Читать книгу Die Alte Welt - Pedro Barceló - Страница 44
Gentes externae
ОглавлениеKein anderer spätantiker Autor bietet so viele Auskünfte über die auswärtigen Völker (externae gentes) wie der in der Nachfolge des Tacitus schreibende Ammianus Marcellinus. Ohne sein Oeuvre wären unsere Kenntnisse über die Hunnen, Alamannen, Franken, Sarmaten, Limiganten, Goten oder Alanen nur Stückwerk. Allerdings sollte der Versuchung widerstanden werden, einen rigiden Deutungsrahmen zu entwerfen, der die Gesamtheit des Themas einschließt und es somit übermäßig verallgemeinert. Wenn wir bei den Schemata bleiben, die Ammian benutzt, um das Bild fremder Völker zu vermitteln, fällt auf, dass diese, trotz der üblichen Gemeinplätze, die in ihren Charakterisierungen einfließen, beachtlich voneinander abweichen können. Während die Hunnen etwa und in geringerem Maße die Alanen als Antipoden der Zivilisation dargestellt werden, unterscheiden sich die dem römischen Reich näher benachbarten Franken oder Alamannen lediglich durch politische, wirtschaftliche oder juristische Faktoren wie ihre gänzlich andere Konzeption von Bürgerrecht, ihre Stammesorganisation oder ihren Lebensstandard von den römischen Vorstellungen einer kultivierten Lebensart. Auf dieser Grundlage konnte über ihre Unterwerfung debattiert oder die Möglichkeit ihrer Integration in den römischen Staatsverband erwogen werden, was etwa bei den Hunnen undenkbar blieb. Allerdings können wir Ammian nicht als eine Art Steinbruch für selektive ethnographische Informationen verwenden. Würden wir so handeln, dann liefen wir Gefahr, uns im Gewirr der Gemeinplätze zu verlieren, was aber nur zu Suggestivfragen oder Werturteilen führen würde, wie etwa sein angeblicher Antigermanismus beziehungsweise seine Sympathien und Antipathien, die er gegenüber bestimmten fremden Stämmen gehegt haben soll.161 Jenseits des rhetorischen Überbaus Ammians bei der Schilderung der Gestalt, des Charakters und der Lebensart dieser Personengruppen, gibt es belastbare Kriterien, um einen objektiven Interpretationsrahmen für die Beurteilung der Handlungsweise Roms gegenüber den auswärtigen Völkern zu entwerfen.
Um die vielfältigen Verflechtungen der gentes externae mit dem Imperium zu verdeutlichen, lassen sich drei Bereiche benennen, die das Axiom der römisch-barbarischen Beziehungen bilden. An erster Stelle wäre die Problematik der Grenzverteidigung zu nennen, die mittlerweile nur in Kooperation mit den unmittelbaren Grenznachbarn bewerkstelligt werden konnte. Der zweite Faktor war die (sporadische) Integration von reichsfremden Völkern auf römischem Boden, die der Kolonisation brachliegender Ländereien und der Gefahrenentschärfung gegenüber neuralgischen Grenzabschnitten diente, um den Druck auf das Reichsgebiet zu vermindern. Schließlich ist auf die ausschlaggebende militärische Mitwirkung der reichsfremden, meist germanischen Truppen im römischen Heer hinzuweisen. Es sind gerade diese Aspekte, die das Augenmerk Ammians auf sich gezogen haben. Im Bewusstsein der zunehmenden Abhängigkeit des Reiches von seinen Nachbarn räumt er der Erörterung jener außenpolitischen Krisenlagen, die das Handeln der Reichsführung in besonderem Maße herausforderten, einen beträchtlichen Platz innerhalb seiner Babarenkapitel ein. Obwohl er von einem patriotischen Standpunkt geleitet wird, verfährt er verhältnismäßig unvoreingenommen bei der Darbietung seines Stoffes. Wenn gelegentlich die Postulate der Unparteilichkeit verletzt wurden, so geschah dies aus übergreifenden politischen Gründen, wie die folgenden Fallbeispiele zeigen, die uns in paradigmatischer Weise die Positionen der Beteiligten in diesem Wechselspiel von challenge and response sowie die Dialektik von Integration und Abwehr beider Welten veranschaulichen.
Die erste Episode datiert aus dem Jahre 358, und sein Protagonist war der Caesar Julian, Befehlshaber des gallischen Heeres. Anlässlich der Darstellung eines seiner Feldzüge lobt Ammian sein Verhalten gegenüber den alamannischen Häuptlingen, Suomar und Hortar, die eine Gefahr für die bedrohte Rheingrenze darstellten. Unser Autor bietet das übliche chauvinistische Arsenal der römischen Rhetorik auf, um den Abschluss eines Friedensvertrages zwischen diesen Stämmen und dem Imperium zu feiern, indem er die reichsfremden Antagonisten als Verlierer präsentiert, die um die Gunst des siegreichen Caesar bettelten: So unterwarfen jene einstmals stolzen Könige, die sich daran gewöhnt hatten, vom Raub an unseren Landsleuten reich zu werden, ihren gebändigten Nacken dem Joch der römischen Macht. Als ob sie unter Tributpflichtigen geboren und erzogen worden wären, gehorchten sie unseren Befehlen, ohne zu murren.162
Wenn wir jedoch die Passage hinzuziehen, die dem zitierten Abschnitt vorangeht, stellen wir fest, dass Ammian, obwohl er die Alamannenhäuptlinge als geschlagene und als von der römischen Kriegsmaschinerie gedemütigte „Barbaren“ darstellt, die Tatsache nicht verbergen kann, dass das vermeintlich dominante Rom sich gezwungen sah, diesen Frieden in einer konfliktbeladenen Zone seines immensen Wirkungskreises schlicht zu erkaufen. Julian entrichtete den alamannischen Häuptlingen Subsidien, damit diese sich künftig von den Grenzen fernhielten.163 Dies war nicht der einzige Fall, bei dem römische Staatsvertreter pragmatische Außenpolitik gestalteten. Sie gaben mehr oder minder widerwillig Gelder aus, um ein Gefahrenpotenzial zu entschärfen und auch das Risiko, das jede militärische Aktion in sich barg, zu vermeiden. Rhetorische Floskeln über die „bittflehenden Barbaren“ und die Realität einer kaum noch funktionierenden militärischen Abschreckungsstrategie gehen nicht nur in diesem Fall weit auseinander.
Die nächste Episode ist politisch anders zu gewichten. Kaiser Valens war es in den sechziger Jahren des 4. Jahrhunderts gelungen, ein Abkommen mit den Goten zu schließen, die sich am Unterlauf der Donau niedergelassen hatten. Er sah sich dazu gezwungen, obwohl die reichsfremden Stämme aus Sicht des Kaiserhofes einen Unruhefaktor in einer für die Sicherheitsbedürfnisse des Reiches empfindlichen Zone darstellten. Bei der Kommentierung der von der Reichsregierung ergriffenen Maßnahmen preist Ammian die prudentia des Kaisers, der dank eines behutsamen Truppeneinsatzes ein riskantes militärisches Abenteuer vermied, ohne sich auf eine unnötige Konfrontation einzulassen. Die einschüchternde Wirkung der römischen Kriegsmaschinerie hatte dieses Mal noch ausgereicht, um den Frieden an einem gefährdeten Grenzabschnitt zu wahren:164 Nach den verschiedenen Ereignissen dieser drei Jahre war es aus mehreren Gründen an der Zeit, den Krieg zu beenden: erstens, weil die Furcht der Feinde infolge der lang andauernden Anwesenheit des Kaisers zunahm, zweitens, weil die Barbaren infolge der Unmöglichkeit des Handelsverkehrs so sehr äußersten Mangel am Notwendigsten litten, dass sie immer wieder Bittgesandtschaften schickten und Verzeihung und Frieden verlangten. Der Kaiser war zwar unerfahren, erwies sich jedoch als nüchterner Beurteiler der Verhältnisse, bevor er, durch verderbliche Verlockung der Schmeichler verführt, den Staat ins Unglück stürzte, das ewige Trauer zur Folge hatte. So beschloss er in Anbetracht des Nutzens für den Staat, den Goten Frieden zu gewähren.165
Die positive Einschätzung der Donaupolitik aus den Jahren 367–369 ist als Kontrast zu den Geschehnissen in Hadrianopel zu betrachten, als sämtliche römischen Amtsträger, vom Kaiser abwärts, kläglich versagten und den massiven Einbruch gotischer Kontingente auf römischem Boden nicht verhindern konnten (378).166 Eine derartig eklatante Beschämung der römischen Waffenehre hatte man seit Valerians Gefangennahme im Perserkrieg (260) nicht mehr erlebt. Schmerzlicher war aber die infolge des verlorenen Waffengangs eingetretene Verschlechterung der politischen Landkarte: Die Goten besetzten Provinzialgebiete, die dadurch der Souveränität Roms entglitten. Bei der Thematisierung der traumatischen Wirkung der römischen Niederlage, der Kaiser Valens zum Opfer fiel, bietet Ammian eine objektive Diagnose der Gründe, die zur Katastrophe geführt hatten: Die mangelhafte strategische Koordination des Feldzuges, das unheilvolle Streben nach Ruhm, das Valens zu einer übereilten, verhängnisvollen Konfrontation verleitete und nicht zuletzt die exzessive Gier und Gewaltbereitschaft der römischen Grenzkommandeure Lupicinius und Maximus, denen es gründlich misslang, die explosive Stimmung im Gotenlager zu entschärfen, womit eine friedliche Lösung vereitelt wurde: Als die über den Strom gekommenen Barbaren von Mangel an Lebensmitteln heimgesucht wurden, erdachten jene allgemein verhassten Heerführer ein niederträchtiges Geschäft. Sie brachten so viele Hunde auf, wie es ihre Unersättlichkeit vermochte, und gaben je einen für einen Sklaven, und unter diesen wurden sogar Verwandte von Häuptlingen fortgeführt.167
Die Rückschläge, die am Ende der siebziger Jahre des 4. Jahrhunderts sich als Konsequenz der gotischen Überschreitung der Donau einstellten, waren für Ammian das unheilvolle Resultat einer gescheiterten Politik, die, anstatt mit Mäßigung und Integrationsmaßnahmen auf die teilweise berechtigten gotischen Forderungen zu reagieren, stets das Gegenteil davon tat. Folgerichtig weist er die Verantwortung dafür den Vertretern der römischen Staatsmacht zu.168 Unser Chronist legt nahe, dass es für die Interessen des Imperiums besser gewesen wäre, freiwillig und geordnet den von den Hunnen bedrängten Goten die Grenzen zu öffnen, als, wie es dann wirklich geschah, zu versuchen, aus deren verzweifelter Lage engstirnige Vorteile zu ziehen, indem man mit fatalem Tunnelblick die Lösung der Probleme verpasste. Ammians Analyse beweist eine bemerkenswerte Freiheit im Urteil in einer überaus sensiblen auswärtigen Angelegenheit, die vitale Interessen des Reiches tangierte. Bei der kompromisslosen Kritik an den Ursachen der römisch-gotischen Auseinandersetzungen offenbarte er eine pragmatische Sichtweise auf die Krisen seiner Zeit. Wenn auch die römische Überlegenheit gegenüber den Grenznachbarn, wie zahlreiche Einzelfälle gezeigt hatten, bei weitem nicht so groß war, wie es die traditionellen Floskeln der Panegyriker nahelegten, zweifelte kaum jemand an der Wirkmächtigkeit der vorhandenen politischen und ökonomischen Ressourcen. Man glaubte daran, dass das Imperium sich langfristig über die gegenwärtigen Widrigkeiten erheben würde.169 Dennoch sollte sich nach der Niederlage von Hadrianopel der Umgang sowohl mit den aufrührerischen Grenznachbarn als auch mit den reichsfremden Truppen, die unter eigener Führung im römischen Dienst standen, grundlegend ändern. Die Lösung der damit verbundenen Probleme sollte sich zur größten Herausforderung für den Zusammenhalt des Reiches entwickeln.170 Die wachsende Bedeutung der germanischen Stämme, die sich innerhalb der Grenzen des Imperiums angesiedelt hatten oder diese fortwährend bedrohten, entwickelte sich zu einer Überlebensfrage. Von ihrem Verhalten als Soldaten im Dienste Roms, als auf römischem Boden niedergelassene Verbündete oder als innerhalb der Grenzregionen lebende Siedler hing das Schicksal des Kaiserreiches immer mehr ab. Die gotische Invasion der thrakischen Provinzen galt für Ammian als Bruch des prekären Gleichgewichtes der Kräfte, das unter großen Anstrengungen Jahrhunderte gehalten hatte und nun eine schwere Hypothek für den Fortbestand des Reiches darstellte: Das spätere Eindringen von Ost- und Westgoten, Franken, Vandalen und anderen germanischen Stämmen in die gallischen, hispanischen oder italischen Territorien, deren spektakulärer Höhepunkt die Plünderung Roms im Jahre 410 sein sollte, zeichnet sich in diesem Kontext als Fortsetzung und Intensivierung des Zerfallsprozesses ab, der mit dem Ableben von Kaiser Valens in der Schlacht von Hadrianopel begonnen hatte.
Ammians Sicht auf die Gegenwart wird von zwei Aspekten bestimmt. Auf der einen Seite standen seine Leidenschaft, sein Moralismus, seine analytischen Fähigkeiten sowie die Überzeugungen eines erregbaren Patrioten, der die Fehler der Reichsführung für die eingetretenen Übel mitverantwortlich machte. Auf der anderen Seite fühlte sich Ammian, zermürbt durch die Ansammlung von Rückschlägen, die das geschwächte Reich erlitt, gefangen in einem Gefühl der Ohnmacht, weil er die Unmöglichkeit von dauerhaften Lösungen für die Probleme erkannte, die seine Welt zu ersticken drohten. Daher zeichnete er das Bild eines von den herbstlichen Stürmen durchgerüttelten Staatswesens, dessen Zukunftsperspektiven düsterer wurden und kaum noch zu prognostizieren waren, sogar für einen so bedingungslos von der Sendung Roms überzeugten Enthusiasten, wie es Ammian war. Für ihn wie für viele seiner Zeitgenossen bildete die dominante Stellung Roms gegenüber den Völkern auf der anderen Seite von Rhein und Donau – ein anderes Thema waren die wesentlich komplexeren Beziehungen zum Perserreich – einen der Eckpfeiler der raison d’être des Imperiums und seiner universellen Mission. Diese gründete auf dem Organisationsvermögen, den vielfältigen Ressourcen sowie der überwältigenden militärischen Überlegenheit, die so oft unter Beweis gestellt worden war. Auch wenn Rückschläge vorkamen, gelang es Rom am Ende, sich gegenüber seinen Gegnern durchzusetzen. Die Erfahrungen der Vergangenheit hatten bis auf wenige Ausnahmen gezeigt, dass Konflikte zugunsten Roms ausgingen, das anschließend die Friedensmodalitäten nach Maßgabe der eigenen Interessen festlegte. Diejenigen, die sich gegen die imperialen Machtansprüche auflehnten, wurden bekriegt, besiegt, versklavt, mehr oder weniger friedlich auf Reichsboden angesiedelt, oder sie verblieben als abhängige Verbündete außerhalb der Grenzen unter der wachsamen Kontrolle des römischen Heeres, den Bedingungen unterworfen, die der jeweilige Kaiser auferlegte. Ein verklärtes Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Nachbarn, nicht nur in zivilisatorischer, sondern auch in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, bildete das von den römischen Eliten geteilte Wahrnehmungsparadigma. In diesem Kontext war Ammian keine Ausnahme. Wenn er sich der patriotischen Redewendungen der imperialen Propaganda bediente, um die römisch-barbarischen Beziehungen zu charakterisieren und dabei die Handlungsweise des Imperiums als Konzessionen oder gar als Gnadenakte gegenüber den potenziell unterlegenen Völkern umdeutete, so blieb er damit in der eigenen Selbsttäuschung gefangen. Darin drückte sich der herrschende Geisteszustand eines Teils der römischen Gesellschaft aus, welche die Augen vor der grauen Wirklichkeit verschloss, statt die tatsächlichen Widrigkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Doch darin erschöpfte sich Ammians Beitrag zur Deutung der politischen Verhältnisse seiner Zeit keineswegs. Er hat sich einen Rest kritischer Distanz bewahrt und diese auch in der Anlage seiner res gestae zum Ausdruck gebracht. Die Völker, die außerhalb der Grenzen oft genug ein prekäres Dasein fristeten, wurden deshalb für Barbaren gehalten, weil ihnen das fehlte, was nach römischen Maßstäben den Kernbereich der eigenen Identität ausmachte. Gelang es den externae gentes, am Wohlstand des Reiches und an der römischen Lebensart zu partizipieren, so erfolgte diese Annäherung unter dem Zwang der Verhältnisse; das heißt, die an der Tür des Reiches klopfenden Fremden mussten sich den ersehnten Zugang erkämpfen. Nichts geschah aus Einsicht oder Freiwilligkeit. Die römischen Eliten zeigten sich nicht übermäßig sensibel im Umgang mit ihren Nachbarn, die meist lediglich eine Verbesserung ihrer dürftigen Lebensverhältnisse erstrebten. Sie verstanden weder die dramatische Situation, die sich außerhalb der Grenzen im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts zusammenbraute, noch waren sie imstande, prophylaktische Maßnahmen zu ergreifen, um sie entsprechend abzufedern. Bei der Beobachtung dieser Zusammenhänge erleben wir eine paradigmatische Änderung der Leitlinien der auswärtigen Politik. Die entscheidenden Impulse werden nun immer mehr von barbarischem Boden ausgehen und das Reich somit zwingen, darauf zu reagieren.171 Wie die meisten Imperien reagierte Rom zu spät und mit wenig Phantasie auf die Herausforderungen seines Wertesystems. Die Leitlinien römischer Regierungskunst waren darauf ausgerichtet, die Disproportion in den Beziehungen zwischen Reich und Peripherie, seit jeher das Hauptziel des römischen Imperialismus, zu konservieren. Das Primat römischer Interessen als Grundsatz der Außenpolitik galt als eine nicht verhandelbare Bedingung und unverzichtbare Garantie, um das erwünschte Ungleichgewicht der Kräfte zu erhalten, das heißt, um die römische Dominanz zu zementieren. Eine solche Einschätzung der Herrschaftsideologie wurde von den intellektuellen Kreisen, zu denen Ammian zählte, aus Überzeugung geteilt. Das ist der Grund, dass, wenn diese Autoren über Episoden berichteten, die um die externae gentes kreisten, sie dies in einer pathetisch auftrumpfenden Weise taten, die gerade deshalb so anachronistisch klang, weil sie spätestens seit Hadrianopel völlig fehl am Platze war.
Es entging der kritischen Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht, dass die Folgen von Hadrianopel die Koordinaten der bisherigen territorialen Ordnung empfindlich verrückt hatten: Das Reich verlor damals die Kontrolle über strategisch wichtige Gebiete, die nun unter gotische Herrschaft gerieten. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die feste Überzeugung, dass die römische Überlegenheit die Regeln der Außenpolitik bestimmte. Dies wurde immer wieder verwirklicht unter Anwendung von Kriterien wie Belohnung oder Bestrafung benachbarter Völker, die auf der eigenen unangefochtenen Hegemonie gründeten, was jedoch gegen Ende des 4. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt worden war. Plötzlich waren die Goten in der Lage, mit dem gebeutelten Imperium auf Augenhöhe zu verhandeln, eigene Bedingungen zu stellen oder sogar Vorteile zu erzielen, was in früheren Zeiten undenkbar erschien. Je deutlicher sich der radikale Wandel der auswärtigen Politik, der zum Nachteil der bisher unbestrittenen Vormacht vor sich ging, offenbarte, desto beharrlicher versuchte die offizielle Propaganda, ihn zu verdecken. Themistios, einer ihrer wichtigsten Wortführer, leugnete nicht nur die für das Reich negativen Folgen des mit den Goten abgeschlossenen foedus von 382, den zu unterschreiben sich Theodosius gezwungen sah, sondern präsentierte ihn als Erfolg kaiserlicher Diplomatie. Durch Rekurs auf die Schemata der römischen Großmachtideologie zeichnete er eine politische Idylle, die von der Realität Lügen gestraft wurde: Wir sahen, wie die Anführer und Häuptlinge der Goten nicht etwa durch Täuschung ein Übergabefähnchen brachten, sondern wie sie auf Schwert und Eisen verzichteten, aufgrund deren sie bis zu jenem Tag überlegen gewesen waren, und wie sie die Knie des Kaisers umschlangen, demütiger als einst Thetis, wie Homer sagt, die Knie des Zeus umfasst hat, als sie ihn um ihres Sohnes willen anflehte, bis sie einen gnädigen Wink erhielten und eine Stimme vernahmen, die nicht Krieg entfachte, sondern voller Gnade, Friedfertigkeit und Wohlwollen war und das Unrecht gänzlich verzieh.172
Es drängt sich der Eindruck auf, dass Ammian als Historiker und kritischer Beobachter des politischen Panoramas seiner Zeit nicht bereit war, die negativen Konsequenzen der gotischen Machtbildung auf römischem Boden nach dem Vorbild anderer Autoren zu ignorieren oder gar mit wohlklingenden Sätzen, die an das römische Überlegenheitsgefühl appellierten, zu verschleiern. Es war vielleicht diese tiefe Frustration, Frucht eines unbestechlichen Geistes, die ihn dazu verleitete, den Endpunkt seines Werkes keineswegs zufällig oder willkürlich zu setzen. Angesichts der außerordentlich problembehafteten Gegenwart entschied er sich bewusst dazu, die Nachwirkungen von Hadrianopel weder zu beschönigen noch in den Chor der Panegyriker der offiziellen Propagandamaschinerie einzustimmen. Im politischen Denken Ammians markierte der Verlust von Gebieten, die vormals unter römischer Herrschaft gestanden hatten, die Grenze dessen, was das Imperium ertragen konnte. Nirgendwo in seinem Werk wird die Fieberkurve des verletzten Patrioten so explosiv ansteigen wie in jenen Passagen, die über den Friedensvertrag zwischen Kaiser Jovian und dem Perserreich berichten (363), der nach der missglückten Persienexpedition Julians die Abtretung römischer Provinzen jenseits des Tigris an das Perserreich festschrieb. Bei der Niederschrift dieser unrühmlichen Episode kennt Ammians Empörung keine Grenzen: Hartnäckig forderte der Perserkönig seine Gebiete, die ihm, wie er selbst sagte, von Maximian vor langer Zeit entrissen worden waren (…). Er verlangte Arzanene, Moxoene, Zabdicene ferner Rehimena und Corduene zusammen mit fünfzehn Kastellen, dazu Nisibis, Singara und die äußerst günstig gelegene Festung Castra Maurorum. Wir hätten lieber zehnmal kämpfen sollen, um nichts davon aufzugeben, doch setzte die Menge der Schmeichler dem furchtsamen Kaiser zu (…). Ohne jegliches Zögern lieferte er alles aus, was gefordert wurde, und konnte dabei nur mit Mühe durchsetzen, dass Nisibis und Singara ohne ihre Einwohner in persischen Besitz übergingen und dass von den anderen Kastellen wenigstens die römischen Besatzungen in unser Gebiet zurückkehren durften (…). Nach der Bestätigung dieser schmachvollen Abmachung sollte während einer Waffenruhe nichts unternommen werden, was dem Vertrag widersprach.173
Um wie viel höher muss Ammians Enttäuschung gewesen sein nach dem Gotenfoedus des Jahres 382, das die Abtrennung vitaler Teile vom Rumpf des Imperiums festschrieb, die strategisch wichtiger waren als jene Randbereiche in Mesopotamien, die im Jahre 363 den Persern in die Hände gefallen waren. Möglicherweise war dieser erzwungene territoriale Rückzug, beschönigt und verschleiert durch die offizielle Propaganda, der Auslöser, der Ammian zu einer irreversiblen Distanzierung von der politischen Berichterstattung veranlasste. Aus seinem Vergleich zwischen Cannae und Hadrianopel kann nicht gefolgert werden, wie dies einige Historiker tun174, er sei überzeugt, Rom werde sich in ähnlicher Weise wie nach der Niederlage gegen Hannibal wieder erholen. Cannae war in der Tat der Wendepunkt in einem Konflikt, der danach zu Lasten Karthagos ausging. Ammian, der sich den realen Möglichkeiten des politischen Betriebs seiner Zeit bewusst war, hegte jedoch wenig Hoffnung in die Regenerationsfähigkeit des angeschlagenen Reiches. Als er seine res gestae etwa zwei Jahrzehnte nach der verhängnisvollen Schlacht niederschrieb, sah er keine Anhaltspunkte für eine Besserung der verfahrenen Lage. Vermutlich war gerade dieser Pessimismus in Anbetracht der düsteren Zukunftsperspektiven die tiefere Ursache für sein aufschlussreiches Schweigen nach Hadrianopel.