kapelle San Antonio in Almagro – dem Stadtteil von Buenos Aires, in dem die Familie lebte – einer jungen Frau, Regina María Sívori, einer Argentinierin, deren Familie ursprünglich aus Genua stammte. Keine zwölf Monate später waren sie verheiratet. Der zukünftige Papst Franziskus, Jorge Mario Bergoglio, kam ein Jahr später, am 17. Dezember 1936, zur Welt und wurde acht Tage darauf am ersten Weihnachtsfeiertag getauft.

Auch wenn er als Argentinier geboren wurde – aufgezogen wurde Jorge Mario Bergoglio mit Pasta und in einer typisch italienischen Kultur- und Glaubenstradition. Weil er das erste von fünf Kindern war, wurde Jorge in seinen jungen Jahren jeden Morgen von seiner Großmutter zu Hause abgeholt. Den Tag verbrachte er dann ganz in der Nähe bei ihr, und erst am Abend brachte sie ihn wieder zurück. Deshalb war Bergoglio von all seinen Brüdern und Schwestern derjenige, der sich die Familientraditionen „am stärksten zu eigen gemacht hat“, wie er später selbst sagte. Seine Großeltern sprachen unter sich Piemontesisch, und er lernte die Sprache von ihnen. „Sie mochten alle meine Geschwister sehr gern. Aber ich hatte das Privileg, an der Sprache ihrer Erinnerung teilzuhaben.“ Aus diesem Grund spricht der Papst heute fließend Italienisch sowie Spanisch und findet sich auch im Deutschen, Französischen, Portugiesischen, Englischen und Lateinischen zurecht. Er kann sogar ein paar schlüpfrige Lieder im Genueser Dialekt singen, was er einem verlotterten Großonkel zu verdanken hat.

Die Brüder seines Vaters waren Konditoren, und wenn sie zu Besuch kamen, schaltete auch Mario auf das Italienische um, obwohl er seine Kinder davon abzubringen versuchte, es zu sprechen. Er wollte, dass sie richtige und vollständige Argentinier sind. Mario und seine Brüder waren Veteranen des Ersten Weltkriegs; sie sprachen miteinander über ihre Erfahrungen und diskutierten über Mussolinis Aufstieg in ihrem Heimatland, mit dem Mario nicht einverstanden war.

Mario José Bergoglio war von Beruf Buchhalter, doch weil seine italienischen Qualifikationen in Argentinien nicht anerkannt wurden, arbeitete er in einer weniger angesehenen Buchhalterstellung in einer Strumpffabrik. Er verdiente nicht so viel, wie er eigentlich hätte bekommen müssen, doch er war ein Mensch mit heiterem Gemüt, dem Missgunst fremd war. Die Familie litt keinen Mangel, auch wenn sie nicht im Luxus lebte. „Wir schwammen nicht im Überfluss, hatten kein Auto und fuhren nicht in die Sommerferien, aber wir litten keine Not“, hat Bergoglio ihre Situation beschrieben.

Jorge und seine Schwester María Elena, die mehr als zehn Jahre jünger ist als er, sind als einzige der Geschwister noch am Leben. Ihre Kindheit haben sie als eine glückliche in Erinnerung, trotz der Tatsache, dass ihre Mutter jahrelang gelähmt war, nachdem sie ihr fünftes Kind geboren hatte. Jorge und seine Geschwister unterstützten sie beim Kochen. Er erinnerte sich, wie sie von der Schule nach Hause kamen, wo die Mutter in der Küche saß und am Tisch Kartoffeln schälte, auf dem alle Zutaten ausgebreitet lagen. Sie gab ihnen dann Anweisungen, wie das Essen zuzubereiten war. „Wir verstehen alle etwas davon, zumindest können wir cotelette alla milanese“, bemerkte Bergoglio. Diese Fähigkeit hat sich während seiner Laufbahn als nützlich erwiesen – er kochte am Priesterseminar sonntags, wenn die Köchin nicht arbeitete, für Mitstudenten, ebenso bereitete er als Erzbischof in Buenos Aires seine Mahlzeiten selbst zu und auch jetzt verfügt er in seiner päpstlichen Behausung in der Casa Santa Marta über einfache Kochgelegenheiten.

Als er dreizehn Jahre alt war, erschreckte ihn sein Vater mit der Mitteilung, es sei an der Zeit, dass er zu arbeiten anfange. Gerade hatte er an der Escuela Nacional de Educación Técnica eine sechsjährige Berufsausbildung zum Chemietechniker begonnen. Der Unterricht fing um acht Uhr morgens an und dauerte bis dreizehn Uhr, also vereinbarte sein Vater für ihn, dass er von vierzehn bis achtzehn Uhr in der Strumpffabrik arbeiten konnte. Nach zwei Jahren als Reinigungskraft und einem weiteren Jahr, in dem er Büroarbeiten verrichtete, bekam Jorge eine Stelle in einem Lebensmittellabor. „Dort hatte ich eine außergewöhnliche Chefin, Esther Ballestrino de Careaga, eine Frau aus Paraguay, die mit dem Kommunismus sympathisierte“, erzählte Bergoglio später Francesca Ambrogetti und Sergio Rubin, die 2010 ihr Buch El Jesuita mit autobiografischen Interviews mit Bergoglio veröffentlichten. Von de Careaga lernte er eine entscheidende Lektion über das Arbeiten: dass eine Tätigkeit richtig ausgeführt werden muss. „Ich erinnere mich, dass sie einmal zu mir sagte, als ich ihr eine Auswertung brachte: ‚Na, das ging ja wirklich schnell.‘ Und dann fragte sie mich: ‚Hast du das auch überprüft, oder nicht?‘ Worauf ich erwiderte, dass ich doch zuvor alles überprüft und alle Tests gemacht hätte und dass doch sowieso immer mehr oder weniger das Gleiche dabei herauskäme. ‚Nein‘, rügte sie mich, ‚man muss die Dinge ordentlich machen.‘ Sie hat mir beigebracht, was ernsthafte Arbeit bedeutet und wie wichtig sie ist. Ich verdanke dieser großartigen Frau ganz viel.“ Rückblickend ist Bergoglio seinem Vater sehr dankbar dafür, dass er ihn nebenher zum Arbeiten schickte. „Die Arbeit war etwas, was mir sehr gutgetan hat, wie nur wenig in meinem Leben. Ich habe das Gute und Schlechte, das jede menschliche Aufgabe an sich hat, vor allem im Labor kennengelernt.“

Die Tätigkeit dort lehrte ihn außerdem, wie Arbeit dem Einzelnen Würde verleiht, ein Thema, auf das er als Erzbischof und Papst immer wieder zurückkam. „Menschen, die ohne Arbeit sind, haben in unserer Gesellschaft das Gefühl, als lebten sie gar nicht richtig“, hat er einmal geäußert. „Würde gibt einem weder der Stammbaum noch das Familienleben oder die Erziehung. Nur durch Arbeit erlangt man Würde […] Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Regierungen eine Kultur der Arbeit fördern.“ Letztere, so fügte er hinzu, sei ein Kernelement der katholischen Soziallehre. Ein anderes sei das Prinzip der Ausgewogenheit von Berufs- und Privatleben. „Darum frage ich junge Eltern in der Beichte immer, ob sie mit ihren Kindern spielen. Viele von ihnen gehen schon zur Arbeit, da schlafen ihre Kinder noch, und wenn sie nach Hause kommen, sind die Kinder bereits im Bett. Und am Wochenende sind sie übermüdet und kümmern sich auch nicht so um sie, wie sie es sollten […] Die Kirche hat in den letzten Jahren eine zunehmende Entmenschlichung der Arbeit angeprangert […] Der Mensch ist nicht für die Arbeit da, sondern die Arbeit für den Menschen.“

Die Muße im Kreis der Familie war ein ganz wichtiger Teil von Bergoglios Kindheit. Er pflegt die Erinnerung an die Samstagnachmittage, an denen die Mutter ihre Söhne dazu bewegte, mit ihr gemeinsam die 14-Uhr-Übertragungen ganzer Opern anzuhören. „Sie versammelte uns um das Radio und erklärte uns, bevor die Oper anfing, worum es dabei ging […] Die Samstagnachmittage mit meiner Mutter und meinen Geschwistern, wenn wir uns zusammen an der Kunst erfreuten, waren wundervoll.“ Noch heute hört er klassische Musik, um sich vor dem Schlafengehen zu entspannen. Beethoven ist sein Lieblingskomponist. Er liest auch Belletristik, am häufigsten unter anderen Borges und Dostojewski.

Die Familie aber war vor allem der Ort, an dem Bergoglios tiefer Glaube genährt wurde. Großmutter Rosa war seine Taufpatin, und sie brachte dem jungen Jorge bei, wie man betet. „Sie beeinflusste meinen Glauben sehr stark“, erinnerte er sich 2012 in einem Radiointerview. Sein Großvater erzählte ihm Geschichten über den Ersten Weltkrieg, aber „sie erzählte mir Geschichten über die Heiligen. Sie hat mich spirituell stark geprägt.“ Seine Schwester María Elena entsinnt sich, dass die Großmutter nicht nur sonntags in die Kirche ging. „Oma Rosa war sehr ergeben, Santísimo [Jesus] ganz, ganz treu ergeben. Wir alle haben mit ihr immer den Rosenkranz gebetet. Jorge verehrte besonders die Jungfrau.“ Nach María Elenas Überzeugung lag es jedenfalls mit an der Großmutter, dass ihr Bruder sich zum Priester berufen fühlte. Bergoglio selbst zitiert gern Verszeilen des Dichters Friedrich Hölderlin, die dieser seiner eigenen Großmutter gewidmet hatte; die letzte davon lautet: „dass dir halte der Mann, was er, als Knabe, gelobt“. Bergoglio verbindet mit dem Gedicht die „besondere Zuneigung“, die er für seine Großmutter empfindet, der er so dankbar ist „für alles, was sie mir in den ersten Jahren meines Lebens gegeben hat“. Bergoglio hat oft beklagt, dass die Rolle der Großeltern „nach und nach verblasst ist“ in einer Gesellschaft, in der wir „unsere älteren Menschen in Pflegeheime abschieben mit ein paar Mottenkugeln in ihren Taschen, als wären sie Mäntel“. Das Zusammensein mit unseren Großeltern, so Bergoglio, bringt uns in unmittelbare Verbindung mit unserer Vergangenheit.

Ihren starken Glauben vermittelte Oma Rosa ihrem Sohn Mario, der ihn seinerseits wiederum an Jorge weitergab. Mario legte großen Wert darauf, seine Familie vor dem Abendessen zum gemeinsamen Beten des Rosenkranzes zu versammeln. Er spornte seinen Sohn, der noch die Grundschule Wilfried Barón de los Santos Ángeles besuchte, dazu an, lange vor seinen Klassenkameraden aufzustehen, um für einen salesianischen Schulpriester, einen ukrainischstämmigen Pater namens Stefan Czmil, den Messdienst zu leisten. Es gab in der Familie eine religiös-puritanische Ader, wie Bergoglio sich später erinnerte, die auch zu seinem Erbteil gehört. Geschiedenen oder getrennt lebenden Paaren war der Eintritt ins Haus der Familie verwehrt, dazu hatten die Bergoglios einen Argwohn gegen Protestanten, wenngleich Jorge sich erinnert, mit ungefähr sechs Jahren von Oma Rosa gehört zu haben, dass es sich bei zwei Frauen aus der Heilsarmee um „Protestanten [handelte], die aber gut sind“. Der Knabe Jorge war diensteifrig genug, dass er beim Eintritt in die höhere Schule darum bat, sich bei seinen Klassenkameraden zu erkundigen, ob sie die Erstkommunion empfangen hatten. Als sich herausstellte, dass das bei vier von ihnen noch nicht der Fall war, erteilte er ihnen Katechese in dem Sakrament. Etwa zur selben Zeit starb jemand auf einer Familienhochzeit an einem Herzinfarkt, und Jorge vernahm mit Bestürzung, wie ein Verwandter die Existenz Gottes in Zweifel zog.

Die religiöse Weltsicht, die Bergoglio als Junge umgab, war geprägt von Geborgenheit und Gewissheit. Gott war darin eine Selbstverständlichkeit, und der Glaube bestand genauso aus Taten wie aus Gedanken. Seine Kindheitskirche San José in Flores, einem bürgerlichen Stadtteil von Buenos Aires, gibt noch heute Zeugnis davon. Ich habe sie kürzlich an einem Samstagnachmittag besucht und fand einen lebendig pulsierenden Ort vor – hoch überwölbt und imposant, verziert und vergoldet nach Art des Rokoko und zugleich voller Farbe und Betriebsamkeit. Im vorderen Bereich waren ein paar hundert Menschen zu einer Taufe versammelt. Der Priester nahm sie mit einer interaktiven Predigt in Beschlag, bei der er Fragen stellte, auf die die Gemeinde mit lauten Rufen antwortete. Ich habe erlebt, wie Bergoglio bei einer seiner jährlichen Messen für die jungen Menschen der Erzdiözese mit einer großen Kinderschar in ebendiesem Stil interagierte. Es ist der Stil der Porteños, wie sich die Einwohner von Buenos Aires umgangssprachlich selbst bezeichnen; er hat seine Wurzeln in den Ursprüngen der Stadt als belebtem und geschäftigem Hafen und vermittelt etwas von der Großspurigkeit und Selbstsicherheit, die man bei Hafenarbeitern auf der ganzen Welt findet. „Wir sind die New Yorker Lateinamerikas“, erklärte mir ein Einheimischer mit einem Lachen. In den Seitenschiffen der Kirche waren Personen jeden Alters mit Beten beschäftigt; sie drängten in die Dunkelheit der Beichtstühle und wieder hinaus, passierten die Seitenschiffe in andächtiger Betrachtung des reichen Schatzes an religiösen Wandbildern und tiefsinnigen Gemälden, glutvollen Kruzifixen, goldenen Statuen und leuchtend bunten Figuren. Der Kirchenraum wimmelte genauso von Farben und Klängen wie die Pinnwand von Ankündigungen zu Rosenkränzen, Novenen, Pilgerreisen und Prozessionen.

An einem besonderen Platz nahe der Tür im hinteren Teil der Kirche befand sich ein Standbild der Nuestra Señora de Luján, der Schutzpatronin Argentiniens, in deren Geschichte sich gleichsam die Geschichte der Volksfrömmigkeit des Ortes verdichtet. Seit 1630, als das berühmte Original nach Argentinien kam, sind überall im Land Kopien der gefeierten Ikone der Jungfrau entstanden, deren lang herabhängender Umhang aus Spitze dem Gaskegel einer abhebenden Rakete gleicht. Die Statue der Maria Immaculata war in Brasilien angefertigt und im Hafen von Buenos Aires ausgeladen worden, von wo aus sie zu einem Siedler in Santiago del Estero transportiert werden sollte. Die Ochsen, die den Wagen zogen, blieben aber unerklärlicherweise in Luján stehen und ließen sich trotz aller Bemühungen einfach nicht dazu bringen, ihren Weg fortzusetzen. Erst als das Standbild abgeladen worden war, setzten sich die Tiere mit dem Rest ihrer Fracht wieder in Bewegung. Einen einheimischen Bauern erstaunte die wunderbare Bestimmung der Jungfrau, an diesem Ort zu bleiben, derart, dass er ihr zu Ehren einen kleinen Schrein aufstellte. Anderthalb Millionen Menschen unternahmen im letzten Jahr eine Wallfahrt dorthin. Viele Intellektuelle tun solche Legenden als Überbleibsel einer abergläubischen Bauernreligion ab. Bergoglio hat das nie getan, und diese Haltung war einer der Streitpunkte in den ständigen Auseinandersetzungen, die er in späteren Jahren innerhalb des Jesuitenordens führte (siehe Kapitel 3).

Als er ein junger Mann war, bestand das Leben für Bergoglio allerdings nicht allein aus Religion. In seiner Kindheit begeisterte er sich für Fußball – wie eine der Nonnen berichtete, die ihn zunächst unterrichteten, „sah man ihn nie ohne Ball am Fuß“. Sein Vater nahm ihn zu Spielen von San Lorenzo mit, einer Mannschaft, die im Almagro-Viertel zu Hause war, wo sich Bergoglio senior bei seiner Ankunft in Buenos Aires niedergelassen hatte. Das Team war ursprünglich von einem Priester gegründet worden, um die ansässigen Jungen von der Straße fernzuhalten und ihnen Ärger und Probleme zu ersparen. Bergoglio ist ein Anhänger des Vereins geblieben und besuchte die Spiele über viele Jahre hinweg; mit zunehmender Beanspruchung durch seine Arbeit ging er dazu über, die Übertragungen im Radio zu verfolgen, während er mit routinemäßigen Verwaltungsaufgaben beschäftigt war. 2011 feierte er eine Messe für den Klub, bevor er mit den Spielern posierte und für die Fotografen ein Mannschaftstrikot hochhielt. Am Sonnabend nach seiner Wahl zum Papst betrat das Team das Spielfeld mit einem Foto des neuen Pontifex auf dem Trikot.

Als Jugendlicher liebte Bergoglio es zu tanzen. Den Tango, Argentiniens berühmten Nationaltanz, beherrschte er gut, zog jedoch den schnelleren Vorläufer Milonga vor. Er war gern mit jungen Frauen zusammen. Seiner Schwester María Elena zufolge hatte er sogar vor, einem Mädchen beim alljährlich stattfindenden Studententagspicknick einen Antrag zu machen. An jenem Frühlingsmorgen im September aber ist auf dem Weg dorthin etwas geschehen. Als Jorge an der Familienkirche San José de Flores vorbeikam, wollte er nur eben auf einen Sprung hinein, um ein Gebet zu sprechen. Unvermutet traf er auf einen neuen Priester, dem er nie zuvor begegnet war. Bergoglio spürte eine tiefe Spiritualität, die von diesem Mann ausing und ihn so ergriff, dass er die Beichte vor ihm ablegen wollte. „Bei dieser Beichte ist mir etwas Seltsames passiert“, sagte er später zu Rubin und Ambrogetti. „Ich weiß nicht, was es war, aber es hat mein Leben verändert […] Es war eine Überraschung, das Erstaunen über eine Begegnung […] das Erstaunen darüber, jemandem zu begegnen, der dich schon erwartet hat […] Man sucht Gott, aber Er sucht dich zuerst.“ Der Priester, dem er gebeichtet hatte, ein gewisser Pater Duarte, starb keine zwölf Monate darauf.

In späteren Jahren sprach Bergoglio von diesem einschneidenden Ereignis als dem Moment, in dem er erwählt worden sei. Als er Bischof wurde, machte er sich das episkopalische Motto miserando atque eligendo zu eigen. Es geht auf einen Kommentar von Beda Venerabilis zurück, der sich auf eine Passage im Evangelium bezieht, in welcher Jesus auf den verachteten Zöllner Matthäus trifft. Übersetzt bedeutet es so viel wie: „nicht würdig, aber erwählt“, wenngleich Bergoglio es lieber etwas umständlicher wiedergibt als „aus Barmherzigkeit und durch Erwählung“. Heute nun symbolisiert dieses Motto für ihn den Moment, da er seine Berufung entdeckte. „Auf genau diese Weise fühlte ich mich während dieser Beichte von Gott angeschaut. Und genau so soll ich nach seinem Willen auch stets die anderen anschauen: mit großer Barmherzigkeit und gerade so, als würde ich sie für ihn erwählen – ohne jemanden auszuschließen, denn jeder ist durch die Liebe Gottes erwählt […] Das ist einer der Angelpunkte meiner religiösen Erfahrung.“ Religion brauche ein solches Maß an Erstaunen.

„Ich kann nicht sagen, was geschehen ist“, äußerte er sich später gegenüber einem argentinischen Radiosender. „Ich wusste jedoch, dass ich Priester werden musste.“ Es war ihm nicht mehr möglich, an dem Picknick seiner Schule teilzunehmen und dem Mädchen gegenüberzutreten, dem er einen Antrag hatte machen wollen, und so ging er stattdessen nach Hause.

Der Siebzehnjährige setzte seinen Entschluss zunächst nicht in die Tat um, auch nicht in den folgenden vier Jahren. „Meine Gedanken kreisten nicht nur um religiöse Dinge“, erklärte er. „Ich hatte auch politische Interessen.“ Der junge Bergoglio war schon frühzeitig auf die Politik aufmerksam geworden. Als er die Grundschule besuchte, ereignete sich etwas, das den Geistlichen, der aus ihm werden würde, ebenfalls prägen sollte. Der Vater seiner Mutter war Tischler. Einmal pro Woche erschien ein bärtiger Mann mit Namen Don Elpidio und verkaufte ihm Anilinfarbstoff. Jorges Großmutter brachte den beiden Männern eine Tasse Tee und Wein auf die Terrasse, wo sie miteinander plauderten. Einmal fragte die Großmutter ihren Enkel, nachdem der Mann gegangen war, ob er wisse, wer der Gast sei. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Elpidio González, den ehemaligen Vizepräsidenten Argentiniens. Bergoglio war beeindruckt von der Anständigkeit und Redlichkeit eines Mannes, der sein hohes Amt nicht ausgenutzt und sich nicht hatte bestechen lassen, sondern zufrieden damit gewesen war, zu dem bescheidenen Einkommen eines Farbstoffverkäufers zurückzukehren. „Mit unserer Politik ist etwas passiert“, sinnierte er später. „Ihr sind die Ideen ausgegangen […].“

Als Bergoglio zum Jugendlichen heranwuchs, begann ihn die Politik zu faszinieren. Elpidio González war Mitglied der Radikalen Partei Argentiniens (Unión Cívica Radical, UCR) gewesen. Der junge Bergoglio jedoch zeigte auch ein großes Interesse für die Ideen des Kommunismus. „In mir war eine politische Ruhelosigkeit“, sagte er später. Sie habe zu seiner intensiver werdenden geistigen Auseinandersetzung mit der Welt dazugehört. Er verschlang Nuestra Palabra, eine Wochenzeitung der Kommunistischen Partei, und Propósitos, eine Zeitschrift der Linken, und stand besonders unter dem Eindruck der Artikel ihres berühmten Kulturberichterstatters Leónidas Barletta. Er habe davon für seine „politische Bildung profitiert, doch ich war nie Kommunist“. Dennoch mochte und schätzte er auch einen kommunistischen Lehrer an seiner höheren Schule. „Wir hatten einen tollen Draht zu ihm, er stritt mit uns über alles und das tat uns sehr gut. Aber er log uns nie an, er sagte immer, von wo aus er mit uns sprach, was seine Erklärung und was seine Weltsicht war.“ Im Laufe der Jahre polarisierte sich die Politik jedoch, und da die Linke zunehmend atheistisch wurde und sich gegen die Kirche stellte, öffnete sich Bergoglio stärker dem Peronismus (siehe Kapitel 3), dieser für Argentinien typischen politischen Verbindung aus Armee, Gewerkschaften und Kirche, die in einer Vision der nationalen Einheit mit deutlich autoritären Zügen geschlossen wurde. Dem Peronismus hat er lange angehangen; einmal wurde er in der Schule dafür bestraft, dass er ein peronistisches Abzeichen an seiner Uniform trug.

In all der Zeit aber festigte sich bei Bergoglio das Gefühl, seine Berufung gefunden zu haben. Als er die Berufsfachschule mit einem Diplom in technischer Chemie abgeschlossen hatte, ließ er seine Mutter wissen, dass er vorhabe, Medizin zu studieren. Hocherfreut räumte sie das Dachgeschoss mit Blick auf die Terrasse des Familienhauses, „sodass er abseits von uns in Ruhe studieren konnte“, wie sich seine Schwester María Elena erinnerte. Vormittags arbeitete er im Labor, danach ging er jeden Tag nach Hause und verschwand in seinem Zimmer, um sich fleißig mit dem Stoff zu befassen. Eines Tages jedoch, als er im Labor war, entschloss sich seine Mutter, sein Arbeitszimmer aufzuräumen. Zu ihrer Überraschung fand sie keine Anatomie- oder Pharmakologielehrbücher, sondern irgendwelche theologischen Wälzer, viele davon in Latein. Als Jorge heimkam, stellte sie ihn zur Rede.

„Du hast gesagt, du würdest Medizin studieren“, sagte sie ganz durcheinander.

„Ich habe dich nicht angelogen“, erwiderte Bergoglio gelassen. „Ich studiere wirklich Medizin – aber die Medizin der Seele.“

Seine Mutter war wütend und sehr aufgebracht. Sie sagte ihm, er solle sich Zeit lassen und erst einmal die Universität beenden, bevor er eine so folgenschwere Entscheidung wie die zum geistlichen Amt treffe. Als er sich mit 21 Jahren zum Eintritt in das Seminar entschloss, sagte er es zuerst seinem Vater und überließ es diesem, die Mutter über die Neuigkeiten zu informieren. Mario konnte streng sein, Bergoglio war sich aber sicher, dass den Vater seine Entscheidung freuen würde. Seine Mutter war jedoch so verstimmt, dass sie sich weigerte, ihren Sohn zu begleiten, als er in das Seminar eintrat. Die unterschiedlichen Reaktionen seiner Eltern führte Bergoglio später auf den Umstand zurück, dass sein Vater ein Einwanderer war und daher gut verstehen konnte, dass Entwurzelung Schmerz bedeuten kann, dass sich aber auch Stärke aus ihr ziehen lässt. Seine Mutter dagegen konnte in seinen Plänen nur „einen Verzicht“ sehen, wie er selbst es formulierte, eine Selbstberaubung. Sie brauchte vier Jahre, um sich mit seiner Entscheidung auszusöhnen; die Sicherheit, dass sie sie vollständig akzeptierte, hatte Bergoglio erst elf Jahre später, als sie nach seiner Ordination zum Priester vor ihm kniete, um seinen Segen zu empfangen.

Nicht lange nachdem er ins Seminar San Miguel des Erzbistums Buenos Aires eingetreten war, fasste Bergoglio den Entschluss, sich den Jesuiten anzuschließen, die dort die philosophischen und theologischen Lehrveranstaltungen durchführten. Als Jugendlicher hatte er mit Pater Enrique Pozzoli einen Salesianer als geistlichen Begleiter, jetzt aber war er fasziniert vom militärischen Symbolismus, der den Jesuitenorden von seinen Anfängen im 16. Jahrhundert an durchdrang. Gegründet hatte ihn Ignatius von Loyola, der sich vom Soldaten zum Mystiker wandelte, als er sich von seinen im Krieg erlittenen Verwundungen erholte. Loyola schuf einen Orden für „kontemplative Männer der Tat“. Bergoglio war, wie er selbst sagte, „angezogen davon, dass die Gesellschaft Jesu, um es militärisch auszudrücken, sich an den Frontlinien der Kirche bewegte“. Ihm gefielen auch die ignatianische Tradition der geistigen und geistlichen Strenge sowie die Betonung der Missionarsarbeit, spürte er doch das Verlangen in sich, als jesuitischer Missionar nach Japan zu gehen.

Doch daraus wurde nichts. Kurz nach seinem Eintritt in das Seminar wurde er von einem schweren Fieber befallen. Drei Tage lang schwebte er in Lebensgefahr. Schließlich diagnostizierten die besorgten Ärzte eine Lungenentzündung, die von drei Zysten in der rechten Lunge hervorgerufen worden war. Sein Leben konnte nur durch die operative Entfernung des oberen Teils der Lunge gerettet werden. Bergoglio erholte sich, doch sein beeinträchtigtes Atemvermögen machte jeden Gedanken an eine Arbeit im Ausland unmöglich. Er litt fürchterliche Schmerzen, wie er später beschrieb. Dazu waren die Drainageschläuche in seiner Lunge sehr unangenehm. Seine Besucher gaben sich Mühe, ihn mit den üblichen Trostfloskeln aufzumuntern, aber er fasste erst wieder Mut, als er Besuch von der Nonne erhielt, die ihn auf seine Erstkommunion vorbereitet hatte, Schwester Dolores. „ Sie sagte mir etwas, das sich mir tief eingeprägt hat“, erinnerte er sich später, „und mir großen Frieden gab: ‚Du folgst jetzt Jesus nach.‘“ Dass er dem Tod ins Angesicht geblickt hatte, ließ ihn klarer erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben und was nicht. Diese Erfahrung bestärkte ihn in seinem Glauben. Es sei ein Geschenk, das Leid zu verstehen und es bewusst zu durchleben. „Das Leid ist an sich keine Tugend“, stellte er abschließend fest, „doch man kann es auf eine tugendhafte Weise annehmen.“ Obwohl es so ernst um ihn gestanden hatte, hat Bergoglio keine größeren Schäden davongetragen, wenngleich die Einschränkung beim Atmen zu Rückenproblemen geführt hat, sodass er Spezialschuhe tragen muss und zuweilen einen Gehstock benötigt.

Seine Berufung blieb allerdings nicht „unversucht“. An einem Punkt seiner Seminarlaufbahn verfiel er dem Zauber einer jungen Frau, der er auf einer Hochzeitsfeier der Familie begegnete. „Ihre Schönheit, ihre intellektuelle Ausstrahlung überraschten mich […] na ja, ich war eine Zeitlang wie belämmert, sie ging mir nicht aus dem Kopf. Als ich nach dem Hochzeitsfest ins Seminar zurückkam, konnte ich eine ganze Woche lang nicht beten, denn immer wenn ich es tun wollte, kam mir das Mädchen in den Sinn. Ich musste neu darüber nachdenken, was ich machen wollte.“ Am Ende erneuerte er seinen Entschluss, Priester zu werden, auch wenn ihm klar war, dass „es anormal wäre, wenn solche Dinge nicht passieren würden“.

Die ganze Zeit über war Oma Rosa ihrem Enkel – vor ihrem Tod Mitte der Siebzigerjahre ebenso wie danach – immer gegenwärtig und stets eine Stütze. In seinem Stundenbuch – dem ersten Buch, das er am Morgen öffnet, und dem letzten, das er am Abend schließt – bewahrt er zwei Papierstücke auf. Bei dem einen handelt es sich um einen Brief, den seine Großmutter 1967, zwei Jahre vor seiner Ordination, halb auf Spanisch, halb auf Italienisch geschrieben hat. Sie fürchtete, sie könnte sterben, bevor der große Tag seiner Priesterweihe käme, und für diesen Fall wollte sie einen Brief hinterlassen, der ihm an dem Tag übergeben werden sollte. Glücklicherweise war sie dort und konnte ihn persönlich überreichen. Darin heißt es:

„An diesem wunderbaren Tag, an dem du Christus, unseren Erlöser, in deinen geweihten Händen hältst und an dem sich dir ein breiter Pfad zu einem tieferen Apostolat eröffnet, überlasse ich dir dieses bescheidene Geschenk, das kaum materiellen Wert besitzt, dafür aber von sehr großem geistlichen Wert ist.“

Neben dem Brief bekam er ein persönliches Glaubensbekenntnis, das seine Großmutter für sich in Form eines geistlichen Letzten Willens und Testaments verfasst hatte. In einem Absatz schrieb sie:

„Mögen diese meine Enkelkinder, denen ich das Beste gegeben habe, was mein Herz zu geben vermag, lange und glücklich leben, wenn aber Leid, Krankheit oder der Verlust eines lieben Menschen sie eines Tages mit Betrübnis erfüllen, so sollen sie sich daran erinnern, dass ein Seufzer zum Tabernakel, wo der größte und ehrwürdigste Märtyrer gegenwärtig ist, und ein Blick auf die Muttergottes am Fuße des Kreuzes ein Tropfen Balsam sein können auch für die tiefsten und schmerzlichsten Wunden.“

Jorge Maria Bergoglio hat dies treu beherzigt, und er hat auch der Spiritualität die Treue gehalten, mit der sie ihn erfüllte. In einem so intellektuell geprägten Orden wie dem der Jesuiten musste er sich bemühen, die Kritik zu beschwichtigen, er würde den Aberglauben des Volkes unterstützen. Aber er hat ihn tatsächlich unterstützt, so Pater Humberto Miguel Yáñez, ein anderer argentinischer Jesuit, der heute die moraltheologische Abteilung der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom leitet. „Er stand der Religiosität des Volkes von jeher positiv gegenüber“, erklärte Yáñez. „Nicht wenige meinen allerdings, dass sie ein Element des Aberglaubens enthalte, das dem Glauben fremd ist, und einige Bischöfe sprachen sich gegen diese Form der Religiosität aus. Bergoglio aber sah in ihr ein wichtiges Bindeglied zwischen den Menschen und dem Spirituellen. Durch seinen Einfluss bildete sich unter den argentinischen Bischöfen allmählich eine andere Kultur heraus; so drängte er sie beispielsweise ‚ einen viel engeren Kontakt mit ihren eigenen Priestern zu pflegen.“

Jeder Schritt, den die gesamte Kirche zukünftig in diese Richtung macht, wird einen bedeutsamen Aufbruch markieren. Benedikt XVI. war in Sachen Volksfrömmigkeit viel zurückhaltender. „In ihr ist der Glaube in das Herz der Menschen eingetreten, ist Teil ihres Empfindens, ihrer Gewohnheiten, ihres gemeinsamen Fühlens und Lebens geworden“, so Benedikt 2010 in einem Schreiben an die Priesterseminaristen. „Der Glaube hat Fleisch und Blut angenommen […] Deswegen ist die Volksfrömmigkeit ein großer Schatz der Kirche.“ 2011 dagegen warnte er in einer Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika: „Es lässt sich natürlich nicht leugnen, dass es manche abweichenden Formen der Volksfrömmigkeit gibt, die, anstatt eine tätige Teilnahme am Leben der Kirche zu fördern, eher Verwirrung auslösen und eine rein äußerliche religiöse Praxis begünstigen, ohne jede Bindung an einen gut verwurzelten und innerlich lebendigen Glauben […] Die Volksfrömmigkeit tendiert zur Irrationalität, vielleicht auch manchmal zur Äußerlichkeit […]. Sie muss sicher immer wieder gereinigt, auf die Mitte hin bezogen werden.“ Bergoglio hingegen hatte von jeher viel weniger Bedenken.

Die allgemeine Zuneigung zu einer Frau, die „Difunta Correa“ (die verstorbene Correa) genannt wird, ist Yáñez zufolge ein gutes Beispiel dafür, wie die Volksfrömmigkeit in der breiten Masse angenommen wird. Sie starb um 1840 in der Provinz San Juan in Argentinien. „Sie war eine von Gram geplagte Frau, die in ihrer Verzweiflung darüber, dass ihr Mann in den Krieg verschleppt worden war, mit ihrem Säugling in die Wüste aufbrach, um ihn zu suchen. Sie ist verdurstet, doch ihre Brüste produzierten weiter Milch, dank der das Kind überlebte.“ Ihr Körper wurde Tage danach von Gauchos gefunden, die mit ihrem Vieh dort entlangkamen. Zu ihrem Erstaunen stellten sie fest, dass das Baby noch am Leben war und an den wie durch ein Wunder immer vollen Brüsten der toten Mutter sog. Ihre Verehrer, deren Zahl mittlerweile in die Hunderttausende geht, glauben, dass sie sich noch immer für die Lebenden verwendet und weitere Wunder vollbringt. „Der Kult ihr zu Ehren wurde von der Kirche jahrelang nicht anerkannt“, sagte Yáñez. „Heutzutage versuchen die Bischöfe nicht mehr, ihn zu behindern.“ Diese veränderte Haltung geht mit auf Bergoglio zurück. Seiner Ansicht nach geben die einfachen Menschen durch diese Form der Anbetung ihrer Spiritualität Ausdruck, und die Kirche sollte daran mitwirken. Bergoglio, so erinnerte sich Yáñez, veranstaltete einst eine Konferenz zum Zusammenhang zwischen Glauben und Kultur. „Bergoglio versteht, dass Menschen wie diejenigen, die sich an die Difunta Correa halten, durch ihre innere Einstellung einen Ort schaffen, an dem Glaube und Kultur zusammenkommen.“

Auch dass Bergoglio häufig den Teufel ins Spiel bringt, zeigt, wie ungezwungen er die offizielle Kirchenlehre und den Volksglauben miteinander verbindet. Nach dem II. Vatikanum hatte sich die Idee des Teufels für viele katholische Priester und Theologen erledigt und sie zogen es vor, das Böse abstrakter aufzufassen. Bergoglio tut das jedoch nicht. Er ist eine „greifbarere Person mit einer Religiosität, die näher am Volk ist“, wie es ein jesuitischer Mitbruder ausdrückte, und dennoch sah auch der Gründer der Jesuiten, der heilige Ignatius von Loyola, im Teufel sehr wohl eine Person, genauer gesagt, einen gefallenen Engel. Diese Vorstellung findet sich in der katholischen Spiritualität teilweise noch heute, wenngleich manche Jesuiten stärker zu ihr tendieren als andere Gläubige. „Bergoglios Haltung gegenüber dem Volksglauben ist die, dass man ihn nicht bewerten, sondern einfach in die Arbeit einbeziehen soll“, äußerte sich Pater Augusto Zampini, ein Diözesanpriester, der am Colegio Máximo lehrte, wo Bergoglio einst Rektor war. „Wenn man den Volksglauben vernachlässigt, vernachlässigt man gewissermaßen auch die Option für die Armen. Bergoglio würde sagen: ‚Er hängt eng mit der Seele zusammen, lasst uns mit ihm arbeiten und nicht gegen ihn.‘“

Der argentinische Katholizismus ist voller Beispiele für diesen Volksglauben, den die Theologen des Landes lieber als die „Theologie des Volkes“ bezeichnen. Auf vielen Autos prangen Aufkleber, mit denen Gauchito Gil gerühmt wird, eine legendäre Robin-Hood-Gestalt aus dem 18. Jahrhundert, dessen Anhänger nach wie vor glauben, dass er die Fahrer beschützt. San Cayetano wird als der Schutzheilige des Brotes und der Arbeit verehrt. Santo Expedito ist der Heilige für dringende Fälle. Der heilige Pantaleon, Arzt und Märtyrer, schützt vor Koliken, Grippe und anderen Winterkrankheiten. „Es gibt einen Kalender der Heiligentage, einen Heiligen für die Gesundheit, einen Heiligen für die Arbeit und so weiter, Pater Bergoglio liebt das alles“, sagt Pater Guillermo Marcó, der acht Jahre lang Bergoglios Pressesprecher in der Erzdiözese Buenos Aires war. Die ausländischen Neuankömmlinge in den Slums der Stadt bringen noch dazu ihre eigenen Jungfrauen mit: Nuestra Señora de Caacupé aus Paraguay, Nuestra Señora de Copacabana aus Bolivien und Nuestra Señora de Cuzco aus Peru. Es sind die einfachen Leute, die die Heiligen und verschiedene Erscheinungsformen der Madonna unter ihre Mitmenschen bringen, indem sie ihnen huldigen und mit ihnen verhandeln – wie die Frau in einem Elendsviertel in Bergoglios früherer Diözese, die ihr Zuhause in eine Kapelle umgewandelt hat und täglich für vierzig hungrige Kinder Mittagessen anbietet, weil sie das San Cayetano für den Fall versprochen hat, dass der Heilige ihrem Mann eine Arbeit verschafft.

Bei alledem ist Bergoglio „ein Mann, der dem Volk in seinem Verehrungsdrang sehr nahesteht“, so Pater Francisco de Roux, der Provinzial der Jesuiten in Córdoba. „Er ist ein Mann der Volksfrömmigkeit. Er erkennt und er würdigt die Gotteserfahrung in der Einfachheit der volkstümlichen Bräuche, Prozessionen und Schreine, der Weihnachtsnovene und dem Rosenkranzbeten in der Familie. Für ihn liegt die Stärke des Katholizismus in der Art, wie die einfachen Leute ihren Glauben leben.“ Sinnbildlich für diese Haltung steht der Kelch, den der einheimische Goldschmied Juan Carlos Parallos aus argentinischem Silber für Papst Franziskus gestaltet. Er wird mit Darstellungen von Unserer Frau von Luján, Maria Knotenlöserin, Symbolen der Jesuiten und einem argentinischen Emblem versehen sein.

Bergoglio verfolgt mit alldem keine Strategie; vielmehr berühren diese Dinge das Innerste seines Seins. Nach seiner Wahl zum Papst veröffentlichte ein kleiner Orden, die Franziskaner der Immakulata, auf seiner Website einen Artikel, der berichtet, wie die Brüder zehn Jahre zuvor auf einen Mann mittleren Alters aufmerksam geworden waren. Jeden Morgen um neun hatte er ihrer der Jungfrau der Verkündigung geweihten Kirche unweit des Petersdoms einen Besuch abgestattet. Die Brüder waren fasziniert: nicht nur, weil man die Uhr nach ihm hätte stellen können – Bergoglio ist ein äußerst pünktlicher Mensch –, sondern auch, weil er jedes Mal direkt zu einer Statue der heiligen Theresia vom Kinde Jesus ging und mit großer Hingabe vor ihr betete. „Am Ende des Gebets“, heißt es, „tat er das, was viele alte Damen tun, auf die mitunter herabgesehen wird in diesem Land: Er berührte die Statue und küsste sie.“ Eines Tages stellten die Brüder dann fest, dass die Soutane des Mannes, der ihre Kirche offensichtlich auf seinem Weg zu Treffen im Vatikan besuchte, rote Knöpfe hatte. Ohne Begleitung und unbeachtet war Jorge Mario Kardinal Bergoglio, Erzbischof von Buenos Aires, ins Gebet vertieft, und er betete so, wie Oma Rosa gebetet hätte.

„Ich erinnere mich an zwei kurze Reime, die mir meine Großmutter beibrachte“, wird Bergoglio in dem Buch Über Himmel und Erde wiedergegeben, das seine Gespräche mit dem argentinischen Rabbi Abraham Skorka enthält.

Schau, Gott schaut dich an,

schau, gerade jetzt schaut er dich an,

schau, sterben wirst auch du,

weißt du auch nicht, wann.

„Das hatte sie unter Glas auf ihrem Nachttisch, und jedes Mal, wenn sie sich hinlegte, las sie es. Auch siebzig Jahre später kann ich das nicht vergessen. Es gibt noch einen Reim, von dem sie mir erzählte, sie habe ihn auf einem italienischen Friedhof gelesen:

Mensch, der du vorüberschreitest,

halt inne in deinem Schritt und denk

von allen Schritten

an deinen letzten Schritt.

Sie vermittelte mir das Wissen, dass alles zu Ende geht, dass man alles gut hinterlassen muss. Für das christliche Leben muss der Tod ein Begleiter auf dem Weg sein. Ich zum Beispiel denke jeden Tag daran, dass ich sterben werde. Ich quäle mich deswegen nicht, denn der Herr und das Leben haben mich vorbereitet. Ich habe meine Vorfahren sterben sehen, und nun bin ich an der Reihe. Wann? Ich weiß es nicht.“

Seine Gedanken wanderten zu einem früheren Papst. „Johannes XXIII. blieb bis zum Moment seines Todes ein einfacher Mann vom Land. Noch in der Todesstunde legte seine Schwester ihm kalte Tücher mit Essig auf die Stirn, wie man es auf dem Land tat.“ Es ist kaum vorstellbar, dass Jorge Mario Bergoglio für seinen Teil je die volkstümliche Spiritualität seiner frommen Vorfahren hinter sich lassen wird.

Zitatstellen hier und im Folgenden übernommen aus: Über Himmel und Hölle. Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka, Riemann: München 2013.

Papst Franziskus

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