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Meine Verlobung

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Station Ratomke bei Minsk, am 20. Juli 1898, unter der Eiche auf der kleinen Bank im Walde niedergeschrieben. Erinnerungen an meine Verlobung im Jahre 1849.

Der Zufall fügte es, daß ich gerade heute auf die Schatulle stieß, in der meines Mannes und meine Briefe aus unserer Verlobungszeit aufbewahrt liegen. Ich öffnete sie, blätterte nachdenklich in den vergilbten Papieren, und ehe ich es merkte, umfing mich die ganze glückliche Vergangenheit. Ich vergaß meine Umgebung und las – Die Eiskruste, welche das Leben um mein Herz gebildet hat, fühlte ich allmählich schmelzen, die Jugend stieg in mir auf und mit ihr all die Gefühle, die ich einst durchlebte, so frisch, so lebhaft, als wenn es gestern gewesen wäre. Vergessen waren die Gegenwart, alle Sorgen, alle Leiden, die ich in den siebenundvierzig Jahren durchgemacht habe – ich war wieder die sechzehnjährige Pessele in ihrem trauten Heim, von Eltern und Geschwistern umgeben.

Und ein Bild nach dem anderen stieg plastisch in meiner Erinnerung empor: Die letzten Zeiten eines sorglosen Daseins; die Schule, das fleißige, eifrige Lernen; dann das neuerwachende Gefühl, das so plötzlich und unerwartet in mein Leben trat – die junge Liebe – Träume – Hoffnung – Sehnsucht – Verlobung – Hochzeit —

Sie lassen mich nicht los, all die lieben Erinnerungen, und der Wunsch wird in mir rege, alles das, was ich einst erlebte, niederzuschreiben für meine Kinder zum Andenken an ihre Mutter.

Nach der Vermählung meiner älteren Schwester E. F. hatte ich noch mehr als früher in unserer Wirtschaft zu besorgen. Außer der Wirtschaft aber lernte ich sehr viel, ich wurde immer fleißiger, als ob mir eine innere Stimme sagte, daß ich nicht mehr lange im väterlichen Hause werde schaffen können. Ich besuchte mit noch einigen Mädchen eine Privatschule, wo wir in der russischen und deutschen Sprache unterrichtet wurden. Unser Lehrer war ein älterer Herr, namens David Podrewski. Sein schiefer Mund erschwerte ihm häufig die Aussprache mancher harten russischen Worte, weshalb wir ihn nicht immer verstehen konnten. Von den beiden Sprachen war ihm in der Tat nur die deutsche geläufig; seine Kenntnisse in der russischen Sprache waren sehr mangelhaft. Zwei Rubel monatlich für dreistündigen täglichen Unterricht – das war sein Honorar.

Ich hatte eine große Freude an Büchern. Da uns aber in jenen Zeiten keine Kinderbibliothek zur Verfügung stand, so las ich alles, was mir unter die Finger kam: Märchen, allerhand Erzählungen in Jüdisch-deutsch, Gdules Josef, »Zenture, Wenture« (Abenteuergeschichten), Bobe-meisses, (Bowe-Korelewitsch). Am meisten aber fesselten mein Gemüt die reichen phantastischen, orientalischen Märchen von »Tausend und eine Nacht«.

Diese Lektüre befriedigte mich nur bis zu meinem elften Jahre; später wurde Robinson Crusoe mein Lieblingsbuch und noch später Zschokke und Schiller, dessen erster Band mit seinem poetischen Inhalt von uns Mädchen gesungen und auswendig gelernt wurde. Dieses Interesse für Schiller teilten wir mit der gebildeten jüdischen Jugend jener Tage, die sich an diesem großen Dichter begeisterte und seine Werke fleißig studierte. In die erdrückende, dumpfe Atmosphäre des Ghetto drang wie ein Frühlingshauch Schillers Poesie, und die Juden bewunderten all die Pracht und Schönheit, die vor ihnen so plötzlich auftauchte. Bei den Juden spielte Schiller eine wichtige Rolle, sowohl in ihrem Leben, wie in ihrer Literatur. Als die jüdische Jugend die Werke des Auslandes zu lesen anfing, griff sie zuerst zu Schiller; an ihm begeisterte sie sich und bildete ihre Kenntnisse der deutschen Sprache aus. Schiller lernten die Männer auswendig, gleich uns jungen Mädchen. Und bald gehörte die Kenntnis der Schillerschen Werke mit zum Studienprogramm eines gebildeten Juden; er lernte den Talmud und Schiller und zwar den letzteren in der gleichen Methode wie den Talmud. Es wurde jeder wichtige Satz einzeln durchgenommen und laut über ihn nachgedacht; Fragen und mögliche Antworten folgten einander, es wurde diskutiert, solange bis man die befriedigende Lösung fand und den angeblich tiefen Sinn, der hinter den Worten stecken sollte. In jener Zeit erschienen auch zahlreiche Übersetzungen ins Hebräische, verfaßt von den besten jüdischen Dichtern, die sich alle an Schiller versuchten. Die Ursache dieser Popularität ist im Wesen der Schillerschen Poesie zu suchen, ihrem intellektuellen Charakter, in dem Ernst, dem Pathos, in seinem Idealismus, der alles Geschehene unter dem Gesichtswinkel des Sittlichen betrachtet.

In der Schule war's, wo ich zum erstenmal ein russisches Buch, eine Sammlung Gedichte von Gribojedow und Schukowsky, in die Hand bekam. Manches Gedicht dieser Sammlung rührte mich bis zu Tränen, und eine Erzählung in Prosa, die Lebensschilderungen eines Einsiedlers, der sich Wadim nannte und sein Freund Gostomisl – diese beiden Helden alter russischer Vergangenheit, mußte ich immer wieder und wieder lesen und heute noch, nach Verlauf von 65 Jahren, weiß ich die ganze Geschichte auswendig.

Monate vergingen seit der Hochzeit meiner Schwester, und ein Tag glich dem andern; ich ahnte gar nicht, wie nahe der Tag war, der diesem gleichmäßigen und ruhigen Leben ein Ende machen sollte. Als ich eines Morgens auf unserem Balkon saß und mit den Schulaufgaben zu tun hatte, näherten sich mir meine Eltern. Die Mutter faßte mich am Arm, befahl mir aufzustehen, drehte mich herum und unterzog meine ganze Gestalt einer Prüfung; dabei lächelte sie liebevoll und wechselte mit dem Vater verständnisvolle Blicke.

Obwohl ich dieses Verhalten meiner Eltern nicht verstand, wurde ich instinktiv unter ihren Blicken rot; ich wagte jedoch nicht, eine Frage an sie zu richten. Die Mutter sah meine Verlegenheit, streichelte mir zärtlich die Wange und entfernte sich im Gespräch mit dem Vater. Ich blieb auf meinem Platz zurück, nachdenklich und regungslos. Was sollte das sonderbare Benehmen der Eltern bedeuten? Lange quälte mich die Frage, bis ich eine Erklärung zu finden glaubte: Ich hatte an diesem Sommermorgen 1848 ein blaues Sommerkleid an, das meiner Mutter sehr gefiel, und wahrscheinlich wollte sie mich in diesem Kleide dem Vater zeigen, der uns Kinder stets hübsch gekleidet zu sehen wünschte.

So harmlos waren die Gedanken und Gefühle der Kinder zu jener Zeit, als ihre Eltern sich bereits mit Heiratsplänen für sie umhertrugen.

Seit jenem Morgen aber veränderte sich das Benehmen aller Hausgenossen mir gegenüber; man schenkte mir viel mehr Aufmerksamkeit als sonst, und es fiel mir auf, daß Vater, Mutter und Geschwister mich oft mit eigenem Interesse betrachteten. Erst in den nächsten Tagen erfuhr ich die Ursache dieser sonderbaren Aufmerksamkeit. Mein Vater hatte einen Brief, der einen Heiratsantrag für mich enthielt, zustimmend beantwortet. Dieser Brief rührte von dem Rebben (Talmudlehrer) her, der sich auf der Suche nach einer Braut für seinen Schüler befand.

Ganz nach der patriarchalischen Sitte hatten die Eltern meines Mannes den Rebben des erwachsenen Schülers in die Welt geschickt, eine Braut zu suchen. Die Schadchonim (Heiratsvermittler) zeigten ihm an, wo man hübsche Mädchen aus guten Familien finden könnte.

Der Rebbe, der sich an meinen Vater schriftlich wandte, war bereits in einigen Städten, hatte aber bisher die Gewünschte nicht gefunden. Und nun kam er nach Brest, um in unserem Hause eine Braut für seinen Schüler zu erlangen.

Die Eltern des betreffenden jungen Mannes waren reiche Leute und suchten für ihre Söhne Frauen aus vornehmen jüdischen Familien. Der vornehme, reiche Jude jener Zeit war immer bestrebt, eine Bas Towim, d. h. die Tochter eines talmudisch Gebildeten, für seinen Sohn zu finden. Andererseits scheute er keine Mühe und kein Geld, einen ebenso gebildeten Talmudisten seiner Tochter zum Manne zu geben. Die Talmudwissenschaft und ihre Pflege war für den damaligen Juden der Hauptinhalt seines Lebens, die einzige Quelle seiner Weisheit und geistigen Entwicklung.

Alles im Hause geriet in Aufregung. Jedermann wußte, wer der Fremde war, und welche Absichten ihn zu uns führten. Ich allein wagte nicht daran zu denken. Meine älteren Schwestern fanden sich mit ihren Männern zum Familienrate ein, und der ältere Schwager übernahm die Vermittlung zwischen meinen Eltern und dem Bevollmächtigten meiner künftigen Schwiegereltern. Der Familienrat beschloß, den Rebben zum Tee einzuladen. Niemand aber fand es für richtig, mich davon zu unterrichten. Am Mittagstisch sprach man von diesem Ereignis nur in Andeutungen. Die Eltern waren freudig gestimmt. – Meine Aufregung aber steigerte sich mit jeder Minute, und das arme Herz, in dem die Ahnungen deutlicher und deutlicher aufstiegen, drohte zu zerspringen. Die ganze Zeit am Tisch mußte ich mich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Nach Tisch ging ich aus. Ich mußte allein sein mit meinen Gedanken, mit all den neuen, ungekannten Gefühlen, die so plötzlich in mir erwachten, und meinem jungen Leben einen ganz neuen Inhalt gaben. Ich befolgte nicht den Rat meiner Schwestern, die mir zuredeten, ein schönes Kleid zu nehmen, sondern behielt mein blaues Kleidchen mit der schwarzseidenen Schürze an. »Er« sollte mich sehen, so wie ich jeden Tag bin, wie die Meinigen und wie ich selbst mich sah.

Als ich gegen Abend nach Hause zurückkehrte, hieß es, der fremde Herr sei bereits eingetroffen, wäre aber verhindert, zum Abendtisch zu bleiben. Da er mich aber sehen mußte, veranlaßte mich mein Vater, die brennenden Kerzen in sein Arbeitszimmer zu bringen, wo die beiden Herren sich befanden. Ich gehorchte, nahm beide Leuchter mit den brennenden Kerzen und ging in das Arbeitszimmer meines Vaters. Es war ein kurzer Weg. Aber mir kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Wie viele Gedanken rasten da in diesen wenigen Minuten durch meinen Kopf. Ein Sturm erhob sich in meiner Brust; das Herz schien still zu stehen. Äußerlich aber sah ich ganz ruhig aus. Ein leises Klopfen, und ich stand auf der Schwelle dieses Zimmers, wie auf der Schwelle eines neuen Lebens.

Da mich das Licht blendete, hob ich die Kerzen in die Höhe, über den Kopf, und stand so da, in ihrem vollen Lichte – und harrte. Da ertönte aus dem äußersten Winkel des Zimmers die Stimme meines Vaters, der mit dem fremden Herrn auf dem Sofa sich unterhielt. Ich folgte seiner Stimme, immer noch die Kerzen über meinem Haupte haltend.

Der Mann erhob sich vom Sofa, und mein Vater stellte mich ihm vor: »Das ist mein Pessele.« Ich fühlte ein Paar große, kluge, schwarze Augen forschend auf mich gerichtet. Es war ein prüfender, durchdringender Blick, der mir sogleich sagte, daß des Rebben Reiseziel hier erreicht war. Ich errötete unter diesem Blick und war nicht imstande, ein einziges Wort zu sagen. Meine Schüchternheit und Verwirrung war so groß, daß ich noch immer die Kerzen über meinem Kopfe hielt, bis mich mein Vater darauf aufmerksam machte. Ich stellte die Leuchter auf den Tisch, blickte noch einmal den Herrn an und entfernte mich lautlos aus dem Zimmer.

Im Speisezimmer harrten meiner schon alle Angehörigen, die mich sogleich mit Fragen bestürmten. Ich bat sie aber inständig, über die ganze Angelegenheit gar nicht zu sprechen, weswegen ich unaufhörlich ausgelacht und geneckt wurde.

Nach einer Stunde verabschiedete sich Herr Brim (so hieß der Rebbe) von meinen Eltern, und trat noch an demselben Abend seine Rückreise nach Konotop (800 russische Werst von unserer Stadt) an.

Bald kam aus Konotop ein Brief an, in welchem der Rebbe meinem Vater berichtete, er hätte alles nach seinem Wunsch geordnet, und Herr Wengeroff werde mit seinem Sohne und ihm selbst in den nächsten Tagen die große Reise antreten. Wir sollten mit meinem zukünftigen Bräutigam in einem 15 Meilen weit von uns entfernten kleinen Städtchen Kartuskaja Berjosa zusammentreffen und, wenn wir einander gefielen, dort gleich die Verlobung feiern.

Mein Mädchenherz kannte die Gefühle der Liebe noch kaum; plötzlich wurde es aus seinem Schlummer gerissen. Nie geahnte Bilder stürmten auf mich ein. In der Dämmerstunde saß ich jetzt oft und träumte von der Liebe, von dem Manne, der mein Lebensgefährte werden sollte, und unserem gemeinsamen Schicksal...... Es waren stille, lichte Träume, die ich damals in der Dämmerstunde jeden Abend träumte; denn mein tiefgläubiges Gemüt erhoffte alles Gute für die Zukunft. —

Ich suchte die Einsamkeit. Ich wollte allein sein mit meinen Träumen, die ich so lieb gewann. Aber allein war ich nie, denn das Bild meines Zukünftigen verließ mich nicht, und in meiner Phantasie nahm er die verschiedensten Gestalten an: Einmal war er blond, mit hellen Augen, ein anderes mal schwarz, und ein Paar dunkle, tiefe schöne Augen sahen mich voll Liebe an. Ich errötete vor mir selber: so beschämten mich meine Träume, aber ich hatte sie so lieb, lieb über alles. —

Manchmal, wenn ich so im Garten saß, in meine Träume verloren, stimmten die Mädchen, die die Gartenarbeit verrichteten, neckende, schmeichelnde Liedchen für mich an. Am liebsten hörte ich das Lied von dem schönen Mädchen, das von vornehmen Rabbinern stammte:

Schejn bin ich, schejn,

Schejn is mein Numen;

Ich kim doch haraus

Von lauter Rabunim.


Auf dem Dach sitz ich,

Von der Sünn schwitz ich,

Bloe Socken trog ich,

Tausend Toler vermog ich.


Kawe in die Kriglach,

Met in die Flaschen,

Tausend Toler…

In die Taschen. —


Die Vorbereitungen zu meiner Verlobung waren großartig. Ich erhielt sehr schöne Sachen. Es wurde beschlossen, daß die jüngst vermählte Schwester mit ihrem Manne, der ältere Bruder, Schwester Käthy und der ältere Schwager Samuel Feigisch uns begleiten sollten.

Vierzehn Tage lang währte die Reise der Wengeroffs bis zu dem vereinbarten Städtchen. Endlich war das Ziel ihrer Reise erreicht, und sie setzten uns durch eine Estafette davon in Kenntnis. Wir reisten ab und erreichten bereits am nächsten Tage in der Nacht Kartuskaja Berjosa.

Es war der 15. Juni 1849 – ein Datum, das sich tief in mein Herz eingeprägt hat und das ich nie vergessen werde.

Im Gasthaus, in dem wir Quartier nahmen, wurde uns gesagt, die Wengeroffs wohnten im Gasthaus uns gegenüber; eine kleine, enge Gasse liege nur dazwischen, und der Wirt versicherte uns, wir könnten von unseren Fenstern auch in die ihrigen hineinschauen, zumal von dem Stübchen, das für mich hergerichtet wurde. Ich begab mich auf mein Zimmer, ordnete die Sachen und versäumte nicht, obwohl ich sehr müde war, den Musselinvorhang zu lüften, um einen verstohlenen Blick ins Nachbarfenster zu werfen. Eine heimliche Stimme in meinem Herzen schmeichelte mir leise, daß von der anderen Seite das gleiche Manöver öfters erfolgt sein mußte. Endlich übermannte mich die Müdigkeit, und ich schlief fest ein.

Am nächsten Morgen weckten mich laute Stimmen aus dem Schlaf, die aus dem Nachbarzimmer meiner Eltern herrührten, und die ich unwillkürlich hören mußte. Die heftige Debatte zwischen meiner Mutter und meinem Schwager berührte – nach damaliger Sitte sehr eingehend – die materielle Seite der bevorstehenden Verlobung: Mitgift, Geschenke, Juwelen usw. Man war über diese Fragen nicht einig und redete hin und her. Erst mein Vater machte dem Streit ein Ende, indem er versicherte: »Wenn nur die Talmudkenntnisse des jungen Mannes gut sind, wird sich das andere schon machen lassen.«

Und nun rüstete sich mein Vater zu dem Akt, der mein Schicksal eigentlich erst entscheiden sollte – nämlich den zukünftigen Schwiegersohn in seinen Talmudkenntnissen zu prüfen; denn der Grad der Talmudkenntnisse war zu jenen Zeiten fast ausschlaggebend dafür, in welche Familie der junge Mann hineinzuheiraten würdig sei. Kein Wunder. Denn ausschließlich der Talmud war es, der als geistige Nahrung der damaligen jüdischen Jugend zugänglich war und auf sie veredelnd und verfeinernd wirken konnte. Zu anderen Wissensquellen führte die meisten kein Weg.

Nun ging mein Vater zu den Wengeroffs. In freudiger Stimmung kehrte er zu uns zurück; erging sich in den schmeichelhaftesten Äußerungen über den jungen Mann und lobte überschwenglich seine talmudischen Kenntnisse.

Von dem alten Wengeroff war er ebenfalls ganz eingenommen. Kurz, er wollte die Angelegenheit nicht verzögern und war entschlossen, noch an demselben Tage die Verlobung zu feiern. Wir beide, ich und mein Zukünftiger sollten noch vor dem offiziellen Verlobungsakt miteinander bekannt werden. Zu diesem Zweck wurden Vater und Sohn zu uns eingeladen.

Als ich ins Speisezimmer hineinkam, waren meine Angehörigen schon dort versammelt. Nach einigen Minuten trat ohne jede Meldung ein schöner, ältlicher Herr ein, begleitet von einer jugendlichen, aber mächtigen Gestalt. Alle erhoben sich und gingen auf die beiden zu. Ich konnte mich vor Aufregung kaum aufrechthalten. Wir setzten uns. Ich suchte mich zu beherrschen, um nach der damaligen Sitte ein Gespräch mit dem Vater meines Zukünftigen anzuknüpfen. Es fand sich bald so reichlicher Gesprächsstoff, daß die Unterhaltung allgemein wurde.

Die Meinigen sprachen das sogenannte Russisch-deutsch, während die beiden Wengeroff einen litauisch-jüdischen Jargon gebrauchten und auch den nur mangelhaft. Es stellte sich heraus, daß ihnen die russische Sprache viel geläufiger war, und deshalb unterhielten wir uns weiterhin meistens russisch. Bald war der kleine Kreis so vertraut miteinander, als hätte man sich seit Jahr und Tag gekannt.

Allmählich entfernten sich die jungen Leute in das Nachbarzimmer, mein Zukünftiger schloß sich ihnen ebenfalls an, und zuletzt forderte mich meine Schwester Kathy auf, den anderen zu folgen. Hier wurde die Etikette beiseite geschoben. Wir setzten uns zwanglos nebeneinander und selbstverständlich kam ich in die Nähe meines Bräutigams. Kaum saßen wir eine Weile nebeneinander, als das Zimmer leer wurde – alle entfernten sich, um uns beide ungestört zu lassen. Dieses Benehmen ärgerte mich dermaßen, daß ich nicht fähig war, ein einziges Wort hervorzubringen, und ich schwieg verlegen. Da fing aber mein Zukünftiger an zu reden. Zitternd vor Bewegung sprach er zu mir von seinen Gefühlen, von Liebe, Treue, von unvergänglicher Seligkeit. Viel mehr als seine Worte sagten mir seine Augen.

Aber zwei junge Leute vor ihrer Verlobung durften nicht zu lange miteinander allein bleiben. Es klopfte leise an der Tür, und Schwester Kathy kam uns abzuholen.

Im großen Zimmer warteten alle auf uns, um die Verlobung zu feiern. Nach der althergebrachten Sitte, die bei den frommen Juden noch heute gilt, wurde ein Schriftstück, die »Tnoïm« aufgesetzt, worin genau verzeichnet stand, wieviel Vermögen mein Bräutigam und ich mitbekommen, wann die Hochzeit stattfinden sollte usw. Nachdem dieses Dokument laut vorgelesen worden war, zerschlug man ein Gefäß. Diese Sitte war ein Symbol für die Zerbrechlichkeit des irdischen Daseins. Und eine Mahnung.

Man gratulierte einander. Wein und Süßigkeiten wurden gereicht. Es begann ein lustiges, munteres Treiben. Man speiste gemeinschaftlich zu Mittag, und mein Bräutigam wich nicht von meiner Seite. Am Nachmittag waren wir alle zum Tee bei den Wengeroffs eingeladen, wo uns am brodelnden Samowar und reich gedecktem Teetisch in gemütlicher Unterhaltung die Zeit verging. Mein Vater äußerte den Wunsch, sein zukünftiger Schwiegersohn solle die deutsche Sprache lernen, weil sie in unserem Lande aus gesellschaftlichen Rücksichten unentbehrlich sei, und sowohl der Schwiegervater wie sein Sohn erkannten die Berechtigung dieses Wunsches an.

Bei Wengeroffs erfolgte das gleiche Manöver wie bei uns: der Jugend wurde es zu enge bei der sachlichen Unterhaltung der Eltern, und einer nach dem andern verschwand in das naheliegende Zimmer meines Bräutigams. Es entstand die Frage, ob ich mich zu den anderen gesellen durfte. Meiner Mutter kam es als Sittenverletzung vor. Aber mein älterer Schwager trat für mich ein, und sie erlaubte es schließlich. Als ich am Arme des Schwagers im Zimmer meines Bräutigams erschien, wurde er vor Freude ganz närrisch. Mit jeder Stunde wuchs unsere Neigung, Sympathie und Anhänglichkeit, und wir schlürften vom Kelche der Glückseligkeit mit vollen Zügen. —

Ach wenn sie ewig grünen bliebe,

die schöne Zeit der jungen Liebe!


Es wurde spät – nach der Meinung der Eltern. Die Mutter trat ins Zimmer und flüsterte mir zu, daß es unpassend sei, so lange beim Bräutigam zu verweilen, und ich fühlte in ihrem Ton eine leise Mißbilligung meines Benehmens. Wir gingen nach Hause. Auf dem dunklen Gange, der zu unserer Wohnung führte, hörte ich hinter uns die Schritte des jungen Wengeroff, der uns begleitete. Ich wagte aber nicht, mich umzuschauen, um die Unzufriedenheit meiner Mutter nicht noch zu vergrößern.

So streng wurden wir damals erzogen. So behüteten uns unsere Mütter, nicht etwa aus Mißtrauen, sondern einzig und allein, weil sie es als ihre durch Tradition geheiligte Aufgabe betrachteten, über ihren Töchtern zu wachen. Es war Zartheit und Fürsorge, die unserer Naivität zu Hilfe kommen wollte, keineswegs aber Furcht vor den Folgen weiblicher List. Die Mütter von heute, wenn sie diese Zeilen lesen, dürften sich vielleicht in jene guten alten Zeiten zurücksehnen.

Am folgenden Tage erwachte ich glücklich, freudestrahlend; und ohne jede Aufforderung zog ich meine besten Kleider an. Bald aber trübte sich meine Freude, als ich erfuhr, daß wir noch an demselben Tage nachmittags die Rückreise antreten sollten. Als aber unsere Eltern mir und meinem Bräutigam in die betrübten Gesichter schauten, fühlten sie Erbarmen, und die Abreise wurde bis zum nächsten Morgen verschoben.

Wir jubelten vor Freude. Die Älteren störten uns Junge nicht. Wir unternahmen im Wagen eine Spazierfahrt, waren unterwegs fast ausgelassen lustig, erlebten Abenteuer mit Bauern und kehrten in der glücklichsten Stimmung zu den Unsrigen zurück. Den übrigen Teil des Tages verbrachten wir mit Teetrinken, Naschen, mit allerlei Possen; wir sangen im Chor unsere polnisch-jüdischen Lieder, mein Bräutigam seine russischen, und so verging uns die Zeit bis zum Abendessen. Nach dem Abendessen übermannte uns die Müdigkeit, und wir trennten uns zeitig voneinander.

Aber ich fand keine Ruhe in jener Nacht, ich konnte nicht einschlafen. – Verwegene Gedanken und Bilder hielten mich wach. Mein Herz schwelgte in Seligkeit.

Der Leser wird den Umfang der Umwälzung gemerkt haben, die sich in der kurzen Zeit seit der Verlobung meiner Schwester im jüdischen Familienleben vollzogen hatte. Meine Schwester Eva erblickte ihren Bräutigam zum erstenmal in ihrem Leben unmittelbar vor der Hochzeitszeremonie. Sie sträubte sich zwar dagegen, indem sie sich weigerte, das Hochzeitskleid anzuziehen, bevor sie ihn gesprochen hatte. Doch genügte ein strenger Blick der Mutter, die Widerspenstige zu zähmen. Als nun endlich die beiden sich als Brautleute gegenüberstanden, durfte auch jetzt noch nicht ein Händedruck zwischen ihnen gewechselt werden. Mir aber erlaubte man, schon zusammen mit meinen Geschwistern in sein Zimmer zu kommen; gemeinsam mit ihm und ausschließlich in junger Gesellschaft einen Ausflug zu unternehmen.

Hier sehen wir die Zeit anbrechen, in der sich die Abgeschlossenheit des jüdischen Familienlebens zu lockern beginnt. Unvermerkt dringen in die urwüchsigen jüdischen Familiensitten fremde, nichtjüdische Elemente ein. Noch eine Generation, und die alte jüdische Sitte mutet wie ein längst verklungenes Märchen an.

Am folgenden Tage stand ich sehr früh auf, und in dumpfer, trüber Stimmung machte ich mich zur Abreise bereit. Der Wagen stand schon vor der Tür, meine Eltern und Geschwister waren reisefertig; die Wengeroffs kamen, um gemeinsam mit uns das Frühstück einzunehmen. Als ich meinen Verlobten ansah, bemerkte ich auf seinem Gesicht die Spuren von Tränen. —

Wir hatten uns noch so viel zu sagen und schwiegen beide.

Am Frühstückstisch sprachen nur die Älteren. Die Jugend schwieg beklommen. Die Stunde der Trennung kam. Man erhob sich vom Tisch. In diesem Augenblicke konnte ich mich nicht länger beherrschen und, als mein Bräutigam mich beim Abschied umarmte, – eine für jene Zeiten unerhörte Tat – da brach ich in ein heftiges Weinen aus. Die Eltern waren gerührt und erlaubten uns, eine ganze Strecke allein vorauszugehen. Die übrige Gesellschaft und der Wengeroffsche Wagen folgte. Ein Zwischenfall verlängerte unser Zusammensein: Ich entdeckte plötzlich, daß mir die neugeschenkte prächtige Uhr und Kette fehlten. Das gab Anlaß, einen Teil des Weges zurückzugehen, um das Verlorene zu suchen. Wir fanden beides wieder, und alle behaupteten, es sei von guter Bedeutung für uns.

Wir erreichten die Unsrigen und stiegen in die Wagen. Noch ein letzter Blick, und rasch entfernten sich die Wagen voneinander. Ich drückte mich in eine Wagenecke und versank in trübe Gedanken. Mir war, als schwinde das Teuerste, Schönste und Erhabenste meines Lebens von mir. Ich litt unsäglich in meinem Schmerz. Die Schwester versuchte mich zu beruhigen. Da ward mir plötzlich bewußt, daß ich das Innerste meines Herzens verraten hatte. Ich schämte mich meiner Schwäche. Das half. Ich wurde immer ruhiger und tröstete mich mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Meine Eltern aber suchten mich mit dem Versprechen zu beruhigen, daß wir mit meinem Bräutigam noch einmal vor der Hochzeit zusammenkommen würden. So legte sich denn der Trennungsschmerz. Frisch und munter kamen wir zu Hause an.

Bald besuchten uns Verwandte, Freunde und Bekannte und gratulierten uns herzlich. Ich zeigte die kostbaren Geschenke, eine große Perlenschnur, lange Brillantohrringe, Kette mit Uhr. Zugleich mußte ich versichern, daß ich mich, wie der damalige Ausdruck lautete, »gottlob sehr glücklich fühle.«

In der Wahl der Geschenke, die man Kalle- und Chossen-Matones (Braut- und Bräutigamsgeschenke) nannte, folgte man gewöhnlich nicht nur dem persönlichen Geschmack, sondern richtete sich hauptsächlich nach der allgemein herrschenden Sitte. Gewisse Geschenke wurden als unumgänglich betrachtet, und jede Kalle und jeder Chossen, auch die Ärmsten, mußten sie erhalten. Auch der ärmste Chossen bekam zur Hochzeit vor allem einen Talles (Gebetmantel) und einen »Kittel« (Totenhemd), den der jüngere Mann ausschließlich am Jom-Kippur, der ältere, der schon erwachsene Kinder hat, auch an den Sederabenden anlegt. Wenn die Kalle arm war, so wurde für sie »gesammelt«, zu allererst für einen Talles für ihren Chossen. Zu den Geschenken gehörte noch ein Mützchen aus Silberfäden; zur Verlobung eine Uhr ohne Kette (die Herren trugen damals ihre Uhren an schwarzen seidenen Schnüren, welche die Braut gewöhnlich selbst verfertigte). Ich erinnere mich noch jetzt an das Kettchen, das meine Schwester für ihren Verlobten gemacht hatte – es war sehr kunstvoll geflochten, mit kleinen bunten Glasperlchen verziert.

War die Kalle ein reiches Mädchen, so erhielt der Chossen noch zur Hochzeit einen Streimel – eine Mütze aus dem kostbarsten Pelz – und eine »silberne Puschkele« (Schnupftabakdose).

Der Kalle schenkte man vor allem zur Hochzeit ein Gebetbuch, »Korben Minche« genannt.

Unter den Geschenken der sogenannten Balbatimtöchter (Töchter von wohlhabenden Leuten), welche oft nicht mehr als 100 Rubel Mitgift hatten, befand sich stets ein »Kanek« – ein Halsband aus schwarzem Sammet, reihenweise mit kleinen, echten Perlen besetzt; die Perlen mußten echt sein; das Vermögen der Mechutonim (Schwiegereltern) konnte nur ihre Größe bestimmen. Am Kanek waren als Anhängsel einige Dukaten befestigt, oder bei den reichsten einige größere goldene Münzen, im Werte von 15 Rubel, oder noch größere Münzen, an der drei Königsköpfe im Profil zu sehen waren und die einen Wert von 30 Rubel hatten. Man nannte diese Geldstücke Schaustück. Ferner erhielt die Braut zwei »Schleierlach« aus feinem, weißen Nesselzeug, die man auf dem Kopfe trug. Bei den reichen Partien schenkte man der Braut Brillanten, hauptsächlich Ohrringe, Perlenschnüre und eine goldene Kette, aber ohne die Uhr – die als Brautgabe erst in den vierziger Jahren aufkam. Diese Kette trug man oft beim Ausgehen über den Straßenkleidern, wie ich es im ersten Bande geschildert habe. Sie wurde mit einer Nadel an der Brust in phantastischen Formen befestigt.

Diese Geschenke machten nicht die Verlobten einander, sondern sie wurden von den zukünftigen Schwiegereltern den Brautleuten am Tage der Hochzeit überreicht. Gegen 12 Uhr mittags brachte der »Baddchen«, begleitet von der Musik, die Geschenke ins Haus der Braut.

In dem patriarchalischen Leben jener Zeiten hatte die Sitte das ganze Leben geregelt. Die heutige Generation in ihrer übertriebenen Empfindsamkeit mag diese so sehr minutiöse Vereinbarung seltsam anmuten, vielleicht gar peinlich berühren. Und doch darf man sagen, daß die genauen Abmachungen nur den einen Zweck hatten, von vornherein alle Mißstimmungen, Zänkereien und Feindseligkeiten zwischen den beiderseitigen Familien zu vermeiden.

Memoiren einer Grossmutter, Band II

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