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DIE BÜCHSE DER PANDORA


Am heutigen Tag, als ich mich hinsetzte und mit der Niederschrift dieses Buch begann, hatten die Medien folgende Neuigkeit zu berichten: In der Antarktis wurde mit 20,75 Grad Celsius die höchste dort jemals gemessene Temperatur verzeichnet.

____DER ZUG IST AUSSER KONTROLLE UND NIMMT GESCHWINDIGKEIT AUF.

Wenn mein Sohn Tiger im Jahr 2085 mein jetziges Alter erreicht haben wird, wie sieht dann wohl seine Welt aus? Ich kann mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie die Erde aussehen könnte, die er dann bewohnt.

Tiger wurde in Paris gezeugt und kam im September 2016 in New Hampshire zur Welt. Heute habe ich ihn dabei beobachtet, wie er im Schnee spielte, lachend und glücklich. Mir stockte das Herz, als ich plötzlich realisierte, dass Tiger die Unschuld und das Vergnügen, deren Zeuge ich gerade wurde, wahrscheinlich nicht mehr würde erleben dürfen, wenn er erst einmal in mein Alter gekommen wäre. Ich habe ein Leben in relativem materiellem Wohlstand und Freiheit verbracht, wie es zukünftige Generationen wahrscheinlich niemals werden führen können, weil meine Generation, die Generationen davor und die Generation heute Entscheidungen getroffen haben, die unseren Kindern, unseren Enkeln und Urenkeln die größten Schätze des Lebens wie Freude, Glück und Sicherheit rauben werden.

Oder wie Greta Thunberg es oft wiederholt hat: »Wir wurden unserer Zukunft beraubt.«

Mein Sohn Tiger sieht sich mit einer Zukunft konfrontiert, die aus Ungewissheit, Chaos und Opfern besteht, wie sie keine Generation vorher erlebt haben dürfte. Anders als mir in meiner Kindheit steht ihm eine absolut ungewisse Zukunft bevor: Wird er die Chance auf eine akademische Ausbildung bekommen, oder wird er dazu gezwungen sein, darin ausgebildet zu werden, wie man überlebt? Was wird er von uns denken? Von seiner Mutter und mir? Wie konnten wir das nur zulassen, und warum? Wird seine Generation uns verachten?

Falls sie es täte, könnte ich es ihr kaum verdenken. Aber ich möchte, dass er weiß, dass ich nicht tatenlos war. Dass ich zumindest versucht habe, eine schlimme Welt zu verhindern, in der er eines Tages zu Hause sein wird. Und dass ich diesem Versuch mein Leben gewidmet habe.

Wenn ich ihn beim vergnügten Spiel im Schnee beobachte, nagt ein noch dunklerer Gedanke an mir. Wird mein Junge ein glückliches Leben führen können, oder schaue ich da gerade dem zukünftigen John Connor1 zu, einem Überlebenskünstler? Waren wir selbstsüchtig, weil wir ihn trotz einer ungewissen Zukunft in diese Welt gesetzt haben? Ich kann ihn nicht vor dem Realität gewordenen Klimawandel bewahren, aber kann ich ihm beibringen, zu überleben und ein Anführer zu sein?

Ich habe keine Wahl. Vor der düsteren Realität gibt es kein Entkommen. Während ich diese Zeilen schreibe, sind innerhalb einer Woche 100.000 Quadratkilometer australisches Buschland in Flammen aufgegangen2. Der Grad dieser Verwüstung ist kaum vorstellbar. Diese Brände sind weitaus schlimmer als jene am Amazonas, in Sibirien und Kalifornien zusammengenommen:

Amazonasgebiet: 11.587 Quadratkilometer

Sibirien: 18.507 Quadratkilometer

Kalifornien: 1.480 Quadratkilometer

Insgesamt: 31.574 Quadratkilometer

Deutschland ist rund 357.000 Quadratkilometer groß. Die Ausdehnung der Feuer entspricht somit mehr als einem Drittel der gesamten Fläche von Deutschland. Oder vergleichen wir es mit dem jüngsten Brand von Notre-Dame in Paris. Paris ist etwa 105 Quadratkilometer groß, was nichts anderes bedeutet, als dass in Australien eine Fläche von 952 Städten mit einer Größe von Paris verbrannt ist. Oder vielleicht ist dieses Bild noch eindrücklicher: Die Kathedrale Notre-Dame hat eine Grundfläche von 4.800 Quadratmetern – damit entsprechen die Feuer 27,5 Millionen Notre-Dames, eingehüllt in Flammen.

Während der Feuerstürme hatte Australien noch zusätzlich mit Überflutungen sowie Wüsten- und Hagelstürmen zu kämpfen. Zerstörerische Hagelstürme, mitten im Sommer in Canberra und New South Wales3.

An alle Klimawandelleugner: Wollt ihr das leugnen?

Oder ihr lasst es bleiben und schaut dabei zu, wie all das wieder und wieder und wieder geschieht, nicht nur in Australien.

WILLKOMMEN IM THERMAGEDDON

Der große Robert Hunter4 sagte 2002 in seinem Buch Thermageddon voraus, dass die Situation im Jahr 2030 eskalieren würde. Er war äußerst optimistisch, denn heute stellen wir fest, dass es ein Jahrzehnt früher zur Eskalation kommt.

____ICH SCHREIBE DIESES BUCH NICHT SO SEHR, UM DAS PROBLEM VERSTÄNDLICH ZU MACHEN, SONDERN EHER FÜR UNSER KOLLEKTIVES ÜBERLEBEN.

Was in Australien passiert, ist nur der Anfang. Die Büchse der Pandora namens Klimawandel ist geöffnet worden, und die Folgewirkungen unserer ökologischen Sünden kommen ans Licht, um uns zu verschlingen. Die Frage lautet: Schaffen wir es, den Deckel lange genug auf der Büchse zu halten, bis wir herausgefunden haben, wie wir die Konsequenzen überleben können, die durch die Ritzen nach draußen bis hinein in unser Ökosystem dringen, wo sie mit geradezu dramatischer Geschwindigkeit die Mechanismen unserer Lebenserhaltungssysteme verändern?

Ich schreibe dieses Buch nicht, um die Frage aufzuwerfen, ob wir den Klimawandel noch stoppen können. Der Zug ist schon vor Jahren abgefahren, und er ist nicht mehr zu bremsen. Wir hatten unsere Chancen, und wir haben sie verpasst. Die Realität ist, dass er sich nicht mehr aufhalten lässt. Wir können vielleicht die Auswirkungen abmildern, aber die Lawine ist ins Rollen gekommen, unaufhaltsam, und die Menschheit wird sich nur sehr langsam dessen bewusst, was für Kräfte da aus der von Menschenhand gemachten, dunklen und unberechenbaren Büchse entweichen.

Ich schreibe dieses Buch nicht so sehr, um das Problem verständlich zu machen, sondern eher für unser kollektives Überleben. Allerdings besteht der erste Schritt, um das Problem anzugehen, darin, zu begreifen, dass das Problem existiert und inwiefern es eine Bedrohung darstellt.

Es gibt nur einen Weg, mit dieser Bedrohung fertigzuwerden, und das ist auf politischer Ebene. Die Wissenschaft hat gesprochen, sie wurde ignoriert. Die Medien sind größtenteils korrumpiert von den Firmen, die die weltweite Nachrichtenübermittlung besitzen und kontrollieren. Diese Firmen haben ihrerseits wiederum Milliarden investiert, um den Klimawandel herunterzuspielen und die Wissenschaft zu diskreditieren. Um den Klimawandel effektiv bekämpfen zu können, bedarf es der Verabschiedung von Richtlinien, die materielle Opfer beinhalten, und die großen Konzerne wie auch die Führer der Welt lehnen dies bisher ab.

Die kurzfristige Lösung erfordert, dass wir den Verbrauch fossiler Brennstoffe komplett herunterfahren oder zumindest deutlich senken. Sie erfordert ein Ende der massenhaften Schlachtung von etwa 72 Milliarden Nutztieren pro Jahr in der Fleischindustrie. Sie erfordert eine deutliche Reduzierung des industriellen Fischfangs, um den Kollaps des Ökosystems in den Ozeanen zu stoppen. Sie erfordert eine deutliche Reduktion sowohl des Pestizid-, Fungizid- sowie Herbizid-Einsatzes als auch industrieller Düngemittel, und besonders erfordert sie sowohl einen deutlichen weltweiten Bevölkerungsrückgang als auch einen geringeren Verbrauch von natürlichen Ressourcen durch jeden von uns.

Das sind Vorhaben, für die – realistisch gesehen – heutzutage kein Politiker werben kann, und deshalb ist jede Klimakonferenz seit 1979 daran gescheitert, praktische Lösungen auszuarbeiten.

Als ich in der Highschool war, sagte ich zu meinem Vater, dass er an Lungenkrebs sterben würde, wenn er nicht mit dem Rauchen aufhören würde. »Ich kümmere mich darum, wenn es an der Zeit ist.« 20 Jahre später hörte mein Vater mit dem Rauchen auf, und weitere 20 Jahre später starb er – an Lungenkrebs. Ich erinnere mich noch daran, wie verblüfft er war, dass er tatsächlich an Krebs sterben würde. Er leugnete auch weiterhin, dass das Rauchen die Ursache für die Erkrankung gewesen sei, schließlich hatte er es ja aufgegeben.

Und genau an diesem Punkt stehen wir heute. Politiker und CEOs haben die Warnungen erhalten, sich aber dafür entschieden, sie zu ignorieren oder zu leugnen. Selbst angesichts der Waldbrände, des steigenden Meeresspiegels, der zunehmend stärker werdenden Stürme und des Abschmelzens der Gletscher bestehen sie darauf, dass das Problem weder von ihnen hervorgerufen worden sei noch sie irgendetwas tun könnten, um es zu beheben.

Einige Führer dieser Welt haben doch tatsächlich angedeutet, dass der Klimawandel eine gute Sache sein könnte – die Anbausaison würde sich verlängern, und wir hätten wärmeres Wetter –, auch wenn die Realität ganz anders aussieht.

Werden es erst die tatsächlichen zerstörerischen Folgen sein, die dieser Ignoranz ein Ende setzen?

Im März 2020 bekamen wir einen Vorgeschmack davon, wie diese Auswirkungen aussehen könnten. Zu den tödlichen Phänomenen des Klimawandels gehören neue Virenarten, von denen einige aus dem Jahrhunderte währenden Winterschlaf des nun schmelzenden Permafrosts entweichen, andere wiederum in ihrer Entstehung und Mutation von der Fleischindustrie begünstigt werden, besonders von Phänomenen wie Lebendtiermärkten, auf denen exotische Tiere geschlachtet werden und Viren von anderen Spezies auf menschliche Wirte überspringen. Wenn andere Spezies verschwinden oder ausgerottet werden, dann werden auch Viren, die man lange ausschließlich mit diesen Lebewesen in Verbindung gebracht hat, dazu gezwungen sein, sich neue Wirte zu suchen. Sehr große, auf engem Raum lebende Populationen wie wir Menschen sind bequeme Wirte für diese Pathogene.

____WERDEN ES ERST DIE TATSÄCHLICHEN ZERSTÖRERISCHEN FOLGEN SEIN, DIE DIESER IGNORANZ EIN ENDE SETZEN?

1Anm. d. Übersetzers: John Connor ist ein fiktiver Charakter aus der Terminator-Filmreihe, der den menschlichen Widerstand gegen die Maschinen anführt, die in der Zukunft herrschen.

2Quelle: BBC am 13. Januar 2020

3Quelle: NPR (National Public Radio) am 20. Januar 2020

4Anm. d. Übersetzers: Robert Hunter (gest. 2005) war Journalist, Autor und Politiker und zählte 1971 zu den Mitbegründern von Greenpeace.

Wenn der Ozean stirbt, sterben auch wir

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