Читать книгу Dr. Sonntag 13 – Arztroman - Peik Volmer - Страница 3
ОглавлениеKleines Vorwort
Tja, da halten Sie ihn nun in Händen, sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser – den Band 13! Schauen wir mal, ob die 13 nun eine Glücks- oder eine Unglückszahl ist. Sind Sie abergläubisch? Können Sie unter Leitern hindurchgehen? Spiegel zerbrechen? Salz verschütten? Oder den Weg fortsetzen, den soeben eine schwarze Katze gekreuzt hat?
Doch, oder? Wenn die Sache mit dem Glück so einfach wäre! Egidius sagt das auch oft. »Wenn’s leicht wäre, könnte es ja jeder!« Recht hat er!
So. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, richtig. Chris bekommt einen Anruf. Frau Doktor Schickenreuth macht sich locker, um das mal in der Sprache der Jungen zu formulieren. Schade, dass es dafür eine Erkrankung braucht. Aber wenn man all sein Vertrauen in andere und das Zutrauen zu sich selbst verloren hat, dann ist das wohl so. Immerhin hat sie jetzt begriffen, dass niemand ihr etwas Böses will. Ich bin nur gespannt, für wen sie sich entscheiden wird. Irgendwie ist Andreas Stehr ja spektakulärer, finden Sie nicht? Im Gegensatz zu dem eher zurückhaltenden Michael Barbrack.
Und Herr Rechtsanwalt Sebastian Schickenreuth? Dieser verknöcherte, bösartige Mann? Was will er von Theres? Also, das mit dem Alter stört mich überhaupt nicht. Aber ich mag Theres. Sie ist schwierig, aber wie sie mit Lukas umgeht, kann ich gut leiden. Und den Herrn Rechtsanwalt mag ich nicht. Das kann ja heiter werden!
Und diese Geschichte zwischen Karin und Kilian – ich schätze, Karin heißt bald wieder ›Frau Fürstenrieder‹. Na, ich bitte Sie! Der Kerl benimmt sich doch wie ein verzogenes Kind! Erst hebt er sie in den Himmel, und wenn es irgendwo knarrt, dann ist sie schuld! Das habe ich gerade gern! Anderen die Schuld zu geben! Nein, so was ärgert mich. Und ich mag Karin. Bitte. Sie hat längst Feierabend und sitzt immer noch in der Klinik. Warum ist sie noch nicht – zu Hause, wollte ich gerade schreiben. Bei Ludwig, wäre wohl richtiger. Ach so! Ist heute nicht der Tag von Kilians Operation?
Fast Zwölf
Erstaunlich, wie lange Operationen dauern können, dachte Karin Kreuzeder. Oder kam es ihr nur so vor? Sie hasste es, sich in den Vordergrund zu drängen. Schon gar nicht, wie man es manchmal in Filmen oder Fernsehserien sah, durch Seufzen, Stöhnen, unechte Tränen. Diese nervigen Menschen, die auf jede Schwester, die durch die Tür mit der Aufschrift ›OP-Bereich! Zutritt verboten!‹ kam, zustürmten, um sie mit aufdringlichen Fragen zu behelligen. ›Wird mein Mann noch operiert? Wie läuft es denn? Geht es ihm gut?‹ Ja, mein Gott, woher sollte denn die Schwester das wissen? Auf diese Fragen gibt es ja auch nur die beiden Standard-Antworten. ›Ja, die Operation läuft noch, aber fragen Sie bitte einen Arzt!‹ und ›Den Umständen entsprechend.‹ Na wunderbar. Worte, die nichts bedeuten. Sinnentleerte Erzeugung von Schallwellen. Aber irgendwie schien so etwas notwendig zu sein. Man wusste nur nicht so genau, warum.
Aber in ihrem Fall war das auch gar nicht nötig. Egidius höchstselbst wusste, dass sie vor der Tür wartete. Und so eilte er direkt vom OP-Tisch zu ihr.
»Es ist alles gut gegangen, liebe Frau Kreuzeder. Ihr Gatte hat sich vorbildlich benommen. Ich nehme ihn sicherheitshalber für eine Nacht auf die Intensivstation, morgen können wir gemeinsam Visite auf der Normalstation machen, wenn Sie einverstanden sind!«
Er war ein wunderbarer Mann. Er sagte vermutlich immer das Richtige. Also – ihr Chef. Professor Egidius Sonntag. Nicht ihr Mann, Kilian Kreuzeder, seines Zeichens Redakteur bei der Miesbacher Zeitung. Zuständig für Anzeigen. Das hatte sie ja erst vor Kurzem erlebt. Als er Ihr Vorwürfe machte, wegen seiner Mutter. Als ob die Unterbringung im Pflegeheim für Demenz-Erkrankte zu dem Infarkt geführt hatte. Und als ob sie schuld war an dieser Unterbringung.
Na gut. Sie hatte damals erklärt, dass sie nicht bereit sei, für die alte Dame als kostenlose, weil angeheiratete, Pflegekraft zur Verfügung zu stehen. Die Entscheidungen aber, die daraufhin getroffen wurden, hatte Kilian allein zu verantworten.
Sie war ziemlich sicher, dass das schlechte Gewissen ihn plagte. Dazu kam noch die Belastung durch seine Erkrankung. So etwas konnte schon mal zu einer Ungerechtigkeit führen, oder?
Danke für Ludwig, wirklich. Nachdem sie aus dem Haus gestürzt war, hatte er sie aufgenommen. Liebevoll, beinahe. Wie ein Sohn seine Mutter. Ohne viel Aufhebens davon zu machen. Als müsste es so sein. Denn etwas war zerbrochen zwischen Kilian und ihr. Das Seil war zerrissen. Und es würde nie mehr so sein wie vorher.
Er hatte zwei Gesichter. Das schöne, liebevolle hatte er zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung gezeigt. Als er sich das mit dem Kleid oder besser, mit den Kleidern ausgedacht hatte. Wie stolz und glücklich er gewesen war! Wie er gestrahlt hatte angesichts ihrer Überraschung und Freude! Und nun war alles entwertet worden durch seine schroffe Ablehnung und seine Ungerechtigkeit.
Man würde ja sehen. Fest stand, dass er sie brauchte. Sie lächelte, weil ein Satz aus ihrem Volkshochschulkursus ›Englisch‹ ihr im Ohr klang. Napoleonische Kriege, Schlacht von Trafalgar, Lord Nelson. »England expects that every man will do his duty!«, hatte der olle Admiral als Tagesparole ausgegeben. England erwartet von jedem Mann, dass er seine Pflicht tut. Die Stimme ihres Dozenten tönte in ihrem Ohr. Er hatte genau vor ihr gestanden, und sie so angesehen, mit diesem besonderen Blick, als gäbe es gerade nur ihn und sie. Fast wäre sie aufgesprungen. Ja, sie wollte ihre Pflicht tun, so war sie erzogen. Sie erfüllte immer ihre Pflicht, und mehr als das. Aber der Einzige, dem das aufzufallen schien – und der immer dankbar dafür war, war Dr. Sonntag. Alle anderen schienen das, was sie für sie tat, entweder unzureichend oder selbstverständlich zu finden.
Nun – auch diesmal wieder würde sie ihrer Pflicht Genüge tun. Sie fühlte sich als Ehefrau dazu verpflichtet. Ihr Mann brauchte sie. Nicht einen Moment lang hatte sie daran gezweifelt, dass in Zeiten wie diesen ihr Platz an seiner Seite war. Nie wäre ihr eingefallen, sich abzuwenden, ›England expects …‹ Nun, vielleicht nicht England. Sie musste lächeln. Aber alle, die sie kannten. Und ihr inneres Gesetz, nach dem sie angetreten war und nach dem sie funktionierte.
Es war beinahe 12 Uhr. Die Tür zum OP-Trakt glitt zur Seite, und eingerahmt von Grün gewandetem Personal, das einige Infusionen und Perfusoren trug, wurde ihr Mann zur Intensivstation eskortiert. Sie trat ans Bett, die kleine Prozession legte ihr zuliebe eine kurze Pause ein.
»Kilian! Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«
»Das solltest du lieber deinen Chef fragen, Karin. Mit geht es blendend. Wenn ich nicht wüsste, dass diese unheimliche Maschine in mir herumgefuchtelt hat, könnte ich annehmen, dass ich ein paar Stunden in einem Liegestuhl am Pool meines Hotels auf Gran Canaria verbracht habe!«
Karin schaute Frau Dr. Pahlhaus erstaunt an.
»Wieso ist mein Mann schon so wach? Früher waren die Leute, die man aus den Narkosen weckte, schlaftrunken und desorientiert!«
»Sehen Sie, Frau Kreuzeder? Überraschenderweise hat auch die Medizin sich ein wenig weiterentwickelt! Wissen Sie, wenn er wollte, könnte ihr Gatte jetzt eine kleine Mittagsmahlzeit zu sich nehmen!«
Sie lachte herzlich, währen Karin kopfschüttelnd den hellwachen Ehemann betrachtete.
»Unglaublich. Wirklich. Absolut unfassbar! Ich erinnere mich noch, als mir als Kind der Blinddarm entfernt wurde, hatte ich bei der Narkoseeinleitung diesen gräßlichen Geschmack nach altem Knoblauch im Mund. Und ich durfte bist zum anderen Tag nichts trinken!«
»Das ist wohl schon etwas länger her, dass Sie Kind waren, mein Liebe?«, kicherte die Chefin der Anästhesieabteilung.
»Das können Sie laut sagen!« Karin zwinkerte ihr zu.
In diesem Moment stürmte Egidius aus dem OP, das Handy am Ohr. Man hatte ihn bereits gehört, bevor man ihn sah.
»Ja, aber – wie konnte das passieren? Das kann doch nicht möglich sein, dass eine komplette Charge eines Molkereiprodukts mit Salmonella typhi – Moment, bitte! Ich rufe gleich noch einmal an!«
Er hatte seine Sekretärin am Bett ihres Mannes entdeckt und blieb stehen.
»Ließ sich prima machen«, freute er sich. »Keine Probleme. Nur 200 ml intraoperativer Blutverlust. Sicherheitshalber haben wir ihm zur Infektprophylaxe ein Single-Shot-Antibiotikum gegeben. Ende der Woche geht es nach Hause!«
»Recht herzlichen Dank, Herr Professor!« Frau Kreuzeder sagte diese Worte mit Nachdruck, und ihr Mann nickte dazu, die Hand hebend.
»Auch von mir, herzlichen Dank!«
»Schon recht, schon recht!«, rief Egidius heiter. »Ich hatte heute früh nichts Besseres zu tun! Und wenn es so glatt läuft wie bei Ihnen, dann macht es ja förmlich Freude! – Frau Kreuzeder, ich werde Ihnen nachher noch ein paar kleine Anweisungen aufschreiben, für zu Hause. Und sie benötigen noch ein Rezept über niedermolekulares Heparin! Ja, Herr Kreuzeder! Sie brauchen gar nicht so zu schauen! Schwester Karin hier …« – er legte den Arm um sie – »… wird Ihnen noch 14 Tage lang täglich eine Injektion verabreichen! Andernfalls muss ich Ihnen die Gemeindeschwester auf den Hals jagen! Mit der ist nicht gut Kirschen essen, das kann ich Ihnen flüstern! – So, mich entschuldigen Sie bitte! Das Hygiene-Institut der Universität hat den Übeltäter gefunden! Eine verdorbene Charge mit diesem Mascarpone-Zeugs! Bei uns liegt der Fehler Gott sei Dank nicht, und freundlicherweise sind insgesamt nur 5 Fälle aufgetreten, weil aus diesem Konvolut nur drei Packungen verwendet wurden! Herrn Barbrack konnte ich nur mit Mühe daran hindern, von einer Brücke zu springen! Immerhin, die Kollegin Schickenreuth hat es am ärgsten erwischt!«
Er senkte die Stimme.
»Und wenn Sie mich fragen, gebe ich diesem Umstand den Titel: ›Ein Gottesgericht‹!«
»Aber Herr Professor!«, sagte Frau Kreuzeder in gespielter Empörung. Aber sie konnte, genauso wie ihr Chef, sich ein Grinsen nicht verkneifen.
*
Erinnern wir uns kurz zurück: Chris und Philipp saßen mit Hannes im Eiscafé, als Chris’ Handy klingelte. Er hatte das Display Philipp gezeigt. HATICE, stand da zu lesen. Die Inhalte der letzten Anrufe brachten Trauer, Resignation, sogar Verzweiflung mit sich. Das alles schoss Chris durch den Kopf. Am liebsten hätte er den Anruf gar nicht entgegengenommen. Aber hätte es das besser gemacht?
Er hatte sich also gemeldet, distanziert, unter Nennung seines Nachnamens.
»Ich wollte euch nur sagen«, ertönte Hatices Stimme aus dem kleinen Gerät, »dass ich überfällig bin!«
»Überfällig womit?«, fragte Chris.
»Du bist manchmal wirklich wie vernagelt, mein Alter!«, lachte Philipp gutmütig. »Hallo, Hatice! Philipp hier! Und du meinst das …«
»Hallo, Philipp! Nein, ich meine nicht nur! Ich bin mir sicher.«
»Wie sicher?«
»98%!«
»Das ist aber schon sehr sicher! Hast du einen Test gemacht?«
»Ich gehe morgen lieber zu Antretter! Ich habe Angst davor, dass ich den einzig falsch negativen Test in der Apotheke erwische, und dann vielleicht umsonst meine Depressionen pflege! Das muss ja nicht sein!«
»Sagst du uns gleich Bescheid, wenn du Näheres weißt?«
»Ihr seid die Zweiten, die es erfahren. Vroni kommt mit, die hört die frohe Botschaft sozusagen live und in Farbe!«
Hannes kämpfte immer noch mit seinem Eisbecher.
»Was heißt überfällig?«, fragte er. »Ist Hatice überfallen worden?«
Chris sah Philipp sorgenvoll an.
»Dir ist schon klar, dass wir den Jungen aufklären müssen, oder? Mach du mal!«
»Wieso denn ich? Du kannst das viel besser! Du bist der Jüngere von uns zweien!«
»Aber als der Ältere bist du vielleicht weiser und findest eher die passenden Worte! Mach du!«
Hannes sah von einem zum anderen.
»Hallo? Ich bin bald zwölf, und habe uneingeschränkten Zugang zum Internet. Ich weiß, wie das geht, mit dem Sex, und so. Darüber haben wir auch schon in der Schule gesprochen. Ich wollte nur wissen, was das heißt, mit dem ›überfällig‹!«
»Dann weißt du auch, dass da in der Frau, wo sich die befruchtete Eizelle hinsetzt, ein dickes Kissen aus Blutgefäßen bildet, die das Kind ernähren sollen. Das passiert ganz regelmäßig, alle vier Wochen. Wenn nun aber keine Eizelle da ist, dann löst sich dies Kissen auf, und es kommt zu einer Blutung. Wenn die aber ausbleibt, dann ist das für die Frau ein Zeichen dafür, dass sich da doch jemand, der die Ernährung braucht, eingenistet hat!«
»Ach, das ist das mit dieser Blutung!«, stellte Hannes erleichtert fest. »Ich hatte mich schon gefragt, was da passiert! Alles findet man nicht im Netz!«
Philipp lächelte seinen Mann an.
»Wir müssen dringen aufhören, den Jungen zu unterschätzen«, sagte er. »Mit elf ist man heutzutage deutlich weiter, als wir es zu unserer Zeit waren!«
»Fast zwölf«, beharrte Hannes. »Und ich möchte jetzt nach Hause!«
Zu neuen Ufern
Schwester Marion war wieder zurück. Gastein hatte ihr gutgetan. Vermutlich nicht nur die Heilstollen, sondern auch die Abwesenheit des Herrn, der zu Hause auf sie wartete. Also, er wartete natürlich nicht zu Hause. Das sagt man eben so. Nein, er verbrachte die meiste Zeit in seiner Kneipe und in diesen Spielotheken, die einen ziemlichen Anteil seines Lohns verschlangen.
Beim Betreten ihres Häuschens wäre sie fast über den Stapel Wäsche gestürzt, der sich im Flur türmte. Wenigstens hatte das eine Art System. Dort entkleidete er sich und ließ alles fallen, wo er sich gerade befand. Kalter Rauch umfing sie mit der Zähigkeit eines Sumpfes. Sie konnte genau sagen, wo er seine von ihr sorgfältig vorbereiteten Mahlzeiten eingenommen hatte. Überall waren die Plastikdosen verteilt, jede mit etlichen Bierflaschen garniert. Einige Bierflaschen waren umgefallen und hatten dunkle, feuchte Flecken im Teppichboden hinterlassen. In der Küche war offenbar der Filter der Kaffeemaschine verstopft gewesen. Immerhin hatte er sie ausgestellt. Leider erst, nachdem sie übergelaufen war. Die Haare in der Dusche, der Schmutzrand im Waschbecken und die verräterischen Flecken um die Toilette herum erzählten ihr eine Geschichte, für die sie selbst so lange taub und blind gewesen war. Eine Geschichte von Lieblosigkeit und Vernachlässigung. Von Grobheit und Einsamkeit. Von mangelnder Achtung – aber auch von mangelnder Selbstachtung.
Sie fühlte sich plötzlich schwach, entkräftet.
Achtlos kippte sie eine Programmzeitschrift mitsamt der auf ihr liegenden Chips-Tüte von einem der Esstisch-Stühle, und ließ sich auf diesen sinken.
War es das wert? Sollte das jetzt immer so weitergehen? War das die gemeinsame Zukunft, von der sie beide geträumt hatten? Warum bloß war ihre Liebe abhanden gekommen? Wer trug die Schuld daran?
Sie war von Raum zu Raum gegangen und hatte überall Spuren der Verwüstung gefunden. Mechanisch öffnete sie die Fenster, sammelte die Wäsche ein, trennte sie sorgfältig und startete die Waschmaschine im Keller. Die beiden leeren Bierkästen auf der Terrasse füllte sie mit den Flaschen. Die Plastikdosen wanderten, zusammen mit den entleerten Aschenbecher, in den Geschirrspüler. Sie bezog die Betten frisch, putzte Bad und Küche, saugte Staub und wischte die Regale. Nachdem sie ihre Pflicht erfüllt hatte, legte sie ihren Schlüssel auf den Tisch, ergriff ihre Jacke, den Koffer, und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
*
»Timon, wohnst du eigentlich noch immer bei Emmerich, oder hast du inzwischen was Eigenes?«
Ludwig barst fast vor guter Laune. Timon Süden erschrak, als weckte man ihn aus einer Art Trance-Zustand.
»Nein, ich habe zwar gesucht, aber noch nicht wirklich etwas gefunden, was mir gefiel. Komisch! Irgendwie bin ich offenbar dabei, mich daran zu gewöhnen, mit ihm zusammenzuwohnen! Das ist ja schlimm, oder? Es sollte ein Provisorium sein! Einige Tage – nur, bis ich was gefunden habe! Von wegen! Ich habe mich da wirklich reingezeckt!«
»Keine Sorge, Timon. Du weißt doch, wo ich wohne, oder? Diese drei Häuser am Wald? Mit den Eigentumswohnungen!«
»Ja, du Scherzkeks. Von denen jede mindestens 1,2 Millionen Euro kostet. Ich habe zwei unterhaltspflichtige Kinder. Gott sei Dank arbeitet Philine. Trotzdem, wie soll ich mir das leisten?«
»Ich kenne den Besitzer der Parterre-Wohnung im Nebenhaus. Der will sie vermieten! Und die Miete ist nicht so hoch! Na? Was sagst du?«
»Ansehen könnte ich sie mir ja mal, oder? Soll ich einen Termin …?«
»Nicht nötig. Ich habe die Schlüssel. Wenn du willst, fahren wir nach dem Dienst dorthin!«
In diesem Moment glitt die Tür zur Seite. Dagmar kam herein und gestikulierte wie ein Zirkusdirektor, der die folgende Attraktion ankündigte.
»Ich bitte um eure Aufmerksamkeit, liebe Kollegen! Zur Abschiedsfeier gerade noch rechtzeitig vom Krankenlager gesprungen steht sie hier wieder vor uns: Frau Kollegin Constanze Schickenreuth! Ich bitte um einen herzlichen Applaus!«
Die Kollegen, die die Wandlung der jungen Ärztin nicht mitbekommen hatten, sahen sich erstaunt an.
»Wieso: Abschiedsfeier?«, erkundigte sich Schwester Nasifa. »Sie gehen doch nicht schon wieder, oder?«
»Nur in die Gynäkologie, Nasifa. Dafür wurde ich ja auch ursprünglich eingestellt!«, lächelte Constanze. »Bevor Michael mit den guten Sachen kommt, möchte ich kurz ein paar Worte sagen. Ich weiß, dass ich mich hier etwas – sagen wir mal, unglücklich eingeführt habe. Dagmar weiß inzwischen auch, woran das liegt.«
Die Angesprochene, die dicht neben der jungen Ärztin stand, legte kurz den Arm um ihre Schultern und drückte sie.
»Ich habe Fehler gemacht. Und trotz allem bin ich hier zwar auf Kritik, doch auch auf Wohlwollen gestoßen. Besonders, als es mir so schlecht ging. Ich habe den Verletzungen, die ich erlitten habe, gestattet, mich in jemanden zu verändern, der ich gar nicht bin. Und, bitte glaubt es mir: Ich wollte perfekt sein. Eine Sache richtig machen. Vielleicht sogar bewundert werden. Aber das ist vorbei. Ich habe begriffen, dass man nicht allen gefallen muss, sondern nur den richtigen Leuten. Und ihr alle hier, ihr seid die richtigen Leute.«
Sie wischte sich trotzig eine vorwitzige Träne fort, die sich denWeg über ihre Wange zu bahnen suchte.
»Ich werde euch hier vermissen. Aber wenn ich darf, komme ich mir hier mal eine Tasse Kaffee abholen, wenn das für Sie okay ist, Nasifa! Und ich hoffe, dass ihr alle mich nicht in allzu schlechter Erinnerung behaltet!«
Unaufgefordert reichte Timon seiner Kollegin ein Papiertaschentuch.
»Schön, das du endlich an Bord bist. Unser Käpt’n sagt gern, das wir alle eine große Familie sind. Und wie das so ist in Familien: Man rauft sich mal, aber man versöhnt sich auch wieder. Aber man lässt niemanden fallen. Man hält zusammen.«
In diesem Moment fuhr Herr Barbrack, begrüßt von lauter begeisterten ›Ahs‹ und ›Ohs‹ etliche Platten und Teller mit Süßspeisen herein, die jedem Münchener Luxushotel zur Ehre gereicht hätten. Gespannt schaute er Constanze an. Ja, es gefiel ihr. Sogar sehr.
Man merkte ihm seine Erleichterung an.
»Übrigens«, rief er, »es braucht keiner Angst zu haben. Ich habe den Lieferanten gewechselt. Infektionen durch Lebensmittel wird es in diesem Hause nicht mehr geben!«
»Das hast du wirklich wunderschön gemacht … Ich meine, dass haben Sie wirklich wunderschön gemacht!«, stellte Constanze fest.
»Ich heiße Michael. Dass du Constanze heißt, weiß ich. Lassen wir es beim Du?«
Die Feier wurde lediglich durch zwei Patienten unterbrochen, denen man allerdings leicht und zügig helfen konnte.
Egidius bog mit Frau Kreuzeder und Herrn Somnitz um die Ecke.
»Gibt es Weißwurst-Pralinen?« Die Chefsekretärin war ganz aufgeregt.
»Ich weiß Bescheid, Frau Kreuzeder«, grinste Michael Barbrack. »Ich habe extra für Sie einen ganzen Teller reserviert!«
»Womit sie eine Freundin fürs Leben gefunden hätten, lieber Herr Barbrack«, lachte Egidius.
»Das wäre schön«, träumte der Koch versonnen und ließ Constanze nicht aus den Augen.
Egidius und Karin sahen sich vergnügt an.
»Ich meinte allerdings eher meine Frau Kreuzeder, Herr Barbrack, nicht das junge Gemüse!«
»Junges Gemüse?« Michael verstand überhaupt nichts mehr.
»Herr Professor!«, mahnte Karin Kreuzeder. »Jetzt verwirren Sie den jungen Mann doch nicht! Nachher brennen ihm morgen die Rouladen an! Und die mag ich doch so gern!«
Michael strahlte.
»Lassen Sie mich wissen, wenn Sie da sind, Frau Kreuzeder! Sie bekommen ein Roulade extra!«
»Sie sind ein Schatz, Herr Barbrack. Ich weiß auch nicht, wie der Chef das immer hinbekommt – er findet immer Mitarbeiter, die hervorragend zu uns passen! – Aber aus der doppelten Portion machen wir uns keine liebe Gewohnheit, hören Sie? Nur bei Roulade, da kann ich nicht widerstehen!«
»Alles schön und gut, aber – zu wessen Lasten geht denn diese Veranstaltung hier?«, mischte sich der Verwaltungsleiter ein. »Haben Sie dies alles während Ihrer Dienstzeit zubereitet, Herr Barbrack?«
»Es handelt sich um meine Feier, Herr Somnitz. Ich zahle die Rechnung!«, warf Constanze ein.
»Das wäre ja wohl noch schöner. Nein, Herr Somnitz, das habe ich in meiner Freizeit angerichtet. Und die Zutaten gehen zu meinen Lasten. Als Geschenk für Constanze, sozusagen.«
Die Ärztin sah ihn überrascht an.
»Warum schenkst du mir etwas, Michael?«
»Ich mag dich eben.«
Der Satz purzelte so spontan aus ihm heraus, dass er selbst überrascht war und verlegen zu Boden sah.
»Stimmt, Micha«, stellte Timon fest. »Wie ein Mensch sich ändern kann! Aus einer schwierigen Kollegin ist eine bildschöne, attraktive, schicke Frau geworden! Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast!«
*
Die Wohnung war der Hit. Ludwig hatte nicht zu viel versprochen. Zwar hatte sie aufgrund der Lage keinen See-, dafür aber reichlich Bergblick. Sie war mit allem ausgestattet, was man so brauchte. Und die 100 Quadratmeter sollten gerade mal 800 Euro kosten.
»Das kann doch nicht sein, Ludwig. So ein Objekt kann ein Vermieter doch nicht für’n Appel und ’n Ei zur verfügung stellen! In Hamburg würdest du 2500 bis 3000 Euro bezahlen!«
Ludwig klopfte ihm auf die Schulter. »Gut, dass wir nicht in Hamburg sind, oder?«
Timon strahlte. »Ich nehme sie. Wenn der Vermieter mit mir einverstanden ist.«
»Ist er«, lachte Ludwig. Wenn du hier den Mietvertrag unterschreiben willst …!«
»Sag mal! Hast du so was wie eine Generalvollmacht?«
»Ja, so was Ähnliches!«
Timon griff nach den Papieren und las.
»Vertrag zwischen Herrn Dr. Timon Süden, im weiteren ›Mieter‹ genannt, und Herrn Dr. Ludwig Lechner, im weiteren ›Vermieter‹ … sag mal – spinne ich? Das Ding hier gehört dir?«
»Tu mir bitte den Gefallen und behalte es für dich, ja? Ich will das nicht an die große Glocke hängen!«
»Aber entschuldige mal! Ich dachte, als du hier ankamst, warst du ein armer Hund! Du sollst sogar in einem Restaurant am Tegernsee auf der Toilette als Klomann gearbeitet haben!«
»In einem sehr guten Restaurant!«
»Und von den 50 Cent kann man sich eine Wohnung kaufen?«
»Nein. Man kann sich drei Wohnungen kaufen!«
»Du machst mich fertig!«
»Ich habe auf der Weihnachtsfeier im letzten Jahr einen Lottoschein bekommen. Mit dem habe ich einen höheren Betrag gewonnen, und konnte damit in der Hauptsache dem Chef nach seinem Unfall helfen. Und mit dem Rest des Geldes habe ich hier drei Wohnungen gekauft. Die Große, in der ich wohne, die Mittlere, in der du wohnst, und noch eine kleine Bude, die leer steht. Frau Kreuzeder hatte mich doch aufgenommen, und ich wollte nach dem Gewinn für uns beide eine schöne Wohnung kaufen. Aber sie wollte nicht so recht und lernte dann ja auch ihren Mann kennen, zu dem sie zog. Naja. Ich wollte allerdings das Geld nicht auf dem Konto lassen. Da wird des nur weniger, und mein Vertrauen zu Banken ist eher limitiert. Deswegen die Wohnungen.«
»Donnerwetter! Das nenne ich Glück!«
»Das Geld, meinst du? Quatsch. Mein Glück begann in der Sekunde, als ich in der chirurgischen Ordination in St. Bernhard stand, vor Frau Kreuzeder, die damals noch Frau Fürstenrieder war, und Egidius Sonntag. Das war Glück. Das Geld ist doch völlig egal!«
»So gesehen … Weißt du denn, wer dir den Lottoschein geschenkt hat?«
»Nein, leider nicht. Weißt du, ich hab früher so gern Märchen gelesen, als Kind. Kennst du das Märchen ›Sterntaler‹? Das ist genau meine Geschichte. Irgendwas ist vom Himmel gefallen. Wer weiß. – Du, Timon … Bitte sag niemandem was, hörst du? Das soll ein Geheimnis bleiben. Nur Frau Kreuzeder weiß davon.«
*
»Besuch für Sie, Herr Professor! Eine schöne Überraschung!« Bei so viel Optimismus in Frau Kreuzeders Stimme hielt es Egidius nicht auf seinem Platz.
»Was? Sind die paar Wochen schon wieder ins Land gegangen? Willkommen zurück, liebe Schwester Marion! Gut, Sie wiederzuhaben! Geht es ihnen besser?«
»Die Schmerzen sind besser geworden, Herr Professor. Ich habe Ihnen einen Brief mitgebracht hat, vom dortigen Kurarzt!«
Egidius überflog die Zeilen.
»Das machen wir. Erneute Behandlung in einem halben Jahr! Und bis dahin gibt’s Akupunktur und Physiotherapie mit Osteopathie! Das hat genützt?«
»Sehr, Herr Professor! Sie wissen aber schon, dass die Kasse das nicht bezahlt?«
»Ach, wissen Sie … Machen Sie lieber eine Liste, was die Kassen überhaupt noch zahlen. Das geht schneller! Haben sie keine Sorge, Marion. Ich kümmere mich darum! – Sagen Sie, ich will nicht indiskret sein, aber irre ich mich, oder tragen Sie ihren Koffer hier spazieren? Sie sind doch nicht direkt vom Bahnhof hierher gekommen, oder?«
Sie biss sich auf die Lippen.
»Doch! Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen!«
Egidius zog die Augenbrauen hoch, und nestelte an seiner Lieblingsfliege: rotes Schottenmuster.
»Wie lange kennen wir uns eigentlich, Marion? Ich weiß, dass das nicht die Wahrheit ist. Ich kann Sie natürlich nicht zwingen. Aber wenn Sie je die Lust überkommt, mir reinen Wein einzuschenken, garantiere ich Ihnen offene, chefärztliche Ohren!«
»Herr Professor, es geht nicht. Sie haben so viel um genau diese Ohren. Meine paar Probleme muss ich gefälligst selbst lösen, finden Sie nicht?«
»Herr Professor? Herr Fahl ist da und möchte nur kurz etwas zur Behandlung des Patienten mit der Tibiakopffraktur fragen, ist das möglich?« Frau Kreuzeder hatte ihren Kopf in das Reich des Chefarztes gesteckt.
»Stört es Sie, Schwester Marion?«
»Natürlich nicht. Emmerich ist ja auch mein Physiotherapeut!«
Der Angekündigte betrat elastischen Schritts das Zimmer.
»Danke, Herr Professor, dass Sie sich kurz die Zeit nehmen … Marion! Du bist zurück? Alles gut bei dir?«
Sie nickte, wenig überzeugend. Professor Sonntag erstellte den Behandlungsplan.
»Steigen wir vorsichtig ein, Herr Fahl. Bitte um Kryotherapie, sicher benötigen wir zusätzlich eine manuelle Lymphdrainage mit Kompression. Isometrische, achsengerechte Krankengymnastik. Ganz klar: Dorsale Grifftechnik am Tibiakopf. Und auf keinen Fall Rotation im Kniegelenk zulassen!«
»Herr Professor!«, sprach Emmerich Fahl vorwurfsvoll.
»Ist ja schon gut. Ich weiß, dass sie es wissen. Ich wollte nur ganz korrekt sein!«
»Das ist Ihnen gelungen! – Marion, kommst du noch in die Bäderabteilung? Dann können wir die nächsten Termine abmachen!«
»Ich könnte gleich mit dir kommen, wenn du Zeit hast! Herr Professor, wir sehen uns morgen! Was steht auf dem Programm?«
»Nur eine Leistenhernie rechts, und ein Magentumor!«
»Das bekommen wir hin, Herr Professor!«
*
»Kind, jetzt sag aber mal … Da stimmt doch was nicht! Das sieht doch ein Blinder? Und was hat dieser Koffer zu bedeuten?«
»Ich habe es getan, Emmerich. Ich habe es endlich geschafft. Ich habe mich getrennt.«
Der Physiotherapeut sah sie erstaunt an.
»Aber du hast doch immer gesagt, das Haus …«
»Ach, das soll ein Anwalt klären. Ökonomisch ist es ein Wahnsinn. Meine gesamte Absicherung fürs Alter geht den Bach runter. Aber wenn ich dieses Leben so weiterleben muss, werde ich gar nicht alt.«
Emmerich ergriff ihre Hände.
»Und wie geht es dir damit, Marion?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin froh. Ich habe Angst. Ich darf überhaupt nicht lange darüber nachdenken, dann bekomme ich Panik. Ich bin traurig. So viele Erinnerungen muss ich begraben. O Gott, wenn ich bedenke, wie viel Arbeit in diesem Haus steckt! Emmerich, sag mir: Hab ich richtig gehandelt? Eben fühlte es sich nicht richtig an, aber gerade bin ich überhaupt nicht mehr sicher! Sag schon! Hätte ich nicht so schnell aufgeben sollen?«
Er umarmte sie.
»Nicht so schnell? Machst du Witze? Du hast das Jahrzehnte ausgehalten. Und du hast es immer wieder versucht, um seine Unterstützung, seine Anerkennung zu bitten. So, wie du es mir erzählt hast, hat er sein Leben durchgezogen. Wer weiß, ob es ihm überhaupt auffällt, dass du nicht mehr da bist. Ich bin auch gar nicht sicher, ob man ihm einen Vorwurf machen darf. Du gehörst zu diesen komischen Frauen, die glauben, dass sie den Kerl, den sie geheiratet haben, sich schon irgendwie zurechtbiegen können. Aber das funktioniert nicht. Nie. Du bastelst dir aus einem Mr. Hyde keinen Dr. Jekyll.«
»Du findest mich sehr dumm, oder, Emmerich?«
»Ich finde dich sehr tapfer, Marion. Du bist sehr tüchtig. Ohne dich geht im OP alles drunter und drüber. Vielleicht hast du nicht unbedingt ein glückliches Händchen bei der Partnerwahl. Aber man kann ja nun auch nicht alles können!«
Sie weinte. Dann musste sie lachen.
»Ich bin eine dumme Kuh, Emmerich. Ich weiß nicht einmal, wo ich die Nacht verbringen werde. Ich wollte eigentlich den Chef fragen, ob ich hier irgendwo ein Bett finde, bis ich mich um eine Wohnung gekümmert habe. Aber es kam mir plötzlich so ungehörig vor, ihn danach zu fragen. Und dann warst du plötzlich da!«
»Also, wenn du dir vorstellen könntest, bei mir einzuziehen? Mein Untermieter zieht gerade aus!«
»Dein Unter … ach so, ich dachte, ihr seid – naja, zusammen, Dr. Süden und du!«
Emmerich senkte den Kopf.
»Reib du jetzt auch noch Salz in meine Wunden! Ich wünschte, es wäre so. Er ist ein Goldschatz, wirklich. Zärtlich, liebevoll, lustig, intelligent. Er kann kochen, bügeln und ist hinreißend ordentlich. Außerdem pinkelt er im Sitzen! Kann es einen besseren Mitbewohner geben? Aber: Er ist nicht schwul! Er findet Männer attraktiv, sehr sogar, aber er kann sich eine Lebensgemeinschaft eben nur mit Frauen vorstellen! Verdammt!«
»Naja«, gab Marion zu bedenken, »schwul ist ja nun auch nichts, was man sich aussucht. Man entscheidet sich ja auch nicht, hetero zu sein!«
»Das ist so, Marion. Aber er hat mir nach zwei Gläsern Wein erzählt, dass da mal was war, mit dem Mann von Dr. Angerer. Und ich hatte eben gehofft – ach, egal. Wir sind Freunde. Und das will ich nicht kaputtmachen. – Was ist denn nun? Hast du Lust auf eine Wohngemeinschaft?«
»Das ist nicht die Frage. Aber du hast vorhin gesagt, dass ich glaube, mir den Kerl, mit dem ich zusammenlebe, nach meinen Bedürfnissen zurechtbiegen zu können, oder so ähnlich. Wenn dich das nicht stört?«
Sie zwinkerte ihm vergnügt zu. Er wurde ernst.
»Weißt du, ich bin so, wie ich bin, und ich bin es gern. Ich bin freundlich. Langweilig. Aber verdammt gut in dem, was ich tue. Hätte ich mir aussuchen können, ob ich schwul oder hetero sein möchte, hätte ich mich vermutlich für hetero entschieden, einfach, um mit meiner Frau Kinder haben zu können. Aber ich habe die Wahl nicht. Du bist eine Traumfrau.«
Marion schnappte nach Luft.
»Nein«, kam Emmerich ihr zuvor. »Widersprich mir nicht. Das erkenne ich, auch wenn ich nicht auf Frauen stehe. Aber täte ich das, würde ich niemand anderen als dich wollen.«
Warum bloß, grübelte Marion. Eine Frau sollte mindestens drei Männer haben. Nr. 1 für die emotionalen Bedürfnisse, Zärtlichkeit, Liebe. Nr. 2 für intellektuelle Herausforderungen, Besuche in Museen, Theatern, Konzerten. Nr. 3 für Sex. Jawohl. Mit drei Exemplaren von der Sorte käme man aus. Ob vor ihr schon mal jemand darauf gekommen war?
»An was denkst du, Marion?«, erkundigte sich Emmerich. »Dein Gesichtsausdruck macht mir Angst!«
»An Männer«, erwiderte Marion.
»Das kenne ich!«, lachte Emmerich Fahl.
Vater sein dagegen sehr
»Aller guten Dinge sind drei!«, lachte Professor Antretter fröhlich. »Herzlichen Glückwunsch, die Damen und Herren! Es hat geklappt! Ich bin begeistert!« Chris und Philipp strahlten um die Wette. Hatice hielt es nicht auf dem Stuhl. Sie sprang auf und stürmte aus dem Zimmer. Veronika lief hinter ihr her.
»Schatz, was ist denn, freust du dich denn gar nicht?«
Zu groß war der Druck gewesen, unter dem ihre Lebensgefährtin gestanden hatte. Dieser fiel nun plötzlich von ihr ab. Es traf sie nicht unvorbereitet. Sie hatte es vorhersehen können. Und trotzdem überwältigte sie die offizielle Bestätigung durch den Professor. Es schien, als durchlebte sie sämtliche Emotionen gleichzeitig. Sogar die, die gar nicht zueinander passten.
»Komm, lass uns wieder hineingehen. Wir müssen doch unser Kind mal anschauen, oder?«
Professor Antretter brauchte die komplette Rolle des Thermoprint-Papiers auf. Die Bedürfnisse nach Ausdrucken der Fotos des kleinen Wunders, das sich da in Hatices Bauch befand, mussten befriedigt werden.
»Beim nächsten Ultraschall gibt es eine DVD«, versprach der Chefarzt. »Das dauert allerdings noch. Die Sonografie gilt zwar als unbedenklich, trotzdem gehen wir sparsam mit dieser Methode um.«
Stolz nahm die junge Mutter – die werdende junge Mutter – das blaue Vorsorgeheft in Empfang.
*
»Ich bin so gespannt!«, rief Chris. »Was meinst du? Wird er mir oder dir ähnlich sehen?«
»Er?«, staunte Philipp. »Außerdem tust du mir bitte den Gefallen und hältst dich an die Vereinbarungen, ja? Es ist nicht unser Kind. Es ist das Kind von Hatice und Veronika. Wir haben maximal die Onkel-Rolle zu spielen, mehr aber auch nicht.«
»Ich sag ja gar nichts«, erklärte sein Mann beleidigt. »Aber man wird doch wohl noch nachdenken dürfen, oder? Und sich freuen!«
»Darfst du, Chris. Ich halte es nur nicht für gut, wenn du dein Herz an eine Hoffnung hängst, die sicher enttäuscht werden wird. Pacta sunt servanda – Verträge müssen eingehalten werden. Und wir haben nun einmal unterschrieben, dass wir uns aus allem, was das Kind betrifft, weitestgehend heraushalten.«
»Das war gelogen. Ich habe das so nicht gemeint! Ich will mitbestimmen, wenn es um meinen Sohn geht!«
»Ach Mensch, Chris! Das Kind hat noch kein Geschlecht, und sogar wenn es dein Kind oder mein Kind wäre, Eltern vertreten keinen Besitzanspruch an ihren Kindern. Ein Kind gehört niemandem. Maximal sich selbst.«
»Du bist heute einfach unerträglich vernünftig!«
»Einer von uns muss doch einen klaren Kopf bewahren. Es reicht, dass du am Rad drehst!«
Er bremste ab und fuhr auf den Supermarkt-Parkplatz. Chris sah ihn fragend an.
»Das Zeugs für den Geschirrspüler ist alle. Und ich habe gerade wahnsinnig Lust auf Salat bekommen. Einverstanden?«
»Ich komme mit rein«, sagte Chris und schnallte sich ab. »Ich schau mal, ob ich eine reife Ananas finde!«
*
Liebe Felicitas – mein einziger Schatz!, schrieb Oberarzt Cortinarius. Heute wirst du acht Jahre alt. Ich weiß, dass du mir in deinem Brief an mich – dem auf dem blauen Papier, du weißt schon – mitgeteilt hast, dass du keinen Kontakt zu mir wünschst. Ich kann dich natürlich nicht zwingen. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das Leben manchmal nicht so geradlinig verläuft, wie wir es gern hätten. Und dann könnte es doch sein, dass du deinen Papa, der ich ja unstrittig bin, brauchen könntest.
Das ist das, mein Kind, was ich dir zu deinem Geburtstag sagen will. Ich verspreche dir, dass ich mich ungefragt niemals einmischen werde. Ich werde darauf warten, dass du mir ein Zeichen gibst. Und, was auch immer es ist: Ich werde für dich dasein.
Kilian Cortinarius musste eine Pause einlegen. An einer Stelle war das Briefpapier so feucht geworden, dass die Tinte seines Füllfederhalters verlief. Er saß da und versuchte, seine Worte zu lesen, auch, wenn sie immer wieder verschwammen. Es war ein so hoffnungsloses Unterfangen, Briefe zu schreiben an einen Menschen, der offensichtlich keinen Wert darauf legte. An einen Menschen, der sie vielleicht nie erhalten und lesen würde.
Auch diesmal wieder würde es so sein wie immer. Spätestens im Verlauf der kommenden Woche würde er sein Kuvert in seiner Post vorfinden, mit einem amtlichen, auberginefarbenen Stempel, der verschiedene Gründe für die Rücksendung angab. Und es würde, wie immer, der Vermerk dick angekreuzt sein, dass der Empfänger die Annahme verweigert hatte. Er würde dann diesen Umschlag zu den anderen legen, hoffend, dass einmal Felicitas die Gelegenheit haben würde, sie zu lesen.
Der Briefkasten unten in der Eingangshalle wurde um 18 Uhr 30 geleert. Das schaffte er noch. Er musste sich zwar beeilen, aber etwas schnelle Bewegung tat ihm gut nach diesem Tag am OP-Tisch.
Er hatte sich eine etwas alberne Angewohnheit angenommen, nachdem sein erster Brief abgelehnt zurückgekommen war. Jeden der Briefe hatte er in einen anderen Kasten geworfen. Wer weiß? Vielleicht half das? Vielleicht fand er eines Tages den magischen, ihm wohlgesinnten Briefkasten, der die Verbindung herstellen konnte zwischen seiner Tochter und ihm! Wie ein Portal, durch das man hinüber gelangen konnte in eine wunderbare, verzauberte Welt, in der es immer Frühling und in der jeder verliebt war, und in der es nach Karamell und Erdbeeren duftete …
*
Das kleine Mädchen war es gewohnt, die Haustür nicht selbst aufschließen zu müssen. Üblicherweise hatte ihre Mama bereits mit der Zubereitung des Mittagessens begonnen und öffnete auf ihr Klingeln hin. Warum das heute – ausgerechnet heute, an ihrem Geburtstag – nicht so war, begriff sie nicht. Sie setzte sich auf die Stufen vor der Haustür und machte sich Gedanken darüber, ob alles rechtzeitig vorbereitet werden konnte für ihre kleine Feier, zu der sie einige Freundinnen eingeladen hatte. Um 15 Uhr 30 würden sie vor der Tür stehen. Jetzt war es schon halb Eins durch.
»Na, kleines Fräulein«, ertönte es einen guten Meter über ihr.
»Guten Tag, Herr Korritke!«, erwiderte sie höflich.
»Nimmst du heute die Post entgegen? Scheint so, als ob da jemand ein Jahr älter wird, heute!«
Sie streckte die Hand aus nach dem bunten Papierstapelchen.
»Ja, das bin ich! Dankeschön, Herr Korritke!«
»Ist es indiskret nachzufragen, wie alt Sie heute geworden sind, meine Dame?«
»Neun!«
»Neun, soso! Ein hervorragendes Alter! Noch ein Jahr bis zur ersten Null!«
Das kleine Mädchen verstand nicht.
»Nun, die zehn ist deine erste Null. Ich habe bereits die sechste Null überschritten!«
Der freundliche Postbote zog sich zurück, und das kleine Mädchen begann, die Karten und Briefchen nacheinander zu öffnen, und zu lesen.
Bei dir war es immer so schön
»Guten Abend, Frau Doktor!«
Dagmar grüßte höflich zurück. Seltsam! Der Herr kam ihr bekannt vor, allerdings nicht aus diesem Haus hier, in dem sie wohnte.
»Entschuldigung … kennen wir uns?«
»Wie dumm von mir! Bitte um Vergebung, Frau Doktor. Sie können sich unmöglich all ihre Patienten merken! Ja, sie haben mich wiederholt in der Notaufnahme der Klinik St. Bernhard behandelt. Das Herz streikt immer mal wieder! Ich habe inzwischen gelernt, dankbar dafür zu sein, wenn es fünf bis sechs Mal pro Tag klopft! Tiefenthal ist mein Name, Wolf Tiefenthal!«
»Ach, dann gehören Sie zu meiner Nachbarin, die immer so lieb meine Blumen gießt?«
»Ganz genau, Frau Doktor. Ich bin der Vater der jungen Frau, die nun endlich geheiratet hat, zumindest erst einmal auf dem Standesamt! Die kirchliche Hochzeit und die Feier, zu der Sie ja auch eingeladen sind, folgten in circa vier Wochen! Die Karte mit der Einladung für Sie und Ihren Gatten habe ich gerade vorhin in Ihren Briefkasten geworfen!«
»Gut, dass Sie das sagen! Wie heißt denn ihre Tochter jetzt?«
»Sie behält ihren Namen. Mein Schwiegersohn wird ein Tiefenthal werden. Er hasst seinen Namen, was ich völlig unverständlich finde. Aber das ist ja auch egal! Bitte lassen Sie sich nicht von mir aufhalten. Ihr Tag war sicher lang und anstrengend. Sie haben sich ihren Feierabend verdient!«
*
»Wir sind eingeladen, Liebes«, verkündete Dagmar, als sie die Wohnung betrat.
»Wer lud uns ein?«, forschte Anton, der den Teller mit den Antipasti ins Esszimmer transportierte. »Bist du einverstanden? Ich habe den 2015er Valbuena aufgemacht. Unfassbar teuer und aus Spanien. Aber ich glaube, er ist auch sehr gut!«