Читать книгу Hinter der Maske - Die Autobiografie - Paul Stanley - Страница 6

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Ein „Zuhause“ kann sehr vieles bedeuten. Für die meisten Menschen ist es ein Ort der Ruhe und Geborgenheit. Mein erstes Zuhause war alles andere als das.

Ich kam am 20. Januar 1952 als Stanley Bert Eisen zur Welt. Das New Yorker Apartment, in das mich meine Eltern mitnahmen, befand sich an der Ecke West 211th Street und Broadway, ganz im Norden Manhattans. Ich wurde mit einer Ohrmuschelfehlbildung namens Mikrotie geboren, wobei sich das Knorpelgewebe des äußeren Ohrs nicht ordentlich entwickelt, was dazu führt, dass einem stattdessen eine unterschiedlich ausgeprägte, knorpelig-deformierte Masse wächst. Ich hatte nur ein kleines Rudiment auf der rechten Seite meines Kopfes. Das hatte zur Folge, dass ich nicht bestimmen konnte, aus welcher Richtung ein Geräusch kam, und dass es mir sehr schwer fiel, Menschen akustisch zu verstehen, wenn irgendwelche Hintergrundgeräusche die jeweilige Stimme überlagerten. Das führte so weit, dass ich instinktiv solche Situationen mied.

In meiner frühesten Erinnerung sehe ich mich mit meinen Eltern in unserem abgedunkelten Wohnzimmer sitzen. Die Rollläden waren heruntergezogen, als ob die Unterhaltung, die wir führten, ein Geheimnis gewesen wäre: „Wenn dich je wer fragt, was mit deinem Ohr los ist, erzählst du, dass du so geboren wurdest.“

Meine Eltern schienen zu glauben, dass die Angelegenheit nicht existieren würde, wenn sie sie ignorierten. Diese Philosophie bestimmte unseren häuslichen Alltag und somit mein Leben über große Teile meiner Kindheit hinweg. Ich bekam simple Antworten auf komplexe Fragen. Aber wenn meine Eltern meine Problematik auch gerne ignorierten – außer ihnen tat das leider niemand. Die Kinder schienen mich auf meine Fehlbildung zu reduzieren. Ich war für sie ein Objekt und kein kleiner Junge. Jedoch waren Kinder nicht die einzigen, die mich anstarrten – auch Erwachsene taten es, was sogar noch schlimmer war. Eines Tages auf einem Markt an der 207th Street, einen Katzensprung von unserer Wohnung entfernt, fiel mir auf, dass ein Erwachsener, der in der Schlange stand, mich angaffte, als wäre ich ein Ding und kein Mensch. Ich wünschte mir nur, dass er aufhören würde. Wenn dich jemand anstarrt, ist die Situation nicht nur auf dich und diese Person beschränkt. Ein solches Verhalten zieht Aufmerksamkeit auf sich – und im Mittelpunkt zu stehen, war der Horror für mich. Ich fand die musternden Blicke und das gnadenlose Interesse sogar noch übler als Spott und Hohn. – Fast überflüssig hinzuzufügen, dass ich nicht viele Freunde hatte.

An meinem ersten Tag im Kindergarten wollte ich, dass meine Mutter sobald wie möglich wieder ging, was sie stolz machte. Allerdings hatte ich dafür einen anderen Grund, als sie dachte. Es hatte nichts damit zu tun, dass ich nun unabhängig und selbstsicher gewesen wäre. Ich wollte nur nicht, dass sie mitbekäme, wie ich angestarrt würde. Sie sollte nicht sehen, dass ich anders behandelt würde. Ich befand mich in einer neuen Umgebung mit neuen Kindern und wollte nicht vor ihr gedemütigt werden. Dass sie stolz auf mich war, zeigte mir, dass sie keine Ahnung von mir hatte. Meine Ängste waren ihr zu hoch.

Eines Tages kam ich weinend heim. „Jemand hat mir ins Gesicht gespuckt“, schluchzte ich. Ich suchte Aufmunterung und Schutz bei meiner Mutter. Ich nahm an, sie würde mich fragen, wer das getan hätte, um im Anschluss die Eltern des anderen Kindes zu finden und ihnen klarzumachen, dass so ein Verhalten nicht akzeptabel wäre. Aber stattdessen sagte sie: „Heul dich nicht bei mir aus, Stanley. Du musst deine Kämpfe schon selbst austragen.“

Meine Kämpfe selbst austragen? Ich bin fünf!

Ich will niemandem wehtun. Ich will nur, dass mich die Leute in Frieden lassen.

Eine Stunde später ging ich allerdings wieder hinaus, fand den Jungen und verpasste ihm eine aufs Auge. Er konnte sich da aber schon nur mehr dunkel an den ganzen Vorfall erinnern und wusste sich gar nicht zu erklären, warum ich so eine große Sache daraus machte.

Eines war danach klar: Mein Zuhause war nicht der Ort, an dem ich Hilfe finden würde. Egal, ob ich verprügelt, gehänselt oder sonst irgendetwas würde, ich musste mich schon selbst darum kümmern.

Wir lebten praktisch neben der PS 98, der Grundschule, die ich besuchte. Der Schulkomplex umfasste drei verschiedene Höfe, die durch Maschendrahtzäune getrennt waren. Da gab es einen Jungen, dessen Name ich nicht kannte, der aber dafür meinen wusste. Aus sicherer Entfernung rief er mir, kaum dass er mich erblickt hatte, von der anderen Seite des Zauns hinterher: „Stanley, das einohrige Monster! Stanley, das einohrige Monster!“

Ich hatte keine Ahnung, woher mich dieser Junge kannte. Alles, was mir durch den Kopf schoss, war: Warum tust du mir das an? Du tust mir weh. Wirklich, wirklich weh.

Er war ein normaler, unauffälliger Schüler in meinem Alter und hatte braune Haare. Außerdem hätte ich ihn, wenn ich ihn in die Finger bekam, leicht verhauen können, da er nicht besonders groß war. Aber er blieb stets außerhalb meiner Reichweite auf der anderen Seite des Zauns oder auf der anderen Seite des Schulhofs, von wo er leicht in die nahe gelegenen Wohnblocks entkommen konnte, bevor ich ihn mir hätte vorknöpfen können.

Wenn ich diesen Jungen nur drankriegen könnte.

Aber eines Tages schnappte ich ihn tatsächlich. Ich hörte ihn wieder einmal rufen: „Stanley, das einohrige Monster!“ So wie immer eben. Zuerst zuckte ich zusammen. Die Stimme in meinem Kopf bettelte: Hör doch endlich auf damit! Alle können dich hören! Deinetwegen starren sie mich jetzt alle an!

Und so wie immer gab es kein Entrinnen vor den Blicken.

Aber dieses Mal war ich schneller als er und griff ihn mir. Er hatte eine Scheißangst. „Schlag mich nicht!“, heulte er. Er sah aus wie ein verängstigtes Kaninchen.

„Dann hör endlich auf damit!“, sagte ich ihm, während ich ihn festhielt. Ich schlug ihn nicht. Als ich ihn so sah, wollte ich nicht mehr. Ich hoffte, dass er mich in Ruhe lassen würde, wenn ich ihn verschonte. Also ließ ich ihn ziehen. Er war kaum 30 Meter von mir entfernt, da drehte er sich zu mir um und krakeelte erneut: „Stanley, das einohrige Monster!“

Warum?

Warum tust du mir das bloß an?

Warum nur?

Obwohl ich nicht in der Lage war, es in Worte zu fassen, fühlte ich mich unfassbar verwundbar und nackt, unfähig, mich vor den Blicken und den Hänseleien, die überall auf mich lauerten, zu schützen. Und so entwickelte ich schon früh ein explosives Gemüt.

Statt meine Ausbrüche als Hilferuf zu interpretieren, reagierten meine Eltern mit Drohungen. „Wenn du damit nicht aufhörst“, sagten sie in drohendem Ton, „schicken wir dich zum Psychiater.“ Ich hatte zwar keine Ahnung, wer oder was ein Psychiater war, aber es hörte sich bedrohlich an, nach einer diabolischen Bestrafung. Ich stellte mir vor, dass ich in ein Krankenhaus verfrachtet würde, wo man mich einer qualvollen Behandlung unterzöge.

Nicht, dass ich mich zu Hause jetzt besonders behütet gefühlt hätte: Meine Eltern gingen regelmäßig aus und ließen mich und meine Schwester Julia, die nur zwei Jahre älter als ich war, alleine zurück. „Macht bloß niemandem die Tür auf“, war alles, was sie uns rieten. Dann waren meine achtjährige Schwester und ich mit meinen sechs Jahren auf uns gestellt. Wir hatten eine solche Angst, dass wir mit Messern und Hämmern unter unseren Kissen zu Bett gingen. Am nächsten Morgen standen wir früh genug auf, um unsere Waffen wieder an ihre angestammten Aufbewahrungsorte zurückzuschmuggeln, um nicht von unseren Eltern angeschrien zu werden.

Ich teilte mir mit Julia ein kleines Zimmer. Meine Eltern schliefen auf einer ausziehbaren Couch im Wohnzimmer. Julia hatte schon sehr früh mentale Probleme. Meine Mutter sagte, dass sie schon immer „anders“ gewesen sei, sogar schon als Baby. Sie war wild und gewalttätig. Sie machte mir Angst, und während meine eigenen Probleme sich verschlimmerten, trug ich mich mit der Sorge, dass ich genau wie sie werden könnte.

Meine Eltern waren mir da keine große Hilfe, aber andererseits unterstützten sie sich auch gegenseitig nicht besonders. Meine Mom – sie hieß Eva – war sehr dominant, und mein Dad – William – nahm ihr das übel. Sie präsentierte sich gerne als stark und ihn als unterwürfig. Sie sah sich als die Klügere von beiden, aber eigentlich war es eher mein Dad, der sehr gescheit und belesen war.

Er hatte bereits mit sechzehn die Highschool abgeschlossen, und unter anderen Umständen wäre er womöglich aufs College gegangen. Jedoch bestand seine Familie darauf, dass er arbeiten ging, um Geld nach Hause zu bringen – was er dann auch tat. Als ich schließlich zur Welt kam, arbeitete mein Dad Vollzeit als Büromöbelverkäufer. Notgedrungen akzeptierte er diesen Job, aber er mochte ihn nie besonders.

Meine Mutter blieb nach meiner Geburt als Hausfrau daheim; vorher war sie als Krankenschwester und als Hilfslehrerin an einer Sonderschule tätig gewesen. Später arbeitete sie dann in einer Einlösestelle, wo Leute sich irgendwelche Sachen abholen konnten, nachdem sie Heftchen mit Stempelmarken gefüllt hatten, die in verschiedenen Läden für Kundentreue ausgegeben wurden.

Die Familie meiner Mutter war vor den Nazis aus Berlin zuerst nach Amsterdam geflüchtet. Sie hatten alles zurücklassen müssen. Meine Großmutter hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen, was damals eher selten war. Nachdem sie erneut geheiratet hatte, zogen sie nach New York. Familienmitglieder meiner Mutter waren anderen Menschen gegenüber sehr herablassend. So waren sie sich nicht zu blöd, sich über meine Haare oder meine Klamotten lustig zu machen. Ich fand bald heraus, dass es für diese Arroganz und Selbstgerechtigkeit überhaupt keine Grundlage gab. Sie waren nicht erfolgreich, einfach nur respektlos. Wenn du nicht einer Meinung mit meiner Mutter warst, dann sagte sie einfach nur: „Oh, ich bitte dich“, was sie mit verachtungsvollem Ton ausstieß, um dir klarzumachen, dass deine Meinung nicht im Geringsten zählte.

Die Eltern meines Vaters stammten aus Polen. Er war das jüngste von vier Kindern. Mein Dad erzählte mir, dass sein ältester Bruder – Jack – als Buchmacher arbeitete und Alkoholiker war. Sein anderer Bruder – Joe – litt immer schon unter unkontrollierbaren manischen Stimmungsschwankungen, die ihn sein ganzes Leben lang stark einschränkten. Außerdem hatte Dad noch eine Schwester namens Monica, die anscheinend dem Druck ihrer Mutter nachgab, nicht das heimische Nest zu verlassen, und ihr Leben lang unverheiratet blieb. Schon als Kind fand ich diese Erwartungshaltung meiner Großmutter ziemlich selbstsüchtig. Mein Dad erzählte mir auch von einer schwierigen und unglücklichen Kindheit. Er verabscheute seinen Vater, der schon vor meiner Geburt verstorben war.

Meine Eltern waren keine glücklichen Menschen. Ich weiß nicht, worauf ihre Ehe beruhte, außer dem, was später als Co-Abhängigkeit bezeichnet werden sollte. Es gab keine Wärme oder Zuneigung bei uns. Freitag war meist der schlimmste Tag der Woche. Mein Vater regte sich auf, und das Resultat war unvermeidlich: Meine Eltern zerstritten sich und daraufhin sprach mein Vater dann das ganze Wochenende kein Wort mit meiner Mutter. Wenn man sich eine Stunde lang so benimmt, ist das schon kindisch, aber es ist echt verrückt, seine eigenen Eltern tagelang so zu sehen.

Zusätzlich zu den Problemen, die sie selbst miteinander hatten, beschäftigte meine Eltern auch noch meine Schwester, die jahrelang zwischen Nervenheilanstalten und zu Hause pendelte. Da ich als das gute Kind galt, bekam ich immer weniger Aufmerksamkeit von meinen Eltern. Das gute Kind zu sein hieß in meinem Fall nicht, gelobt zu werden – es bedeutete, dass ich ignoriert wurde. Deshalb ließ man mich so ziemlich alles tun, was ich wollte. Das gab mir nicht wirklich ein Gefühl von Sicherheit. Sicherheit kommt von Grenzen und Regeln – ohne solche fühlte ich mich verloren, ungeschützt und verletzlich. Ich wollte keine meiner Freiheiten und genoss sie nicht. Eigentlich war genau das Gegenteil der Fall: Ich war fast wie gelähmt vor Angst, weil niemand da war, um mir zu sagen, dass ich mich in Sicherheit befand.

Ich war sehr oft allein. Jeder neue Tag brachte Unsicherheit mit sich, als würde ich mich ohne Fangnetz über einem Abgrund bewegen. Jedes Mal hieß es, dass ich mich einer Welt stellen musste – für die ich mich aber unzureichend gerüstet fühlte. Und ich musste mir große Mühe geben, die unausgesprochenen Botschaften, die ich zu Hause erhielt, zu dechiffrieren.

In der Musik fand ich meine Zuflucht.

Musik war eines der wenigen großartigen Geschenke, das ich von meinen Eltern erhielt – dafür werde ich ihnen auch immer dankbar sein. Sie gaben mir zwar oft das Gefühl, wie ein Schiffbrüchiger zu treiben, aber trotzdem warfen sie mir – ohne es zu wissen – ein Rettungsseil zu. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal Beethovens 5. Klavierkonzert in Es-Dur hörte. Ich war fünf Jahre alt und war total von den Socken. Meine Eltern machten Kunst und Kultur zu einem natürlichen Bestandteil unseres Lebens. Sie liebten klassische Musik. Sie hatten eine große hölzerne Musiktruhe von Harman/Kardon und lauschten am liebsten den Klängen von Komponisten wie Sibelius, Schumann oder Mozart. Aber es war vor allem Beethoven, der mich in Staunen versetzte.

An den Wochenenden hörte ich mit meiner Mom Live from the Met auf WQXR, eine Tradition, die sich auch fortsetzen sollte, als ich älter wurde. Sobald ich begann, Radio zu hören, entdeckte ich auch den Rock ’n’ Roll. Egal, ob Eddie Cochran, Little Richard oder Dion & The Belmonts – es war reinste Magie. Sie sangen über das Leben der Teenager, von dem ich sogleich zu träumen anfing. All diese Oden an eine idyllisch verklärte Vorstellung von Jugendlichkeit berührten mich sehr. Sie erfüllten mich mit Vorfreude auf meine eigene Zeit als Teenager und transportierten mich an einen wunderbaren Ort, an dem die größten Sorgen den Beziehungen und der Liebe galten. Mensch, was für ein perfektes Leben diese jungen Leute haben mussten!

Eines Nachmittags ging ich mit meiner Großmutter spazieren. Wir überquerten die Brücke in die Bronx, wo ein Schallplattenladen lag. Wir gingen hinein und meine Großmutter spendierte mir meine allererste Schallplatte, eine Shellack-Single, die auf 78 Umdrehungen in der Minute lief: „All I Have to Do Is Dream“ von den Everly Brothers.

When I want you to hold me tight …

Während die meisten anderen Kinder durch die Nachbarschaft tollten und Cowboy und Indianer spielten, saß ich drinnen und hörte wie besessen Sachen wie „A Teenager in Love“ und „Why Do Fools Fall in Love“. Eine Zeit lang wurden viele alte Standards in Doo-Wop-Versionen neu eingesungen und ich war richtig genervt, wenn meine Mom einen davon in der Wohnung vor sich hin trällerte. „So geht der nicht, Mom! Hör zu, der geht so …“ Dann sang ich etwa den „dip da dip dip dip“-Teil aus „Blue Moon“, einem Klassiker aus den Dreißigerjahren, in der Version der Marcels. Manchmal gab sie sich respektlos gegenüber dem neumodischen Kram, doch zumeist fand sie es einfach nur amüsant.

Und dann sah ich schließlich auch einige der Sänger und Bands, die mir so gefielen, mit eigenen Augen.

Der berühmte Rock-’n’-Roll-DJ Alan Freed begann ungefähr gleichzeitig mit Dick Clarks neuer landesweit ausgestrahlten Sendung American Bandstand im Fernsehen aufzutreten. Die Wildheit und die Gefahr, die etwa ein Jerry Lee Lewis ausstrahlte, ließen mich alles andere als kalt – zum Beispiel, wenn er seinen Piano-Schemel wegtrat und seine Haare mit einer Kopfbewegung herumschleuderte. Was allerdings doch an mir vorbeiging, war die Sexualität der Musik. Das war auch nicht sonderlich überraschend angesichts dessen, was ich von zu Hause kannte. Die romantische Fantasie, die mir vorschwebte, war rein und steril, und sogar als ich älter wurde, behielt ich diesen Blick auf die Welt bei. Es sollten noch viele, viele Jahre vergehen, bis ich begriff, wovon ein Song wie „Will You Still Love Me Tomorrow“ von den Shirelles tatsächlich handelte.

Und trotzdem waren all diese Leute cool. Sie waren cool, weil sie sangen. Sie waren auch deswegen cool, weil ihnen andere ihre Aufmerksamkeit schenkten und ihnen zujubelten. In Form ihres Publikums hatten diese Musiker alles, nach dem ich mich als kleiner Junge verzehrte.

Bewunderung. Wow!

Außer uns lebten noch ein paar andere jüdische Einwandererfamilien im Norden Manhattans, aber die Gegend war überwiegend irisch geprägt. Unsere unmittelbaren Nachbarn waren zwei liebenswürdige katholische Schwestern namens Mary und Helen Hunt, die beide nie geheiratet hatten. Sie wurden zu so etwas wie Großmütter oder Tanten für mich. Als mein Zwang, es meinen neuen Idolen gleichzutun, stärker wurde, ging ich regelmäßig zu ihnen rüber in ihr Apartment, um für die beiden zu singen und zu tanzen. Sobald ich irgendeinen Song gelernt hatte, klopfte ich bei ihnen und trug ihn vor, während ich mich selbst mit einer kleinen Choreografie begleitete, was hieß, dass ich zumeist von einem auf das andere Bein hüpfte.

Wenn ich sang, milderte es vorübergehend meine Zweifel und meinen Schmerz.

Es fühlte sich einfach so richtig an.


Es war einmal … Paul „Starchild“ Stanley als Baby.


Meine Schwester, mein Dad und ich im Inwood Hill Park in der Nähe unseres Apartments, Uptown Manhattan, 1952.


Mit Mom und Dad im Lake Mohegan, New York.


Oberste Reihe, dritter von links: Meine Baseballspieler-Pose auf dem Klassenfoto der ersten Klasse. PS 98, 1958.


Kurz bevor ich mit acht in die dritte Klasse kam, übersiedelte meine Familie von Manhattan in ein jüdisches Arbeiter-Wohngebiet am hinteren Ende von Queens. So etwas hatte ich noch nie gesehen – Bäume umrandeten den Block und wuchsen direkt aus dem Gehsteig heraus. Und gegenüber an der Straße lag eine Baumschule, die einen ganzen Block einnahm. Anfangs dachte ich, dass da ein Förster herumstreifen müsste. Oder Lassie.

Die meisten Erwachsenen aus der Gegend fuhren zum Arbeiten nach Manhattan, aber dennoch funktionierte die Nachbarschaft wie in einer Kleinstadt mitten im Nirgendwo. Auf einer Länge von nur ein paar Blocks, die von Bäumen gesäumt waren, befanden sich eine Bücherei, ein Postamt, ein Metzger, eine Bäckerei, ein Schuhgeschäft, ein Lebensmittelmarkt, ein Spielzeugladen, ein Haushalts- und Eisenwarengeschäft, eine Pizzeria und ein Eissalon. Allerdings fiel mir auf, dass etwas fehlte: ein Plattenladen.

Die meisten Gebäude waren zweigeschossig. Manche waren als Doppelhäuser gebaut, andere – so wie unseres – waren in vier Apartments unterteilt, wovon sich zwei im Parterre (mitsamt straßenseitigem Garten) und zwei im ersten Stock befanden. Ich teilte mir immer noch ein Zimmer mit meiner Schwester Julia, aber meine Eltern hatten nun endlich ihr eigenes Schlafzimmer. Es lebten auch viele Kinder in der Gegend.

Meine neue Schule war die PS 164. In den Schulbänken saßen jeweils zwei Kinder. Ich betete darum, dass mich die Lehrer auf die rechte Seite des Pults setzen würden, damit meine Banknachbarn mein linkes Ohr – mein gutes – zu Gesicht bekämen. Ich wollte nicht, dass jemand das, was ich für meine schlechte Seite hielt, sehen konnte – mal ganz abgesehen davon, dass ich niemanden hören konnte, der mich von meiner gehörlosen Seite ansprach.

Irgendwann während des ersten Schultags rief mich eine Lehrerin namens Mrs. Sondike zum Lehrerpult, um mein Ohr zu begutachten.

Oh Gott, bitte tun Sie das nicht.

„Lass mich einen Blick auf dein Ohr werfen“, sagte sie.

Nein, nein, nein!

Sie nahm mich in Augenschein wie ein wissenschaftliches Präparat.

Es war mein schlimmster Albtraum. Ich war wie versteinert. Völlig am Boden zerstört.

Was soll ich bloß machen?

Voller Verzweiflung wollte ich meinen Mund aufmachen und sagen: „Tun sie das nicht.“ Aber ich blieb stumm. Ich atmete tief ein und wartete darauf, dass es vorbei war.

Wenn ich es ignoriere, dann existiert es nicht. Behalte deinen Schmerz für dich!

Kurze Zeit nach diesem Vorfall ging ich mit meinem Vater spazieren.

„Dad, findest du, dass ich gut aussehe?“

Er wirkte überrascht. Er blieb stehen und senkte seinen Blick.

„Nun“, sagte er, „du siehst nicht übel aus.“

Danke.

Zehn Punkte für meinen Dad! Das war genau die Art Aufmunterung, die ein hoffnungslos verunsicherter junger Einzelgänger wie ich nötig hatte. Leider wurde das zur Norm bei meinen Eltern.

Ich fing an, eine Mauer um mich herum hochzuziehen. Ich stieß die Kinder vorsorglich von mir weg. Ich fing an, mich wie ein Klugscheißer oder Clown aufzuführen, bis letztlich niemand mehr gerne in meiner Nähe war. Ich wünschte mir einerseits, nicht immer alleine zu sein, aber andererseits tat ich Dinge, die die Leute von mir fernhielten. Mein innerer Konflikt war mitunter qualvoll. Ich war hilflos. Viele andere Kinder aus der Nachbarschaft besuchten gemeinsam den Hebräischunterricht, was ihre Freundschaften aus der Schule 164 vertiefte bzw. zu neuen Bekanntschaften abseits der Schule führte. In meiner Familie zündeten wir Kerzen an und feierten oberflächlich jüdische Feiertage, aber sehr religiös waren wir nicht. Ich hatte auch keine Bar-Mizwa. Aber der Grund, warum ich nicht dorthin ging, hatte nichts mit alldem zu tun. Ich sagte meinen Eltern ganz einfach, dass ich keine Lust darauf hatte. Allerdings klärte ich sie nicht über das Warum auf: Klar, ich fühlte mich schon als Jude, aber ich wollte nicht noch mehr Leuten ausgesetzt sein. Das Leben war auch so schon trist genug, da musste ich mich nicht noch in zusätzliche Situationen bringen, in denen ich durch die Angst vor Demütigung wie gelähmt gewesen wäre.

Okay, die Schule ist um drei vorbei. Wie wärs denn mit einer Zugabe um halb vier mit ein paar anderen Kindern? Großartig.

Die Schule hatte einen Glee-Club, eine Art Schulchor, der mich interessierte. Eine Chance zu singen! Jedes Jahr studierte man dort ein Musical ein, und jeder durfte für eine Rolle vorsingen. Gleich im ersten Jahr entschloss ich mich, mein Glück zu versuchen. Als ich an der Reihe war, ging ich auf die Bühne, die sie im Schulsaal hatten, und öffnete den Mund, um vor all den anderen Leuten meine Stimme ertönen zu lassen. Jedoch war alles, was herauskam, ein schwaches Piepsen. So landete ich schließlich, statt eine eigene Rolle zu bekommen, im Chor – als einer der Matrosen in HMS Pinafore oder was auch immer. Ich bewarb mich jedes Jahr für eine Rolle in einer dieser Inszenierungen, aber jedes Mal blieb mir beim Vorsingen die Stimme im Hals stecken – ein kleines Stimmchen war alles, was ich hervorbrachte. Also sang ich jedes Mal im Chor, obwohl ich wusste, dass ich die meisten der anderen Schüler, die sich die Hauptrollen sicherten, hätte an die Wand singen können.

Auch Pfadfinder gab es an meiner Schule. Nachdem ich ein paar meiner Mitschüler in ihren blauen Uniformen gesehen hatte, dachte ich darüber nach, mich ihnen anzuschließen, und als ein neuer Freund namens Harold Schiff ebenfalls in Uniform aufkreuzte, nahm ich sein Angebot an, ihn auf eines der Treffen zu begleiten. Harold gehörte zu den Mainstream-Kids, freundete sich aber auch mit ein paar Außenseitern wie mir an. Und er verstand sich gut mit einigen anderen Jungs aus der Pfadfindergruppe. So etwa mit Eric London, der mit ihm gemeinsam im Schulorchester spielte, oder mit Jay Singer, der Klavier lernte. Ich hatte Eric und Jay zwar im Glee-Club kennengelernt, aber ihre Freundschaft mit Harold basierte hauptsächlich auf dem gemeinsamen Besuch des Hebräischunterrichts. Ich blieb lieber für mich. Auch wenn ich mal wo mitmachte, hielt ich mich eher am Rande des Geschehens auf.

Jeder bei den Pfadfindern war hinter Leistungsabzeichen her. Es gab zum Beispiel welche für Fertigkeiten im Knotenbinden oder dafür, alten Ladys über die Straße zu helfen. Mir war das eigentlich scheißegal. Mich interessierte nur das Camping. Und das machten wir auch immer wieder an den Wochenenden. Ich hatte aber stets ein Problem, wenn ich bei Wanderungen die anderen aus den Augen verlor. So fand ich heraus, dass man keinen Orientierungssinn hat, wenn man halbseitig taub ist. Ich erinnere mich, dass ich auf einer Lichtung stand und jemanden rufen hörte: „Wir sind hier drüben!“ Ich hatte null Ahnung, woher die Stimme gekommen war. Ohne die Fähigkeit, die Herkunft von Geräuschen zu peilen, war das unmöglich. Ich fühlte mich ausgeliefert, da ich nicht wusste, wo ich war. Wieder einmal fühlte ich mich verloren.

Mein Instinkt sagte mir, ich müsste mich an meine Eltern halten, aber immer, wenn ich von so einer Situation zu ihnen kam und nach Sicherheit suchte, ließen sie mich wieder hängen. „Ignoriere es, dann wird schon alles gut“, blieb das Credo unseres Haushalts. Die alte Leier. Ich hätte mich über etwas mehr Rückendeckung anstelle von Haue gefreut, aber da war einfach nichts zu machen. Meine Eltern weigerten sich standhaft, meine Probleme wahrzunehmen, obwohl sie nicht von der Hand zu weisen waren. Ich schlafwandelte zu Hause. Manchmal kam ich dann in der Nacht zu mir und realisierte, dass ich im Wohnzimmer stand. Manchmal bekam ich auch mit, wie mich meine Eltern zurück in mein Zimmer führten. Sie wussten Bescheid, wollten es aber nicht wahrhaben, und was wirklich schieflief, wollten sie gar nicht wissen.

Ich hatte auch zwei wiederkehrende Albträume. In einem davon war es stockfinster und ich befand mich auf einem Schwimmdock auf einer riesigen Wasserfläche, weit von jeder Küste entfernt. Ich war gestrandet und ganz allein. Schließlich schrie ich um Hilfe. Nacht für Nacht. Ich wachte dann schreiend in meinem Bett auf.

Im zweiten Albtraum saß ich auf der Fahrerseite eines Autos, das einen dunklen, leeren Highway entlang schoss. Das Gefährt hatte kein Lenkrad. Ich versuchte es durch Gewichtsverlagerung zu manövrieren, aber hatte letztlich keine Chance, es unter Kontrolle zu bringen.

Jede Nacht weckten mich diese Albträume ruckartig, sodass ich schrie, verwirrt und zu Tode erschrocken war.

Auch der Zustand meiner Schwester verschlechterte sich zusehends. Als ich in die Junior-High kam, wurde Julias Verhalten immer selbstzerstörerischer. Meine Eltern begannen, sie vorübergehend in staatliche Heilanstalten zu geben. Nachdem das wenig Wirkung zeigte, gaben sie ein Vermögen für eine teure psychiatrische Privatklinik aus. Wenn sie zu Hause war, büxte sie oft aus und meine Eltern verbrachten ihre Tage damit, sie zu suchen. Ab und an wachte ich morgens auf und sah, dass meine Eltern wieder einmal keinen Schlaf gefunden hatten. Ich wunderte mich dann: Wird sie das alles noch umbringen?

Julia hing zumeist im East Village ab, schlief in den Wohnungen diverser Leute und nahm Drogen und Medikamente. Als sie einmal wieder bei uns war, klaute sie die Silberdollars, die meine Mutter in einer Schublade gesammelt hatte, um sich Medikamente zu besorgen. Ich weiß mittlerweile, dass das, was sie tat, Selbstmedikation heißt, aber damals durchblickte ich das Ganze nicht wirklich. Wenn sie weg war, war sie weg. Und wenn sie da war, hatte ich Schiss vor ihr.

An einem Nachmittag holten meine Eltern Julia von einer Einrichtung ab, wo man sie einer Elektroschock-Therapie unterzogen hatte – und ließen mich mit ihr allein. Sie lieferten sie einfach bei uns ab und ließen mich mit dieser Spinnerin von Schwester, die gerade einmal ein paar Stunden aus der Nervenheilanstalt draußen war, alleine zurück! Während sie weg waren, wurde Julia sauer und jagte mich mit einem Hammer bewaffnet durch die Wohnung. Ich hatte eine Heidenangst.

O Gott, kommt doch endlich zurück.

Dann hörte ich einen Mordskrach. Julia schwang den Hammer wie wild gegen die Tür und ließ nicht mehr locker.

Bäng! Bäng! Bäng!

Sie hämmerte mit voller Kraft, bis das Holz nachgab und splitterte. Dann hörte sie plötzlich auf. Der Hammer war im Holz steckengeblieben, und auf einmal herrschte Stille. Ich kauerte mich zusammen und zählte die Minuten und Stunden.

Werden sie kommen, bevor es wieder losgeht?

Dann kamen sie endlich.

„Was ist denn hier passiert?“, fragten sie. Ich erklärte ihnen, dass Julia mich mit einem Hammer verfolgt hatte. Aber nun fuhren sie mich an, als ob es meine Schuld gewesen wäre. Zuerst schrien sie mich an, dann schlugen sie mich. Ich hatte solche Angst gehabt, und nun kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus.

Ihr habt mich mit ihr allein gelassen! Das war eure Entscheidung, nicht meine! Sie hat versucht, mich umzubringen!

Auch die Schule war weiterhin eine Herausforderung. Noch in der Grundschule wurde ich in den Begabtenzweig geschickt, und auch in der Junior-High landete ich wieder in der Begabtenklasse.

Ich hätte das nicht auf Grundlage meiner Noten geschafft, da ich kein sehr guter Schüler war, jedoch öffnete mir eine Art Intelligenztest die Tür in diese Klasse. Obwohl mein IQ es rechtfertigte, dass ich die Begabtenklasse besuchte, war ich einer der schlechteren Schüler dieses Zweigs. Ich denke, alle wunderten sich über mich und dachten, dass ich nicht lernen wollte. Was allen verborgen blieb, war, dass mein Gehör einen schrecklichen Nachteil für mich darstellte. Vieles konnte ich einfach gar nicht wahrnehmen. Und wenn ich erst einmal einen Satz überhört hatte, kannte ich mich nicht mehr aus. Sobald ich den roten Faden verloren hatte, gab ich auf.

Bei Elternabenden erzählten meine Lehrer meinen Eltern stets dasselbe: „Er ist intelligent, aber er bringt sich nicht ein“, oder „Er hat Köpfchen, aber er schöpft sein Potenzial nicht aus.“ Kein Lehrer sagte jemals: „Er ist ein aufgeweckter Junge, aber er kann nicht verstehen, was ich sage.“

Damals blieben derartige Einschränkungen einfach unbemerkt.

Andererseits: Meine Eltern wussten, dass ich auf einer Seite taub war – und trotzdem kamen sie nach jedem Elternabend nach Hause und rügten mich: „Gott hat dir dieses wundervolle Gehirn geschenkt und du benutzt es nicht.“

Ich weinte und fühlte mich schuldig. „Ab morgen werde ich mich bessern“, gelobte ich.

Zweifellos ein guter Vorsatz. Dann ging ich am nächsten Tag in die Schule und war immer noch taub, worauf ich mich bald wieder wie ein Loser fühlte.

Ich wusste, dass die Dinge einen üblen Verlauf nehmen würden, wenn ich nichts unternahm. Sollte das bedeuten, dass ich scheitern würde? Dass ich mich umringen würde? Ich war mir nicht sicher. In diesem Unglück zu leben, eine Lüge zu leben, andere Menschen darunter leiden zu lassen – ich wusste, dass das alles falsch war. Ich wusste nicht, wo es enden würde, aber ich wusste, dass es schlecht enden würde. Es war eine schreckliche Lage, die mich vor allem in der Nacht sehr beschäftigte. Zusätzlich zu den Albträumen und dem Schlafwandeln wurde ich nun auch noch ein Hypochonder: Ich dachte, ich würde abkratzen. Ich lag nachts wach und hatte Angst einzuschlafen, weil ich befürchtete, nicht mehr aufzuwachen. Irgendwann döste ich dann doch ein, da ich meine Augen nicht mehr offenhalten konnte. Das wiederholte sich jede Nacht.

Du stirbst. Du steckst in der Scheiße.

Dann – sieh da! – bekam ich mein erstes Transistorradio. Es eröffnete mir den Zugang in ein ganz neue Welt, in die ich gehen konnte, wann immer ich den Ohrhörer in mein funktionierendes linkes Ohr steckte. Musik gewährte mir wieder einmal Zuflucht und bescherte mir zumindest ein flüchtiges Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Und im Februar 1964, ein paar Wochen nach meinem zwölften Geburtstag, sah ich die Beatles in der Ed Sullivan Show. Als ich ihren Auftritt verfolgte, durchfuhr es mich: Das ist meine Fahrkarte in die Freiheit. Hier war das Transportmittel, das mich aus dem Unglück führen und mit dessen Hilfe ich berühmt, bewundert und beneidet werden würde.

Und ohne jegliche rationale Grundlage war ich überzeugt: Das kann ich auch. Ich kann in dieselbe Kerbe schlagen. Ich hatte noch nie zuvor Gitarre gespielt und schon gar keinen Song geschrieben. Und doch war dies mein Ticket in die Freiheit.

Ich wusste es einfach.

Ich fing sofort an, mir die Haare wachsen zu lassen, da ich eine Pilzkopffrisur wie die Beatles anstrebte. Natürlich tat ich dies nicht nur, weil mir der Schnitt gefiel, sondern auch, um mein Stummelohr auf der rechten Seite meines Kopfes zu verbergen. Irgendwie ging dieses Motiv völlig an meinen Eltern vorüber. Sie gingen mir wegen meiner Haare auf die Nerven und drohten mir, sie mir abzuschneiden.

An einem Nachmittag, kurz nachdem ich die Beatles bei Ed Sullivan gesehen hatte, traf ich einen Jungen aus meiner Nachbarschaft namens Matt Rael. Er erzählte mir, dass er eine E-Gitarre besäße und Musik machte. Er war eine Klasse unter mir, aber ich war trotzdem sehr beeindruckt. Ich brauchte nun auch eine E-Gitarre, damit ich ebenfalls Musik machen konnte. Und bald hatte ich auch eine Idee, um an so ein Instrument ranzukommen: Die nächsten elf Monate, während die British Invasion nicht nur die Beatles, sondern auch die Dave Clark Five, die Kinks, die Rolling Stones, die Searchers, Manfred Mann, Gerry and the Pacemakers, die Animals und viele andere zu uns brachte, lag ich meinen Eltern in den Ohren, mir zu meinem 13. Geburtstag eine E-Gitarre zu schenken.

„Das ist mein größter Wunsch“, erklärte ich ihnen.


Ich sollte noch herausfinden, dass ich besser geeignet war, ein eigenes Team zu haben, als nur in einem zu spielen.


Meine Schwester (14) und ich (12) stehen vor unserem Wohnhaus in der 75th Road in Queens … und sind angezogen, als wollten wir bei den Sopranos mitspielen.


Am Morgen des 20. Januar 1965 erwachte ich voll Aufregung. Endlich meine E-Gitarre! „Sieh unter dem Bett nach“, sagte meine Mom. Ich schaute erwartungsvoll unters Bett. Dort sah ich einen Karton, der, von der Form her, etwas zu enthalten schien, das wie ein akustische Gitarre aussah.

In mir stieg Enttäuschung hoch.

Ich zog den Karton unter dem Bett hervor. Ohne jeden Zweifel, es war eine gebrauchte japanische Akustikgitarre, die mit Nylonsaiten bespannt und mit ein paar notdürftig geflickten Rissen übersät war. Ich war am Boden zerstört und schob die Kiste samt Gitarre zurück unters Bett. Ich wollte nicht darauf spielen.

Meine Eltern entstammten Familien, denen es sinnvoller erschien, Kinder am Boden zu halten, als ihnen Hochgefühle zu verschaffen. Das war ihr Erziehungsansatz. Sie schenkten mir aus Prinzip nicht das, was ich mir gewünscht hatte, obwohl es für sie nicht schwieriger gewesen wäre. Ich glaube, sie hatten verhindern wollen, dass mir die Erfüllung meines Wunsches zu Kopfe stieg.

Nachdem ich die Gitarre verschmäht hatte, begannen sie, mir Schuldgefühle einzureden – wobei sie ihre eigene Rolle in dieser riesengroßen Enttäuschung niemals anerkannt hätten.

Mein Freund von den Pfadfindern, Harold Schiff, bekam ein paar Wochen später eine E-Gitarre – eine hellblaue Fender Mustang mitsamt einem Perlmutt-Pickguard. Er gründete dann sofort eine Band. Und er wollte mich als Sänger!

Harolds Freunde Eric London und Jay Singer, die ich ein wenig vom Glee-Club und den Pfadfindern kannte, stiegen auch ein. Eric spielte Kontrabass im Schulorchester und zupfte nun dasselbe Instrument auch bei uns. Jay, der Klavierunterricht bekam, hatte seit Kurzem ein elektrisches Keyboard, eine Farfisa-Orgel. Harold holte noch einen weiteren Jungen dazu, den er aus dem Hebräischunterricht kannte. Er hieß Arvin Mirow und sollte Schlagzeug spielen. Auch ihn kannte ich aus dem Glee-Club. Dann schlug ich vor, dass wir noch Matt Rael, der Tür an Tür mit Eric wohnte, dazuholen sollten. Er wurde unser Leadgitarrist. Matt und ich waren die einzigen Jungs aus dieser Truppe, deren Eltern nicht irgendwelche Doktoren waren.

Anders als wir wohnten die Familien von Harold und Matt nicht in Apartments, sondern hatte eigene Häuser, die auch unterkellert waren. Matts älterer Bruder Jon hatte ebenfalls eine Band – seine Eltern waren sehr tolerant gegenüber dem Krach. Auch Harolds Mom war Lärm egal. Außerdem konnten wir den Keller der Schiffs alleine benutzen, sodass wir uns dort zuerst einquartierten. Der Kellerraum war fein eingerichtet – die Wände waren mit hübschen Holzpaneelen ausgekleidet, der Boden war mit Linoleum ausgelegt, und es gab sogar ein Fenster. Außerdem führte eine Tür hinaus zum Hinterhof.

Harold und Matt steckten ihre Gitarren im selben Verstärker an, und meine Stimme lief über den Amp, der auch Jay Singers Keyboard abnahm. Ich schlug, wenn ich sang, auch gegen ein Tamburin – etwas, was man oft im Fernsehen sah. Eric musste nur den Bass so laut wie möglich zupfen. Wir versuchten uns an Songs wie „Satisfaction“ von den Stones und anderen Songs von Bands der British Invasion, wie etwa den Kinks und den Yardbirds. Um größtmöglichen Nutzen aus Jays Farfisa zu ziehen, lernten wir auch „Liar, Liar“ von den Castaways.

Ich liebte es von Anfang an. Obwohl alle Kids damals vage davon träumten, Rockmusiker zu sein – die Beatles und die Stones standen Pate für diesen Wunsch –, so hatten doch ihre Eltern ihren Lebensweg bereits vorausgeplant. Diese Kinder sollten Zahn- oder Augenärzte werden, so wie ihre Eltern auch. Eine Band war nicht mehr als ein Jux für sie.

Aber ich wurde nicht müde zu betonen: „Ich werde ein Rockstar!“

Matt Rael und ich begannen, regelmäßig im Haus seiner Familie abzuhängen. Wir übten teils selbst, teils waren wir bei den Proben der Band seines Bruders Jon dabei. Matt und ich machten so oft Musik bei ihm zu Hause, dass seine Mom einen Deal mit uns aushandelte: Wenn wir ein altes Bücherregal, das sie in Upstate New York gekauft hatte, etwas aufpolierten, dürften auch wir ihren Keller offiziell als Proberaum benutzen. Wir ließen uns nicht zweimal bitten, kratzten die alte weiße Farbe von dem Möbelstück und übten weiter in ihrem Keller.

Matts Eltern waren so etwas wie Ur-Hippies. Seine Mom hatte sogar auf den ersten Aufnahmen der Weavers mitgesungen und war mit Pete Seeger befreundet. Sie hatte auch auf Woody Guthries Kinder aufgepasst. Zur Zeit, als ich Matts Eltern kennenlernte, buchte seine Mom immer noch prominente Folk- und Bluesmusiker für Musikfeste in Manhattan, darunter Leute wie Sonny Terry, Brownie McGhee und Leadbelly. Und natürlich auch Pete Seeger.

Ich hörte wie besessen Radio und kannte die aktuellen Hits, aber bei Matt kam ich in Kontakt mit der unglaublichen Folksammlung seiner Eltern. Sie hatten tonnenweise Country-Blues und ganz alte, traditionelle Sachen sowie zeitgenössischen Folk, etwa von Bob Dylan, Eric Andersen, Tom Rush, Phil Ochs, Buffy St. Marie und Judy Collins. Schließlich kramte ich meine Akustikgitarre doch wieder unter dem Bett hervor und Matt brachte mir ein paar Akkorde bei. Dann nahm ich auch ein paar Stunden bei einer Frau, die in einer Lokalzeitung inseriert hatte. Der erste Song, den ich spielen konnte, hieß „Down in the Valley“. Bald schon hatte ich eine Mundharmonika um den Hals und versuchte, die Folkmusic, die ich bei Matt zu Hause gehört hatte, zu imitieren.

Auch die Band probte weiterhin, und im Sommer 1965 hatten wir unseren ersten Auftritt. In diesem Jahr wurde ein neuer Bürgermeister gewählt, und John Lindsays Wahlkampfteam hatte ein Büro bei uns in der Nachbarschaft eröffnet. Es war in einem Laden untergebracht und war nichts außer einem hell erleuchteten Raum.

Harold half freiwillig im Wahlkampf aus und teilte Flugzettel aus – ich glaube, er hielt das für eine reife und coole Tätigkeit.

Eines Tages sprach einer der Typen, der das Wahlkampfbüro leitete, davon, ein Fest zu veranstalten. Er erwähnte auch, dass man dafür ein Unterhaltungsprogramm auf die Beine stellen müsste. Obwohl er sich dabei nicht unbedingt auf Harold bezog, machte dieser sich nun bemerkbar und verkündete: „Ähm, ich hätte da eine Band.“

Sie luden uns auch tatsächlich ein, bei dieser Veranstaltung aufzutreten. Ich nehme an, dass es sich für die Demokraten ganz gut machte, ein paar Kids aus der Nachbarschaft spielen zu lassen. Wir bekamen keine Gage und es kamen auch nicht viele Leute vorbei, aber es war ein Gig. Mein erster Gig!

Hin und wieder, wenn wir probten, brachte mir Harold Barré-Akkorde auf seiner Fender Mustang bei. Die Grundlagen waren ziemlich einfach, aber wenn ich gewusst hätte, wie lange ich brauchen würde, um ein einigermaßen annehmbarer Gitarrist zu werden, hätte ich es wohl gleich wieder sein lassen. Damals allerdings fühlte ich mich wie getrieben. Ein bisschen Krach im Keller zu machen war ganz cool, aber ich wollte meine eigene E-Gitarre haben und Nägel mit Köpfen machen. Ich begann, so oft wie möglich mit der U-Bahn nach Manhattan zu fahren, um die Musikläden in der 48th Street nach erschwinglichen Gitarren zu durchstöbern.

Diese Ausflüge wurden zu so etwas wie Pilgerreisen für mich. Zwischen der Sixth und Seventh Avenue säumten kleine Instrumentengeschäfte beide Seiten der 48th Street. Und einen Block weiter, an der der Ecke 49th Street und Seventh Avenue, gab es einen Sandwich-Laden namens Blimpies. Dort holte ich mir ein Sandwich oder bei Orange Julius einen Texas-Chili-Dog, der nur so vor zähflüssigem Käse triefte. Dann machte ich mich auf die Suche nach Gitarren. Damals durfte man gar nichts anfassen. Wenn man ein Instrument spielen wollte, erkundigten sich die Angestellten erst einmal, ob man vorhatte, etwas zu kaufen. Wenn man nicht so aussah – wie etwa in meinem Fall –, dann forderten sie einen auf: „Zeig mir, ob du Geld dabei hast.“ Deswegen ging es bei diesen Trips eigentlich nicht darum, auf Instrumenten zu musizieren, sondern darum, die Ausrüstung einer Rock-’n’-Roll-Band zu bestaunen: Schlagzeug, Gitarren, Bässe. Und manchmal erspähte man sogar einen Musiker, den man aus dem Fernsehen oder einem der Magazine, die ich anfing zu sammeln, kannte. Ich war dann wie im Himmel.

Als die Junior-High voranschritt, begann ich die Schule zu schwänzen, um immer öfter die 48th Street anzusteuern. Ich kam dann schon früh am Morgen an, noch bevor die Läden geöffnet hatten – deshalb ging ich, der jüdische Junge, dann schnurstracks in die St. Patrick’s Cathedral an der Ecke 49th Street und Fifth Avenue, um dort in einer der Sitzreihen zu warten. Ich fand auch einen Schallplattenladen, der nur einen Block von der Kirche entfernt lag und Record Hunter hieß. Dort konnte man sich sogar Platten anhören, denn es gab eine Reihe von Plattenspielern und Kopfhörern. Das verstand ich dann unter einem perfekten Tag – zuerst in der Kirche warten, bis der Plattenladen öffnete, dann Musik hören, einen Chili-Dog mampfen und Gitarren bewundern.

Irgendwann entdeckte ich, dass ich – weniger weit von zu Hause entfernt ­– mit der Buslinie Q44 bis zur letzten Haltestelle in Jamaica, Queens, fahren konnte, wo sich ein riesiges, zweistöckiges Schallplattengeschäft namens Triboro Records befand. Dort gab es Tausende LPs, und da es sich um eine vorwiegend von Schwarzen bewohnte Gegend handelte, hatte ich die Gelegenheit, andere Dinge kennenzulernen als die, die ich aus meiner Nachbarschaft kannte: James Brown, Joe Tex und Otis Redding etwa, aber auch schwarze Comedians wie Redd Foxx, Pigmeat Markham und Moms Mabley. Ich hatte nicht die Kohle dabei, um mir etwas zu kaufen, aber einfach nur die Plattencover zu bestaunen und in Händen zu halten, reichte oft schon aus, damit es sich für mich auszahlte.

Nachdem ich ein Jahr lang mein Geld angespart hatte und zum 14. Geburtstag noch was dazubekam, fuhr ich eines Tages wieder in die 48th Street und spazierte in einen Laden namens Manny’s. Den Blick auf eine Gitarre gerichtet, fragte ich: „Darf ich die mal ausprobieren, bitte?“

Als Antwort erhielt ich sogleich die Gegenfrage: „Hast du denn vor, heute was zu kaufen?“

„Ja.“

„Dann zeig mir mal bitte dein Geld.“

Ich kramte mein ganzes Geld hervor, und der Mann hinter der Theke reichte mir die Gitarre, für die ich mich entschieden hatte: eine Strato­caster-Kopie von Vox mit zwei Tonabnehmern. Es war jetzt nicht die Hammer-Gitarre, aber ich konnte sie mir leisten. Sie war billiger, da sie nicht ganz so groß wie eine herkömmliche Gitarre war. Außerdem wusste ich nichts über Gitarren und konnte kaum spielen.

Aber nun hatte ich wirklich meine Fahrkarte in die Freiheit.


Sobald ich meine E-Gitarre hatte, begann ich damit, Songs zu schreiben. Ich versuchte es zumindest. Irgendwie schien mir das der nächste natürliche Schritt zu sein – ein Instrument zu spielen und zu komponieren ging Hand in Hand. Jedes Mal, wenn ich Songs hörte, die mir gefielen, versuchte ich sie nachzuahmen. So war einer meiner ersten Versuche etwa eine Hommage an „The Kids Are Alright“ von The Who. Ich studierte auch die Song-Strukturen der Komponisten aus dem Brill Building wie etwa Barry Mann und Cynthia Weil, Gerry Coffin und Carole King sowie Jeff Barry und Ellie Greenwich. Das waren Songs mit Strophe, Refrain, Bridges und großartigen Hooks. Songs, die so eingängig waren, dass man sie bereits auswendig kannte, wenn der Refrain zum zweiten Mal einsetzte. Es ging um Melodien und darum, eine Geschichte zu erzählen.

Harold Schiffs Kellerband hatte sich aufgelöst, aber Matt Rael und ich jammten regelmäßig, seitdem ich meine Gitarre hatte. Manchmal schloss sich uns auch noch ein Junge namens Neal Teeman an den Drums an. Wir nannten uns Uncle Joe und nahmen fortlaufend neue Songs in unser Repertoire auf. Matt hatte allerdings seine eigenen Probleme zu bewältigen, da ihn seine Eltern mittlerweile in eine Privatschule in Manhattan schickten.

Meine Haare waren nun richtig lang, aber auch sehr lockig. Damals hasste ich die Locken, da glatte Haare angesagt waren. Deshalb kaufte ich mir im nahe gelegenen Schwarzen-Wohngebiet ein Haarglättungsmittel namens Perma-Strate. Es roch nach Ammoniak und anderen Chemikalien und verätzte einem ordentlich die Kopfhaut. Man musste Perma-Strate auf die Haare auftragen, sie dann zurückkämmen, das Mittelchen einwirken lassen und die Haarpracht dann wieder nach vorne kämmen. Gelegentlich ließ ich das Zeug zu lange drauf, was zur Folge hatte, dass meine Kopfhaut blutete. Manchmal bügelte ich meine Haare auch. Alles nur, damit die Haare glatt waren. Die Mutter eines anderen Jungen, mit dem ich mich anfreundete, David Un, nannte mich „Prinz Eisenherz“ wegen meines Looks. Mein Dad hingegen hatte inzwischen angefangen, mich „Stanley Fettarsch“ zu nennen.

Ich hatte David Un in der Parsons Junior-High kennengelernt. Seine Familie war wie Matts Eltern fürsorglich und künstlerisch interessiert. Sein Dad war Maler und seine Mutter war Lehrerin. So wie ich hatte David richtig lange Haare. Manchmal, wenn ich die Schule schwänzte und nach Manhattan fuhr, begleitete er mich. Er stand auch total auf Musik. Und so begannen wir, so gut wir konnten, uns in die aufkommende Gegenkultur zu stürzen. Eines Tages schlenderten wir die Hauptstraße unseres Wohngebiets hinunter und bemerkten einen neuen Shop, der Middle Earth hieß. Es war ein Kifferladen, in dem Wasserpfeifen, Bongs aus Glas und alle möglichen anderen Drogen-Utensilien über den Ladentisch gingen. Die Leute, die dort arbeiteten, hatten auch lange Haare.

Vielleicht sind sie ja wie ich?

Ich passte nicht zu normalen Leuten, aber hier, in meiner Nachbarschaft, gab es eine Alternative. Ich begann, dort abzuhängen und mich mit den Besitzern und ein paar der Kunden zu unterhalten. Es ging nicht um Drogen, obwohl ich anfing, hin und wieder mal Pot zu rauchen. Es ging mir um Akzeptanz. Auf einen Ausgestoßenen oder auf jemanden, der sich in einer Art selbst auferlegtem Exil befand, wirkte Middle Earth behaglich. Ich nahm auch meine Akustikgitarre mit in den Laden und klimperte darauf herum, während ich dort abhing.

Ein Mädchen aus meiner Schule namens Ellen Mentin war mir gegenüber besonders geduldig und verständnisvoll. Ich sprach mit ihr sogar über einige meiner inneren Dämonen, aber dadurch, dass ich ihr meine Probleme andeutete, konnte ich meine Beklommenheit auch nicht vermindern. Ellen wollte, dass wir ein gewöhnliches Junior-High-Pärchen würden und gemeinsam ins Kino gingen oder so. Jedoch war ich nicht in der Lage, Dinge mit ihr in der Öffentlichkeit zu unternehmen. Es fühlte sich zu riskant, zu erstickend, zu einengend an.

Was ist, wenn jemand anfängt, sich über mich lustig zu machen, wenn ich gerade mit ihr zusammen bin?

Ich konnte gar nicht begreifen, warum sie mit jemandem wie mir zusammen sein wollte. Mit oder ohne lange Haare – ich war immer noch ein Freak. Ich fragte sie sogar: „Warum magst du mich? Warum willst du mit mir zusammen sein?“ Es ergab überhaupt keinen Sinn für mich.

Ellen und ich blieben Freunde. Allerdings war es mir nicht möglich, fest mit jemandem zu gehen, der so unerschütterlich fürsorglich war. Sogar gemeinsam im Bus zu fahren, barg Risiken, die ich nicht auf mich nehmen wollte.

Mein Dad beschloss ungefähr zu dieser Zeit, mir seine Version der Geschichte von den Blumen und Bienen aufzutischen. Völlig ansatzlos, während einer unserer Spaziergänge, sagte er: „Wenn du eine schwängern solltest, dann bist du ganz allein auf dich gestellt.“

Sollte das heißen, er würde mich mit 14 auf die Straße werfen?

Na toll.

Ich wusste ja kaum, wie man jemanden schwängert, aber nun wusste ich zumindest, dass es mir einen Fußtritt einbringen würde, der mich zur Tür hinausbeförderte.

Als wenn ich nicht schon längst auf mich selbst gestellt wäre.

Ich verbrachte die meiste Zeit allein, in meinem Zimmer, wo ich mich von der Außenwelt abschottete, Musik hörte, Gitarre spielte und Musikmagazine las. Meine Mom, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil die missliche Lage meiner Schwester ihre ganze Zeit in Anspruch nahm, hatte mir eine Stereoanlage besorgt.

Ich wurde zu einem Stammhörer der Radiosendung von Scott Muni, The English Power Hour, eine der ersten Shows im FM-Radio, die sich auf die neuesten Sounds aus Großbritannien konzentrierte. Im Frühling 1967 dominierte Jimi Hendrix, der nach England gezogen war, die britische Szene und die dortige Hitparade. Seine Musik fand durch solche Sendungen auch immer mehr Anklang in den USA. Als sein erstes Album herauskam, traf es mich wie eine Atombombe.

Ich liebte es, The Jimi Hendrix Experience auf den Plattenteller zu legen und mich mit dem Kopf genau zwischen beide Lautsprecher ganz flach auf den Boden zu legen. Obwohl ich auf der rechten Seite taub war, konnte ich die Schwingungen der Musik mittels Knochenleitung wahrnehmen. Ich malte mein Zimmer nun auch violett an und befestigte eine Lichterkette, die zu einer Weihnachtsbeleuchtung gehörte, an der Zimmerdecke. Ich spielte auf meiner Gitarre und beobachte mich im Spiegel dabei, wie ich im Licht der Lämpchen Pete Townshend von The Who und seine Windmühlen-Schläge imitierte.

Jedoch kam der womöglich größte Einfluss, den Hendrix auf mich ausübte, von seiner Frisur. Seine Haare standen ihm zu Berge, und auch Eric Clapton und Jimmy Page machten es ihm bald nach. Ehe man sich’s versah, war das der angesagte Look, was bedeutete, dass Perma-Strate von nun an der Vergangenheit angehörte. Als ich nun meine explodierende Haarpracht der Welt präsentieren wollte, schlug meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammen: „Du wirst doch wohl nicht so vor die Tür gehen, oder?“

„Doch, sieht ganz so aus. Bis später.“

Es war an der Zeit, ganz unverblümt den Freak raushängen zu lassen.

Als das Ende der Junior-High näher rückte, bewarb ich mich bei der Highschool of Music & Art, einer privaten Schule, die einen alternativen Lehrplan verfolgte und sich an der Ecke West 135th Street und Convent Avenue in Manhattan befand. Ich war einer der besten Zeichner in meiner Junior-High. Zeichnen lag mir einfach im Blut. Doch ebenso wichtig war es mir, durch diese spezialisierte Schule in ein angenehmeres Milieu zu wechseln. Zuerst war ich noch wegen etwas angestarrt worden, für das ich nichts konnte – mein Ohr – und im Anschluss für etwas, das ich mir selbst zurechtgelegt hatte – meine Klamotten und meine Haare. Die meisten Schulen hatten damals noch Bekleidungsvorschriften, aber an der Music & Art war es egal, was man trug, solange man überhaupt zum Unterricht erschien.

So, wie ich es sah, würde ich nicht länger der Freak der Schule sein, sondern in eine Schule voller Freaks wechseln.


Mit 15 im Central Park … glückselig dank kleiner Hilfsmittel. maury englander


Obwohl das Zeichnen meine Eintrittskarte für die Musik- und Kunstschule war, dachte ich nicht ernsthaft an eine Karriere im Bereich der bildenden Künste. Es sollte sich herausstellen, dass das auch kein Fehler war, denn es war ernüchternd, im Herbst 1967 in der Schule aufzukreuzen und dort auf viele Leute zu treffen, die nicht nur ebenso gut waren wie ich, sondern ganz offensichtlich sogar deutlich besser.

Ich hatte mich vor allem deshalb mit Kunst beschäftigt, weil es noch keine Schule für angehende Rockstars gab – Kunst war also mein Plan B. Aber nun nicht mehr. Ich wusste mittlerweile, dass es die Musik oder gar nichts sein würde. Und doch blieben meine musikalischen Ambitionen jeden Tag, wenn ich mich auf den Weg in die Schule machte, zurück in meinem violetten Schlafzimmer. Auch wenn ich nie einem meiner Mitschüler etwas über meine eigentlichen Bestrebungen verriet oder versuchte, in den musikalischen Zweig zu wechseln, war mir bewusst, dass Schüler, die die Music & Arts besuchten, zu enormem musikalischen Einfluss gelangen konnten. Und das bezog sich nicht nur auf den Broadway und die Orchestermusik. Eine Band namens Left Banke, die einen großen Hit mit „Walk Away Renee“ hatten, waren frische Absolventen. Ebenso die brillante Singer-Songwriterin Laura Nyro. Janis Ian, die gerade einen Hit mit „Society’s Child“ gehabt hatte, war immer noch Schülerin, als ich auftauchte.

Eines Tages kam Matt Raels älterer Bruder Jon vorbei, um mich zu besuchen. Er hatte bereits in einigen Bands gespielt und wir blickten alle zu ihm auf. Seine erste Band war von der Surf-Musik der Ventures beeinflusst gewesen, doch mittlerweile war er Bandleader in einer Gruppe namens Post War Baby Boom, die sich mehr nach der Art von Folk, Blues und Jug anhörte, wie sie aus San Francisco kam. Sie hatten eine Sängerin, die manchmal die erste Stimme übernahm, ein bisschen wie bei Grace Slicks erster Band The Great Society. Außerdem gaben Post War Baby Boom sogar Konzerte.

Absolut aus dem Nichts heraus fragte mich Jon, ob ich mich der Band anschließen wollte. Sie suchten einen Rhythmusgitarristen. Mein Verstand begann zu rasen: Warum hatten sie nicht Matt gefragt, der zu diesem Zeitpunkt ein besserer Gitarrist als ich war? Etwa, weil ich bereits in der Highschool war, während Matt noch ein Jahr in der Junior-High zu absolvieren hatte? Würde Matt am Ende angepisst sein?

Wahnsinn, eine echte Band! Das ist riesig!

Ich zögerte keine weitere Sekunde und sagte zu. Ich erinnere mich, dass wir im selben Keller probten, in dem Matt und ich bereits miteinander gejammt hatten. Wir arbeiteten sogleich an einer beschwingten Version von Gershwins „Summertime“. Ich arrangierte auch eine Version von „Born in Chicago“ von der Paul Butterfield Blues Band und sang dabei sogar die Leadstimme.

Alle anderen in der Band waren zumindest zwei Jahre älter als ich, was in diesem Alter eine Menge ist. Was mir damals gar nicht in den Sinn kam, war, dass sie alle am Ende des Schuljahres ihren Highschool-Abschluss machen würden. Wir hatten ein paar Auftritte mit „unserer“ neuen Besetzung. Dann schlug ich vor, dass wir uns um einen Plattenvertrag kümmern und ein paar Bandfotos schießen sollten. Ich wusste auch, an wen ich mich wegen der Fotos wenden musste. Im Sommer 1967 hatte ich zwei unglückliche Wochen in einem Ferienlager in den Catskills Mountains verbracht. Zumindest hätte es ein Ferienlager sein sollen, aber es stellte sich als Verarsche heraus. Ein Typ hatte ein paar Eltern davon überzeugt, ihm Geld zu zahlen, damit sie ihre Kinder zu ihm schicken konnten, wo sie zelteten und ihm dabei halfen, eine alte Scheune niederzureißen. Er nannte die Sache ein „Work-Camp“. Es sollte Kindern aus der Stadt die Möglichkeit geben, einmal ehrlicher Landarbeit nachzugehen. Letztlich war es sogar ganz witzig und ich hatte mich mit einem der Betreuer, die ebenso wie die Kinder übertölpelt worden waren, angefreundet. Sein Name war Maury Englander und er arbeitete mittlerweile bei einem berühmten Fotografen in Manhattan.

Maury hatte Zugang zum Studio des Fotografen, wann immer es gerade nicht benutzt wurde. Das war einer der Vorteile seines Jobs. Maury war selbst dabei, Fotograf zu werden, und sollte tatsächlich weniger als ein Jahr später für Magazine wie Newsweek arbeiten. Also rief ich ihn an und wir arrangierten einen Termin an einem Wochenende, damit Maury ein paar Promo-Fotos von uns schießen konnte. Er war auch politisch ziemlich vernetzt, was uns Anfang 1968 ein paar Gigs bei Partys von Anti-Kriegs-Organisationen einbrachte, wo er uns auch fotografieren sollte. Es war ja die Zeit, als die Proteste gegen den Vietnamkrieg gerade Fahrt aufnahmen.

An Auftritte in Clubs kamen wir nur schwer ran, da man dort eigentlich fast ausschließlich Coverbands engagierte, die Hits aus den Top-40 spielten. Wir hingegen spielten hauptsächlich unser eigenes Material. Die paar Covers, die wir im Programm hatten, waren nicht wirklich Songs aus den Charts. Ich verschaffte uns ein Vorspielen in einem Schuppen namens Night Owl, da ich gelesen hatte, dass The Lovin’ Spoonful dort aufgetreten waren – und ihr Gute-Laune-Sound war gar nicht einmal so weit von dem entfernt, was auch Post War Baby Boom zu spielen versuchten. Allerdings schlich sich der Typ, der dort das Sagen hatte, hinaus, während wir noch vorspielten, und so bekamen wir den Gig nicht.

Obwohl wir nur langsam vom Fleck kamen, wollte ich den Erfolg und arbeitete unermüdlich an diesem Projekt. Schließlich gelang es mir, jemandem, der bei CBS Records arbeitete, ein paar unserer Fotos zuzustecken. Ich erhielt sogar einen Anruf von einem Angestellten des Labels. Er sagte: „Wenn ihr so gut spielt, wie ihr ausseht, dann müsst ihr ja hervorragend sein!“ Er bezog sich dabei auf eines der Fotos, das Maury Englander im Studio von uns geschossen hatte.

Noch bevor uns der Typ jemals persönlich getroffen oder spielen gehört hatte, ließ er uns ein Demo für CBS aufnehmen. Ich schrieb einen Song, den wir einspielen konnten, namens „Never Loving, Never Living“, aber ich ließ mir bis einen Tag vor der Session Zeit, um ihn der Band vorzuspielen, weil ich zu schüchtern war. Aber dann entschloss sich unsere Sängerin, am Abend vor unserem Studio-Termin ein Bad im Springbrunnen des Washington Square Park zu nehmen. Sie verkühlte sich und verlor ihre Stimme. Als wir im Studio aufkreuzten, um zum ersten Mal aufzunehmen, konnte sie nicht singen.

Um die Sache noch abzurunden, rief der Typ von CBS an und verlangte, dass wir die Band in The Living Abortions umbenannten. Das Demo kam nie zustande.

In der Music & Art ergab sich inzwischen die Möglichkeit, reichlich Mädchen in T-Shirts und ohne BH zu sehen, was ein weiterer Vorteil der fehlenden Kleiderordnung war. Außerdem war es eine gute Motivation, jeden Tag zur Schule zu kommen. Doch schon bald musste ich mir eingestehen, dass ich mit mir selbst und allen anderen unzufrieden war. Meine Haare und meine Klamotten ließen mich hipper erscheinen, als ich in Wirklichkeit war. In Wahrheit fühlte ich mich von den echt coolen Kids eingeschüchtert. Langsam musste ich mir eingestehen, dass sich nicht wirklich etwas änderte, wenn ich mein Ohr mit Haaren bedeckte. Letztlich ging es wie immer im Leben nicht darum, was andere Menschen von einem wahrnahmen, sondern darum, was man selbst wusste und fühlte.

Eines Tages sprach mich eines der coolen Mädchen in der Schule an. Victoria hatte Kurven, eine blonde Mähne und entwaffnend blaue Augen. Es war weithin bekannt, dass sie sowohl in als auch abseits der Schule mit der coolsten Clique abhing. Ich trug eine Lederjacke mit Fransen, was damals ziemlich hip war, aber auch ein Style, den noch nicht viele Leute – nicht einmal an der Music & Art – für sich entdeckt hatten.

„Hey, Franse!“, sagte sie zu mir.

Ich ging zu ihr rüber, um mit ihr zu quatschen, und brachte irgendwie den Mut auf, sie um ein Date zu bitten. Es war wie eine außerkörperliche Erfahrung – irgendjemand sprach, und das war ich, aber ich fühlte mich komplett losgelöst, da es ein gewaltiger Sprung ins Ungewisse für mich war. Sie sagte zu und ich entfernte mich wieder – in einem Zustand zwischen totaler Glückseligkeit und Schockstarre.

Wir besuchten schließlich ein Konzert im Fillmore East. Sie kannte haufenweise Leute im Publikum. So saßen wir dann bei ihren Freunden. Ich war sofort eingeschüchtert, weil sie so cool waren und ich bloß ein verkrampfter Junge aus Queens. Sie ließen einen Joint kreisen. Ich zog jedes Mal daran, wenn er an mir vorbeikam, und so wurde ich ziemlich stoned. Schon bald quasselte ich nonstop, bis mich Victoria schließlich fragte: „Was zum Geier faselst du da?“

Das ließ mich für den Rest des Konzerts verstummen.

Nach der Show gingen wir zurück ins Apartment ihrer Eltern. Ich war immer noch ziemlich daneben und auch recht verunsichert, da Victoria eine Delle in meiner glänzenden Rüstung ausgemacht und meine Coolness in Frage gestellt hatte. Ich unterhielt mich dann mit ihrem Vater und hörte auch nicht zu plappern auf, als Victoria sich schon davongeschlichen und in ihr Schlafzimmer begeben hatte. Ich wand mich schließlich aus der Wohnung und fühlte mich wie ein kompletter Vollesel.

Von da an kicherte sie jedes Mal, wenn wir einander über den Weg liefen. Ich denke nicht, dass sie fies sein wollte, aber andererseits lachte sie auch nicht mit mir.

Ein anderes Girl, mit dem ich kurz ging, lebte auf Staten Island. Sie war zur einen Hälfte Italienerin und zur anderen Hälfte Norwegerin und lebte in einem italoamerikanischen Wohnumfeld. Sie war voll auf Speed. Da ich eher ein stämmiger Junge war und sie selten Appetit hatte, bekam ich oft ihre Pausenbrote, die ihre Mutter liebevoll zubereitet hatte. Das erste Mal, als ich ihre Mom traf, schien sie mich zu mögen. Das nächste Mal dann, als ich vorbeikam, um sie abzuholen, durfte ich nicht mehr ins Haus.

„Ich darf nicht reinkommen?“, fragte ich das Mädchen.

„Nein. Meine Mom dachte, du wärst Italiener. Aber jetzt weiß sie, dass du Jude bist.“

Das war meine kleine Einführung in die wunderbare Welt des Antisemitismus.

Nach einer Weile ließ mich meine Unsicherheit, gepaart mit meiner Unfähigkeit, dem Unterricht akustisch zu folgen, in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Ich fühlte mich verloren, war frustriert und isolierte mich von den anderen. Schließlich begann ich, so oft wie nur möglich, die Schule zu schwänzen. Ich wusste, wie viele Fehlstunden ich ansammeln durfte und wie oft ich zu spät zum Unterricht erscheinen konnte – und ging diesbezüglich tatsächlich an die Grenzen des Machbaren. Das waren jedenfalls die schulischen Statistiken, die ich am meisten im Auge behielt.

Ich wurde zu einem Geist, denn ich war kaum in der Schule – und wenn ich einmal dort war, war ich praktisch unsichtbar. Ich saß weit hinten in der Klasse und brachte kaum einmal den Mund auf, um mit jemandem zu sprechen. Wieder einmal hatte ich mich in ein selbst auferlegtes soziales Exil begeben, das aus meiner Zurückgezogenheit und ängstlichen Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen resultierte. Schon wieder ließ ich mich hängen. Mein Leben schien prekär und desolat zu sein. Ich wachte auch wieder schreiend aus den mir so vertrauten Albträumen auf und war mir sicher, sterben zu müssen.

Alleine auf einem treibenden Floß, weit von jeder Küste, umgeben von Finsternis …


Ein Auftritt von „The Baby Boom“ im Tompkins Square Park im East Village. Ich bin der 15-jährige Junge links, Jon Rael der Typ mit der Brille. maury englander


Auf Platz 552 von 587 Schülern. Wenn man sich schon nicht unter den Besten platzieren kann, dann kann man sich immer noch als Minderleister einen Namen machen. Ein Wunder, dass sie mir überhaupt einen Abschluss zuerkannten.


Eines Abends, als meine Mom gerade zum ersten Mal wieder nach Deutschland gereist war, kam mein Dad spät nach Hause. Er stank nach Alkohol und begann auf mich einzureden: „Wir tun alle mal Dinge, die wir nicht tun sollten.“

O Gott!

„Aber das ist doch okay, oder?“

Ich bin dein Sohn. Suchst du bei mir nach Vergebung? Bei mir? Du willst deine Schuld für etwas, das du gerade getan hast, bei mir abladen?

Ich wusste damals bereits, dass ich mich nicht an meine Eltern wenden konnte, wenn ich Hilfe oder Aufmunterung brauchte. Jedoch hatte ich nicht erwartet, dass einer von ihnen seinen eigenen Seelenmüll bei mir deponieren würde.

Plötzlich erinnerte ich mich an einen Vorfall, der sich ein paar Jahre zuvor zugetragen hatte. Mein Dad hatte an jenem Abend den Telefonhörer abgehoben und war sichtlich verstört von dem, was ihm da mitgeteilt wurde. Er sprach mit leiser Stimme mit meiner Mom. Dann riefen sie die Polizei. Als die Cops auftauchten, forderten sie meinen Dad auf, ihnen genau zu erklären, was er am Telefon gehört hatte. Er erzählte ihnen, dass der Mann am anderen Ende der Leitung gedroht hätte, ihm Gewalt anzutun, wenn er nicht aufhören würde, sich mit einer bestimmten Frau zu treffen. „Er hat gesagt, dass er ihm die Eier abschneidet“, tönte meine Mom. Wir alle nahmen an, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Aber nun begann ich mich zu wundern.

Mein Zuhause fühlte sich danach noch gefährlicher als sonst schon an. Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis ich herausfand, was da tatsächlich vor sich gegangen war, aber ich fühlte, dass unser Haus zu einer potenziell tödlichen Umgebung geworden war, die langsam in den Fluten versank.

Ich ertrinke.

Es war schlimm genug, mir mich in einem Wagen, der kein Lenkrad hatte, oder auf einem treibenden Floß, fernab jeder Küste und in vollkommener Finsternis, vorzustellen, doch nun fühlte es sich an, als würde das Floß unter Wasser gezogen.

Was auch immer mit meiner Schwester los war, wurde durch meine Eltern noch verschlimmert, und alles, was bei mir abging, wurde durch ihr Zutun noch verschärft. Mein Zuhause fühlte sich genau so unbehaglich an wie die Schule oder andere Umgebungen. Ich konnte der Furcht nicht entrinnen. Ich war erst 15 Jahre alt und verlor den Verstand. Ich hatte niemanden, mit dem ich hätte sprechen können. Niemanden. Ich war völlig auf mich gestellt und war wie versteinert.

Was soll ich bloß tun?

Ich konnte spüren, dass es sehr übel enden würde, wenn alles so weiterginge.

Soll ich mich etwa umbringen? Werde ich verrückt wie meine Schwester?

Julia hatte auf ihre tief sitzenden Probleme reagiert, indem sie sich für einen Weg der Selbstzerstörung und Selbstbetäubung entschieden hatte. Ganz offensichtlich führte dieser Weg ins Verderben. Wie ich den Dingen begegnete, lag ganz bei mir. Klar, ich war auf mich selbst gestellt, aber ich hatte die Wahl. Wenn ich nichts täte, wäre das auch eine Entscheidung – und ich wusste, dass die Konsequenzen nicht erstrebenswert waren.

Ich weigere mich, ein Opfer zu sein.

Ich wollte mich zusammenreißen. Ich wollte die Ärmel hochkrempeln und meinen Kram ordnen sowie die Welt zu meinen Gunsten verändern.

Aber wie?

Ich war gerade mit meinem Fahrrad unterwegs, als mich die Erkenntnis durchfuhr. Gerade, als ich mich in eine Kurve nahe unseres Wohnhauses legte, traf es mich wie ein Vorschlaghammer.

Ich muss mir Hilfe suchen.

Anders, so wurde mir nun klar, würde ich es nicht schaffen. Ansonsten würde ich falsche Entscheidungen treffen und nur noch weiter die Abwärtsspirale hinabtaumeln.

Tu etwas.

Dann hörte ich eines Abends einen Freund meiner Schwester über eine ambulante psychiatrische Abteilung im Mount Sinai Hospital in Manhattan sprechen. Hier hatte ich nun etwas Handfestes. Einen Ort, an den ich mich wenden konnte, mitsamt Namen und Adresse. Ich schlug das Krankenhaus im Telefonbuch nach und wartete, bis niemand mehr zu Hause war, um dann die psychiatrische Abteilung anzurufen und einen Termin für ein Gespräch zu vereinbaren.

Am Tag des Termins fuhr ich mit zwei U-Bahn-Linien und einem Bus, um rechtzeitig dort zu sein. Ich ging ganz allein hinein und sagte: „Ich brauche Hilfe.“ Sie ließen mich ein Formular unterzeichnen, für das ich zum Glück keine elterliche Genehmigung benötigte. Es kostete mich auch nur drei Dollar.

Jemand in einem weißen Kittel begleitete mich zum Arzt. Ich wusste rein gar nichts über Therapie, hoffte bloß, dass mir jemand erklären würde, wie man lebt. Ich war überrascht, als mir während meines ersten Gesprächs ausschließlich Fragen – keine Antworten – serviert wurden. Alles lief verkehrt herum ab. Ich wollte, dass der Doktor mir sagte, was zu tun wäre, aber stattdessen leitete er meine Fragen praktisch sofort an mich zurück. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich begriff, dass das die Grundlage einer Therapie ist. Mich würde niemand bei der Hand nehmen und durch mein Leben führen.

Dieser Arzt, der mir völlig fremd war, zog bloß eine Braue hoch und blickte in eine andere Richtung, während ich ihm berichtete.

Hält er mich etwa für irre?

Nach dieser ersten Sitzung war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Trotzdem beschloss ich, es noch einmal zu probieren. Koste es, was es wolle.

Kremple deine Ärmel hoch.

Das nächste Mal, als ich hinging, wollte ich allerdings mit einem anderen Arzt sprechen. Glücklicherweise kam man mir da entgegen. Der zweite Arzt hieß Jesse Hilsen. Ich fühlte mich nicht unsicher in seiner Nähe. Er sah mich nicht an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Er machte mir schnell klar, dass ich nicht weniger „normal“ war als die anderen, auch wenn es mir so vorkäme. Viele andere Menschen hätten auch Probleme. Ich war nicht allein. Ich war nicht der Einzige unter Millionen, dem es so vorkam, als würde seine Welt einstürzen. Dem Himmel sei Dank. Das war mal ein Fortschritt.

Ich sehnte mich immer noch nach familiärer Unterstützung und Zuspruch und erzählte meinem Dad, dass ich zu einem Psychiater ging. Er stand der Sache ablehnend gegenüber. „Du willst nur anders sein“, murrte er mich an.

Dann wurde er sauer. „Du denkst wohl, du bist der Einzige mit Problemen, was?“, schrie er plötzlich. Nein, ich wusste mittlerweile, dass ich das nicht war. Meine Schwester hatte Probleme. Und ich vermutete auch, dass mein Dad in der Tinte saß, obwohl ich keine Ahnung hatte, worüber er an jenem ominösen Abend, als er sich Absolution bei mir holen wollte, gesprochen hatte. Aber ich würde mich meinen Problemen nicht ergeben. Ich würde mir Mühe geben, sie zu bewältigen. Ich würde kämpfen.

Ich traf mich nun jeden Mittwoch nach der Schule mit Dr. Hilsen. Vorher holte ich mir noch ein Truthahn-Sandwich mit russischem Dressing aus dem Feinkostladen und setzte mich damit auf eine Bank im Central Park. Nach jeder Sitzung bei Dr. Hilsen freute ich mich schon auf die nächste Woche. Die Unterhaltungen mit ihm waren wie ein Rettungsfloß, an das ich mich klammern konnte. Endlich unternahm ich etwas – nahm mein Schicksal in die eigenen Hände. Ich war bereit, mich der Herausforderung zu stellen.


Ich mit 16, flankiert von Mom und Dad in unserer Wohnung in der 75th Road.


Anfang 1968, kurz nach meinem 16. Geburtstag, wurde in der English Power Hour mit Scott Muni ein neuer Hit aus England namens „Fire Brigade“ von The Move gespielt. Er handelte von einem Girl, das so heiß war, dass man die Feuerwehr rufen musste. Nun, ich war ein eingefleischter Anglophiler und The Move waren eine meiner Lieblingsgruppen. Zu dieser Zeit orientierte sich mein Songwriting sehr eng an dem, was ich im Radio hörte. Als ich nun „Fire Brigade“ hörte, verliebte ich mich in die Konzeption des Songs. Also setzte ich mich hin und begann einen Song um dieselbe Idee herum zu entwickeln. Ich hatte das Stück noch nicht oft genug gehört, um ihm auch musikalisch zu Leibe zu rücken, aber ich hatte mich in ein Thema verrannt, das mich wirklich ansprach – und so entstand dann der folgende Refrain:

Get the firehouse

’Cause she sets my soul afire

Ich nannte den Song „Firehouse“. Das war ein echter Fortschritt für mich. Mit jedem neuen Song wurde meine Zielstrebigkeit stärker. Ich hatte zwar vielleicht kein Sozialleben, aber ich hatte Musik und einen Traum.

So viele Menschen sind unglücklich. Sie brauchen jemanden, der sie unterhält. Vielleicht könnte ich das ja machen?

Eines Tages in der Highschool nahm mich ein Lehrer beiseite. „Warum kommst du nicht in den Unterricht? Warum passt du dich nicht an?“, fragte er mich.

„Weil ich ein Rockstar werde“, verkündete ich kühn.

Der Kerl sah mich an, und sein Gesichtsausdruck gab mir einen klaren Einblick in seine Gedankenwelt: Du armer Narr. Dann rang er sich zu einem schwachen Lächeln durch und sagte: „Viele Leute wollen Rockstars werden.“

„Yeah“, antwortete ich, „aber ich werde einer sein.“

Abgesehen von meiner Band, den Post War Baby Boom, hatte ich nicht viel in meinem Leben – nur meine Gitarre, meine Stereoanlage und – in zunehmendem Ausmaß – Konzerte. Ich beneidete die Kids, die in ihren Freundeskreisen verkehrten und sich am Wochenende trafen, denn ich hatte nichts dergleichen. Ich kriegte auch nicht heraus, wie man solche Dinge bewerkstelligte. Also ging ich zumeist allein auf die Konzerte. Es war etwas, das mich erfüllte.

1968 sah ich Jimi Hendrix live in einer kleinen Location am Hunter College auf der Upper East Side in Manhattan. Ich sah The Who, die Yardbirds und Traffic. Außerdem noch Otis Redding und Solomon Burke. Dann noch einmal Hendrix. Buchstäblich jedes Wochenende traten viele Bands nacheinander im Fillmore East oder dem Village Theater auf, was es mir ermöglichte, drei Bands für drei oder vier Dollar zu bestaunen. Ich badete förmlich in Musik an diesen Wochenenden.

Die britischen Bands umgab eine verruchte Eleganz: Sie hatten tolle Frisuren, trugen Samt und Seide und waren nicht nur in Bezug auf ihre musikalische Ausrichtung, sondern auch in puncto Auftreten und Präsentation sehr stimmig. Sie bestanden aus individuellen Persönlichkeiten, aber vertraten auch eine gemeinsame Identität als Band. Die Mitglieder der einzelnen Gruppen waren auf eine Art stylish, in der sie sich gegenseitig gut ergänzten. Sie verkörperten außerdem eine Sexualität, die den amerikanischen Gruppen dieser Zeit fehlte.

Ich sah mir auch viele amerikanische Bands an – Jefferson Airplane, Grateful Dead, Moby Grape und Quicksilver Messenger Service, um nur ein paar zu nennen. Die meisten Leute in diesen Bands sahen aus wie Penner, die gerade erst aus dem Bett gerollt waren – alleine aus dem Bett gerollt waren. Ein fetter Typ mit Zöpfen war nichts, was mich positiv angesprochen hätte. Wenn ich eine Band mit einem bärtigen Kerl nur sah, dachte ich mir: Was hat Sigmund Freud in einer Rockband verloren? Ich glaube, dass die ursprüngliche Idee für die Lightshows, die diese Bands auf der Bühne einsetzten, daher stammte, dass man die Aufmerksamkeit auf die wabernden und pulsierenden Farben auf der Leinwand hinter der Bühne und weg von den ungepflegten Chaoten lenken wollte, die aussahen, als hätten sie gerade noch auf der Straße ein paar Kröten geschnorrt. Die meisten amerikanischen Bands sahen aus wie die wöchentliche Zusammenkunft eines Kommunen-Rats. Es sprach mich einfach nicht an. Wenn man sich ihrer Optik in Kombination mit ihrem Sound aussetzte, war es alles andere als eine Überraschung, dass Leute auf ihren Konzerten LSD einwarfen.

Ich wusste jedoch, dass LSD nichts für mich war. Auf Konzerten sah ich Leute, die dieses Zeugs genommen hatten, durchdrehen. Ich bekam auch mit, dass ein Junge aus meiner Nachbarschaft deswegen eingeliefert werden musste. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ein Vorzeigeanwärter für einen Flug über das Kuckucksnest war, und da wollte ich die Kontrolle lieber nicht aus der Hand geben. Ich hatte bereits genügend Probleme und hatte außerdem gesehen, was die Drogen bei meiner Schwester angerichtet hatten. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ein derartiger Kontrollverlust mich auf einen sehr, sehr schlechten Weg bringen würde.

Die britischen Bands wurden zu einer Art Schablone für die Richtung, in die ich mich hinbewegen wollte. Und diese Blaupause wurde im folgenden Jahr immer umfangreicher, als ich Bands wie Humble Pie, Slade und Grand Funk Railroad sah, die eine nahezu kirchliche Stimmung verbreiteten und eine Art religiöse Verbindung zu ihrem Publikum aufbauten. Ein Frontmann wie etwa Steve Marriott von Humble Pie war der Anführer einer Kongregation, die die Frohe Botschaft des Rock ’n’ Roll verkündete.

Ja, ich glaube!

Obwohl ich die Musik durch meine Venen pulsieren fühlen konnte, musste ich natürlich auch an Geld kommen, um mir Konzertkarten, Gitarrensaiten und importierte englische Musikmagazine wie den Melody Maker, New Musical Express und Sounds, die an bestimmten Zeitungsständen im Greenwich Village erhältlich waren, leisten zu können. Aber Jobs waren rar gesät. Deshalb schlug ich sofort zu, als mir ein Cousin meiner Mutter eine Stelle in seiner Sinclair-Tankstelle, nicht weit vom Palisades Parkway, anbot.

Gleich darauf kaufte ich ihm einen klapprigen Rambler ab, damit ich nach der Schule zu meinem Job fahren konnte. Ich musste dann von Harlem, wo sich die Music & Art befand, über die George-Washington-Bridge bis nach Orangeburg, New York, fahren, wo die Tankstelle lag, und meine Schicht runterreißen, um im Anschluss nach Hause nach Queens zu fahren.

Es war eine harte Arbeit, zum einen wegen der Distanzen, die ich hinter mich bringen musste, zum anderen, weil ich absolut keine Ahnung von Autos hatte. Ich war der ungeschickteste Mensch der Welt. An einem meiner ersten Arbeitstage hielt eine Karre bei uns und der Fahrer befahl mir, den Ölstand zu checken. Also öffnete ich die Motorhaube und zog den Messstab heraus – das konnte ich immerhin. Ich wusste außerdem sogar, wie man davon ablas.

„Sie sind schon etwas knapp.“

„Okay“, sagte er, „dann füll mir etwas nach.“

„Klar“, antwortete ich und machte mich an die Arbeit.

Nach ein paar Minuten erkundigte sich der Fahrer bei mir: „Hey, Junge, warum dauert das denn so lange?“ Nun, ich hatte einen Trichter in das Loch für den Messstab gesteckt und versuchte, Öl in diese Öffnung zu kippen. Ich wusste nicht, dass es dafür einen Einfüllstutzen gab.

Trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten machte ich mich eine Weile lang ganz gut in meinem Job. Es gab sogar eine attraktive Mitarbeiterin, deren Overall sich ebenso schnell ausziehen ließ wie meiner.

Schließlich – es war an einem Wochenende – veröffentlichte eine lokale Zeitung, die so um die fünf Cent das Stück kostete, in ihrer Ausgabe eine Werbung für Sinclair mitsamt einem Benzingutschein im Wert von einem Dollar. Leser konnten ihn beim Tanken bei uns einlösen und so einen Dollar sparen. Dann wiederum sollten die einzelnen Sinclair-Filialen die Gutscheine einschicken, um das Geld von der Zentrale zurückzubekommen. Der Cousin meiner Mutter wies mich an, so viele Exemplare dieser Zeitung wie nur möglich zu kaufen. Ich sollte sie dann in einem geliehenen Wagen zur Tankstelle transportieren und die Gutscheine ausschneiden. Er plante, sie bei der Firmenleitung gegen Geld einzutauschen, ohne auch nur einen Tropfen Benzin in Kundenautos gepumpt zu haben. Das Geld für alle Zeitungen, für die ich jeweils fünf Cent hatte abdrücken müssen, wollte er mir erstatten sowie mir, als Ausgleich für meine Bemühungen, einen Anteil von der Kohle zukommen lassen, die er sich von der Firma Sinclair erwartete. Ich brachte ihm viele Wagenladungen mit Zeitungen und er verdiente Tausende Dollars, aber gab mir nie mein Geld zurück, ganz zu schweigen von einem Anteil an seiner Beute. Von einem Familienmitglied über den Tisch gezogen! Ich kündigte.

Danach besorgte ich mir einen Job in einem noblen Feinkostladen namens Charles and Company. Er war auf kalte Platten, Käse und in Dosen abgepackte Köstlichkeiten spezialisiert und betrieb Filialen in ganz New York. Ich musste dort eine Perücke tragen, um meine Haarpracht zu verstecken. Sie war total eng und ich bekam Kopfweh von dem Ding. Aber ich arbeitete halt hinter dem Ladentisch, bereitete Sandwiches zu und füllte Salate und Aufstriche in Behälter; daher war es notwendig, sie zu tragen. Eines Tages besuchte uns der für den Bezirk zuständige Manager. Nachdem er seinen Verpflichtungen nachgegangen war, kam er zu mir und sagte: „Du weißt, dass du eines Tages selbst Manager von einem unserer Läden werden könntest.“ Ich denke, er wollte mich damit anspornen, aber es hatte genau den gegenteiligen Effekt auf mich. Ich wusste, dass ich nicht hierher gehörte.

Gott, nein. Alles, nur nicht das hier.

Im Herbst 1968, zu Beginn meines dritten Jahres an der Highschool, fand ich heraus, dass Post War Baby Boom nicht die richtige Gruppe für mich war. Zumindest war das die Ansicht der anderen Bandmitglieder. Jon Rael und der Rest waren nun am College. Die meisten von ihnen gingen aufs Bard oder auf die SUNY in New Paltz – außerhalb der Stadt, aber nicht aus der Welt. Ich hatte mir gedacht, dass wir weiterhin zusammen spielen könnten, zum Beispiel, wenn sie Ferien hatten. Ich hätte sie auch an den Wochenenden besuchen können, aber sie hatten andere Pläne. Sie informierten mich auch nicht darüber, dass ich draußen war. Ich kam dahinter, als sie an einem Wochenende nach Hause kamen und einen neuen Gitarristen im Schlepptau hatten, der zu allem Überdruss auch noch besser war als ich.

Sie hatten Auftritte am College, und dieser Kerl war nun Teil der Truppe. Das schmerzte vor allem deswegen, weil sie mir nichts gesagt hatten. Ich ließ die Situation erst einmal sacken, um darüber nachzudenken, was zu tun wäre.

Ich muss ein besserer Gitarrist werden.

Aber nicht weniger wichtig:

Ich werde weiterhin Songs schreiben.

Nein, es ging noch etwas darüber hinaus:

Mach das Beste aus dem, was du hast. Es gibt keinen Grund, erst auf eine Band zu warten.

Ich hatte keine Band – egal! Ich hatte Songs und schrieb ständig neue. Zu diesem Zeitpunkt besaß ich bereits ein Aufnahmegerät, mit dem ich meine Songs mitschnitt. Bei mir kam die Musik, die Melodie, immer zuerst. Der Text wurde später nachgereicht.

Vielleicht kann ich ja andere Leute dazu bringen, meine Songs aufzunehmen?

Einige der Magazine, die ich mir kaufte – Hit Parader und Song Hits etwa – druckten Songtexte ab. Am unteren Ende der Seite, auf der ein Songtext zu lesen war, stand dann immer die Information über den Verfasser und den Musikverlag.

Als Songwriter, der keine Band hat, muss ich mich nach anderen Möglichkeiten umsehen.

Ich war ein solcher Einzelgänger, dass es tatsächlich Sinn hatte, es auf eigene Faust zu versuchen. Und so verbrachte ich einen guten Teil des Schuljahrs damit, Musikverlage anzurufen, um sie davon zu überzeugen, dass ich ihnen mein Material mal vorspielen sollte. Am besten erinnere ich mich an ein Vorspielen im Brill Building, das schon damals legendär war. Ich ging mit meiner Gitarre rein und traf mich mit jemandem, der eingewilligt hatte, sich meine Sachen anzuhören.

Es war witzig, dass ich mich zwar immer scheute, meiner Band die Songs zu präsentieren, die ich geschrieben hatte, es aber leicht fand, sie einfach Leuten vorzuspielen, die ich nicht kannte. Aber obwohl manche von ihnen sehr nette und ermutigende Worte für mich fanden, nahm mich niemand unter Vertrag.

Ich musste noch viel über mein Handwerk lernen.


Ich hing weiterhin gerne und oft im Middle Earth, diesem Kifferladen, ab. Oft besuchte ich auch das Pärchen, dem der Shop gehörte, in ihrem nahegelegenen Apartment. Wir relaxten und ich spielte auf meiner Akustikgitarre. Im selben Gebäude wohnte ein Freund von ihnen, der auch Gitarre spielte, und manchmal ging ich dann zu ihm rüber, um zu jammen. Ich rief nie an, bevor ich vorbeischaute – ich kreuzte einfach auf.

Gelegentlich rauchte ich Pot, und es war irgendwie lustig, auf dem Boden rumzusitzen und über abgefahrenes Zeug nachzusinnen, etwa über Leben auf anderen Planeten oder über Baumrinde. Allerdings war es auch nicht besonders produktiv, und ich realisierte, dass ich meine Zeit nicht mit Pot und Sandwiches vergeuden durfte, wenn ich Songs schreiben wollte. Ich hatte immer noch ein Ziel vor Augen.

Sozialer Umgang mit Leuten, die älter als ich waren, wurde zu einem willkommenen Zeitvertreib für mich. Es fiel mir leichter, als mit Kids in meine Alter abzuhängen. Außerdem musste ich diese Erwachsenen ja nicht jeden Tag sehen, wenn ich nicht wollte. Ungefähr zur selben Zeit freundete ich mich mit einer Frau an, die einen Block entfernt wohnte und Sandy hieß. Sie war mit einem Typen namens Steven verheiratet, war Mitte zwanzig und hatte drei Kinder. Ich fing an, mit ihr und ihrem Ehemann abzuhängen, so wie ich das auch mit dem Paar aus dem Middle Earth tat. Ich verbrachte viel Zeit mit ihnen und es war toll, nicht ständig zu Hause sein zu müssen.

Eines Tages, als ich mit Sandy abhing, sagte sie: „Ich muss dir etwas erzählen.“

Okay …

„Steven hat mich verlassen.“

„Das ist ja schrecklich!“, antwortete ich und nahm sie in den Arm. Eine Weile hielten wir uns auf dem Sofa aneinander fest, dann … führte sie mich in ihr Schlafzimmer.

Uuaah, was geht denn hier ab? Das ist der totale Wahnsinn!

So was wie sexuelle Technik war bei mir de facto noch nicht vorhanden, aber ich bin mir sicher, dass mein Überschwang Sandy ansprach: Ich war ein menschlicher Presslufthammer. In diesem Alter brachte es mich ja schon in Stimmung, wenn ich einfach nur meine Hose auszog. Und wenn auch noch jemand dabei war, dann erst recht.

Bis dahin war es für mich fast unmöglich gewesen, jemanden zu finden, mit dem ich Sex haben konnte. Aber diese Erfahrung änderte alles. Zu meinem Glück kam Steven nicht mehr zurück, was bedeutete, dass ich immer öfter bei Sandy zu Besuch war. Sie wohnte ja schließlich auch ganz in der Nähe. Der sexuelle Rummelplatz, der mir Hochgefühle bescherte, die ich bis dahin nicht gekannt hatte, lag nur ein paar Schritte von meiner Haustür entfernt.

Diese Dates konnte sich ziemlich lange hinziehen, da wir warten mussten, bis ihre Kinder eingeschlafen waren. Eines Nachts rief ich von Sandys Wohnung aus meine Mom an und teilte ihr mit, dass es wieder mal spät werden würde.

„Ernsthaft, Stan, was geht da vor sich?“, fragte sie mich.

„Mom, sie hat viele Probleme.“ Meine Mom wusste, dass sich Steven und Sandy getrennt hatten, und war misstrauisch, was unsere Beziehung zueinander betraf. Aber ich denke, dass sie die Wahrheit gar nicht wissen wollte.

Sobald mir klar geworden war, dass ich als jüngerer Mann eine gewisse Anziehungskraft auf Frauen ausübte, die älter als ich waren, veränderte sich meine Situation radikal. Das Einzige, was mir mein Vater jemals über Sex mitgeteilt hatte, war, dass er mich im Stich lassen würde, wenn jemand ein Kind von mir kriegte. Mir wurde vermittelt, dass Sex schäbig und schmutzig war. Aber, Junge, hatte ich Bock darauf! Und als ich erst einmal Sex gehabt hatte, fuhr ich darauf ab. Nun bekam ich ihn, ohne dass ich mich irgendeiner ausgeprägteren Intimität stellen musste, die vielleicht Voraussetzung gewesen wäre, um ein Mädchen meines Alters davon zu überzeugen, mit mir in die Kiste zu hüpfen. Ich hätte das nicht gekonnt. Auf keinen Fall. Intimität empfand ich immer noch als Belästigung – als ob jemand in meine seelische Festung, die ich um mich herum errichtet hatte, einzudringen versuchte. Ich wollte niemanden an mich heranlassen. Aber nun, mit älteren Frauen, konnte ich den Akt an sich genießen und im Anschluss sofort das Weite suchen.

Tu es und dann raus hier.

Und ihnen gefiel das nicht weniger als mir. Die Schleusen waren geöffnet.

Sehr bald schon sah mich eine andere Frau aus der Gegend mit meiner Gitarre und fragte, ob ich jemanden kennen würde, der ihrem Sohn Unterricht geben konnte. Sie war geschieden.

„Nun ja, ich könnte ihm Stunden geben“, sagte ich.

Sie verbrachte ihren 39. Geburtstag mit mir im Bett. Ich war da gerade einmal 17.

Meine Instinkte und Hormone trieben mich immer öfter in solche Situationen. Es war wie eine Droge. Eine wundervolle Droge. Ich hatte nun Zugang zu etwas Magischem gefunden, ohne dabei meine Deckung aufgeben und mich einer ernsthaften Beziehung oder echter Intimität stellen zu müssen. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass jemand Gefühle von mir erwartete.

Es gab keine Regeln. Ich hinterfragte nie den moralischen Aspekt meines Treibens. Wenn irgendjemandes Ehefrau mit mir pennen wollte, hey, warum nicht? Der Umstand, dass es da noch jemanden gab, kümmerte mich nicht die Bohne. Das war deren Problem. Wenn sich eine Frau mir zur Verfügung stellen wollte, dann reichte mir das.

Der Ehemann des Kiffershop-Pärchens schien sich in ein Mädchen, das sehr oft in den Laden kam, verguckt zu haben. Eines Abends, als das Pärchen eine Party bei sich zu Hause schmiss, fing er an, sie anzubaggern. Ich denke, dass sich das Pärchen ohnehin in Richtung einer offenen Beziehung entwickelte, doch an diesem Abend schien sich die Frau sehr über ihren Ehemann, der sich da mit einer anderen davonstahl, aufzuregen. So landete ich wieder einmal in einem Schlafzimmer mit einer Ehefrau. Ihr Schäferhund schien übrigens nicht minder an mir interessiert zu sein als sein Frauchen.

Hey, diese Leute sind alle Erwachsene.

Ich wollte gar keine Freundin. Auch keine Beziehung. Das hätte mir Angst gemacht. Aber ich konnte trotzdem meine Bedürfnisse befriedigen, ohne mich dabei emotional auf irgendjemanden einlassen zu müssen. Und Situationen, die andere womöglich abgeschreckt hätten – es bestand ja immerhin die Chance, dass jemandes gehörnter Ehemann mir die Eier hätte abschneiden wollen, so wie es meinem Dad angedroht worden war –, entsprachen meiner Idealvorstellung.

Ich vertraute mich niemandem an. Ich existierte weiterhin in meiner eigenen kleinen Welt. Jedoch trieb mich nun mein Verlangen nach Sex an. Es war egal, wo oder mit wem. Ich erinnere mich noch, dass ich mich selbst auf die Party eines Nachbarn einlud. Ich tauchte einfach auf. Eines der Schlafzimmer wurde dazu benutzt, die Mäntel der Gäste aufzubewahren. Sie lagen einfach alle auf dem Bett. Ich landete schließlich mit einer Frau in diesem Zimmer und trieb es mit ihr auf all den Mänteln. Ein paar Leute kamen rein, als wir gerade voll zur Sache gingen, und waren total schockiert. Mir war das aber egal. Ich hatte kein Gespür für unpassendes Verhalten. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch mit meiner Musik alleine gewesen, doch nun hatte ich Sex. Sex! Die Bestie in mir war erwacht.

Ein anderes Mal übernachtete eine Freundin meiner Schwester bei uns und ich versuchte, zu ihr unter die Decke zu kriechen. Sie stieß mich aber aus dem Bett. Am nächsten Tag erzählte meine Schwester unserer Mom von dieser Episode. Ich fand das zum Niederknien. Eigentlich empfand ich den Umstand, dass meine Eltern mein Benehmen so entsetzlich fanden, als eine Art Draufgabe: Es machte die ganze Sache noch besser für mich.

Auch die Musik nahm ich nun anders wahr. Als ich im August 1969 im Corona Park in Queens Led Zeppelin live vor weniger als 2000 Menschen spielen sah, war die Sexualität dieses Events nahezu greifbar. Die Show fand im New York State Pavilion statt, der für die Weltausstellung 1964 erbaut worden war – eine eigenartige, halb offene Location, deren Boden ein Mosaik in Form des Staates New York zierte. Darüber war ein buntes Dach aus Plexiglas und nicht weit entfernt befanden sich zwei an Fliegende Untertassen erinnernde Gebilde, die auf Säulen angebracht waren. Der Sound von Jimmy Page hatte denselben Effekt auf mich wie Beethoven, als ich noch ein kleiner Junge war. Er war nicht nur ein herausragender Gitarrist, nein, er war ein Visionär, der musikalische Versatzstücke komponierte und sie in klanglicher Perfektion miteinander kombinierte. Led Zeppelin nahmen sich einen Musikstil – auf Blues basierenden Rock – und machten daraus etwas Neues, ihr komplett eigenes Ding.

Robert Plant heulte wie eine Todesfee – ich wusste gar nicht, dass irgendjemand so singen konnte. Ich hatte Terry Reid und Steve Marriott gesehen, die im Prinzip das Fundament für jemanden wie Robert Plant gelegt hatten, aber Plant war noch besser, eindrucksvoller, magnetischer und vollkommener. Er kreierte einen Stil, der zuvor nicht existiert hatte. Abgesehen von all seinen Qualitäten als Sänger war er doch viel mehr als bloß ein Sänger. Robert Plant war die Verkörperung eines Rockgottes. Niemand sah so aus wie er, und er war im Begriff, einen Archetyp zu erschaffen. Ich weiß noch, dass, als ich das nächste Mal The Who sah, Roger Daltrey seine aufgebauschten Haare hatte wachsen lassen und nun eine lange, lockige Mähne trug.

Aha, jetzt macht er auch einen auf Robert Plant, dachte ich mir. Jeder wollte so singen und so aussehen wie Robert.

Alles auf dieser Bühne war aufregend. Es kam in meinem Leben einer religiösen Erfahrung am nächsten. Ich war mit David Un, den ich immer noch ab und zu traf, bei dieser Show. Nachher sagte ich zu ihm: „Lass uns nicht einmal versuchen, darüber zu sprechen. Lass uns einfach nur ruhig sein; nichts, was wir sagen würden, könnte dieser Erfahrung gerecht werden.“

Ich werde nie wieder Zeuge von so etwas Vollkommenem werden.

Musik bedeutete immer noch Glückseligkeit für mich und war die ultimative Lösung meiner tief sitzenden Unsicherheiten. Ich sehnte mich nach der Bestätigung, die ich fühlte, wenn ich vor Publikum auftrat. Obwohl wir mit Post War Baby Boom nie auch nur einen Penny eingenommen hatten, so hatten wir doch ein paar Gigs in Locations wie dem Beehive gespielt. Mir gefiel auch das Vorspielen bei den Musikverlagen. Also fing ich wieder an, mit Matt Rael, dessen Bruder mit mir zusammen bei Post War Baby Boom gewesen war, zu spielen. Nachdem wir ja schon ein paar Jahre zuvor viel miteinander gejammt hatten, drehten wir nun erneut unsere Fender-Verstärker auf, um zu experimentieren. Manchmal begleitete uns auch Neal Teeman an den Drums. Oft drehten wir alle Regler an unseren beiden Amps bis zum Anschlag auf und erzeugten so eine unüberwindbare Wand aus Lärm.

Es gelang uns, ein paar Auftritte in einer Hippie-Bude in Brooklyn namens The Bank zu ergattern. Das Gemäuer war so etwas wie das Hauptquartier einer Kommune, das sich über mehrere Stockwerke eines verlassenen alten Bankgebäudes erstreckte. Eine ganze Etage war mit Heu ausgelegt; Kinder konnten dort auf Eseln reiten. Wir spielte aber in einem anderen Stockwerk. Wir zogen eine krachige Mauer vor uns hoch, indem wir unsere Gitarren fies aufheulen ließen. Matt drehte sich während unserer Konzerte sogar meistens weg vom Publikum.

Es machte Spaß, wieder aufzutreten, doch war das nicht die Art von Band, in der ich meine Zukunft sah. Gedanken an eben diese Zukunft nagten an mir, als die Highschool sich dem Ende zuneigte. Ich driftete durch mein Abschlussjahr und grübelte über meine nächsten Schritte nach. Der Druck, den ich zu spüren begann, war nicht rein finanzieller Natur. Was mir Sorgen bereitete, war, dass andere bereits begonnen hatten, sich ein Fundament für ihre zukünftige Absicherung zu legen. Sie schmiedeten Pläne, aufs College zu gehen oder Berufe zu erlernen. Ich tat das nicht.

So sehr ich an mich glaubte – es gab es keinerlei Garantie, dass ich meinen Weg in der Musikbranche machen würde. Die Kids in meiner Nachbarschaft stiegen in die Fußstapfen ihrer Eltern und wurden Ärzte oder Anwälte. Inzwischen reichten meine Haare über meine Schultern und ich sah aus wie ein angehender Rockgott. Meine Chancen standen trotzdem nicht unbedingt gut. Ich verbrachte zahllose Nächte damit, wach zu liegen und nachzudenken. Was zum Teufel tue ich bloß? Egal, wie sicher man sich seiner selbst ist, irgendwann werden einen dunkle Augenblicke heimsuchen, in denen man zu zweifeln beginnt, und man stellt seinen Glauben an sich selbst infrage. Ich hatte einen Plan. Mehr oder weniger. Es war eigentlich mehr ein Ziel als ein Plan. Ich hatte etwas, auf das ich hinarbeitete, etwas, auf das ich zu setzen wagte. Allerdings gab es auf diesem Weg keine Etappenziele, die man zwischenzeitlich hätte abhaken können. Es war nicht so, als würde man darauf hinarbeiten, Optiker zu werden.

Was ist, wenn ich es nicht schaffen sollte?

Die Ängste suchten mich nächtens heim. Schließlich legte ich mir ein Szenario als letzten Ausweg zurecht. Ich würde bei der Telefongesellschaft anfangen. Das war ein gut bezahlter Job mit gewerkschaftlicher Anbindung und einer erstrebenswerten Vergütung. Und wenn ich eine Stelle als Telefonmonteur – ein Job, der damals gefragt war – finden würde, könnte ich in Ruhe und allein arbeiten. Da wären keine Mitarbeiter oder Vorgesetzten um mich rum. Das würde ich hinbekommen. Ich würde durch die Gegend fahren und Telefone installieren. Alleine.


Matt und ich begannen, uns während unserer Proben in die Haare zu kriegen. Ich fand, dass wir mehr herumalberten als wirklich ernsthaft kreativ bei der Sache zu sein und uns weiterzuentwickeln. Außerdem war ich der Meinung, dass er sich zum Publikum drehen sollte, wenn wir einen Gig spielten. Das Fass lief schließlich über, als Neal und ich ihn baten, seinen Amp während unserer Proben auf eine erträgliche Lautstärke runterzudrehen.

„Dreh dich leiser!“, schrien wir ihn an.

„Nein!“, schrie er zurück und spielte weiterhin so laut, wie es nur irgendwie möglich war, bis Neal und ich schließlich alles hinschmissen. Wir stiegen aus und die Gruppe war Geschichte. Matt und ich blieben aber Freunde und begannen sogar, gemeinsam als Taxifahrer zu jobben. Ich denke, dass es in vielerlei Hinsicht eine Erleichterung für ihn war, nicht mehr mit uns in einer Band zu spielen.

Natürlich wollte ich weiterhin Musik machen, und da mich die Musikverlage als Solokünstler abgelehnt hatten, machte ich mich auf die Suche nach neuen potenziellen Bandmitgliedern. Neal, der mittlerweile auf Teilzeitbasis in einem Aufnahmestudio arbeitete, erfuhr über einen seiner Freunde von einem Typen namens Steve Coronel, der Leadgitarre spielte. Also riefen wir Steve an, taten uns mit ihm zusammen und arbeiteten an ein paar Coverversionen, spielten die eine oder andere Eigenkomposition und begannen uns im näheren Umfeld nach Gigs umzusehen.

Die Band mit Matt hatte nie einen Bassisten gehabt, aber Steve wollte jetzt einen dabei haben. „Ich kenne da einen Typen“, sagte er.

Der Name des Typen war Gene Klein. Er und Steve hatten als Teenager gemeinsam in einer Band namens Long Island Sounds gespielt. Gene lebte nun irgendwo außerhalb der Stadt. Er war anscheinend ein paar Jahre älter als ich und hatte bereits das College hinter sich. Mir war egal, ob er nun in Sullivan County oder auf Staten Island wohnte. Solange eine Möglichkeit bestünde, so etwas wie eine echte Band auf die Beine zu stellen, war ich für alles zu haben.

Eines Abends fuhr ich zu Steves Wohnung in Washington Heights, was ganz in der Nähe der Gegend lag, in der ich als kleiner Junge gelebt hatte. Steves Zimmer war schwarz gestrichen. Dort wartete bereits ein großer, korpulenter Typ.

„Stan“, sagte Steve, „das hier ist Gene Klein.“

Gene hatte lange Haare und einen Bart unter seinem Doppelkinn. Er war stark übergewichtig. Ich war ja selber ziemlich feist zu dieser Zeit, aber dieser Kerl war ein Bulle von einem Mann. Er trug einen Overall und Sandalen. Er sah aus, als wäre er gerade in der damals neuen Country-Fernsehshow Hee Haw aufgetreten.

Gene ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er dachte, er würde musikalisch mindestens eine Stufe über uns stehen. Er spielte uns ein paar seiner Lieder vor, die irgendwie bescheuert waren. Dann forderte er mich auf, seinen strengen Ohren einen meiner Songs vorzuspielen. Also spielte ich „Sunday Driver“, ein Stück, das ich später in „Let Me Know“ umbenannte. Es war ein Moment der Offenbarung für ihn – er schien total überrascht zu sein, dass außer John Lennon, Paul McCartney und Gene Klein noch andere Menschen einen Song schreiben konnten. Er war merklich mitgenommen. Er murmelte vor sich hin: „Hmmm.“

Mich nervte, dass er sich ein Urteil über mich anzumaßen schien – als ob mir seine Zustimmung irgendetwas bedeutet hätte. Vor allem, da mich seine musikalischen Ergüsse auch nicht gerade vom Hocker rissen. Die Vorstellung, dass er mich von seiner hohen Warte aus beurteilte, ließ ihn arrogant, herablassend und skurril auf mich wirken. Es war offensichtlich, dass er sich für etwas Besseres hielt. Das gefiel mir gar nicht. Gene hatte freilich keine Ahnung von der Sache mit meinem Ohr, das von Haaren verdeckt war, aber ich war darauf programmiert, niemandem Sympathie entgegenzubringen, der sich ein Urteil über mich anmaßte. Für mich war das einfach etwas, das man sich verkneifen sollte – jedenfalls war ich nicht heiß darauf, mit dem Kerl zusammenzuarbeiten.

An einem anderen Abend spielten ein Bassist namens Marty Cohen, Steve und ich einen Gratis-Gig in einem Café an der Ecke Broadway und 111th Street namens Forlini’s Third Phase. Der Raum war mit Styropor ausgekleidet und wir durften richtig laut sein. Wir spielten ein paar eigene Sachen und Covers, darunter „Mississippi Queen“ von Mountain, und das Publikum hatte seinen Spaß mit uns. Gene war auch da, weil sich Steve einen Teil seiner Ausrüstung von ihm geborgt hatte. Er war sichtlich beeindruckt.

Irgendwann später meldete ich mich auf eine Anzeige in der alternativen Wochenzeitschrift The Village Voice, in der ein Gitarrist gesucht wurde. Als ich die Nummer anrief, fand ich heraus, dass der Typ, der die Anzeige aufgegeben hatte, Brooke Ostrander hieß, seine Band, in der er Keyboard spielte, aber auf der Suche nach einem Leadgitarristen war – und nicht nach einem Rhythmustypen wie mir. Keine große Sache.

Kurze Zeit später aber rief mich Gene an und erkundigte sich, ob ich nach New Jersey rüberkommen würde, um mit ihm an einem Demo seiner Gruppe zu arbeiten. Er sagte, er würde mich für einen Tag, eventuell auch zwei, brauchen. Ich willigte ein. Seltsamerweise handelte es sich bei der Gruppe um dieselbe Band, für die Brooke Ostrander einen Leadgitarristen gesucht hatte. Außerdem würden wir bei ihm zu Hause arbeiten. Brooke arbeitete damals bereits als Musiklehrer an einer Schule und Gene prahlte wegen seines Bürojobs, der ihm fünf Mäuse in der Stunde einbrachte, was damals viel Geld war. Sie hatten ein Aufnahmegerät für zu Hause. Es war zwar nicht so ausgefeilt wie das, was man in einem richtigen Studio vorfand, aber das hielt uns nicht davon ab, den ganzen Tag zu arbeiten. Als sich unsere Session schließlich dem Ende zuneigte, rauchten Brooke und ich etwas Gras aus einer Bong in der Form eines Fisches. Ich stand absolut neben mir. Wir hörten Pink Floyd und Jethro Tull, bis mir plötzlich dämmerte, dass ich gar nicht wusste, wo ich übernachten sollte.

„Komm mit in mein Schlafzimmer“, sagte Brooke.

Oh-oh.

Ich machte ein paar sehr unsichere Schritte, die sich sehr in die Länge zogen. Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte. Als er aber die Tür zu seinem Zimmer öffnete, standen da zum Glück zwei Betten. Gepriesen sei der Herr!

Als ich so mit Gene zusammenarbeitete, bemerkte ich, dass wir beide ein paar Dinge gemeinsam hatten. Seine Familie hatte den Holocaust überlebt. Er war clever und ernst. Obwohl er und Brooke in New Jersey arbeiteten, lebte Gene nur ungefähr 15 Minuten von mir entfernt in Queens. Es stellte sich heraus, dass er während seiner Zeit am College in einer Band in Upstate New York gespielt hatte und oft mit ihnen aufgetreten war. Er hatte einiges zu bieten. Er hatte eine gute Stimme und war ein fähiger Bassist. Außerdem wusste er, wie man einen Song schreibt. Am wichtigsten war aber vermutlich, dass Gene sehr fokussiert war.

Damals hatte ich bereits kapiert, dass Talent, so wie alles andere auch, nur einen Ausgangspunkt darstellen konnte. Was wirklich zählte, war, was man damit machte. Ich wusste etwa, dass ich nicht der begabteste Gitarrist, der beste Sänger oder begnadetste Songwriter auf der Welt war, allerdings beherrschte ich diese Dinge immerhin bis zu einem gewissen Grad und hatte außerdem eine Vision bezüglich der Voraussetzungen für unseren Erfolg – wir müssten arbeiten, arbeiten, arbeiten.

Gene schrieb sehr eigenartige Songs. Vielleicht hatte es ja damit zu tun, dass er aus einem anderen Land stammte? Ich war mir da unsicher. Er hatte jedenfalls einen, der „Stanley the Parrot“ hieß, und noch einen mit dem schönen Titel „My Uncle is a Raft“. Außerdem hatte er tatsächlich einen auf Lager, der „My Mother is the Most Beautiful Woman in the World“ hieß.

Ähm, okay, aber das ist jetzt echt ein wenig schräg.

Trotzdem, je öfter wir miteinander spielten, desto besser wurde das Ganze. Gene und ich mochten dieselbe Musik und wir sangen gut zweistimmig miteinander. Ich beschloss, mit ihm zu arbeiten. Ich konnte nun einen größeren Zusammenhang erkennen, und bei all seinen Eigenarten – Teamwork war nicht gerade die größte Stärke des Einzelkinds Gene – waren wir beide intelligent genug, um zu wissen, wie man seinen Ehrgeiz richtig einsetzte. Immerhin würde es zu zweit viel einfacher werden, die Hindernisse zu überwinden.

Nachdem wir eine Weile gemeinsam geprobt hatten, schloss sich Steve Coronel uns an. Langsam wurden wir zu etwas, das sich immer mehr wie eine echte Band anfühlte.


Im Juni 1970 machte ich meinen Highschool-Abschluss an der Music & Art, wobei ich einer der schlechtesten Schüler meiner Klasse war. Ich war eigentlich ziemlich überrascht, die Schule überhaupt geschafft zu haben, da ich ja so selten im Unterricht aufgekreuzt war.

Der Schulabschluss war ein zweischneidiges Schwert. Ich war zwar einerseits froh, die Schule endlich hinter mir lassen zu können, aber andererseits ging mir der Arsch auf Grundeis, weil ich nun zum Militär hätte eingezogen werden können. Der Vietnamkrieg war ja in vollem Gange und das Letzte, was ich wollte, war, dorthin verfrachtet zu werden. Ein Trip nach Vietnam musste genauso wenig sein wie ein Trip auf LSD.

Im Laufe der Jahre, in denen ich meine Hypochondrie kultiviert hatte, war es mir gelungen, eine beachtliche Sammlung an medizinischen Attesten, die ich den Ärzten aus den Rippen geleiert hatte, anzuhäufen. Hauptsächlich ging es dabei um Rückenschmerzen und ähnliche Dinge. Eines Tages fuhr ich in die Whitehall Street in Lower Manhattan, um mich mustern zu lassen. Sie warfen ein paar schnelle Blicke auf meine medizinischen Unterlagen und entließen mich sogleich wieder. Alle meine Ängste – ich hatte mir jahrelang vor Vietnam fast in die Hose gemacht – waren umsonst gewesen. Ich überbrachte meinen Eltern die tollen Neuigkeiten und erzählte ihnen, wie ich meine ärztlichen Beglaubigungen benutzt hatte, um zu beweisen, dass ich untauglich war. Sie sahen einander ein wenig ratlos an. Dann fragten sie: „Wusstest du denn nicht, dass du gar nicht eingezogen werden kannst?“

„Warum?“, fragte ich zurück.

„Nun, du bist schließlich taub auf einem Ohr.“

Ach, so war das also.

Halb unter Schock dachte ich an die unzähligen Male, die ich das Thema einer möglichen Einberufung zum aktiven Dienst während meiner Schulzeit angeschnitten hatte. Jeder junge Mann, der sich dem Mindestalter näherte, machte sich schließlich darüber seine Gedanken. Ich für meinen Teil hatte meinen Eltern bei etlichen Gelegenheiten meine diesbezüglichen Sorgen mehr als klar gemacht. Das wäre ihre Gelegenheit gewesen, mir zumindest eine meiner Ängste zu nehmen, da sie ja Bescheid darüber wussten, dass ich für den Militärdienst ungeeignet war.

„Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt?“, fragte ich sie.

Sie sahen sich gegenseitig an, drehten sich wieder zu mir und zuckten mit den Schultern. Wieder einmal zehn Punkte für meine lieben Eltern.

Es stimmte, dass ich die Richtung, aus der ein Geräusch kam, nicht bestimmen konnte, aber ich hatte nie zwei und zwei zusammengezählt. Auch sonst war mir nie jemand dabei behilflich gewesen, diese simple Rechnung aufzustellen.

Damals beschloss der Staat New York, jedem seiner Einwohner den Zugang zum College zu ermöglichen, und trotz all meines Wagemuts, es in der Musikwelt schaffen zu wollen, bewarb ich mich zusätzlich noch für das städtische College-System. Vielleicht würde sich durch diese neue Möglichkeit ein Sicherheitsnetz aufspannen, das ich noch benötigen könnte.

Da ich keinen der Eignungstests absolviert und die Highschool mit entsetzlichen Noten abgeschlossen hatte, wurde ich an das Bronx Community College geschickt. Mir wurde ein Studentendarlehen gewährt, welches ich umgehend dafür verwendete, mir einen gebrauchten blauen Plymouth Fury zu kaufen, um meinen Rambler, der mir irgendwann liegengeblieben war, zu ersetzen.

Als ich in der ersten Woche zu den Vorlesungen erschien, fand ich nicht, dass viele der Anwesenden aussahen, als ob sie das Zeug zum Studieren hätten. Sie dachten sich dasselbe wahrscheinlich über mich.

Obwohl es eine Luftveränderung darstellte, stellte sich das College schon bald als Fortsetzung all dessen heraus, was ich an der Schule gehasst hatte. Ich hatte immer noch dasselbe grundlegende Problem: Ich konnte nicht gut genug hören, um dem Geschehen folgen zu können. Und es war auch nicht so, als hätte mich der Unterricht bloß eine Stunde oder so am Tag in Anspruch genommen. Ich musste praktisch den ganzen Tag dort bleiben. Um das Ganze noch abzurunden, gab es zusätzlich noch Aufgaben zu erledigen. Als ich an all die Zeit dachte, die ich für das College aufwenden müsste, begann ich die Sache als eher hinderlich wahrzunehmen. Ich war bereit, Zeit in meine eigentlichen Ziele zu investieren, aber das hier war mir dabei nicht gerade hilfreich. Es war sogar eher eine massive Ablenkung. Und wofür? Ich würde nie in einem schulischen Ambiente auftrumpfen können. Es war die reinste Zeitverschwendung, und Zeit war, so führte ich mir vor Augen, das Kostbarste, das ich besaß.

Das ist doch nur wieder derselbe alte Mist. Ich gehöre nicht hierher.

Das hier ist nichts für mich.

Dann dachte ich an die neue Band und führte mir den Umstand vor Augen, dass ich nun nicht mehr auf mich allein gestellt war. Ich dachte über die Ideen nach, die ich mit Gene diskutiert hatte, wie etwa einen Vollzeit-Proberaum zu mieten. Klar, Gene war als Einzelkind aufgewachsen. Seine Mutter hatte ihm eingetrichtert, dass er Gottes Geschenk an die Welt wäre, und er hatte es bereitwillig geglaubt. Sicherlich hatte er seine Schrullen, aber andererseits stimmte wiederum die Chemie zwischen uns. Zusammen waren wir viel stärker, als es jeder für sich allein gewesen wäre. Wir hatten einen Schlachtplan.

Das hier ist nichts für mich.

Sich selbst keinen Plan B offenzulassen birgt seine Gefahren. Jedoch lenkte mich das College von meinem Ziel ab. Für eine Band hieß das Ziel, Erfolg zu haben. Man musste 24 Stunden am Tag dafür leben, nicht nur am Abend oder an den Wochenenden. Meine Zeit am Bronx Community College zu verschwenden, hieß, das zu sabotieren, was ich mir vorgenommen hatte. Ich hatte nun meinen Plymouth, was bedeutete, dass ich jederzeit zu den Proben fahren konnte.

Das hier ist nichts für mich.

Nach der ersten Vorlesungswoche verabschiedete ich mich für immer.

Hinter der Maske - Die Autobiografie

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