Читать книгу Die alte Krone - Paul Keller - Страница 6
ОглавлениеDrüben im Wendenland kämpft die verunglückte Frau mit dem Tode.
»Es geht zu Ende! – Nehmt mich aus dem Bett! Holt frisches Stroh. – – – Weine nicht so sehr, Hanka! – Wenn ich tot bin, weine nicht auf meinen Sarg – – sonst müßte ich kommen und dich zu mir holen – –«
Eine lange, bange Pause. Dann fährt die Kranke fort: »Kommt Juro? – Habt ihr ihm geschrieben? – – Ich muß noch mit ihm reden – – und ich will ihn sehen –«
Der alte Scholta tritt ans Bett seiner Frau.
»Juro kommt und auch Samo kommt.«
Die Kranke lächelt und reicht ihrem Gatten die Hand.
»Hanzo! Ich danke dir, daß du mich zu deiner Frau genommen hast! Das war eine Gnade von Gott!«
Über das scharfgeschnittene, bartlose Gesicht des alten Wenden geht ein tiefer Schmerz; aber er sagt nichts als: »Gott helfe dir!«
Die Frau richtet den Blick nach der Wand, wo der Glasschrank steht. Er ist aus gelbgestrichenem Kirschbaumholz und hat eine Tür mit drei Glasscheiben, durch die man ein Gewirr bunter Dinge steht. Da sind Porzellan- und Glasgefäße vom Ahn und Urahn her. An alle knüpfen sich Familienerinnerungen, auf manchem steht ein alter Name, eine alte Jahreszahl, ein alter Segensspruch, der noch immer wirkt, wenn man ihn liest. Da sind noch die Tabaksdose und die Korallenkette, die der Alte Fritz den Urgroßeltern geschenkt hat, als er einmal in der Scholtisei gerastet hat; da ist Großvaters eiserner Ehering vom Jahre 1813. Wie die Kaffeetassen glitzern mit ihren goldenen oder hellroten Aufschriften! Dazwischen liegt ein altes Stück Holz. Es stammt von der uralten Hejka, der Hammerkeule, die der erste Scholta der Familie als Zeichen seiner Macht führte, mit der er sich verteidigte, als er in bösen Zeitläuften des langen Krieges von Kroaten überfallen wurde. Die Kroaten erschlugen ihn, zerschlugen seine Hejka. Aber das Holz der Hejka liegt immer noch als Heiligtum im Glasschrank unter den schönen feierlichen Kaffeetassen, das Andenken des Urahnen ist immer noch im Segen, und die Kroaten werden wohl gestorben und verdorben und verloren sein, wie alle bösen Menschen verlorengehen.
Die schlimmen Schmerzen kommen wieder, die Kranke verliert das Bewußtsein.
Hanka, das junge Wendenmädchen, schreit laut auf, Hanzo tritt ruhig ans Bett und schiebt das jammernde Mädchen beiseite. Der alte Knecht Kito schleicht durch die Tür herein. Er hat ein Büschel Kirchhofgras in der Hand.
Die Kranke erwacht wieder zum Leben. Und nachdem ihre Augen lange in Fieber und Schmerz an der Stubendecke herumgeirrt sind, richtet sie wieder den Blick nach dem Glasschrank und reicht ihrem Manne die Hand.
»Hanzo, es war eine Gnade –!«
Dort im Glasschrank ist noch der kleine Rautenkranz, den Hanzo bei der Hochzeit auf dem Kopfe trug. Weil er »cysty« war – ehrbar. Und der Kranz ist ihm nicht abgefallen den ganzen Tag, nicht einmal beim Tanze. Nun ist der Kranz freilich braun und dürr, aber die grünen und weißen Seidenfäden, die von ihm herunterhängen, sind noch immer weiß und grün. Da steht noch ihre eigene farbengeschmückte Brauthaube, da ist noch ihr eigener Kranz, da ist noch der Taler, den ihr die Mutter in den Brautstrumpf steckte, damit sie immer im Leben Geld habe. Da sind noch zwei Kerzenstümpfe, die gebrannt haben von dem Augenblick der Geburt ihrer beiden Söhne Juro und Samo an bis zu deren Taufe. Nun kann der Teufel keine Macht über sie haben ihr Leben lang.
Grüne, schöne Zeit! Die scheidende Seele geht am letzten Herbsttag immer zu ihrem Frühling zurück.
»Sie stirbt! Sie stirbt!« schreit Hanka, das Mädchen, wieder leidenschaftlich auf und neigt sich über die bleiche Kranke. Die fährt mit irren Fingern nach dem Verband an ihrem Kopf, und ein rotes Rinnsel fließt über Auge und Wange.
»Sie stirbt! Sie stirbt!«
»Geh weg, Mädel!«
Der alte Knecht Kito steht am Bett. Er hat Gras geholt vom Kirchhof und es trocknen lassen. Nun zündet er die dürren Gräser und Blumen an, läßt den Rauch hingehen über die Kranke und spricht:
»Ich sehe einen heiligen Baum.
Er hat kostbare Frucht getragen.
Er trägt nicht mehr.
Blut stehe still und tue nicht weh:
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!«
»To pomogaj si bóg wósc, bóg syn a bóg swety duch«, wiederholt der alte Scholta. – –
Da fährt ein Wagen in den Hof. Ein Herr springt heraus, stellt draußen einige Fragen und tritt in die Stube.
»Tag! Also, was ist los?« So fragt er barsch.
Die beiden alten Wenden und das junge Mädchen starren den Fremdling an. Der geht auf das Krankenbett los …
»Also, wollen mal sehen!«
Und streckt die Hand nach der Kranken aus.
»Herr, wer sind Sie? Was wollen Sie hier?« fragt der alte Scholta.
»Ja, Mann, ich bin doch der Arzt – Dr. Brehler. Sie haben mich doch rufen lassen.«
»Ich habe Sie nicht rufen lassen.«
»Na, hört sich alles auf! Kommt so'n Kerl, Wilhelm Tielscher oder so ähnlich – also Ihr Knecht – kommt der mitten in der Nacht, klingelt mich raus und sagt, ich müsse sofort zu seiner verunglückten Frau kommen. Na, ich hab' den Morgen abgewartet und bin nun hier. Die Fahrt durch Ihre Sandgruben und Schlammgräben ist doch kein Vergnügen. Ist das nu Ihre Frau?«
»Ja! Und verunglückt, schwer verunglückt ist sie auch – ja! Aber Sie rufen lassen habe ich nicht – nein!«
»Das ist stark! Mich hierher in dieses weltverlorene Nest – Ja, Mann, sehen Sie nicht, daß die Frau stirbt?«
»Ja, das sehe ich!« sagt der Scholta ganz leise.
»Und Sie lassen die Frau so liegen? Was ist denn das für ein schauderhafter Qualm hier?«
Der alte Kito tritt vor.
»Ich habe die Frau angeräuchert und das Blut besprochen«, sagt er mit großem Ernst.
»Beräuchert? Besprochen? Ja, Menschenkinder, gibt's denn im neunzehnten Jahrhundert wirklich noch solch schafsdämliche Gesellschaft? Seid ihr denn verrückt?«
»Herr Doktor! – Herr Doktor! – Herr Doktor!«
Mehr bringt der weißhaarige Alte nicht heraus. Aber mit seinem angebrannten Grasbüschel fährt er dem Arzt vor dem Gesicht herum.
»Herr Doktor – ich habe – im Namen Gottes –«
»Im Namen Gottes wird der hellste Blödsinn vollführt seit ewigen Zeiten!« schrie der Doktor. »Macht das Fenster auf! – Und Sie – Sie sind doch der Mann von der Frau? Soll ich sie nun untersuchen oder nicht?«
Der Scholta senkte den Kopf und schwieg.
»Also – da – da macht doch, was ihr wollt!«
Zornschnaubend wandte sich der Arzt nach der Tür. Da eilte ihm Hanzo nach.
»Herr Doktor – können Sie – können Sie meiner Frau wirklich das Leben retten?«
»Natürlich kann ich. Dafür bin ich Doktor! Aber ihr mit eurem blödsinnigen Quatsch macht ja alles zuschanden. Adieu!«
»Herr Doktor! Herr Doktor! Ich bitte so sehr! Ich gebe alles, was Sie wollen, wenn Sie es wirklich können!«
»So! Auf einmal! Erst wird man behandelt wie'n Schuhputzer, und dann –«
Er kehrte um, tat einige barsche Fragen und enthüllte dann die bewußtlose Frau, um sie zu untersuchen.
Der alte Hanzo wandte sich ab. Er schluchzte, und seine Brust krampfte sich zusammen. Der Sohn der Heide litt darunter, daß ein fremder Mann seine Frau sah. Der alte Kito schlich mit seinem Grasbüschel hinaus.
Eine lange schmerzliche Pause. Die Sonne sah zum Fenster herein und vergoldete den Rautenkranz, den der Scholta bei seiner Trauung getragen, und in dem alten Glasschrank war Licht und Glanz, und in der keuschen Seele des Bauern war Nacht und Qual.
»Hm! Da ist nichts mehr zu machen! Da ist es vorbei!«
»Herr! – Und da – da – da – haben Sie erst –«
»Was habe ich?«
»Sie – Sie – Mariana –«
Der alte Scholta sinkt am Bett nieder und deckt alles, was er mit seinen zitternden Händen erlangt, hastig über seine Frau.
»Ja, Mann, was wollen Sie eigentlich?«
Der Scholta springt auf.
»Können Sie – können Sie ihr nicht helfen?«
»Nein! – Es ist vorbei –!«
»Und Sie haben –«
»Was habe ich?«
»Sie erst – erst – erst –«
»Also, Mann, brüllen Sie mich nicht an! Ich hab' die Sache endlich satt. Adieu!«
Mit kraftlos herabhängenden Armen, an denen sich die Fäuste ballten, sah der alte Wende dem Arzte nach. – –
Oh, es war schade!
Es war schade, daß kein besserer Arzt, kein besserer Deutscher, kein besserer Mensch in diese wendische Krankenstube trat. Und es war schade, daß der deutsche Knecht Wilhelm Tielscher sechs Wochen lang ins Gefängnis gesteckt wurde, weil er den Arzt, den er auf der Heimfahrt begleitete, unterwegs aus dem Wagen gezogen, durchgeprügelt und zu Fuß hatte heimgehen lassen.