Читать книгу Mythor 3: Die Goldene Galeere - Paul Wolf - Страница 5
1.
ОглавлениеDer Nebel verschluckte die lodernden Feuer von Elvinon. Gerade noch hatte der Schein der brennenden Stadt den Nachthimmel über dem Küstenstreifen des Festlands erhellt, hatte man die Schiffe der siegreichen Caer-Flotte als dunkle Schemen vor dem helleren Hintergrund gesehen. Doch innerhalb eines einzigen Atemzugs senkte sich eine Nebelbank über die Durduune und hüllte sie vollständig ein.
Mythor war gerade in den Anblick der lichterloh brennenden Stadt versunken und dachte daran, welche Verkettung von unglückseligen Ereignissen dazu geführt hatte, dass er als Gefangener der Caer auf einem ihrer Schiffe die Meerenge vom Festland zur Insel übersetzte. Als dann die Sicht sich unvermittelt trübte, da wollte für einen Augenblick Panik von ihm Besitz ergreifen.
Aber dann sah er, dass niemand an Bord von dem abrupt umschlagenden Wetter überrascht war, und so beruhigte er sich sogleich wieder. Er blickte zu Nyala und deren Vater Herzog Krude von Elvinon und stellte fest, dass auch sie keine Gefühlsregung zeigten. Der Herzog wirkte, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen. Sein grauer Vollbart war blutverkrustet, sein Gewand durch Feuer und Waffeneinwirkung arg in Mitleidenschaft gezogen. Nyala hatte die tiefste seiner Armwunden notdürftig verbunden, und das weiße Tuch war bereits stark von seinem Blut gerötet.
Nyala selbst war kaum etwas von dem anzumerken, was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte. Es tat ihrer Schönheit keinen Abbruch, dass sich ihr schwarzer Haarzopf etwas aufgelöst hatte. Das verlieh ihr etwas Kämpferisches, und dieser Eindruck wurde durch einen Blick in ihre dunklen Augen unter den langen Wimpern noch mehr verstärkt. Daraus sprachen ein unbeugsamer Wille, Trotz gegen das Schicksal und eine leise Hoffnung. Als sie Mythors Augen begegnete, legte sich ein Schleier über ihren Blick, so als wollte sie die in ihr lodernde Leidenschaft verhüllen.
»Du nimmst es sehr gelassen hin, dass so plötzlich dichter Nebel eingefallen ist«, sagte Mythor. »Birgt das nicht große Gefahren für die Überfahrt in sich?«
»Um diese Jahreszeit ist das für diese Meerenge nicht ungewöhnlich«, sagte Nyala. »Nicht umsonst wird sie die Straße der Nebel genannt. Die Gefahren lauern jedoch nicht im Nebel, sondern im Wasser. Wir sind nahe am Meer der Spinnen, das zur Herbstzeit von unheimlichen Meeresbewohnern heimgesucht wird, die vor dem Winter mit der Strömung in wärmere Gefilde abwandern. Mit einem unserer Schiffe würde ich mich nicht in dieses Gebiet hinauswagen. Aber die Caer beschäftigen sich mit Zauberei, und wenn sie ihren magischen Praktiken vertrauen, können wir es auch. In Drundyrs Obhut sind wir vor allen Meeresungeheuern sicher.«
Mythor blickte unwillkürlich zu den Heckaufbauten, wo sich der mit düsterem Zierrat ausgestattete Altar befand. Im flackernden Schein einer Fackel sah er die Rückansicht einer hoch aufragenden Gestalt. Der schwarze Umhang mit den silbernen Stickereien legte sich um schmale, knöcherne Schultern, die etwas nach vorne gebeugt waren. Obenauf saß ein Spitzhelm mit Hörnern, der durch die Ansammlung bemalter Tierknochen das Unheimliche dieser Erscheinung unterstrich. Es war Drundyr, der Caer-Priester, der, seit sie in See gestochen waren, bewegungslos vor dem Altar kauerte. Kein Laut kam von ihm, und er hatte das Gesicht abgewandt.
Aber Mythor kannte dieses Gesicht, das aussah, als wäre es von einer quellklaren Schicht aus Obsidian überzogen. Er war Drundyr zum ersten Mal begegnet, als er hinter den fallenden Wassern von Cythor hervorgetreten war, die den Zugang zu der Gruft verbargen, in der ihm der Geist der Gwasamee seine bedeutungsvolle Prophezeiung gemacht hatte. Das Unmenschliche dieses Gesichts hatte ihn sofort in seinen Bann geschlagen, ein Blick in die Augen war für ihn wie ein Vorstoß zum Urquell des Bösen gewesen.
»Es scheint, als beschwöre er das Böse, um es von seinem Schiff fernzuhalten«, sagte Mythor. Er musste den Kopf wieder abwenden, weil sich durch die Drehung die Schlinge um seinen Hals enger gezogen hatte.
Nyala und ihrem Vater erging es ebenso. Auch sie trugen Halsschlingen aus einem faserigen Material und waren durch fingerdicke Seile von etwa sechs Armlängen an den mittleren Schiffsmast gebunden.
»Das hast du richtig erkannt«, sagte der Caer namens Calcos, der auf die gleiche Art wie sie an den Mast gebunden war. »Yardin ist zwar der Kapitän der Durduune, aber das Kommando hat in Wahrheit Drundyr.«
Der Caer war unbewaffnet und trug nur einen ledernen Schurz. Gleich zu Beginn der Reise hatte er Nyala belästigt, woraufhin er von Yardin dazu verurteilt wurde, das Los der drei Gefangenen zu teilen.
Nyala hatte sich zu ihrem Vater begeben, der kraftlos neben dem Mast kauerte und sich mit dem gesunden Arm abstützte. Nyala umfasste ihn, und er ließ sich dankbar gegen sie sinken.
»Elvinon brennt«, murmelte er kaum hörbar. »Die Caer haben die Herzogtümer Ambor und Akinborg unterworfen und beherrschen die Insel. Jetzt ist auch Elvinon gefallen, und bald werden die drei restlichen Herzogtümer des Festlands folgen. Wie lange kann es noch dauern, bis ganz Tainnia caerisch ist?«
»Beruhige dich, mein Vater«, redete ihm Nyala zu. »Noch ist nicht alles verloren, noch können wir hoffen.«
»Auf was denn, auf ein Wunder?«, fragte er müde.
»Vielleicht ist das Wunder schon geschehen«, sagte Nyala und blickte zu Mythor. Herzog Krude folgte ihrem Blick und winkte Mythor zu sich. Nachdem der junge Mann der Aufforderung Folge geleistet hatte, hob Herzog Krude mühevoll den verwundeten Arm und griff ihm hinter das rechte Ohr, wo er ihn abtastete. Mythor ließ es ruhig mit sich geschehen.
»Ich erinnere mich genau, wie du mir erzählt hast, dass du unter den Bewohnern der Nomadenstadt den Sohn des Kometen gefunden zu haben glaubtest«, sagte er dabei. Seine tastenden Finger hinter Mythors rechtem Ohr kamen zum Stillstand, und dann zog er die Hand abrupt zurück. Sein trüber Blick klärte sich etwas. »In der Tat, er hat dieselbe Narbe, wie sie der Sohn des Kometen haben soll. Und auch sein Aussehen widerspricht nicht der Beschreibung aus der Legende. Aber das allein genügt nicht, um ihn als Auserwählten des Lichtboten auszuweisen. In den Südländern mag es viele junge Männer geben, auf die diese Beschreibung passt. Was sagt er selbst dazu?«
Mythor erwiderte den Blick des alten Mannes.
»Ich habe zum ersten Mal von deiner Tochter die Legende über den Sohn des Kometen gehört«, sagte er wahrheitsgetreu. »Ich muss auch zugeben, dass ich mich nie berufen fühlte und nie den Gedanken hegte, dass ich für etwas Höheres bestimmt sein könnte. Und auch jetzt, nachdem ich in der Gruft hinter den Wasserfällen war, bleibt mir eine Offenbarung versagt.«
»Du warst in der Gruft bei den Wasserfällen von Cythor?«, fragte der Herzog.
»Jawohl«, antwortete Nyala an Mythors statt. »Er ist der einzige, der wiederkehrte, ohne an Geist oder Körper Schaden genommen zu haben. Was für ein deutlicheres Zeichen kann man denn noch verlangen! Für mich steht es fest, dass er der Auserwählte ist, dessen Ankunft der Lichtbote dereinst prophezeite.«
Sie hatte Mythors Arm ergriffen und klammerte sich daran. Er sah sie nur kurz an und wich dann ihren suchenden Augen aus, die voll Hoffnung und Zuversicht waren. Er fühlte sich unbehaglich, denn er spürte nicht die Kraft in sich, ihre Erwartungen erfüllen zu können.
Er hatte in jener unheimlichen Gruft vom Geist der Gwasamee ein Ziel genannt bekommen: Xanadas Lichtburg, wo er sich das Gläserne Schwert Alton beschaffen sollte. Aber die Erscheinung hatte sich in giftige Dämpfe aufgelöst, ehe sie ihm verraten konnte, wie diese Lichtburg zu finden war und wie er sich in den Besitz dieses Schwertes bringen konnte. Er war dennoch entschlossen, sein Glück zu versuchen. Aber als Gefangener an Bord eines Caer-Schiffes und unterwegs zum Inselteil des tainnianischen Reiches, entrückte die Verwirklichung seines Vorhabens in immer weitere Ferne.
»Wenn du es bist«, sagte Herzog Krude, »dann verscheuche die Düsternis, die von allen Seiten auf uns eindringt. Mache dem uns bedrohenden Spuk ein Ende.«
»Vater, wovon sprichst du?«, fragte Nyala besorgt.
»Seht ihr es nicht?« Der Herzog verdrehte die Augen. »Spürt ihr es denn nicht? Die Bedrohung ist greifbar um uns.«
»Er fiebert«, sagte Nyala und drückte ihren Vater ängstlich an sich. »Er ist auf einmal so kalt und feucht. Sieh nur, Mythor, seine Hände sind ganz klamm, sein Körper steif. Hilf ihm doch, sonst stirbt er.«
Mythor mochte Nyala seine Hilflosigkeit nicht eingestehen, und so begab er sich an die Seite ihres Vaters und versuchte, ihn durch seine Nähe zu wärmen und seine Glieder durch Massieren zu beleben.
»Was lauert da im Dunkeln?«, fragte Herzog Krude mit entrückter Stimme. »Was kommt da auf uns zu? Es schluckt alles Licht – und jeden Laut. Es ist ein unersättliches unsichtbares Ungeheuer.«
»Da ist nichts, Vater«, sagte Nyala. »Du bildest dir alles nur ein.«
»Das ist keine Einbildung«, sagte da Calcos, der offenbar mitgehört hatte und nun näher rückte. Er warf Mythor einen abschätzenden Blick zu und fuhr fort: »Jetzt ist mir klar, warum Drundyr dich nicht töten wollte. Da du als Kometensohn verehrt wirst, nützest du ihm lebend mehr als tot. Aber gegen die hier wirkenden Kräfte bist du machtlos.«
»Von welchen Kräften sprichst du?«, fragte Mythor.
»Um uns steht alles still«, sagte Calcos und ließ die Augen rollen. »Die Luft ist schwer zu atmen, das Wasser dicker als Öl, so dass der Bug es nicht teilen kann. Du siehst nur wenige Schritte weit. Der Mast ist über unseren Köpfen wie abgeschnitten. Und die Fackeln flammen, aber sie spenden kein Licht.«
Da wurde sich auch Mythor des Unheimlichen bewusst.
Aus Richtung des Buges erscholl ein Befehl, der hohl klang und wie aus weiter Ferne zu kommen schien:
»An die Ruder!«
*
Schemenhafte Gestalten geisterten über die schwarzen Schiffsplanken. Von den Ruderbänken kamen verhaltene Stimmen und gedämpfte Geräusche.
»Bewegt euch!«
Eine Peitsche knallte dumpf, und der Lederriemen zuckte an Mythors Kopf vorbei. Dort stand Kapitän Yardin, seine Gestalt verschmolz beinahe mit dem Nebel.
»Erhebt euch und geht um den Mast herum. Immer im Kreise, das erwärmt. Ihr werdet sonst ganz steif, und der Nebel erstickt euch noch. Ich habe schließlich den Auftrag, euch lebend an Land zu bringen. Los, Calcos, zeige ihnen, was du kannst.«
Wieder durchschnitt die Peitsche mit dumpfem Laut die Luft, aber der Nebel geriet nicht in Bewegung. Calcos sprang japsend hoch und begann, mit trippelnden Schritten um den Mast herumzugehen.
Mythor und Nyala halfen dem Herzog von Elvinon auf die Beine. Als dieser stand, stieß er jedoch die helfenden Arme von sich.
»Ich kann mich aus eigener Kraft halten«, sagte er würdevoll.
Mythor sah, wie sich Yardin abwandte und zu den Heckaufbauten hochstieg.
»Er sucht Drundyrs Rat«, raunte ihm Calcos zu, während er neben ihm trippelte. »Aber wenn es ernst wird, dann schert der Priester sich nicht um das Schiff und uns. Er wird nur an sich alleine denken.«
»Was könnte einem so großen Schiff wie der Durduune denn gefährlich werden?«, fragte Mythor und blickte besorgt zu dem Knotenpunkt am Mast hoch, wo alle vier Leinen zusammenliefen. Als er sah, dass der Strang aus den vier Schnüren um Unterarmlänge zugenommen hatte, hielt er Calcos zurück und wartete, bis Nyala und ihr Vater sie erreicht hatten.
»Es gibt Meeresbewohner, die drei- und viermal so groß sind wie dieses Schiff«, erklärte Calcos. »Die Vallsaven etwa ...«
»Das sind Fabelwesen«, fiel Nyala ihm ins Wort. »Ich kenne keinen Menschen, der jemals ein solches Untier mit eigenen Augen gesehen hätte.«
»Weil keiner, der einen Vallsaven je gesehen hat, dies überlebte«, erklärte der Caer.
Um sie war eine unheimliche Stille. Der Nebel schluckte selbst das Geräusch ihrer Schritte. Kein Ruderschlag war zu hören, obwohl Mythor undeutlich an den sich krümmenden und streckenden Rücken der Ruderer erkannte, wie sie sich in die Riemen legten.
Plötzlich vernahm er einen erstickten Laut und sah, wie Herzog Krude, der sich in die falsche Richtung bewegte, von der sich spannenden Leine zurückgeschnellt wurde. Bevor er sich jedoch um ihn kümmern konnte, erklang eine flüsternde Stimme an seinem Ohr. Sie kam aus Richtung der Heckaufbauten und gehörte offenbar Drundyr. Mythor verstand die Worte so deutlich, als stehe der Caer-Priester neben ihm. Dabei war er einige Mannslängen entfernt und in dem dichter gewordenen Nebel nur noch zu erahnen. Er hörte Drundyr sagen:
»... im Fahrwasser der Goldenen Galeere ...«
Mehr war nicht zu verstehen.
»Mythor!« Das war Nyala. Er eilte sofort zu ihr, die über ihren am Boden liegenden Vater gebeugt war. Herzog Krudes Gesicht war dunkel verfärbt, und er rang verzweifelt nach Atem. Die Halsschlinge drohte ihn zu erwürgen.
Mythor versuchte, mit zwei Fingern unter die Schlinge zu greifen, um sie zu lockern, aber dadurch schnitt er des Herzogs Atemwege nur noch mehr ab.
»Da hilft nur Meerwasser«, sagte Calcos. »Das Salzwasser macht die Fasern geschmeidig und dehnt sie.«
Noch während der Caer sprach, entdeckte Mythor einen hölzernen Eimer, der an einem Tau befestigt war. Er holte ihn mit schnellen Bewegungen ein und schleuderte ihn dann weit über die Reling. Kein Geräusch war zu hören, als der Eimer ins Wasser fiel. Mythor wollte den Eimer sofort wieder einholen. Aber er schien irgendwo festzuhängen, denn obwohl er mit aller Kraft an dem Tau zog, gab es nicht nach. Als Calcos ihm zu Hilfe kam und sie mit vereinten Kräften zogen, riss das Tau unvermittelt.
Im selben Moment gab es eine Reihe dumpfer Laute wie von brechendem morschen Holz.
»Die Ruder!«, rief Calcos aus.
Mythor sah im Nebel hinter der Reling irgendetwas splittern, und er hatte tatsächlich den Eindruck, als würden die dicken Riemen brechen. Etwas spritzte auf und quoll dann dickflüssig über die Reling. Langsam floss es über das leicht schräge Deck auf sie zu.
»Wie zähflüssig es auch ist, es ist Meerwasser«, sagte Calcos zu dem zögernden Mythor, der es daraufhin mit beiden Händen schöpfte. Das Salzwasser, das gerade noch so dick wie Honig gewesen war, wurde in seinen hohlen Händen wieder dünnflüssig. Ohne zu zögern, träufelte er es auf Herzog Krudes Hals, während Nyala in fiebriger Hast die Schlinge damit einrieb.
»Es hilft«, sagte sie zwischendurch. »Die Schlinge wird lockerer.«
Mythor schöpfte noch zweimal beide Hände voll Meerwasser, bis deutlich zu erkennen war, dass die Schlinge des Herzogs Hals nicht mehr einschnürte.
»Vater lebt«, sagte Nyala. »Aber er hat das Bewusstsein verloren.«
Während Mythor sich die feuchten Hände an seiner Halsschlinge abwischte und bald merkte, dass sie daraufhin nachgab, wandte er sich Calcos zu, der in den undurchdringlichen Nebel starrte und sagte:
»Da kommt etwas Grauenvolles auf uns zu. Ich spüre die Bedrohung, die davon ausgeht.«
»Hat es etwas mit der Goldenen Galeere zu tun?«, fragte Mythor.
Der Caer wandte sich um.
»Was weißt du von der Goldenen Galeere?«
»Ich habe Drundyr davon sprechen gehört«, antwortete Mythor. »Was hat es damit auf sich?«
»Die Goldene Galeere ist ein Geisterschiff, über das es unzählige Geschichten gibt«, antwortete Calcos. »Die Legende besagt, dass sie Prinz Nigomir aus Eislanden gehören soll. Das ist ein geheimnisumwittertes Land im hohen Norden. Es heißt, dass Nigomir aus rasender Eifersucht seine heißgeliebte Stiefschwester Karen niedergestochen hat und dann auf seiner Goldenen Galeere vor der Rache seines Vaters, König Irken, geflohen ist. Auf Geheiß des Königs wurde der Prinz jedoch verfolgt und in die Düsterzone getrieben. Als die Goldene Galeere in der Zone der Düsternis verschwand, da wurde der Fluch des Königs wirksam. Seither geistert die Goldene Galeere mit diesen Seelenlosen über die Meere und spukt in den Köpfen der Seeleute. Viele wollen das Geisterschiff gesichtet haben, aber noch niemandem gelang es, sich ihm zu nähern oder gar seinen Fuß an Bord zu setzen.«
Die Durduune durchlief eine heftige Erschütterung. Calcos rutschte auf den glitschigen Planken aus und fiel der Länge nach hin. Sein Schrei erstarb, als sich seine Halsleine spannte. Das Schiff wurde ein zweites Mal erschüttert. Diesmal war wie fernes Donnergrollen das Krachen berstenden Holzes zu vernehmen. Die Ruderer verließen schreiend ihre Bänke und liefen durcheinander. Die Stimme des Kapitäns verhallte ungehört.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Mythor an Nyala gewandt, die ihres Vaters Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Sie blickte ratlos und hilfesuchend zu Mythor auf.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber wir können unmöglich schon die Insel erreicht haben. Vielleicht lässt das Meer irgendeinen seiner Schrecken gegen dieses verfluchte Schiff los. Aber egal was passiert, du musst uns retten, Mythor! Als Sohn des Kometen darfst du nicht zulassen, dass mein Vater umkommt. Sein Volk braucht ihn.«
Mythor zerrte mit aller Kraft an der Halsleine. Aber mit dem Erfolg, dass Nyala vor Schmerz aufschrie und ein Ruck durch den Körper des Herzogs ging. Was mit Calcos geschah, das sah er nicht, denn ihm wurde schwarz vor Augen, als sich gleichzeitig die Schlinge um seinen Hals spannte. Er gab sein Unterfangen, die Leine mit roher Kraft zu zerreißen, sofort wieder auf.
Als sich sein Blick klärte, sah er, wie Kapitän Yardin einen seiner Männer zur Reling stieß. Der Seemann schwang eine Schnur, an der ein faustgroßes Gewicht hing. Er warf das Lot über die Reling und ließ die Schnur nach. Mythor erkannte, dass er die Meerestiefe messen wollte.
»Wie tief?«, fragte Kapitän Yardin, als der Seemann das Lot wieder einholte.
»Fünf Faden etwa«, kam die Antwort, während der Caer das Lot wieder auswarf. Gleich darauf sagte er: »Vier Faden nur noch, Kapitän. Wir laufen auf Grund auf ... Da!«
Der Nebel brach auf einmal auf, und Mythor sah, wie sich steuerbords aus den diffusen, vom Fackelschein erhellten Schwaden ein bizarres Gebilde herausschälte. Im ersten Moment hatte er den Eindruck einer Moorlandschaft mit geknickten Bäumen, aus deren Stümpfen sich schlangenartige Kletterpflanzen rankten. Die geborstenen Stämme lagen kreuz und quer und stachen spitz in die Höhe. Irgendwelche Pflanzen, die in trompetenförmigen Trichtern endeten, wanden sich und zuckten in Richtung des Schiffes, als seien sie von unheimlichem Leben erfüllt. Die Durduune trieb steuerbords geradewegs darauf zu.
»Eine Insel!«, rief irgendjemand.
»In diesem Gewässer gibt es keine Inseln«, erwiderte Kapitän Yardin. »Das ist ein Vallsave!«
Von den Heckaufbauten erklang ein Schrei, der sich mit dem Krachen berstenden Holzes vermischte. Mythor sah, wie das Seitenruder brach, als es gegen ein Hindernis stieß. Der Steuermann wurde von dem schwingenden Ruder getroffen und über Bord geschleudert. Sein Schrei erstarb in einem Gurgeln.
Mythor blickte zu Drundyr, der seinen Platz am Altar noch immer nicht verlassen hatte. Der Caer-Priester kniete nun und hatte die dünnen Arme emporgereckt, so als wolle er damit höhere Mächte zu seinem Schutz einfangen. Drundyr schien in einer eigenen Welt zu leben und von den Geschehnissen ringsum nichts zu bemerken.
Da traf ein neuerlicher Schlag die Durduune, der viel heftiger war als die beiden vorangegangenen. Einige Männer gingen über Bord. Die Bordwand vor Mythor wurde eingedrückt, und er sah, wie sich spitze, gezackte Stacheln von Übermannslänge durch die dicken Bohlen bohrten. Das ganze Schiff wurde an Backbord hochgehoben. Mythor rutschte auf den schrägen Planken ab und wurde gegen den Mast gedrückt. Er hatte sich von dem Aufprall noch nicht erholt, als ihn zwei schwere Körper trafen. Er erkannte, dass es sich um Nyala und um Herzog Krude handelte. Unwillkürlich griff er nach der Tochter des Herzogs und drückte sie schützend an sich, als das Schiff sich zur Seite neigte.
Aber er wartete vergeblich darauf, dass es kenterte. Der Schiffskörper verfing sich an mächtigen Stacheln, die den Rumpf durchbohrten, als sei er aus Pergament. Nyala schrie gellend und klammerte sich an Mythor.
Wieder wurde die Durduune erschüttert. Doch diesmal widerstand sie der Belastung nicht. Der Bug wurde unter mächtigem Druck nach oben gedrückt, das Heck mit den Altaraufbauten sackte ab. Und auf Höhe des Mittelmastes barst das Schiff über die ganze Breite in zwei Teile. Der Mast neigte sich und brach an seinem Fuß ab. Mythor duckte sich und drückte gleichzeitig Nyalas Kopf auf die Planken. Für die Dauer eines langen Atemzugs spannten sich die Halsleinen so fest, dass Mythor meinte, die Schlinge würde ihn köpfen. Bevor ihm jedoch die Sinne schwanden, erkannte er, wie ein Brecher ihn erfasste und ihn über die ausgezackte Bruchstelle von Bord schwemmte.
Er vermeinte noch, die zuckenden Stacheln des Untiers zu sehen, glaubte, das Trompeten der trichterförmigen Organe zu hören, das nur erstarb, wenn sie ein Opfer fanden, an dem sie sich festsaugen konnten. Dann tauchte er in die tobenden Fluten ein, die verzweifelt um sich schlagende Nyala, deren besinnungslosen Vater und den leblosen Körper des Caer mit sich ziehend, an die er gefesselt war.
Ein Strudel wirbelte sie alle vier in die Tiefe und schien sie in den Schlund des riesigen Ungeheuers zu ziehen, das das Caer-Schiff mit Mann und Maus zu verschlingen drohte.
Mythor erlebte diese Schrecken in der Gewissheit, dass dies die letzten Augenblicke vor dem sicheren Tod waren.