Читать книгу Dr. Sonntag Box 3 – Arztroman - Peik Volmer - Страница 6

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Verehrte Leserin, geschätzter Leser, Sie haben soeben die Ausgabe Nr. 11 unserer kleinen Geschichte gekauft. Dafür bin ich Ihnen natürlich persönlich dankbar, hoffe allerdings auch, dass ich Sie bisher gut unterhalten konnte. Ich sag dazu auch noch etwas in meinem Kurzen Nachwort. Das ist ja immer so eine Sache mit realen Geschichten, bei denen nur ein paar Details verändert wurden, um die Persönlichkeitsrechte der handelnden Personen zu schützen, von denen sich vielleicht der eine oder andere sogar wiedererkennt. Aber selbst wenn: Wirklich unsympathisch habe ich nur eine Person gefunden. Alle anderen waren doch, von ein paar Fehlern mal abgesehen, liebenswert. Oder vielleicht sogar wegen ihrer Fehler? Die sollen ja auch bei uns vorkommen, oder? Es sind halt Menschen, die versuchen, irgendwie durchs Leben zu kommen, ohne allzu viel anzuecken. Ein wenig Freude zu haben. Sie wollen niemanden willentlich oder wissentlich verletzen, auch wenn es gelegentlich passiert – genauso wenig, wie sie selbst verletzt werden wollen.

Manchmal allerdings erlebt man Überraschungen. Man schliddert in Situationen, die man nicht vorhersah oder verschuldete. Die man nicht zu verantworten, aber zu vertreten hat. Zum Beispiel anlässlich eines Besuches, in einer Reha-Klinik in Niederbayern. Die Besucher haben herausgefunden, wo der Patient liegt, begeben sich zu dessen Zimmer, und finden ihn, Hand in Hand, mit jemandem, den man dort eher nicht erwartet hätte …

Das wird man ja wohl

noch sagen dürfen

Beim Betreten des Zimmers zog Timon schnell seine Hand aus der seines Besuchers.

Allerdings war die Situation dem scharfen Auge von Chris nicht entgangen. Durch die Hast der Bewegung wurde schlechtes Gewissen noch offensichtlicher. Hier war etwas geschehen, was sich nicht hätte ereignen dürfen.

Philipp war wild entschlossen, sich in jeder sich bietenden Situation heiter und gut gelaunt zu präsentieren. Freundlich grüßte er.

»Hallo, Timon! Hallo, Emmerich! Schön, euch zu sehen! Alles gut? Quälen sie dich hier ordentlich?«

»Das kann man wohl sagen«, grinste Timon. »Wenn ich diese ganzen Therapien hinter mir habe, bin ich wirklich geschafft! Dagegen war ja St. Bernhard der reinste Erholungsaufenthalt!«

»Gelobt sei, was hart macht«, stellte Philipp nüchtern fest. »Dagmar hat mich gebeten, dir mitzuteilen, dass sie dich dringend braucht in der Notaufnahme. Und dass du dir – ich zitiere – ›verdammt noch mal Mühe geben sollst, dein Hinterteil schnellstens in Richtung St. Bernhard zu bewegen‹. Unter uns: Für Hinterteil hat sie einen anderen Ausdruck verwendet. Aber derlei kommt nicht über meine Lippen. Dafür bin ich zu vornehm!«

Die Herren lachten.

»Ihr wundert euch sicher, dass ich hier bin«, meldete sich Emmerich zu Wort. Chris und Philipp hoben abwehrend die Hände.

»Aber nicht doch! Warum sollten wir uns darüber wundern, dass ein Arbeitskollege einen anderen Arbeitskollegen besucht? Völlig selbstverständlich!«

»Ich meine nur, weil wir hier so vertraut …«

»Vertraut? Ich dachte, du hättest Timon eine Übung gezeigt! War doch so, oder?«

Sowohl Emmerich als auch Timon schauten Chris und Philipp verunsichert an.

»Sag mal, Hannes, willst du dem Timon nicht mal guten Tag sagen? Und dem Emmerich vielleicht auch?«

Der Junge hatte sich an den Tisch gesetzt und mit einem Kugelschreiber ein Blatt Papier aus dem Protokollheft bearbeitet, in dem der Zeitplan für die Anwendungen, der Speiseplan für die laufende Woche sowie einige Informationen zu den Abläufen in der Klinik gesammelt waren.

»Hannes, das ist ein Dokument! Ich bin nicht sicher, ob das so gut ist, wenn du das zum Malen benutzt!«

Chris gab sich Mühe, streng zu klingen, was ihm halbwegs gelang.

»Ich male nicht«, behauptete der Junge. In der Tat sah man auf dem Papier diverse geometrische Muster, Quadrate, Dreiecke, Trapeze.

»Gibt’s kein WLAN?«, fragte er in Simons Richtung. »Ich hab hier nur E-Netz!«

»Glaube es oder glaube es nicht: WLAN ist hier kostenpflichtig. Deswegen habe ich darauf verzichtet. Nicht aus Geiz, sondern aus Prinzip.«

»Kann ich rausgehen?«, fragte der Junge. »Draußen war wenigstens G3!«

Chris erlaubte es ihm. »Aber nicht vom Gelände gehen, okay? Und lass dich bitte von niemandem ansprechen!«

Das versprach Hannes und trollte sich.

»Ihr habt ein Kind?«, fragte Emmerich. »Das ist so toll! Wirklich! Ich beneide euch!«

Philipp nickte.

»Hannes ist eigentlich der Sohn einer Kollegin, die allerdings deutlich überfordert mit ihm war. Persönliche Gründe. Sie hatte einen schweren Unfall und uns gebeten, dass wir uns um Hannes kümmern. Dann sollte er nach ihrem Wunsch dauerhaft bei uns leben, was wirklich gut funktionierte. Als es ihr wieder besser ging, wollte sie ihn zurück – aber der Junge war wild entschlossen, bei uns zu bleiben, und – ehrlich: Es wäre uns sehr schwer gefallen, ihn wieder hergeben zu müssen. Als Lily dann anfing, uns zu beschimpfen, war ich böse und habe sie erpresst.«

»Mit was denn?«, erkundigte sich Timon überrascht.

»Ich möchte darüber nicht sprechen«, erwiderte Philipp. »Es führte immerhin dazu, dass sie zähneknirschend einwilligte. Und so lebt der Junge nun bei uns, und wir könnten uns keinen tolleren Sohn wünschen!«

»Er ist ein Asperger-Kind, oder?«

»Donnerwetter, Emmerich! Glänzende Diagnose! Ja, ist er, allerdings in einer besonders milden Form. Und seit er in Waakirchen regelmäßig zum therapeutischen Reiten geht, ist sein Zustand noch besser geworden. Solange er ein Gerüst für den Tag hat, ein Schema, findet er Halt, und alles ist gut. Nur wenn zu viel Unerwartetes ungeordnet auf ihn einstürzt, dekompensiert er etwas. Aber dass Asperger-Kinder keine emotionale Bindung aufbauen können, gilt nicht für ihn, im Gegenteil. Er ist nicht spontan herzlich, und schon gar nicht zu Fremden. Aber uns kennt er gut, wir bedrängen ihn nicht. Wir warten, bis er auf uns zukommt.«

»Einfach großartig. Ich freue mich für euch!«

»Timon, erzähl doch bitte: Wie geht es dir?«, fragte Chris.

»Mir geht es ähnlich wie Hannes«, lachte dieser. »Wenn alles schön langsam geht, und nicht zu viel auf einmal passiert, klappt alles wunderbar. Manchmal fühle ich mich überfordert. Aber ich bemerke den Fortschritt, und dass ist alles, worauf es ankommt. Es gibt sogar Tage, an denen ich mir vorstellen kann, wieder voll zu arbeiten. Der Kollege hier rät mir zu einer Wiedereingliederung stufenweise, ihr kennt das. Eine Woche zwei Stunden täglich, eine Woche vier Stunden, eine Woche sechs Stunden und dann wieder voll.«

Philipp wirkte wie ein Stationsarzt mit seiner ernsten, nachdrücklichen Antwort.

»Das ist mit Sicherheit vernünftig so. Und wie ich Dagmar kenne, wird sie dich unterstützen. Wie wir alle übrigens. Du brauchst keine Angst zu haben, Timon. Du bist nicht allein.«

»Ach, Philipp«, entgegnete Timon traurig. »Ich wollte, dass du recht hättest. Wirklich. Aber ich glaube, dass ich meine Familie verloren habe. Tatsächlich. Mir graut vor dem Tag, an dem ich hier entlassen werde. Ich weiß gar nicht, wo ich hingehen soll!«

»Du kommst zu mir«, erklärte Emmerich bestimmt. »Das wäre ja wohl noch schöner. Mach dir da bloß keine Sorgen!«

»Das ist total lieb von dir, Emmerich. Aber die Frage ist, ob das wirklich eine dauerhafte Lösung ist. Du bedeutest mir viel …«

Erschrocken hielt er inne und sah Chris und Philipp schuldbewusst an. Diese konnten sich eines Schmunzelns nicht erwehren.

»Du, wir sind hautnah in der Thematik! Unseretwegen brauchst du nicht mit deinen Gefühlen hinter dem Berg zu halten!«

Timon atmete erleichtert auf.

»Nein. Was ich sagen will, ist – du bedeutest mir viel. Das heißt aber nicht, dass ich leichten Herzens auf meine Frau, auf meine Kinder und Schmidt verzichten möchte!«

»Schmidt?« Emmerich Fahl wirkte irritiert.

»Unser Hund. Ein Bobtail. Total süß! 99% Herz. 1% Hirn.«

»Ich halte es für möglich, Timon, dass diese Entscheidung nicht mehr wirklich in deiner Hand liegt. So, wie Chris und ich deine Gattin in der Klinik erlebt haben … Vielleicht kann Egidius etwas ausrichten. Der ist immer hilfsbereit und sehr weise und besonnen. Vielleicht kann der noch mal mit ihr reden.«

»Meinst du, dass er das tun würde?«

»Natürlich würde er. Du gehörst zu seiner Familie.«

Timons Blick wanderte ungläubig zwischen den beiden hin und her.

»Seiner Familie?«

»Egidius’ persönliches Konzept seiner Auffassung vom Klinikbetrieb. Die Mitarbeiter sind eben seine Familie. Egal, ob Oberarzt oder Raumpflegerin. Du arbeitest bei uns? Du gehörst dazu. Und jeder tritt für dich ein, genau so, wie man von dir erwartet, dass du für jeden anderen Kollegen eintrittst. Deswegen war es auch so eine Katastrophe, als vor ungefähr einem Jahr plötzlich das Giftbuch nicht stimmte und herauskam, dass Cortinarius Betäubungsmittel abgezweigt hatte!«

»Moment mal … Cortinarius? Der ist doch Oberarzt auf der Chirurgie!«

»Ganz genau. Er wurde verurteilt. Und beurlaubt. Aber statt ihn zu feuern, gab Egidius ihm eine neue Chance nach einer Entzugstherapie. Vermutlich hätte er sonst nirgendwo mehr eine Stelle gefunden! Aber er hat sich wirklich glänzend zurückgemeldet. Kurz bevor er wieder anfangen sollte, hatte Egidius diesen schrecklichen Unfall. Wachs rief Cortinarius zu Hilfe. Der kam, operierte und rettete ihn. Deswegen kann unser Chef heute wieder laufen!«

»Ich bin da wirklich in einem komischen Laden gelandet«, stellte Timon fest. »Ehrlich – so etwas habe ich in keinem der Häuser erlebt, in denen ich bisher gearbeitet habe!«

»Einschließlich der hervorragenden Physiotherapie, stimmt’s?«

Chris zwinkerte anzüglich. Philipp stupste ihn an.

»Sei nicht so frech!«

»Wieso frech? Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, oder?«

Ich will auch!

»Und so frage ich Sie, Frau Veronika Froschauer: Sind Sie gewillt, die hier anwesende Frau Hatice Yildirim zu Ihrer rechtmäßig angetrauten Ehefrau zu nehmen, so antworten Sie bitte laut und deutlich, ›Ja, ich will!‹«

»Ja, ich will.«

»Ich frage auch Sie, Frau Dr. Hatice Yildirim: Sind Sie gewillt, die rechtmäßige, eheliche Verbindung mit der hier anwesenden Frau Veronika Froschauer aus freien Stücken einzugehen, so antworten auch Sie bitte mit einem klaren ›Ja, ich will!‹«

»Ja, ich will auch!«

»Kraft des mir verliehenen Amtes als Standesbeamter des Freistaats Bayern, Bezirk Miesbach, erkläre ich Sie hiermit zu rechtmäßig verbundenen Eheleuten. Ich freue mich, der erste zu sein, der Ihnen gratulieren und von Herzen alles Gute wünschen darf!«

Der Standesbeamte trat auf die beiden Damen zu und schüttelte ihnen kräftig die Hände.

Mit Enttäuschung hatte Vroni festgestellt, dass ihr Vater sich hatte entschuldigen lassen. Immerhin war ihre Mutter erschienen, die nach Überwindung anfänglicher Schüchternheit langsam auftaute und mit Ayse das Gespräch suchte. Als Trauzeugin hatte Vroni sich Schwester Birte ausgesucht, die stolz ihre Aufgabe erfüllte. Für Hatice war eine befreundete Kollegin angetreten. Unter den Gästen, die sich aus dem Freundeskreis der beiden rekrutierten, fanden sich auch Corinna und Egidius, der als Vronis ›Lebensretter‹ – wie sie nicht müde wurde zu betonen – nicht fehlen durfte.

Im Anschluss an die kleine Zeremonie verlagerte sich die Festgemeinde in das ›Bräustüberl‹ am Tegernsee, in dem der Chefarzt vom Maître, Herrn Weber, auf das Herzlichste begrüßt wurde. Es war immer wieder erstaunlich, mit welcher Hingabe der würdige ältere Herr bemüht war, den Bedürfnissen seines prominenten Gastes gerecht zu werden. Egidius seinerseits behandelte ihn niemals wie einen Kellner, sondern trat ihm mit höchstem Respekt und Freundlichkeit gegenüber.

Man hatte sich darauf geeinigt, alles zu vermeiden, was dem heiteren, informellen Charakter der Veranstaltung entgegenstand. Das Ehepaar, das zwei Tische weiter gesessen hatte, hatte seine Rechnung beglichen und erhob sich nun. Egidius nickte freundlich herüber. »Habe die Ehre, Herr Dr. Schmid!«, rief er. Corinna zugewandt, erklärte er, »Herr Dr. Schmid ist ist Richter am Amtsgericht Miesbach!«

Das Ehepaar ging an dem Tisch vorbei. Veronika hatte mit dem Rücken zum Tisch der Schmids gesessen. »Dr. Schmid? Ach was!«, äußerte sie keck. »Einen guten Abend wünsche ich Ihnen und Ihrer Gattin!«

Der Richter erkannte die Braut, und zuckte, peinlich berührt, zusammen. »Guten Abend«, nuschelte er, und zog hastig seine Ehefrau in Richtung Ausgang. »Woher kennst du die Dame?«, fragte diese neugierig beim Verlassen des Restaurants.

»Schade, dass wir die Antwort nicht hören können!«, lachte Egidius.

»Macht nichts«, entgegnete die Braut. »Wetten, dass er ihr nicht die Wahrheit sagt? Aber ich glaube, der Arme hat einen schwierigen Abend vor sich!«

»Wie heißt du denn nun, Vroni?«, erkundigte sich deren Mutter. »Veronika Yildirim?«

»Wir behalten unsere Namen«, erklärte Hatice ihrer Schwiegermutter. »Zu Veronika passt der türkische Nachname nicht. Und in meiner Schule bin ich eben ›Frau Dr. Yildirim‹. Alles andere würde Verwirrung stiften.«

Auf Bitten von Egidius hatte Herr Weber dafür gesorgt, dass eine kleine Tanzfläche zur Verfügung stand. Das war zwar nicht üblich, aber Herr Weber liebte und bewunderte den Chefarzt. Und er fühlte sich zu 100% zuständig dafür, dass jeder Wunsch, der mit Professor Sonntag oder den zu ihm gehörenden Menschen zu tun hatte, erfüllt wurde und reibungslos funktionierte. Egidius wusste das, und nicht nur deswegen behandelte er den Maître mit großem Respekt und belohnte ihn mit einem aristokratischen Trinkgeld. Nicht, dass es dessen bedurft hätte. Wertschätzung kann man ja bekanntlich nicht kaufen.

Veronika tanzte mit ihrer Mutter die ersten Takte des Brautwalzers. Dann führte Ayse ihre Tochter auf die Tanzfläche. Beide Bräute tanzten, strahlend vor Glück und von dem fruchtigen Weißwein aus Rheinhessen, in ihr gemeinsames Leben hinein. Die Mütter betrachteten ihre Töchter liebevoll und mit trotzigem Stolz.

»Ich finde es wunderbar, dass die beiden sich gefunden haben«, freute sich Frau Froschauer. »Und das Beste daran ist, dass wir nicht auf Enkelkinder verzichten müssen, oder, Ayse?«

Die Angesprochene nickte. »Werden schöne Kinder. Wird aber Zeit! Hatice fast 30!«

»Meine Damen, machen Sie sich bitte keine Sorgen«, lächelte Egidius nonchalant. »Medizinisch ist das alles kein Problem mehr heutzutage. Außerdem kann ich ihnen die best­mögliche gynäkologisch-geburtshilfliche Versorgung beim Kollegen Antretter garantieren.«

»Wer Papa von Kind?« Ayse hatte ein paar Sekunden gegrübelt, und mit dieser Frage das Resultat ihrer Überlegung verkündet. »Geht nur mit Mann, oder?«

»Nach meinen letzten Informationen muss ich Ihnen recht geben, Frau Ayse«, lachte Egidius. »Aber glauben Sie mir: Alle Probleme kann man lösen. Das Einzige, was mir Sorgen bereitet, ist, dass Sie das Kind verwöhnen werden, von vorn bis hinten.«

»Ist Kind! Muss verwöhnt werden«, belehrte Ayse den Chefarzt. »Oma immer verwöhnen!«

Egidius dachte an das Verhältnis seiner Mutter zu seinem Sohn.

»Ich freue mich jetzt schon für ihren Enkel, Frau Ayse. Sie zur Großmutter zu haben, ist bestimmt ein besonderes Glück!«

»Genau so, wie dich als Mutter zu haben!« Hatice und Vroni hatten ihren Tanz beendet, sich dem Tisch genähert und Egidius’ letzten Satz mitbekommen.

*

»Das will ich auch!«

»Liebe Frau Tauber, bitte bedenken Sie, dass sie doch schon in etwas fortgeschrittenem Alter sind. Ich denke nur daran, dass wir den gynäkologischen Kollegen die Krebsfrüherkennungsuntersuchung erschweren. Außerdem, wenn Sie gestatten … Sie sind doch von Mutter Natur gar nicht so schlecht ausgestattet!«

»Aber sie sind nicht mehr straff!«

»Bitte, gnädige Frau, was glauben Sie denn? Dass uns Männern nur diese bedrohlich aufgerichteten, straffen Brüste gefallen? Also, ich persönlich gebe der sanften Sinnlichkeit und Natürlichkeit einer weichen, nicht operierten Brust den Vorzug. Haben Sie denn mit ihrem Gatten darüber gesprochen?«

»Der weiß gar nicht, dass ich hier bin. Er ist übrigens ein Kollege von Ihnen, ich bitte um Diskretion!«

»Ach, richtig! Jetzt weiß ich, warum ich Sie kenne. Klinik St. Bernhard, nicht wahr? Aber, liebe gnädige Frau, Diskretion müssen Sie nicht extra einfordern! Das ist ja schon ein Gebot der Schweigepflicht!«

Nein, Felix Antretter wusste nicht, dass Aglaja sich bei dem freundlichen plastischen Chirurgen am Tegernsee vorgestellt hatte. Eine beidseitige Lidkorrektur, ein Facelift, Fettabsaugung aus Bauchdecke und Oberschenkeln waren bereits besprochen.

»Wenn Sie darauf bestehen, Frau Tauber, dann machen wir das natürlich. Aber vertrauen Sie mir: Benötigen tun Sie diesen Eingriff sicher nicht! Sie sind eine schöne und attraktive Frau. Ich trenne das gern, weil das eine nicht zwangsläufig die Voraussetzung für das andere ist. Und generell gebe ich Ihnen zu bedenken, dass Ihr Gatte Sie vermutlich genau so liebt, wie Sie sind.

Bitte, denken Sie noch einmal über alles nach. Und vereinbaren Sie dann erst den Termin!«

»Nein, Herr Doktor, ich bin mir da ganz sicher. Gut, auf die Implantate verzichte ich. Aber Lider, Gesicht und Fettabsaugung machen wir. Nein, je schneller, desto besser! Am liebsten morgen!«

»Das besprechen Sie bitte mit meiner Helferin, gnädige Frau! Ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen!«

Aglaja erhielt den Termin eine Woche später. Leider erst. Sie konnte es kaum erwarten. Gewiss, so wie diese Zwanzigjährige, die sich an Richard rangeschmissen hatte, konnte sie natürlich nicht mehr aussehen, trotz aller Schönheitschirurgie. Aber sie würde sich aufmöbeln lassen. Richard würde staunen. Und bedauern, was ihm mit ihr entging! Immerhin – wie lange würde er denn mit dem jungen Ding mithalten können? Die hatte ja schließlich auch ihre Bedürfnisse! Vermutlich würde er schachtelweise Viagra konsumieren müssen, der Arme! Ha!

Was hatte der Chirurg gesagt? Eine ›schöne und attraktive‹ Frau. Tja, Richard! Das wäre dein Preis gewesen! Eines Tages, wenn dich das Flittchen mit einem Mann betrügt, der dein Enkel sein könnte, wirst du angekrochen kommen, demütig und verzweifelt! Aber dann wird es leider zu spät sein. Weil diese schöne und attraktive Frau hier in festen Händen ist. Pech gehabt, mein Lieber!

Schmeiße ich dich einfach hinaus, wenn du vor meiner Tür stehst? Nein! Auf keinen Fall. Ich werde dir zuhören. Verständnisvoll. Zugewandt. Voller Mitgefühl. Freundlich werde ich mit dir zusammen dein Schicksal beklagen. Und dann auf die Uhr schauen, und sagen, oh, so spät schon? Felix muss morgen früh raus, und er kann nicht einschlafen, wenn ich nicht neben ihm liege, bitte verzeih! Und wenn ich dich hinausbegleite, werde ich deine Hände nehmen und dich tapfer lächelnd ansehen. Ich bin immer für dich da, wenn du ein offenes Ohr brauchst, werde ich zu dir sagen, während ich innerlich Freudentänze aufführe!

*

Dagmar freute sich. Endlich mal ein etwas ruhigerer Vormittag. Und sie hatte nicht ein einziges Mal ›Rommert‹ gesagt. Gott sei Dank. Das war auf die Dauer doch recht kostenintensiv geworden. Schwester Nasifa verfügte mittlerweile über die am besten gefüllte Kaffeekasse der Klinik!

Dagmar tupfte sich etwas von ihrem teuren ›First‹ hinter die Ohren und prüfte argwöhnisch ihr Spiegelbild. Komisch. Seit sie mit Anton verheiratet war, fand sie sich häufig vor einem Spiegel wieder. Dabei war sie nicht eitel. Aber – die Konkurrenz schlief nicht. Und sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich, kaum, dass sie den ›Richtigen‹, was auch immer das bedeuten mochte, gefunden hatten, gehen ließen. Wo hatte sie bloß diese beunruhigende Statistik gelesen, in der es um Gewichtszunahme, Körperpflege, Kleidungsstil ging? Nicht mit ihr. Auf keinen Fall. Anton war ein smarter, attraktiver Mann, dessen Anziehungskraft sich durch seine Zurückhaltung noch steigerte. Und wie das weibliche Personal mit ihm schäkerte, verriet ihr, dass er reichlich Gelegenheit hatte, der einen oder anderen Kollegin näher zu treten, als es ihr, Dagmar Schattenhofer, recht sein konnte.

Andererseits wollte sie ihn nicht mit Eifersucht aus dem Haus treiben. Eifersucht war etwas Entsetzliches. Anton war ja nicht ihr Besitz. Es war doch viel schöner, zusammen zu sein, weil man sich jeden Tag aufs Neue freiwillig dafür entschied, oder? Anton gab ihr stets das Gefühl, dass sie für ihn der wertvollste Mensch war. Endlich konnte sie zur Ruhe kommen. Das Thema, das sich durch ihr Leben zog – immer wieder verlassen, im Stich gelassen zu werden war endgültig beendet. Sie vertraute ihm. Voll und ganz. Absolut. Nein, wirklich.

Aber es konnte auch nichts schaden, ein wenig auf sich zu achten, oder? Und die Konkurrenz unauffällig im Auge zu behalten – Männer waren doch ziemlich leicht zu erobern!

»Frau Doktor, wie schaut’s mit einem Kaffee aus, bevor der Krankentransport kommt? Eben kam der Anruf! Eine akut erblindete Frau aus dem Dorotheenstift, glaube ich!«

»Gern, Schwester Nasifa! Schwarz und süß – wie es zu mir passt!«

Nasifa lachte. »Ihre Mama trinkt ihn auch so! – Vorsicht! Heiß!«

Dagmar pustete auf die dampfende Oberfläche und nippte vorsichtig. In diesem Moment glitten die Flügel der Milchglas-Tür zur Seite, und die Sanitäter rollten die Trage mit der angekündigten Patientin herein.

»Patientin, 57 Jahre alt, bekannter Diabetes mellitus, insulinpflichtig, arterieller Hypertonus, mit ACE-Hemmern und Betablockern eingestellt. Jetzt akuter Verlust des Sehvermögens, sonst keine Auffälligkeit. Sie hat einen venösen Zugang mit NaCl, RR 140/90, Herzfrequenz 80/min, das EKG scheint in Ordnung!«

»Danke, Kollegen! Dann wollen wir mal!«, erklärte die Notärztin forsch.

»Mein Name ist Rom… – verflixt! – Schattenhofer! Haben Sie bitte keine Angst, Frau … « Sie suchte in den Papieren den Namen der Patientin.

»Mein Name ist Kettel. Schwester Stefanie Kettel. Ich bin Krankenschwester im Dorotheenstift!«

»Frau Kettel, also. Bitte bleiben Sie ganz ruhig. Wir finden heraus, was ihnen fehlt. Und dann reparieren wir alles, was kaputt ist!«

»Sie sind ja lustig! Da hätten Sie bei mir aber viel zu tun! Der Herr in Orange hat Ihnen noch nicht mal die Hälfte erzählt!«

»Ich verspreche Ihnen: Wenn Sie uns verlassen, sind Sie wie neu. Mit ein paar Gebrauchsspuren, vielleicht!«

Die Damen lachten. »Danke, dass Sie mir die Angst nehmen, Frau Doktor«, sagte Schwester Stefanie. »Es ist wirklich erschreckend, wenn man innerhalb von Sekunden nicht mehr gucken kann!«

»Das glaube ich Ihnen! – Frau Kettel, ich würde bei Ihnen gern eine CT vom Schädel machen. Und während das läuft, besorge ich uns einen netten Augenarzt. Wir haben zwar keine entsprechende Abteilung, aber wir sind gut ausgestattet! Der Mann kann Sie hier konsiliarisch untersuchen. Einverstanden?«

»Ich mache alles, was sie wollen.«

»Zur Belohnung habe ich jetzt erstmal ein wunderbares Einzelzimmer für Sie auf der Chirurgie. Unseren Chef, Dr. Sonntag, kennen Sie sicher?«

»Seinen Sohn kenne ich besser! Der hat mal bei uns …«, sie unterbrach sich kurz, » … ein Praktikum gemacht!«

Tatsächlich war es ja kein Praktikum gewesen.

Es hatte sich um die Ableistung von Sozialstunden gehandelt, wegen der Prügelei mit Max Grasegger. Aber Stefanie hatte den Jungen besonders lieb gewonnen und hätte sich eher die Zunge abgebissen als seinen Ruf zu beschädigen.

*

Auf der Chirurgie fand gerade die Chefvisite statt.

»Hallo, Herr Professor«, rief Dagmar vergnügt. »Ich bringe hier eine alte Bekannte Ihres Sohnes! Schwester Stefanie Kettel, aus dem Dorotheenstift!«

»Weiß Lukas, dass Sie hier sind, Schwester Stefanie?«, erkundigte sich Egidius.

»Natürlich nicht, Herr Professor. Heute morgen wusste ich ja selbst noch nicht, dass ich im Laufe des Tages hier aufschlagen würde! Es wäre mir auch lieb, wenn Sie das dem Jungen verschweigen würden. Er macht sich sonst nur unnötig Sorgen!«

»Das kann ich nicht tun, Schwester Stefanie. Lukas würde mir das nie verzeihen. Er hält große Stücke auf Sie und hat Sie sehr gern, das weiß ich.«

»Mich? Ich bin eigentlich niemand, den man besonders gern haben muss!«

Egidius lächelte. »Ich bin manchmal selbst überrascht, wen der Junge mag und wen nicht. Ich glaube, dass er von uns beiden der bessere Menschenkenner ist!«

*

»Tauber!«

»Klinik für Ästhetik und Schönheit am Tegernsee, guten Tag, mein Name ist Stoldt! Könnte ich bitte mit Frau Aglaja Tauber sprechen?«

»Entschuldigung, da haben Sie sich verwählt! Das hier ist meine Nummer in der Klinik St. Bernhard!«

»Aber Sie sind der Gatte von Frau Aglaja Tauber, oder? Die geht nämlich nicht an ihr Handy, und es ist dringend! Und unser Chef meinte, dass wir es vielleicht über Sie versuchen könnten!«

»Ja, aber …«

»Es ist nur eine Kleinigkeit! Bitte richten Sie ihr doch aus, dass übermorgen eine Patientin ihren Termin abgesagt hat, sodass wir die Eingriffe bei ihr gern vorziehen können, wenn sie einverstanden ist! Sie müsste dann übermorgen um neun Uhr nüchtern bei uns erscheinen!«

Professor Tauber traute seinen Ohren nicht.

»Einen plastisch-chirurgischen Eingriff? Vielmehr gleich mehrere?«

»Also, ich habe hier Lid, Face und Lipo Bauch und Oberschenkel!«

»Ich werde es ihr ausrichten«, versprach Professor Tauber.

Frau Stoldt bedankte sich, wünschte noch einen schönen Tag und beendete zufrieden das Telefonat. Richard Tauber hatte ebenfalls aufgelegt und griff nun erneut zum Hörer.

»Antretter!«

»Tauber hier, grüß Gott, Herr Kollege!«

»Welche Ehre, lieber Herr Tauber! Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Eine Kleinigkeit, Herr Antretter. Wenn Sie so freundlich sein wollen, Aglaja auszurichten, dass ihr OP-Termin vorgezogen wird. Übermorgen um neun Uhr. Nüchtern. Sie weiß, wo!«

»Ein OP-Termin? Warum weiß ich davon nichts? Was ist da los?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen, Herr Antretter, ich fiel selbst aus allen Wolken, als die Klinik für Ästhetik und plastische Chirurgie Tegernsee sich meldete. Offenbar plant sie umfangreiche Sanierungsarbeiten!«

*

»Tauber!«

»Aglaja, warum gehst du nicht an dein Mobiltelefon?«

»Es hat nicht geklingelt, Felix – o Schreck! Der Akku ist alle! – Warum denn?«

»Dein Ex-Mann hat versucht, dich zu erreichen. Es geht um den Termin für deine Operation. Übermorgen, neun Uhr, nüchtern.«

Ein kleiner Schrei entrang sich ihrer Brust. »Woher weißt du – woher weiß er?«

»Die Klinik hat versucht, dich zu erreichen. Und als du nicht drangegangen bist, haben sie den kleinen Umweg über deinen Geschiedenen genommen. Du hast dich ja dort als Aglaja Tauber vorgestellt, nicht als Aglaja Antretter. Und Richard hat, weil er dich auch nicht erreichen konnte, mich angerufen! – Sag mal, was wolltest du denn machen lassen?«

»Ich wollte einfach besser aussehen!«

»Aber ich habe dir doch schon gesagt, dass du für mich – oh!«

»Was – ›oh‹?«

»Es geht gar nicht um mich, oder? Du wolltest für ihn besser aussehen!«

»Nein, Liebster! Wie kannst du nur so etwas annehmen! Ich lasse das nicht für irgendjemanden machen! Nur für mich selbst!«

»Liebe Aglaja, ich rede ununterbrochen mit Frauen. Glaubst du, dass du mir etwas vormachen kannst? Ich bin in Übung, glaub mir!«

»Felix, ich …«

»Wir reden später!«

Alle meine Kinder

Dr. Cortinarius sah Ludwig Lechner freundlich über seinen Mundschutz herüber an. »Klasse gemacht, Herr Lechner. Gratuliere. Diese Leistenhernie wird dem Patienten nie wieder Probleme bereiten!«

»Danke, Herr Oberarzt! Ich habe nur immer Angst, dass ich den Samenstrang zu stark einenge!«

»Keine Sorge. Sie waren perfekt. Wer hat Ihnen den Test mit der Kuppe Ihres kleinen Fingers beigebracht?«

»Der Chef. Er pflegt immer zu sagen, die Spitze des Kleinfingers muss neben dem Samenstrang noch in die Lücke passen, dann ist alles in Ordnung!«

»Genau so ist es. Verschließen Sie die Wunde allein, oder soll ich Ihnen helfen?«

»Gehen Sie nur, Herr Cortinarius. Vielen Dank für Ihre Assistenz!«

Der Oberarzt trat vom Tisch zurück, der Springer half ihm mit dem Aufknüpfen des Kittels. Seiner Haube und seines Mundschutzes entledigte sich der Mediziner erst im Vorraum. So fiel es weder Ludwig noch Schwester Marion auf, dass sein freundlicher Blick einer Mischung aus Resignation und Verzweiflung wich. Seit zwei Tagen ging das so. Einem scharfen Beobachter wäre aufgefallen, dass es etwas mit dem Bündel Briefe, die er, wie gewohnt, aus seinem Fach im Sekretariat gezogen hatte, zu tun haben musste. Aber außer Frau Fürst … – Pardon, Frau Kreuzeder war niemand zugegen, und die Chefsekretärin kämpfte mit dem Schreibprogramm, das sich weigerte, den Druckauftrag in Richtung Drucker zu schicken. Es war bekannte Tatsache, dass Drucker Menschen hassten. Vielleicht lag es also auch an ihm.

»Alles gut, Frau Kreuzeder?«, erkundigte er sich jovial, während er durch die Umschläge blätterte.

»Ich würde gern dieses Wunderwerk der Technik aus dem Fenster werfen. Er tut nicht, was ich ihm sage, und das kann ich nicht leiden. Wenn ich wenigstens wüsste, woran es liegt!«

»Soll ich mal nachsehen? Eingeschaltet ist er, oder?«

»Aber Herr Oberarzt! Natürlich ist er eingeschaltet! Was denken Sie denn von mir. Dieser Brief hier muss dringend auf die Innere, Dr. Angerer wartet schon darauf. Und das Biest will einfach nicht!«

Der Oberarzt drückte auf einige Tasten. »Sagen Sie – haben Sie noch Ersatzpatronen?«

»Ja, natürlich!«

Sie griff in den Schrank mit den Büromaterialien und zog ein Plastikwännchen hervor. »Hier, bitte!«

Elegant tauschte Cortinarius die vier Patronen aus. »So. Da haben wir’s. Jetzt sollte es funktionieren. Ich rate Ihnen aber, die hundert Druckaufträge zu löschen, sonst sind die Patronen bald wieder alle!«

»Wie kommen denn so viele Druckaufträge zustande?«, staunte Frau Kreuzeder.

»Ist doch klar! Sie haben immer wieder auf ›Start‹ gedrückt, in der Hoffnung, dass das Ding loslegt. Das ist alles gespeichert.«

»Man kann Sie wirklich zu etwas gebrauchen! Dankeschön, Herr Oberarzt! – Wissen Sie, es ist wirklich eine Unverschämtheit: Die Farbpatronen sind noch gar nicht leer, wir brauchen ja meistens schwarz – und trotzdem muss man sie austauschen! So verdienen diese Konzerne ihr Geld!«

Aber darauf reagierte Dr. Cortinarius gar nicht mehr, weil er in seiner Post einen Umschlag entdeckt hatte. Einen pastellblauen Umschlag, auf dem mit einem Füllfederhalter jemand seinen Namen und seine Adresse geschrieben hatte, in altmodischer, kindlich anmutender Schreibschrift, nicht in Druckbuchstaben. Herrn Dr. med. Kilian Cortinarius, c/o Klinik St.­ Bernhard, Bischof-Markel-Platz, 83734 Hausham, stand dort. Er brauchte den Brief nicht zu wenden, um nach dem Absender zu sehen. Es war ihm bekannt, was dort stehen würde.

Kraftlos warf er den Umschlag auf seinen Schreibtisch. Mechanisch sortierte er die bunten Werbebriefe der Pharma-Industrie aus. Arztbriefe und Befundberichte schichtete er in einem Stapel auf. Die Umschläge, die an ihn mit dem Vermerk ›persönlich‹ gerichtet waren, legte er auf den hellblauen Brief, bis dieser darunter verschwand.

Das Telefon klingelte. »Cortinarius?«

»Ich wollte nur Bescheid sagen, Herr Oberarzt! Unser Patient liegt wach und ansprechbar im Aufwachraum. Wenn Sie ihn sehen wollen …«

»Später, Herr Lechner. Danke für die Mitteilung. Denken Sie bitte daran, dass Sie im OP-Bericht erwähnen, dass wir den kleinen Hauttumor exzidiert und in die Pathologie geschickt haben!«

»Na klar! Ich denke dran! Herr Oberarzt?«

»Ja bitte?«

»Ist was mit Ihnen? Sie hören sich nicht so an wie sonst!«

»Alles gut. Wirklich. Mir geht es blendend!«

»Also, wenn etwas wäre, dann …«

»Nett von Ihnen, Herr Lechner. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe heute etwas Kopfschmerzen. Das geht vorbei. Ich habe schon ein Aspirin eingeworfen!«

»Na, dann ist es ja gut!«

Kopfschmerzen!

Ganz geschwindelt war das nicht. Es war nicht nur der Kopf, der schmerzte. Leider. Gegen die Schmerzen, die er wirklich empfand, half leider kein Aspirin …

*

»Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen, dass Sie alle zu unserer außerordentlichen Elternversammlung erschienen sind. Es stehen nur zwei Punkte auf der Tagesordnung, von der ich nie gedacht hätte, dass das Thema hier einmal wichtig werden würde.«

Philipp legte eine kurze Kunstpause ein.

»Es geht um das Thema ›Mobbing‹. Mir wäre es gar nicht aufgefallen. Ich habe es zum ersten Mal wahrgenommen, als unser Sohn nach Hause kam, und beiläufig die Frage stellte, ob er ›behindert‹ sei. Auf unser Nachfragen hat er sich nicht eingelassen.«

»Wieso? Ihr Sohn ist doch behindert! Er hat eine psychische Erkrankung! Was ja auch kein Wunder ist …«

Der Vater, der gesprochen hatte, hielt erschrocken inne.

»Und das ist kein Wunder, weil?«, erkundigte Chris sich mit aller Liebenswürdigkeit, zu der er in diesem Moment noch fähig war.

»Naja, Hannes’ Familie entspricht ja nun mal nicht dem klassischen Familienbild!«

Eine Mutter griff ein. »Hallo,? Sie haben ja wohl den Schuss nicht gehört! Wir schreiben das Jahr 2020! In dieser Klasse sind drei Kinder von Alleinerziehenden, und bei fünf Kindern sind die Eltern geschieden. Entspricht das etwa Ihrem klassischen Familienbild? Na so was Dummes!«

»Ach, man muss da nicht gleich so’n Fass aufmachen«, beschwichtige ein Herr im dunklen Anzug. »Kinder sind eben Kinder! Wir waren doch früher auch so, oder? Hab ich recht?«

»Nein, haben Sie nicht«, antwortete Philipp kalt. »Bestimmte Schimpfworte mit sexistischem, antisemitischem oder sonstigem menschenverachtendem Charakter waren tabu. Nichts wurde in den sozialen Medien des Internets gepostet, um einen Mitschüler fertigzumachen. Und körperliche Gewalt beschränkte sich auf Prügeleien. Das war nicht schön, sicher. Aber der Unterschied zu heute ist, dass wir aufhörten. Spätestens, wenn unser Kontrahent am Boden lag oder blutete. Wir verfügten nämlich über Mitleid. Und ein Gewissen. Heute tritt man noch mal nach.«

»Ich finde, Sie spielen das hoch, Herr Dr. Angerer. Und Ihrem Hannes ist doch nichts passiert, oder?«

»Noch nicht. Und ich gedenke nicht abzuwarten, bis mein Junge stationär behandelt werden muss.«

»Die Kinder sind verroht«, klagte eine Mutter. »Mein Sebastian ist da Gott sei Dank anders. Aber wenn sie erleben, was die Kinder im Fernsehen, im Kino oder im Internet zu sehen bekommen, gefriert einem förmlich das Blut in den Adern!«

»Quatsch! Dafür gibt es doch die Schule! Die Lehrer sollen verdammt noch mal den Bälgern beibringen, wie man sich benimmt!«, schimpfte ein weiterer Vater.

»Die Lehrer haben genug mit Vermittlung von Wissen und Lehrinhalten zu tun. Erziehung ist eine Sache des Elternhauses. Und die Kinder plappern nach, was die Eltern zu Hause sagen«, sagte Chris. »Ich darf Sie herzlich bitten, auf Ihre Kinder einzuwirken, dass sich das Klima wieder verbessert. Und dass Sie vor ihren Kindern mit Respekt von anderen Menschen und anderen Lebensentwürfen sprechen, auch wenn Sie sie nicht verstehen, teilen oder es sich nicht um ihre eigene Vorstellung von Glück handelt.«

»Wie wäre es denn, wenn wir zeitnah ein Klassenfest organisierten? So mit Grill und Musik und kleinen Einlagen?«, schlug Sebastians Mutter vor. »Mein Sebastian könnte ein paar Zauberkunststücke vorführen!«

Mit beifälligem Klopfen auf den Tisch bestätigte die Versammlung den Vorschlag. »Das ist eine tolle Idee!« Philipp war begeistert. »Dann lernen wir uns alle besser kennen. Und vielleicht entsteht so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl! – Wie sieht es aus? Wollen Sie das organisieren? Vielleicht mit ihrer Sitznachbarin zusammen?«

»Gern«, sagte die Sitznachbarin. »Aber Sie werden doch nicht erwarten, dass wir Fleisch auf den Grill legen, oder? Wir ernähren uns vegan!«

»Ach, das ist wunderbar! Dann brauchen wir zwei Grillstationen, und haben die Gelegenheit, Ihre Spezialitäten kennenzulernen! – So, Punkt zwei ist die geplante Klassenfahrt. Gibt es aus dem Kreis der Eltern hierzu Vorschläge?«

Schwach sein dürfen

»Ich wollte, du würdest es dir noch einmal überlegen, liebe Aglaja«, beruhigte Felix Antretter seine zukünftige Partnerin, die eine kleine Reisetasche für die Klinik gepackt hatte.

»Da gibt es nicht zu überlegen, Felix. Ich lasse den Eingriff machen. Ich habe es auch verdient, wieder jung und hübsch auszusehen! Du bist ein attraktiver Mann. Was, denkst du, werden die Leute sagen, wenn du mit mir daherkommst?«

»Was die Leute sagen, hat mich noch nie interessiert, Aglaja. Nebenbei finde ich es schade, dass du so wenig Vertrauen zu mir hast. Aber ich glaube, dass du dir da etwas vormachst. Egal. Ich halte dich nicht auf. Tu’, was du tun musst.«

»Ich bin alt, Felix. Damit alle Kerzen auf meiner Geburtstagstorte Platz haben, muss sie inzwischen so groß sein, dass man sie vom Weltall aus sehen kann!«

»Bis gerade eben warst du nicht alt, meine Liebe. Allerdings bin ich mir da jetzt nicht mehr so sicher.«

*

Wenig später legte sich die derzeitige und zukünftige Chefarztgattin auf einen Operationstisch in Bad Wiessee. Der Schönheitschirurg trat heran.

»Na, Frau Tauber? Haben Sie gute Laune mitgebracht?«

»Fragen Sie mich bitte später, Herr Doktor. Wenn das hier vorbei ist.«

*

»Es ist wirklich total lieb von euch, dass ihr mich abholt«, sagte Timon Süden dankbar zu Chris und Philipp, die ihm dies zugesagt hatten.

»Das hat nichts mit ›lieb‹ zu tun«, sagte Chris. »Wir sind an deiner Seite, bis die Sache mit deiner Frau geklärt ist. Und dann geht es entweder heim nach Kolbermoor, oder, wenn ich das richtig sehe, zu Emmerich Fahl, oder?«

Er zwinkerte neckisch.

»Ich möchte meine Familie zurück«, beharrte Timon. »Um jeden Preis. Ich will weder auf Philine noch meine Kinder und schon gar nicht auf Schmidt verzichten!«

»Komisch! Als wir dich neulich besuchten, hatten wir einen anderen Eindruck!«

»Ja, ich weiß. Emmerich ist unfassbar lieb. Er gibt mir viel. Nicht nur durch seine hervorragende Arbeit. Er gibt mir das, wonach ich mich sehne. Und was mir ein sogenannter ›normaler‹ Mann nie geben kann. Ist euch mal aufgefallen, wie man sich umarmt? Man dreht den Kopf zur Seite, berührt sich möglichst wenig, besonders vom Nabel an abwärts, und klopft sich verlegen gegenseitig auf den Rücken. Darauf kann ich aber so was von verzichten! Ich brauche gelegentlich Halt. Halt, den ein Mann mir gibt. Nähe. Wärme. Verständnis. Zärtlichkeit. Ich finde das auch bei Philine, aber sie kann mir nicht dies Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, versteht ihr? Bei ihr muss ich derjenige sein, der stark ist! Ich möchte aber auch mal schwach sein dürfen, mich fallen lassen. In seinen Armen fühle ich mich eben behütet. Beschützt.«

»Ich verstehe genau, was du meinst. Es ist wie in einer besonders engen, vertrauensvollen Freundschaft. Nur noch etwas enger, mit mehr Vertrauen!«

»Genau, Philipp. Ich weiß, dass ich immer den Ruf habe, der ›Sonnenschein‹ zu sein, lustig, gut aufgelegt. Unzerbrechlich. Ich bin auch selbst daran schuld. Aber meine Sorgen mache ich eben lieber mit mir allein aus. Und lasse niemanden daran teilhaben, wenn meine Welt auseinander bricht. Ich schaffe es ja auch beinahe immer, mich da selbst wieder herauszuholen. Aber diesmal war eben alles ein wenig viel. Neues Bundesland, neue Stelle, Berge anstelle von Wasser. Und dann kam noch der blöde Apoplex dazu.«

»Hast du deiner Frau das mal so gesagt, Timon?«, fragte Chris. »Vielleicht versteht sie das. Einen Versuch wäre es wert!«

»Nein, habe ich nicht. Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie weiß, wie es in mir aussieht. Ich muss mit ihr reden!«

»Wann fängst du denn wieder an zu arbeiten? Klappt das mit der stufenweisen Wiedereingliederung?«

»Ja, alles genehmigt. Der Chef hat mich extra angerufen und gesagt, dass, auch wenn die Versicherung es nicht zulässt, Herr Somnitz und er dem Antrag zustimmen. Kinder, sollte ich je Chef von irgendwas werden, hoffe ich, dass ich so wie Professor Sonntag werde. Wenn der die Szene betritt, verschwinden Ängste, Druck und trübe Gedanken! Ach, mir würde fast reichen, so ein Vater zu sein!«

Er hielt inne.

»Könnt ihr mich bitte hier rauslassen? Ich glaube, Philine rastet aus, wenn ihr mich bis zur Haustür bringt. Und ich möchte alles vermeiden, was sie provozieren könnte. Da vorn ist ein Taxistand!«

*

Lukas hatte die Schule noch vor der Doppelstunde Sport verlassen. Dies allerdings mit der Billigung seines Vaters. Und des Klassenlehrers, den er unter Hinweis auf einen familiären Notfall in Kenntnis gesetzt hatte. Aber nachdem Egidius in der großen Pause angerufen und von der neuen, akut erblindeten Patientin berichtet hatte, hielt ihn nichts mehr zurück.

Er stürmte auf die Station. »Schwester Maria! Wo liegt Schwester Stefanie?«

»Etwas weniger Lautstärke und etwas weniger Hektik, Herr Sonntag. Ich weiß Ihr Engagement zu schätzen, aber zügeln Sie ihr Temperament bitte etwas. Hier liegen kranke Menschen, die der Ruhe bedürfen!«

»Krass«, behauptete der Junge. »Wo liegt sie denn nun?«

Maria streckte den Arm in Richtung der gegenüberliegenden Wand.

»Genau gegenüber. Bitte vergessen Sie nicht anzuklopfen, bevor Sie die Tür aufreißen. Schwester Stefanie sieht nichts und würde erschrecken. Außerdem wäre es eine Verletzung der guten Sitten.«

»Klaro. Läuft!«, versprach der junge Mann. Und wohl zum tausendsten Mal fragte sich Schwester Maria, ob auch sie in diesem Alter mit ihrer Art, sich auszudrücken, ihre Eltern zur Verzweiflung getrieben hatte.

»Lukas! Ich freue mich, dass du mich besuchst! Ich würde dir etwas anbieten, aber ich kann nicht sehen, was da ist!«

»Kekse!«

»Ach, genau! Die mit Schokolade, gab’s gestern zum Kaffee! Möchtest du? Dann bediene dich gern!«

»Nice!«

»Komm, setz dich hier an die Seite. – Ist das nicht wirklich zu dumm? Ich habe immer gedacht, dass es schlimm ist, nicht hören zu können. Aber blind zu sein ist ja nun wirklich der Gipfel! Und mit diesen Augenklappen sehe ich bestimmt aus wie eine Piratenbraut! Eigentlich sollte ich jeden Besucher mit ›Johoho‹ begrüßen, und ‘ne Buddel Rum kredenzen!«

»Darf ich ein Selfie machen?«

»Und wohlmöglich auf Facebook posten? Wehe dir! Kommt gar nicht infrage!«

»Ich mein’ ja nur. Damit Sie später angucken können, wie Sie ausgesehen haben! Ich poste es nicht, versprochen!«

»Na gut! Interessieren täte es mich ja schon, das muss ich zugeben. Also: Ein Selfie!«

Der Junge rutschte neben sie, legte den Arm um ihre Schultern, legte seine Wange an die ihre und fotografierte mit dem Handy in der ausgestreckten Hand.

»Und? Ist es was geworden?«, fragte sie neugierig.

»Heutzutage werden die Fotos immer was«, stellte Lukas fest. »Was war denn nun?«

»Du hast ja mitbekommen, dass ich zuckerkrank bin. Das macht auf die Dauer einiges kaputt. Zum Beispiel die Blutgefäße, und da insbesondere die Netzhaut der Augen. Und wenn es blutet, dann kannst du halt auf dem Auge nichts mehr sehen. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass es auf beiden Augen gleichzeitig bluten kann!«

»Und was macht man da?«

»Man lasert die Netzhaut. Verschließt die Blutgefäße, und tackert die Netzhaut fest, falls sie sich abgelöst hat.«

»Hat Papa das gemacht?«

»Nein, der Augenarzt. Oh, außerdem hatte ich eine Röntgen-Schichtaufnahme von meinem Kopf, und was soll ich dir sagen? Alles funktioniert noch! Sag mal – was machst du hier überhaupt? Hast du keine Schule?«

»Doch, aber ich bin früher los! Papa hat angerufen und gesagt, dass Sie hier sind!«

»Was? Und da kommst du extra … Das ist aber wirklich lieb von dir, Lukas. Ich kann zwar nicht gutheißen, dass du Unterricht versäumst. Aber ich finde es wirklich – sehr, sehr lieb.«

»Ich wollt’ noch sagen, wenn Sie Hilfe brauchen, so wegen Einkaufen und so, das mach’ ich für Sie!«

Gut, dass ich die Augenklappen trage, dachte Schwester Stefanie. Ich kann doch einem Fünfzehnjährigen hier nichts vorheulen! Reiß dich zusammen, Stefanie Kettel!

»Hhrrrrmm«, räusperte sie sich. »Sehr nett von dir, mein Junge. Das wäre wirklich eine große Hilfe!«

»Ich kann auch bei Ihnen wohnen, wenn Sie wollen!«

»Darüber sprechen wir noch. Ich hoffe ja auch, dass sich das Blut im Auge bald aufgelöst hat. Aber glaube mir, dass ich das wirklich zu schätzen weiß!«

»Ich komme gleich wieder!«, sagte Lukas plötzlich, und verließ den Raum. Kurze Zeit später kam er wieder herein. Stefanie hörte, wie es auf ihrem Nachttisch klapperte.

»Darf ich fragen, was du da tust?«

»Ich wisch nur eben die Platte vom Nachttisch ab. Und einen neuen Bettbezug habe ich auch dabei. Wahrscheinlich haben Sie etwas Saft verschüttet. Klar. Können Sie ja auch nicht sehen. Aber ich. Ich sehe nämlich die Arbeit!«

»So. Du siehst also die Arbeit, ja?«

»Ja. Hat mir mal jemand beigebracht!«, lachte der Junge. »Gut, was?«

Glück auf Zeit

»Mein Gott, Cortinarius! Was ist denn bloß los mit Ihnen? Sie sehen ja zum Fürchten aus!«

Professor Sonntag und seine Oberärzte Cortinarius und Wachs hatten sich am Dienstzimmer der Chirurgie getroffen. Schwester Maria hatte ihren Tablet-Computer für die Eingabe der Anweisungen, die bei der Chefvisite gegeben werden würden, vorbereitet.

»Dr. Lechner legt nur bei dem neuen Patienten einen Zugang«, erklärte sie. »Er kommt jeden Moment!«

»Sie brauchen offenbar dringend Urlaub, Kollege. Tapetenwechsel! Luftveränderung! So kann das nicht weitergehen!«

»Ja, vielleicht sollte ich wirklich … Entschuldigen Sie bitte, Herr Professor.«

»Sie müssen sich bei mir doch nicht entschuldigen, Herr Cortinarius! Bitte denken Sie daran: Wir sind eine Familie! Wenn Sie ein offenes Ohr brauchen, bin ich für Sie da!«

Ludwig stürmte heran.

»Entschuldigung, aber ich musste noch schnell …«

»Schon klar, Ludwig. Schwester Maria hat uns bereit informiert. Was macht denn dein Patient mit der Leistenhernie?«

»Dem geht es wunderbar!«, strahlte der junge Operateur. »Ich denke, dass der Mann morgen nach Hause kann! – Geht es Ihnen wieder besser, Herr Oberarzt?«

»Wie – besser?«, fragte Cortinarius irritiert.

»Na! Ihren Kopfschmerzen? Vorhin? Aspirin, Sie erinnern sich?«

»Ach so … Ja, gut, danke.«

Nein, es ging Kilian Cortinarius nicht gut. Egidius merkte, dass er professionell und routiniert seine Pflicht erfüllte. Aber er war nicht ›mit dem Herzen‹ bei seiner Arbeit. Er erledigte seine Pflicht.

»So, ich brauche jetzt erst einmal einen Tee! Wie sieht es mit Ihnen aus, Herr Cortinarius? Leisten Sie mir Gesellschaft? Auch wenn Frau …«

Er machte eine winzige Pause.

»… Kreuz­eder ihn nicht so professionell zubereitet, wie Sie es können?«

Cortinarius wehrte sich nicht. Er würde sogar von den Schokokeksen essen, die Frau Kreuzeder zum Tee servierte. Und er würde versuchen, Egidius die Geschichte zu erzählen. Ohne Bitterkeit. Ohne, wie sonst unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Tränen zu vergießen.

*

Geweint hatte er wegen dieser Angelegenheit wahrlich genug. Als junger Assistenzarzt hatte er es geschafft, eine Stelle auf einer urologischen Abteilung zu bekommen. Er war unsicher. Mit diesem Fach hatte er sich nie wirklich beschäftigt. Sein Traum war es gewesen, Neurochirurg zu werden. Aber er hatte seine Eltern unbedingt entlasten, sein eigenes Geld verdienen wollen. Er hatte sich fast in jedem Krankenhaus für fast jede Stelle beworben. Der urologische Chefarzt gab ihm die Chance.

Er war ungeschickt und tollpatschig. Er versuchte, nett zu den Schwestern zu sein. Diese hatten das nicht honoriert. Deswegen war er bestrebt, sich durch zunehmend arrogantes Auftreten zu schützen. Eine der Schwestern war trotz allem besonders nett zu ihm. Sie flirtete mit ihm. Nahm ihn in Schutz, wenn die anderen giftige Bemerkungen machten. Sie war sein Halt, sein Anker. Er verliebte sich in sie. Irgendwann führte er sie groß zum Essen aus, in ein Restaurant, das weit über seinen Verhältnissen lag. Die Rechnung, die er zu begleichen hatte, war fast so hoch wie die Miete für seine kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Er begleitete sie nach Hause. Danke für den schönen Abend, hatte sie gesagt, nachdem er ihr aus dem Taxi geholfen und sie zur Eingangstür begleitet hatte.

›Lass uns heiraten!‹, hatte er, verliebt bis dicht an den Wahnsinn heran, hervorgestoßen.

Sie allerdings wurde verlegen. Und gestand ihm, dass alles nicht echt gewesen war. Es hatte sich um eine Wette gehandelt. Sie hatte gewettet, dass sie ihn ›knacken‹ würde. Ihn, die harte, arrogante Nuss, um ihm das Herz zu brechen. Und es täte ihr leid, im Nachhinein. So schlimm sei er ja gar nicht. Im Gegenteil. Eigentlich sogar ganz süß.

Er stand da, bewegungsunfähig. Wie angewurzelt. Schwarz wurde es ihm vor den Augen. Das Atmen fiel ihm schwer. Warum konnte der Boden sich nicht unter ihm auftun und ihn verschlingen? Jetzt bloß nicht umfallen. Nicht ohnmächtig werden, und nicht losheulen.

Er hatte sich kurz verneigt und war fortgegangen. Sie hatte mehrmals seinen Namen gerufen. Aber er drehte sich nicht um.

Er hatte versucht, sich zu betäuben. Alkohol und Neuroleptika. Antidepressiva. Tramadol. Irgendwann hatte er einem Karzinompatienten die Medikation gestohlen. Morphium, Antidepressiva.

So war er an die Betäubungsmittel geraten, die ihm diese himmlische Gleichgültigkeit verliehen, dem unverschämten Grinsen der Schwestern gegenüber. Dem Getuschel. Dem Gelächter hinter Türen, das sofort erstarb, sobald er den Raum betrat. Diese Ampullen, diese Tabletten halfen ihm über den Tag. Damit überstand er seinen Dienst.

*

»Mensch, Cortinarius! Ich hatte ja keine Ahnung! Warum haben Sie sich mir nicht schon viel eher anvertraut? Das wirft ja noch mal ein völlig anderes Licht auf ihre Verfehlungen von damals!«

»Ich habe nicht auf Ihr Mitleid spekulieren wollen, Herr Professor. Darauf hofft jeder Drogenabhängige und verleitet damit seine Umgebung zur Ko-Abhängigkeit. Sie haben ja auch so gemerkt, dass ich kein schlechter Mensch bin. Das hat mir mehr bedeutet, als jede Sympathie.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich habe Sie unterbrochen. Bitte, erzählen Sie weiter!«

*

»Ja, ich habe dann geheiratet. Die erste Beste, die mich wollte. Wir bekamen ein Kind. Ein zauberhaftes kleines Mädchen. Ich habe mich so bemüht, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Ich versuchte sogar, meinen Drogenkonsum aufzugeben. Das klappte nicht. Dann bemühte ich mich darum, den Verbrauch zu reduzieren, aber das ging nur mit Cannabis und Alkohol. Die Anforderungen der Klinik stiegen, während das Mobbing gegen mich unvermindert weiterging.

Es gelang mir, eine Stelle an der Universitätsklinik zu bekommen. Dort wurde ich zwar nicht mehr gemobbt, kam aber kaum noch nach Hause, weil mein Chefarzt mich ins urologische Forschungslabor versetzte, eine Untersuchung über den Nachweis von antigen-beladenen Tumorzellen der Blasenschleimhaut. Und wenn ich nicht dort war, musste ich als Infektionsbeauftragter in der Mikrobiologie Bakterienkulturen ablesen. Zusätzlich zu meiner Arbeit auf Station und im OP, natürlich. Nach Hause kam ich nur noch zum Umziehen und Schlafen.

Als mein Töchterchen vier war, ließ meine Frau sich scheiden. Sie hatte die Nase voll von mir. Ich habe es sogar verstanden. Allerdings setzte sie mit ihrer Anwältin durch, dass ich mein Kind nicht sehen durfte, ich war ja drogen- und alkoholabhängig, war also ein schlechter, verantwortungsloser Vater. Sie hat das Kind gegen mich aufgehetzt. Meine Geschenke und Briefe erhielt ich postwendend zurück!«

»Haben Sie Unterhalt gezahlt?«

»Selbstverständlich. Ich zahle immer noch. Und ich schreibe immer noch. Und jetzt hat mein Kind, die inzwischen fast acht Jahre alt ist, mir erstmals zurückgeschrieben!«

Mit zitternden Händen zog Cortinarius einen Umschlag aus seiner Kitteltasche, einen pastellblauen Umschlag, auf dem mit einem Füllfe­derhalter jemand seinen Namen und seine Adresse geschrieben hatte, in ­altmodischer, kindlich anmutender Schreibschrift, nicht in Druckbuchstaben. Er zog aus dem Kuvert ein Blatt Papier, das der Farbe des Umschlags entsprach. Wortlos streckte er den Bogen seinem Chef entgegen.

Egidius las, was das Kind seinem Vater geschrieben hatte. Hass und Verachtung mit jeder Silbe. Was mochte die Mutter dem Kind von seinem Vater erzählt haben? Wie viel Gift, wie viel Bosheit?

Er gab dem Empfänger den Brief zurück.

»Ich beginne, Ihr Leben zu verstehen, Herr Cortinarius«, sagte er. »Respekt, dass Sie sich trotz allem zu einem so glänzenden Operateur und hervorragenden Mediziner entwickelt haben! – Wissen Sie, ich finde das immer schlimm, wenn zwei Menschen, die gelobt haben, ihr Leben miteinander teilen zu wollen und sich zu lieben und zu ehren, sich entzweien und nur noch Hass füreinander empfinden. Aber das ist eben manchmal so.

Völlig unerträglich finde ich es, wenn Erwachsene in diesen Streit Kinder mit hineinziehen. Sie werden ihr Leben lang der Vater Ihres Kindes bleiben, genau wie die Mutter für immer die Mutter sein wird. Ein Kind hat Anspruch auf beide Eltern. Mein Rat an Sie: Bleiben Sie der Vater Ihrer Tochter. Irgendwann wird sie Sie brauchen. Schauen Sie sich den Text an. Das hat kein achtjähriges Kind verfasst. Das ist ein Diktat.«

»Ich habe alle Briefe, die ich an Felicitas geschrieben habe, aufbewahrt«, flüsterte Cortinarius heiser.

»Das ist gut«, sagte Egidius. »Es wird Ihnen irgendwann als Beweis dafür dienen, dass Sie sie geliebt haben. Und sich bemüht haben, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Sie wissen, dass Sie, da Sie jetzt drogenfrei sind, erneut Sorgerecht beantragen könnten?«

»Sie haben es ja gelesen. Das Kind hat geschrieben, dass ich mich aus ihrem Leben fernhalten soll. Ich glaube nicht, dass das Sinn hätte! – Herr Sonntag, ich habe so Angst, dass ihre Erinnerung an mich verblasst. Wie die Farben einer alten Fotografie.«

»Stellen Sie den Antrag, Cortinarius. Ich würde es tun. Und wenn es nur darum geht, einen Anspruch geltend zu machen.«

*

»Sag mal … Fühlst du dich vernachlässigt, Liebste?«, wollte Egidius abends von Corinna wissen.

»Wie kommst du denn darauf?«

Egidius erzählte, wie er darauf kam.

»Nun ja. Manchmal schon. Erinnere dich an unseren Hochzeitstag. Oder meine Erkrankung. Das hat mich schon verletzt. Aber andererseits habe ich mir ja nun mal dich ausgesucht. Und ich bin auch stolz darauf, die Frau eines so wunderbaren Mannes zu sein.«

»Danke für die Blumen! Bitte, Corinna. Tu mir den Gefallen und rede mit mir, wenn was nicht stimmt. Friss nicht alles in dich hinein. Ohne dich könnte ich keinen Tag glücklich sein. Und jetzt, da unser Kind unterwegs ist, muss ich einfach noch viel aufmerksamer werden. Ehemann und Vater zu sein, ist wichtiger als Chefarzt oder Ärztlicher Direktor!«

»Egidius, hab keine Sorge. Ich habe mich in dich verliebt, so wie du bist. Die meisten Frauen machen den Fehler, sich einen Kerl zu schnappen, der halbwegs passt. Sie denken, dass sie das, was nicht passt, schon ändern werden, wenn sie erstmal verheiratet sind. Das klappt selten. Und wenn, dann handelt es sich aber nicht mehr um den Mann, den sie mal geheiratet haben, und der Grad der Zufriedenheit wächst trotzdem nicht.«

»Bist du denn glücklich mit mir – trotz allem?«

»Glücklich ist gar kein Ausdruck. Wir sind eine Vorzeigefamilie. Dein Sohn ist zauberhaft. Unser Gastsohn ist zauberhaft. Unser Kind wird zauberhaft. Wir beiden sind … na?«

»Zauberhaft?«

»Richtig. Außerdem kann ich mich gut beschäftigen. Ich habe zwei Hände und einen Kopf zum Arbeiten, verdiene mein eigenes Geld. Ich bin eine unabhängige Frau, und wenn alle Stricke reißen, habe ich Daniel.«

»Dann ist alles gut zwischen uns?«

»Alles gut, Egidius. So gut, als wären wir die Protagonisten in Daniels Arztroman!«

»Hallo? Wir sind die Protagonisten in Daniels Arztroman!«

»Da siehst du mal wieder, wie recht ich habe!«

Er lachte. Nach einer Weile sagte er: »Komisch, oder? Wie unsympathisch er wirkte, meine ich. Sogar kriminell. Ein Beleg dafür, dass man immer erst über einen Menschen urteilen darf, wenn man seine Vorgeschichte kennt. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich nur die Hälfte von dem hätte ertragen müssen, was auf seiner Seele lastet.«

»Du kannst dich auf deinen Instinkt verlassen, Liebster«, antwortete Corinna. Du hast an ihm festgehalten. Jeder andere Chef hätte ihn gefeuert.«

»Was hast du erwartet? Ich bin eben ein guter Mensch!«, zwinkerte er fröhlich.

»Du bist ein Mensch. Das ist mehr, als die meisten sind. Deswegen liebe ich dich übrigens.«

*

»Aua, aua, aua, aua!«

»Kilian, warte doch! Ich helfe dir!«

»Ach, das ist so demütigend! Ich muss mir von einer Frau beim Sockenanziehen helfen lassen! Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

»Nicht von ›einer Frau‹, mein Schatz. Von ›deiner Frau‹. Stell dich nicht so an! Wenn ich mal deine Hilfe brauche, muss ich mich dann auch dafür entschuldigen?«

»Ach, natürlich nicht«, grollte Herr Kreuzeder. »Ich bin einfach nur empört darüber, dass ich offenbar das Stadium im Leben erreicht habe, in dem es eine körperliche Höchstleistung darstellt, sich morgens anzuziehen!«

»Es macht mir nichts aus, das weißt du. Und – irgendwie bin ich ja auch schuld daran, dass dein dummer Ischias eingeklemmt ist. Also jammere nicht und lass dir helfen. Wie heißt das? Lerne leiden, ohne zu klagen!«

»Du hast ja recht! Sag mal, kannst du mich nicht in die Redaktion fahren?«

»Kilian, ich fahre seit Jahren nicht mehr! Ich nehme immer Bus und Bahn, und manchmal spendiere ich mir ein Taxi! Was, wenn ich deinen schönen Wagen zu Schrott fahre?«

»Das ist eine Idee. Wir nehmen ein Taxi. Das bringt erst dich zur Klinik, dann fahre ich weiter bis zur Geschäftsstelle.«

Alles ist gut

Das Klinikgebäude lag friedlich auf einer Anhöhe, circa vier Kilometer vom Schliersee entfernt. Die Sonne ging gerade hinter dem Stadlberg auf und spiegelte sich in den Fenstern des Gebäudes wider. Die ehemalige Frau Fürstenrieder, jetzt Karin Kreuzeder, betrat das Gebäude durch den Haupteingang, grüßte freundlich die Damen an der Pforte und begab sich zu dem Trakt, in dem sich die Ordinationen der Chefärzte befanden. Leise surrend hob sich der Rollladen von Murats Kiosk.

Sie hielt kurz inne.

»Na, Herr Kaya? Wie geht es dem Stammhalter?«

Murat hatte sich etwas hinuntergebeugt, um Blickkontakt mit der Chefsekretärin aufzunehmen.

»Guten Morgen, Frau – Kreuzeder. Ist richtig, Oder? – Ja, geht ganz gut. Aber ist auch anstrengend! Mit meinen Mädels war es nur halb so wild. Aber Sinan hält uns auf Trab!«

Man sah es ihm an. Er, der sonst so sehr auf sein Äußeres achtete, war blass, mit dunklen Ringen unter den Augen, und seine stets cool gestylte Frisur wirkte ohne das Gel vernachlässigt.

»Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie mittlerweile älter geworden sind, Herr Kaya! Aber das ist ja auch nur eine Phase. Ach, ich beneide Sie! Ich glaube, es gibt nichts Schöneres, als das eigene Kind aufwachsen zu sehen! Mir selbst war es leider nie vergönnt. Aber ich habe mir sagen lassen, dass die Kinder sehr schnell flügge werden. Schneller, als es einem lieb ist. Und im Handumdrehen sind sie aus dem Haus und leben ihr eigenes Leben!«

»Stimmt«, grinste Murat. »Sagen Sie, wollen Sie gleich für den Professor die Zeitung mitnehmen? Und das neue Heft der Romanreihe? Ist heute ganz frisch rausgekommen!«

Er verschwand kurz und kehrte mit der Zeitung und einem grünlichen Heftchen zurück. Er betrachtete den Titel. »›Vom Himmel das Blau‹. Wer denkt sich so was bloß aus?«

»Ich finde es ganz zauberhaft«, entgegnete die Dame. »Es gibt ein Lied in einer Operette, in dem ein Herr einer Dame verspricht, ihr aus lauter Liebe eben dieses Blau vom Himmel zu holen. Schön, oder?«

»Sie meinen, er liebt die Frau so sehr? Wahnsinn! Ich mein’, ich würde Katrin auch was holen, oder lieber was bestellen, im Internet, wenn sie es möchte. Sogar Blumen oder worauf Frauen so abfahren. Aber Blau vom Himmel? Was macht sie dann damit?«

»Herr Kaya! Sie sind erschreckend unromantisch! Das ist eine Metapher! Das Blau des Himmels kann man doch gar nicht holen. Das soll nur sagen, dass er versuchen will, für seine Angebetete das Unmögliche möglich zu machen, aus Liebe.«

»Ach so«, erwiderte Murat enttäuscht. »Ich würde sagen, ich hol dir – Gold, zum Beispiel. Oder wenigstens Pizza, die mag sie, besonders Funghi. Damit kann sie wenigstens was anfangen!«

Er händigte ihr die Zeitschriften aus und wünschte ihr einen schönen Tag.

Frau Dr. Schattenhofer, die in diesem Moment die Halle betrat und Richtung Notaufnahme hastete, sah sie noch um die Ecke biegen. Sie war etwas zu spät, um Ludwig von seinem Dienst in der Notaufnahme zu erlösen, und hoffte, dass er ihr ihr Erscheinen in letzter Sekunde nicht übelnehmen würde.

»Endlich«, begrüßte Dr. Lechner die Kollegin.

»Sorry, Ludwig! Ich weiß, ich bin zu spät! Aber der blöde Wecker hat nicht geklingelt. Anton ist auch zu spät. War viel los?«

»Nein, freundlicherweise nicht! In Raum 1 befindet sich noch eine Patientin, 17 Jahre, unklare Bauchbeschwerden. Ich warte noch auf die Laborwerte. Ultraschall ist unauffällig, Urinstix ohne Befund. Lanz und McBurney sind unauffällig. Keine Ahnung, was sie hat. Vielleicht lässt du sie noch mal röntgen?«

»Ungern, in dem Alter. Aber ich schaue sie mir noch einmal an! So, du gehst jetzt erstmal schlafen!«

»Guten Morgen, Frau Doktor!« Schwester Nasifa war bestens gelaunt. »Hier, die Laborwerte der Patientin in der 1! Scheint mir alles in Ordnung zu sein!«

Dagmar überflog die Werte. »Ja, da ist nichts auffällig. Ich gehe mal zu ihr.«

Die Patientin lag mit angezogenen Beinen seitlich auf der Untersuchungsliege.

»Guten Morgen, Frau – ääh, Radnitz! Mein Name ist Schattenhofer, ich bin ab jetzt ihre behandelnde Ärztin. Wie geht es Ihnen denn jetzt?«

»Wieso? Kommt Dr. Lechner nicht?«

»Dr. Lechner hat Nachtdienst gehabt und sich gerade in sein wohlverdientes Frei begeben. – Wie geht es Ihnen, Frau Radnitz? Darf ich Sie gerade noch einmal untersuchen und den Ultraschall wiederholen?«

»Das hat Dr. Lechner doch schon gemacht!«

»Das ist richtig. Aber manchmal entwickeln sich Symptome erst, deswegen würde ich es gern noch mal kontrollieren!«

»Ich glaube, dass ist nicht nötig! Mit geht es schon viel besser!«

»Nun, ihre Werte und die vom Kollegen erhobenen Befunde sind in Ordnung. Sollte sich ihr Zustand wieder verschlechtern, kommen Sie bitte umgehend zurück oder suchen Ihren Hausarzt auf!«

»Wohnt Dr. Lechner hier im Krankenhaus?«

»Nein. Aber derlei Auskünfte darf ich Ihnen gar nicht geben, Frau Radnitz. Das verstehen Sie sicher.«

Schwester Nasifa und Dagmar Schattenhofer sahen sich an.

»Eigenartiges Mädchen, oder?« Dagmar schüttelte den Kopf.

»Ein klassischer Fall von Spontanheilung«, lachte Nasifa. »Ich habe sowieso daran gezweifelt, dass sie ernstlich erkrankt ist. Sie wirkte einfach nicht krank. Nur, wenn Dr. Lechner in der Nähe war.«

Die Tür öffnete sich, und Elenore Pahlhaus, die Chefin der Narkoseabteilung, steckte ihren Kopf herein. »Ist meine Tochter anwesend? Laut Dienstplan müsste sie …«

»Frau Dr. Schattenhofer ist gerade zu einem Patienten in die 2 gegangen! Kann ich ihr etwas ausrichten?«

»Nein, das würde ich gern persönlich sagen, aber danke für das Ange bot, Schwester Nasifa! Meinen Sie, dass Sie ein Tässchen Kaffee für eine Anästhesistin abzweigen können?«

»Milch und Zucker?«

»Nein, nur schwarz und süß!«

»Ach, wie die Frau Doktor! Ja, gern, natürlich!«

In diesem Moment kam Dagmar herein. »Nasifa, könnten Sie bitte den Jungen in der 2 zum Schulterröntgen schicken? Ich will da auf jeden Fall eine Fraktur ausschließen. Wenn man da etwas übersieht, hat er den Rest seines Lebens Probleme … Hallo, Mama! Was treibt dich denn hierher – außer dem leckeren Kaffee von Schwester Nasifa?«

»Deine Großmutter liegt im Sterben.«

»Ich habe eine Großmutter?«

»Ja und nein. Meine Mutter liegt seit einigen Jahren mit einer schweren Demenz im Augustinum in München. Ich gehe einmal im Monat zu ihr, bringe ihr Marzipan in Vollmilchschokolade oder Kuchen, und vergesse sie dann wieder. Gestern Abend wurde ich angerufen. Ihr Leben geht zu Ende.«

»Du – sprichst so kalt von ihr!«

»Wenn es nach ihr gegangen wäre, lebtest du heute gar nicht, Dagmar. Wie hat sie mich bekniet, die Schwangerschaft abzubrechen. Und als ich mich weigerte, zwang sie mich, manipulatives Weib, das sie war, dich zur Adoption freizugeben. Das erschien auch mir dann irgendwann als beste ›Lösung des Problems‹. Mein Gott, ich war 17! Und damals war man mit 17 lange noch nicht so weit wie heute, glaub mir!«

»Und jetzt stirbt sie?«

»Ihr Gehirn ist seit langem tot. Sie ist nur noch körperlich anwesend. Aber jetzt geht es zu Ende, und ich wollte dir freistellen, ob du sie sehen willst oder nicht. Ich fahre nachher hin.«

»Ich würde dich gern begleitet, Mama. Holst du mich ab?«

Muttertag

Es war ihr völlig klar. Wenn sie nicht eingriff, wäre das Projekt ›Enkelkind‹ zum Scheitern verurteilt. Nicht, dass ihre Tochter dumm war. Im Gegenteil. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass irgendjemand in ihrer Familie studiert und mit einem akademischen Grad abgeschlossen hätte, schon gar keine Frau. Sie war unbändig stolz auf ihre Tochter, die eine ›Frau Doktor‹ geworden war. Leider keine Ärztin. Aber das war nicht so schlimm. Wenn sie in Konya, Antalya oder Istanbul anrief und mit den Geschwistern, Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen telefonierte, reichte es, wenn man von der ›Frau Doktor‹ sprach. Niemand hätte es gewagt, weitere Fragen zu stellen. Und jetzt würde sie auch im Privatleben glücklich werden. Die Tatsache, dass es sich nicht um einen Mann, sondern eine Frau handelte, nahm sie mit Gelassenheit. Es ging hier um das Glück ihrer Tochter, nicht um ihr Glück. Kurz, es ging niemanden etwas an. Außer eben ihre Tochter und deren Partnerin.

Aber sie war Mutter. Und Hatice ihr Kind. Es hatte ja nun wirklich lange genug gedauert, bis ihre Tochter sich zu einer Lebensgemeinschaft herabgelassen hatte. Sie, Ayse, würde nicht immer da sein, um aufzupassen. Die Dinge mussten geregelt werden. Hatice war 30! Und sie wollte unbedingt Oma werden. Büyükanne.

Diese Gedanken lenkten sie auf die Innere Abteilung. Einen von beiden musste sie sprechen. Entweder Dr. Angerer oder Pfleger Christopher.

»Entschuldigen – Pfleger Chris?«, fragte sie die Schwester vom Dienst.

»Der räumt gerade den Wäscheschrank auf! Gehen Sie einmal geradeaus. Und wenn Sie jemanden fluchen hören, haben Sie ihn erreicht!«

Nun fluchte zwar niemand, aber Chris schien wirklich nicht gut gelaunt. Offenbar hatte die Schwesternschülerin Stecklaken und Kopfkissen bunt durcheinander gewürfelt und auch Bezüge und Laken abenteuerlich einsortiert. So ging das nicht. Er musste mit ihr reden, dringend. Ob sie das bei ihr zu Hause ähnlich chaotisch handhabte?

»Hallo, Chris!«

»Grüß Gott, Ayse! Na! Schon wieder bei der Arbeit?«

»Ja, immer fleißig! Geht gut?«

»Na klar! Ich kann mich nicht beschweren!«

»Mann geht auch gut?«

Chris verbiss sich ein Lachen.

»Ja, Philipp geht auch gut.«

»Ich euch einladen. Köpfte, Kebab, Börek. Und Baklava!«

»Das ist aber nett! Wie kommen wir zu der Ehre?«

»Nur so. Morgen Abend, sieben Uhr?«

»Ich denke, morgen müsste gehen! Dürfen wir unseren Hannes mitbringen? Ich frage Philipp nachher, Ayse. Wenn es nicht klappt, sage ich Bescheid. Wo wohnen Sie?«

»Hannes mitbringen! Frauenschulstraße 4!«

*

»Wieso das denn?«, fragte Philipp. »Ich kenne Ayse seit Jahren. Sie ist tatsächlich eine Institution hier im Haus, und ich mag sie. Aber ich wurde noch nie von ihr eingeladen. Das steckt doch was dahinter!«

»Hab ich auch gedacht. Sie hat mich mit einem derart unschuldigen Gesichtsausdruck gefragt, da muss es einfach einen Hintergedanken geben!«

»Wir werden es herausfinden!«

»Das heißt, wir gehen?«

»Na klar. Mit Hannes! Ich liebe Kebab! Das lasse ich mir nicht entgehen!«

*

Das Augustinum in München war eine feudale Anlage, auch wenn es in dem nicht so gut beleumundeten Stadtteil Hasenbergl lag. Ein Garten umzingelte das Hochhaus. Überdies fanden sich in verschwenderischer Vielzahl Veranstaltungssäle für Kino, Konzerte, Vorträge, ein apart gestaltetes Restaurant, ein Café, Schwimmbad, Dachterrasse mit einem Blick über ganz München und insbesondere zur Arena, in der der örtliche Fußballverein seine Spiele abhält.

All diese Einrichtungen konnte die Mutter der Chefärztin der Anästhesie umständehalber nicht mehr in Anspruch nehmen.

»Darf ich vorstellen? Deine Großmutter!«, erklärte Elli Pahlhaus bitter. Dagmar stand neben ihr und sah die alte Frau, die mit geschlossenen Augen in ihrem Bett lag, nachdenklich an.

»So liegt sie schon seit Tagen da. Sie hat seit mindestens fünf Tagen nichts mehr zu sich genommen. Wir achten aber auf ausreichend Flüssigkeit. Die geben wir ihr als Infusion«, erläuterte die Schwester. »Verdursten lassen wir sie nicht.«

Elenore Palhhaus stellte die Stoppuhr, ihrer Gewohnheit folgend, auf 60 Minuten und tippte auf die Starttaste. Fragend sah Dagmar ihre Mutter an.

»Sie hat ihre Pflicht mir gegenüber erfüllt. Ich erfülle meine Pflicht ihr gegenüber«, sagte Elenore kalt. Dagmar staunte.

So hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt. Freundlich, humorvoll, zugewandt. Das entsprach ihr. Die Elenore, die da beobachtete, wie die Zeit, die sie für ihre Mutter opferte, langsam verrann, war ihr fremd.

Sie nahm auf der Bettkante Platz und ergriff die ausgemergelte, von Alterspigmenten dunkle Hand der bewusstlosen Frau.

»Ich bin es, Dagmar, deine Enkelin, Oma! Wie schade, dass alles so gekommen ist! Ich hätte alles dafür gegeben, dich kennenzulernen. Du sollst wissen, dass ich dir nichts übelnehme. Meine Mama, die deine Tochter ist, hat mich gefunden. Damit hat sich ein Traum von mir erfüllt. Was sage ich – ein Traum? Der Traum. Ich habe ein Zuhause gefunden, meine Wurzeln. Keine angstvolle Unruhe mehr. Frieden. Glück. Ich bin angekommen und muss mich vor nichts mehr fürchten.«

Tränen rannen über ihr Gesicht. Elenore war zu ihr getreten und hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt. In diesem Moment schlug die alte Dame ihre Augen auf, und sah direkt und klar in Dagmars Gesicht.

»Bitte weine nicht, mein Kind. Es tut mir alles so leid. Ich habe alles falsch gemacht. Aber ich war dumm und wusste es nicht besser. Bitte vergib mir.«

Sie hatte Mühe, diese Sätze herauszubringen. Ihr Sprache klang matt und verwaschen. Ihr Körper allerdings war angespannt, sank aber wieder in sich zusammen, nachdem sie das letzte Wort gesprochen hatte.

Man hätte erwarten können, dass Dagmar erschrocken war wegen der unvorhergesehenen Reaktion. Sie jedoch drückte die Hand der Greisin und flüsterte: »Ich bin dir nicht böse, und ich habe dir längst verziehen. Alles ist gut.«

Elenores Hand lag noch immer auf Dagmars Schulter. Allerdings hatte sich die Bedeutung umgekehrt. Halt hatte sie ihr geben wollen. Nun benötigte sie Dagmars Schulter selbst als Halt.

Auch Elenore war nicht erschrocken. Nachdenklich betrachtete sie das Gesicht ihrer Mutter. Nachdenklich und seltsam berührt. Ihr war bewusst, dass die Sätze ihrer Mutter ihr, nicht ihrer Tochter gegolten hatten. Dagmars Reaktion darauf hätte ihre Reaktion sein sollen.

Hätte sie die Kraft gehabt, ihr zu vergeben? Ihr Mutter hatte viel kaputt gemacht. Sie hatte ihr ihre Liebe verweigert. Ihr den einzigen Zufluchtsort, ihr Zuhause, genommen. Andererseits – ein kleines, oberbayrisches Dorf? Der soziale Druck? Wer war sie, um über ihre Mutter zu richten? Gewiss muss eine Mutter zu ihrem Kind halten. Aber vielleicht hatte sie angenommen, dass diese ›Lösung‹ tatsächlich für alle die bestmögliche war. Vielleicht hatte sie nach bestem Wissen und Gewissen geurteilt und gehandelt. Leicht hatte sie sich diese Entscheidung gewiss nicht gemacht. Komisch, wirklich: Ihre Mutter hatte ihr nie die Chance gegeben, sie zu lieben. Und jetzt hatte sie es ihr unmöglich gemacht, sie zu hassen.

»Ich bin froh«, wisperte Dagmar, »dass wir diese Gelegenheit hatten. Und dass wir das austauschen konnten. Besser, als an einem Grab zu stehen und sich zu denken, hätten wir bloß. Schau in ihr Gesicht. Ihr Lächeln wirkt so friedlich.«

Elenore sah ihre Mutter an. Sie hatte sie schon lange nicht mehr betrachtet. Tatsächlich. Sie lächelte. Und dieses Lächeln verlieh ihr eine unwirkliche, entrückte Erhabenheit. Wie schön sie aussah!

Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Mutter wahrgenommen hatte, als sie, Eleonore, noch ein kleines Mädchen war. Sie war eine schöne und stolze Frau gewesen. Sie war stark, sehr direkt und immer ein wenig streitsüchtig, besonders, wenn es um ihre Tochter ging.

Schlagartig wurde es ihr klar: Es stimmte gar nicht, dass ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte. Sie hatte wie eine Löwin für sie gekämpft.

Erst, als sie sich zu ihr heruntergebeugt und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, fiel ihr auf, dass die alte Dame sanft entschlafen war.

In diesem Moment ertönte die Stoppuhr.

Die Zeit war abgelaufen.

*

Es duftete bereits im Treppenhaus nach exotischen Köstlichkeiten.

»Wenn es nur halb so gut schmeckt, wie es riecht, haben wir einen schönen Abend vor uns«, stellte Chris fest.

»Hoffentlich ist viel Knoblauch dran«, sagte Hannes.

»Mit Sicherheit«, erwiderte Chris. »Wir werden morgen wenig Menschen in unserer Nähe beobachten können! Egal! Übermorgen ist der Duft wieder verschwunden!«

»Morgen ist Chefvisite, ihr seid gut! Vielleicht weigert der Professor sich, neben mir zu stehen! Oder er sagt die Visite völlig ab!«

»Irgendwas ist ja immer«, alberte Chris.

Ayse öffnete auf ihr Klingeln hin die Tür.

»Willkommen!«, rief sie den beiden entgegen. Bis zu diesem Punkt hatte ihr Plan funktioniert. Die Herren wurden in das barock anmutende Wohnzimmer mit den riesigen, bequemen Sitzmöbeln begleitet. Auf dem Tisch standen zwei Etageren mit Pistazien, Kichererbsen, gezuckerten Mandeln.

»Hatice, holst du Tee!«, kommandierte die Gastgeberin. Denn ihre Tochter war in Begleitung ihrer Lebensgefährtin ebenfalls erschienen.

»Ist Doktor«, stellte Ayse den Damen ihren Besuch vor, »und Pfleger, in Klinik! Und Sohn! Das meine Tochter und Frau!«

»Ich kenne Sie«, stellte Philipp in Veronikas Richtung fest. »Sie sind doch bei uns operiert worden! Da gab es, soweit ich mich erinnere, einige Probleme mit diesem Bielow oder wie der Kollege hieß. Sehr unangenehme Sache!«

»Gut«, erklärte Ayse pragmatisch. »Tochter Hatice und Veronika wünschen Kind. Geht nicht ohne Mann. Ihr reden. – Guten Appetit!«

Die vier Gäste sahen sich verblüfft an.

»Aber Mama!« Hatice war vor Schreck schneeweiß geworden.

»Was – ›aber Mama‹?«, äffte Ayse den entsetzten Tonfall ihrer Tochter nach. »Weiß ich von Frauenstation – geht ohne Sex!«

»Ja, damit hat der Zweck unseres Hierseins deutlich an Transparenz gewonnen«, grinste Philipp. »Allerdings befürchte ich, dass dieses Ansinnen uns vor einige emotionale Schwierigkeiten stellen dürfte. Auch wenn wir lediglich als Spender fungieren würden, es bliebe doch immer Chris’ oder mein Kind. Und auf die daraus erwachsenden Ansprüche würde ich niemals verzichten wollen. Warum wenden Sie sich nicht an ein entsprechendes Institut? In München-Solln gibt es eine Samenbank, in der Wolfratshauser Straße. Die führen dann dort auch gleich die notwendige Insemination durch.«

»Wirklich, es ist mir sehr unangenehm, dass meine Mama Ihnen beiden derlei zumutet.«

Die Mama war sich keiner Schuld bewusst. Bevor man einem unbekannten Spender vertraute, wäre es doch viel besser, wenn man jemanden für diese Aufgabe gewönne, dessen menschliche Qualifikationen über jeden Zweifel erhaben und bekannt waren. Die Gleichung schien allerdings nicht aufzugehen. Dass die Herren eine Bindung an das Kind gewinnen könnten, hatte sie nicht bedacht.

Hannes saß scheinbar unbeteiligt am Tisch, und legte mit den Mandeln und Kichererbsen Ornamente auf dem Tischtuch aus. Damit beschäftigte er sich so lange, bis Chris vor ihm einen Teller aufbaute.

»Recht so, mein Sohn?«, erkundigte er sich.

»Spinat mag ich nicht«, erklärte der Junge bestimmt.

»Dann lass ihn einfach liegen. Möchtest du dafür etwas mehr Reis?«

Hannes schüttelte den Kopf.

»Wir bekommen ein Kind?«, fragte er misstrauisch. »Ihr braucht kein Kind. Ihr habt mich doch schon.«

»Na klar. Du reichst ja auch völlig. Deswegen haben wir ja auch Nein gesagt.«

Den weiteren Verlauf der Veranstaltung bewerteten beide Paare als unkompliziert und heiter, wenngleich die Bewertung von Ayses Initiative durchaus unterschiedlich ausfiel.

Hatice war es peinlich. Was hatte ihre Mutter sich bloß bei dieser Aktion gedacht? Gewiß, sie hatte es nicht böse gemeint. Sie kannte deren praktischen Verstand. Ayse hatte stets das Ziel vor Augen. Hindernisse auf dem Weg dorthin fürchtete sie nicht. Sie beschritt diesen Weg vielmehr unbeirrt und zweckorientiert.

Veronika hatte Verständnis für das Ansinnen ihrer Schwiegermutter. Sie selbst hatte sich bereits Gedanken über das Thema gemacht. Auch in ihr wuchs mit zunehmendem Alter der Wunsch, ein Kind großzuziehen. Sie selbst war in ihren Vierzigern und damit deutlich zu alt, um selbst ein Kind zu bekommen. Aber Hatice? Gut. Ihre Frau definierte sich stark über ihren Beruf. Sie hätte nicht ein Kind, sondern derer mehrere Hundert, lachte sie, wenn sie das Problem thematisierten. Es gab ja nun Frauen, die für sich entschieden hatten, dass die Mutterrolle ihnen nicht gut stand. Trotzdem empfand sie, dass Hatice gern Mutter werden würde. Zudem waren Philipp und Chris wirklich nette, gescheite, attraktive Männer!

Sie hatte nichts gegen Ayses Vorschlag!

Philipp und Chris waren sich einig. Prinzipiell liebten sie Kinder, und sie hatten auch prinzipiell nichts gegen ein weiteres Kind einzuwenden. Allerdings hätten Sie keinerlei Einfluss mehr auf das Kind nehmen können. Oder?

»Sag mal«, leitete Chris die Diskussion ein, als die beiden anderentags im Pausenraum der Inneren Abteilung saßen. »Mich lässt gerade dieser Gedanke nicht los!«

»Welcher Gedanke?«

»Der Gedanke an ein Kind. Ein Kind, dessen genetisches Material von einem von uns beiden stammt. Wenigstens zu 50%. Fasziniert dich diese Vorstellung nicht auch?«

»Ja, natürlich. Aber könntest du es aushalten, wenn dein Kind von völlig fremden Menschen aufgezogen wird? Vielleicht noch nicht einmal weiß, dass einer von uns beiden sein Vater ist?«

»›Sein‹? Siehst du? Du hast bereits präzise Vorstellungen!«

»Ach, Quatsch. ›Sein‹ wegen ›das Kind‹.«

»Ist ja auch Wurscht. Für Hannes wäre es doch gar nicht schlecht, noch eine kleine Schwester zu haben!«

»Aha. Wer hat hier präzise Vorstellungen?«

»Touché!«, sagte Chris heiter. »Sag mal, hast du die Telefonnummer der Mädels?«

»Nein, aber die wird Ayse uns bestimmt mit Freude zur Verfügung stellen!«

Ein reines Herz

»Und, Herr Doktor? Ist der Eingriff gelungen?«

»Liebe Frau Tauber, es gab ein winziges Problem. Sie hatten mir ja auf der OP-Einwilligung unterschrieben, dass Sie sich der Tatsache bewusst sind, dass sich unter Umständen erst während des Eingriffs eine Änderung oder Erweiterung der Operation als notwendig herausstellen kann. Das war nun in der Tat der Fall. Trotzdem habe ich meinen Eingriff nach den Regeln der Kunst durchgeführt. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass mir wohler gewesen wäre, wenn ich den kleinen Tumor, den ich an Ihrer linken Ohrspeicheldrüse gefunden habe, hätte beseitigen können.«

»Warum haben Sie ihn nicht entfernt?«

»Weil das das Ergebnis des besprochenen Eingriffs infrage gestellt hätte. In Gestalt einer Narbenbildung oder einer Verziehung.«

»War der Tumor denn bösartig?«

»Das vermag ich ohne feingewebliche Analyse nicht zu sagen, Frau Tauber. Ich wollte auch nicht unkritisch biopsieren, ohne zumindest eine Verdachtsdiagnose zu stellen. Ich würde Sie bitten, dass Sie sich möglichst zeitnah in die Behandlung eines HNO-Kollegen begeben.«

»Wie lange hat der Eingriff gedauert?«

»Mit Ein- und Ausleitung der Narkose vier ein Viertel Stunden.«

»Und wie lange muss ich diesen schrecklich Verband aushalten?«

»Üblicherweise zehn bis vierzehn Tage, aber das zeigt sich im Verlauf. Ich verstehe, dass Sie neugierig sind. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das derzeitige Ergebnis nicht ganz so attraktiv aussieht, wie sie es sich erhoffen. Das Gewebe ist teilweise geschwollen, und es finden sich Hämatome. Aber keine Sorge, das verschwindet alles.«

*

Schwester Stefanie war wirklich dankbar, das Lukas vorübergehend bei ihr eingezogen war, um ihr so lange behilflich zu sein, bis ihre Sehkraft zurückgekehrt war. Er hatte eingekauft, die Wohnung in Ordnung gehalten und ihr bei kleineren Handreichungen geholfen. Allein das Kochen war seine Sache nicht. Aber auch das war ein lösbares Problem. Entweder radelte er nach der Schule zu Irem, um dort zwei Dönerteller zu kaufen, oder zu einem Italiener, wegen Pizza und Pasta.

»Ich kann nur Spiegelei und Rührei«, gestand er der Schwester.

»Das kann eine Delikatesse sein, wenn’s richtig zubereitet ist«, behauptete diese. »Allerdings wird es auf die Dauer doch etwas langweilig!«

Stefanie genoss seine Anwesenheit. Er war ein freundlicher, blitzgescheiter, sensibler Junge. Das hatte sie daran gemerkt, wie er mit der schwierigen Frau Pfrang umgegangen war. Naja, und sie hatte es ihm auch nicht gerade leicht gemacht. Er aber hatte sich durchgesetzt. Er hatte ihre Bosheiten, ihren Sarkasmus schlicht ignoriert, und genau nur das wahrgenommen, was sein positives Verständnis von der Welt zuließ. Was für eine Gabe!

»Waren Sie mal verheiratet, Schwester Stefanie?«, erkundigte sich der Junge.

»Warum willst du das wissen?« Er schaffte es immer wieder, sie zu verblüffen.

»Ich dachte gerade, wer kümmert sich um Sie, wenn ich mal nicht kann?!«

»Tja, vermutlich muss ich dann in eine Klinik gehen! Es ist ja auch nicht gesagt, dass so etwas immer wieder passiert. Netzhautblutungen habe ich schon häufig gehabt, allerdings war mir nicht bewusst, dass der Mist auch auf beiden Seiten gleichzeitig auftreten kann. Aber deshalb nun gleich heiraten … Das wäre dann doch übertrieben, findest du nicht? Außerdem bin ich für den Quatsch wirklich zu alt!«

»Die Sekretärin meines Vaters hat geheiratet, und die ist schon 50!«

»Und ich bin sogar schon 55! Nein, Lukas. Ich habe es bis zu diesem Punkt ohne Ehemann geschafft, und meine letzten Jahre will ich auch im Frieden verbringen!«

»Ich bin ja auch noch da, wenn sie mich brauchen! – Waren Sie eigentlich mal verliebt?«

Ach, Lorenz, dachte die Krankenschwester. Soll ich wirklich unsere Geschichte erzählen? Es ist die traurigste Geschichte der Welt. Aber dieser Junge würde sie verstehen, da bin ich ganz sicher.

»Aha«, sagte Lukas.

»Was – Aha?«

»Sie waren also mal verliebt!«

»Warum? Woher willst du das wissen?«

»Sie haben eben so glücklich ausgesehen!«

»Das macht die Erinnerung an das, was war, Lukas. Das ist das, was einem lange, so lange bleibt! Und die Vorstellung von dem, was hätte sein können. Aber das Leben ist leider kein Wunschkonzert!«

»Was ist denn passiert?«

»Ich war ein junges, hübsches Ding. Davon merkt man heute nicht mehr viel, aber vertrau’ mir, es war so. An Verehrern gab keinen Mangel. Aber damals waren die Zeiten anders. Es ging sehr viel strenger zu. Das man, wie heute, quer durch die Betten hüpfte, war damals undenkbar. Deswegen wies ich alle ab, die an mir Interesse zeigten, ich dumme Kuh. Ich hatte meinen Stolz. Der war allerdings ein schwacher Trost. Stolz wärmt nicht, Stolz macht kein Herzklopfen. Stolz nimmt dich nicht in den Arm, ist nicht liebevoll oder zärtlich. Stolz ist kalt und macht unnahbar.

Einer versuchte es trotzdem bei mir. Ein hübscher junger Bursche, mit wilden, blonden Locken und Augen in einem Blau, das du dir nicht vorstellen kannst, und wenn du es noch so sehr versuchst. Wir hatten uns auf einem Dorffest kennengelernt. In Bruchteilen von Sekunden war ich verliebt, und ihm erging es nicht anders. Wir hatten nur noch Augen für einander. Er war stark, breitschultrig, zuverlässig. Wenn er lachte, leuchtete er. Wir tanzten einen Dreher miteinander!«

»Einen Dreher?«

»Ein Volkstanz. Wir sahen wunderbar aus, er in seinen Lederhosen, ich in meinem Dirndl. Die Leute applaudierten uns sogar. Irgendwann stellte er mich seinen Eltern vor. Großbauern in Josefstal waren die. Sie waren höflich zu mir. Aber sie verboten ihm den Umgang mit mir. Für ihn war eine Bauerstochter aus der Nachbarschaft vorgesehen, nicht eine kleine Krankenschwester, die keinen Grundbesitz hatte, und die außer dem Willen, ihrem Sohn eine gute Frau zu sein, nichts in die Ehe mitbrachte.

Ich habe gekämpft. Aber gegen seine Mutter konnte ich nur verlieren. Ich weiß, dass ihm der Brief, in dem er mich bat, von ihm abzulassen, von ihr diktiert worden war. Dass er ihn weinend schrieb, weiß ich, weil an einigen Stellen seine Tränen die Tinte verwischten.

Für mich brach eine Welt zusammen. Aber auch für ihn.«

»Hat er die andere geheiratet?«

Schwester Stefanies Augen glänzten verräterisch.

»Eine Woche, nachdem ich Lorenz’ Brief erhalten hatte, fand man ihn am Spitzingsee. Er hatte das Jagdgewehr seines Vaters entwendet und seinem Leben ein Ende gesetzt.«

Sie musste eine Pause machen, in der sie Gelegenheit hatte, sich wieder zu fangen.

»Immerhin hat er mir die Treue gehalten, nicht wahr? Auf eine entsetzliche Art allerdings. Sein Vater starb vor Gram, einzig seine Mutter wurde steinalt und musste lange an ihrer Schuld tragen. Rate mal, wer sie bis zu ihrem Ende pflegte?«

»War sie bei Ihnen im Dorotheenstift?«

»Ganz genau. Aber wenn du glaubst, dass sie auch nur ein einziges Wort in meine Richtung gesagt hatte, ein Wort, auf Grund dessen ich sie hätte verstehen, ihr hätte vergeben können, täuschst du dich. Sie war ein bitterböses, reiches, altes Weib. Ihr Vermögen fiel an die Kirche, weil es niemanden mehr gab, dem sie es sonst hätte vererben können.«

»Sie haben Ihrem Lorenz auch die Treue gehalten«, stellte der Junge sachlich fest.

»Es blieb mir nichts anderes übrig«, lächelte Schwester Stefanie bitter. »Es gab keinen, der ihm auch nur im Entferntesten das Wasser hätte reichen können. Weißt du, Lukas, wenn man einmal dem Besten gegenüberstand, zum Greifen nah, dann will man sich mit dem Zweitbesten nicht mehr zufrieden geben. Und: Man vergleicht. Natürlich zieht der Andere gegenüber dem Einen immer den Kürzeren. Der Eine, den es nicht mehr gibt, hat ja auch den ungerechten Vorteil, dass er nichts mehr falsch machen kann. Er steht inmitten einer Gloriole auf seinem Podest, wie ein Heiliger. Gegen ihn kann jeder Andere nur verlieren.«

»Das ist eine traurige Geschichte«, befand der Junge.

»Es ist eine Geschichte, die einen wütend machen kann«, korrigierte sanft die Schwester. »Es ist eine Geschichte von Verschwendung und Dummheit. Verschwendung von Leben, von Jugend, von Schönheit, von Träumen und Hoffnungen. Dummheit durch Vorurteile, Gier, mangelnde Empathie. Mein Leben schwankte zwischen Wut und Tränen. Das hat mich hart, bitter und bösartig gemacht. Du bist der Erste, der dies nie zur Kenntnis zu nehmen schien. Zu dir konnte ich jede Bosheit sagen – du interpretiertest sie als Belehrung, die du sogar noch dankbar entgegennahmst. Du hast ein reines Herz. Bewahre es dir. Es ist dein größter Schatz.«

Kinder fallen nicht vom Himmel

»Verflixt und zugenäht!«

»Was hat dich zu diesem extravaganten Ausbruch verleitet?«

»Beschäftigt dich das nicht? Ich habe ehrlich in den letzten Tagen kaum einen anderen Gedanken fassen können – mit Ausnahme der Frage, ob die wunderbare Meißener Porzellan-Schale in der Vitrine oder auf dem Esstisch den besseren Eindruck macht.«

»Vitrine, ganz klar. Stell’ dir vor, du schlägst sie beim Abwaschen gegen den Wasserhahn, und plötzlich ist ein Chip aus dem Goldrand herausgeschlagen!«

»Ja und? Die Dinge sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Ich will es benutzen und mich daran erfreuen. Ich bin ja kein Museum. Ich lebe.«

»Du hast recht«, sagte Philipp nach kurzer Überlegung. »Gerade die schönen Dinge sind zum Benutzen da. – Aber ich glaube, wir sind von deinem Thema abgekommen. Es geht um K-I-N-D-E-R«, buchstabierte er zwinkernd.

Hannes runzelte die Stirn. »Hallo?«, rief er. »Ich habe Asperger, ich bin nicht taub! Glaubt ihr, dass ich aus sechs Buchstaben kein Wort zusammensetzen kann?«

»Was denkst du denn darüber?«

»Das ist doch dann das Kind von der dicken und der türkischen Frau, oder?«

»Hannes, die dicke Frau ist keine dicke Frau, sondern eine Frau, und die türkische Frau ist auch nur türkischer Abstammung, und eine weitere Frau. Die Adjektive sind da überflüssig«, erklärte Philipp unwirsch.

»Das ist dann aber doch das Kind der beiden Frauen!«, korrigierte sich Hannes. »Oder lebt der dann auch bei uns?«

»Wieso denken alle, dass es ein Junge wird? – Nein, er lebt – also, es lebt dann bei Hatice und Veronika. Und wir als Väter spielen keine Rolle.«

»Ich meine … Vielleicht dürfen wir das Kind mal besuchen?«, fragte Chris. »Das kann man uns doch wohl kaum verwehren, oder?«

»Ich bin sicher, dass wir einen Vertrag abschließen werden, in dem das festgelegt wird.«

Hannes seufzte. »Schade«, sagte er resigniert.

»Was – schade?«, empörte sich Chris. »Was denkst du denn von uns? Du weißt doch, wie lieb wir dich haben, oder? Glaubst du im Ernst, dass da irgendein Kind etwas dran ändern kann?«

»Ja.« Die Antwort des Jungen knallte wie ein Peitschenhieb im Raum.

»Warum glaubst du das?«, erkundigte sich Philipp.

»Weil ich nicht wirklich euer Kind bin. Aber das Kind der beiden Frauen… Das wäre dann euer Kind. Ein echtes Kind.«

»Ich habe dir schon mal gesagt, dass du deswegen so wichtig bist, weil wir dich nicht einfach so bekommen haben. Wir haben dich ausgesucht. Wir wollten dich unbedingt und haben uns deswegen sogar mit deiner Mama verkracht. Deinen Platz kann niemand einnehmen. Du wirst immer unser Junge bleiben.«

»Na gut.« Hannes rang sich gerade noch zu dieser drögen Antwort durch. Das Thema war damit für ihn erledigt.

*

»Nett, dass Sie sich noch mal gemeldet haben«, begrüßte Hatice die beiden attraktiven Herren und winkte sie herein. »Die schönen Blumen! Und auch noch Tulpen, wie konnten Sie das wissen! Vielen Dank! Veronika, kommst du mal? Ich muss rasch diesen hinreißenden Strauß hier versorgen!«

Die Gerufene erschien Augenblicke später und begrüßte ihre Gäste.

»Das war ja ein dolles Ding, neulich, bei meiner Schwiegermutter, oder?«, kicherte sie. »Ayse ist ein Goldstück. Wirklich. Sie denkt sehr geradeaus und sehr zielorientiert. Wenn ich es nicht angehe, tut es keiner, denkt sie vermutlich. Dabei steht meine Frau doch gar nicht unter Druck. Ich glaube, ab 32 sprechen die Frauenärzte von ›alter Erstgebärender‹. Ein widerwärtiger, diskriminierender Ausdruck. Allerdings hat er medizinisch seine Berechtigung, oder?«

»Ja, genau«, stimmte der Doktor zu. »Das ist das Ergebnis von Forschung und Statistik. Keine Abgabe frauenfeindlicher Erklärungen!«

Die vier verstanden sich ausgezeichnet.

Veronika hatte auf Verdacht schon einmal ein Standard-Vertragswerk von ihrem Anwalt aufsetzen lassen, das ihnen als Diskussionsgrundlage diente.

»Irgendwann wird das Kind fragen, wer sein Vater ist. Kinder fallen ja bekanntlich nicht einfach vom Himmel, nicht wahr«, stellte Veronika fest. »Natürlich würden wir euch mit einbeziehen. Wir würden euch auch ein Mitbestimmungsrecht einräumen – obwohl wir vermutlich ähnliche Vorstellungen haben, was ihren Lebenslauf angeht!«

Die vier hatten sich auf das vertrautere ›Du‹ geeinigt. Es fühlte sich, so meinte Hatice, vermutlich deutlich adäquater an, wenn es um das Zeugen von Kindern ging. Einigkeit bestand im Weiteren darin, die Insemination durch Professor Antretter durchführen zu lassen. Und das in dem unwahrscheinlichen Fall, dass den Müttern etwas zustoßen würde, automatisch die Väter als verantwortliche Erziehungspersonen einzusetzen waren.

Als Chris und Philipp zu vorgerückter Stunde aufbrachen, stand das gemeinsame Projekt. Man würde Termine beim Notar und bei Professor Antretter vereinbaren und die Sache in Angriff nehmen.

*

Philipp und sein Chefarzt, Professor Oberlechner, sogar der Arzt in der Kurklinik, hatten ihm jede Aufregung verboten. Deswegen hatte der Versicherer ja auch der stufenweisen Wiedereingliederung vorbehaltlos zugestimmt. Allerdings war das gar nicht so einfach, mit der Aufregung. Oder sollte man sich nicht darüber aufregen, dass Philine ihm den Umgang mit seinen Kindern untersagen wollte? Dass sie die Scheidung anstrebte, hatte er noch verstehen können, auch wenn er es nicht gutheißen konnte. Sie und er, Timon, hatten sich in einem Café in Rosenheim getroffen. Er versuchte, seine Situation zu erklären. Er kehrte sein Innerstes nach Außen.

»Ich weiß, dass es schwierig zu verstehen ist, Philine. Ich verstehe es selbst kaum. Ich habe es mir ja auch nicht ausgesucht. Du weißt, dass ich weder böswillig noch egoistisch bin. Du solltest über die Jahre unserer Ehe hin gemerkt haben, wie viel du mir bedeutest, wie sehr ich dich liebe. Du gibst mir etwas, was mir niemand auf der ganzen Welt bieten könnte. Oder glaubst du, dass ich dich aus einer Laune heraus geheiratet habe? Dass unsere Zwillinge versehentlich entstanden sind?«

»Ich hab’s ja versucht, Timon. Ich habe es wirklich versucht. Hättest du mich mit einer Frau betrogen, wäre es leichter gewesen. Nicht besser, aber leichter.«

»Es gibt keine Frau, mit der ich dich hätte betrügen mögen. Du bist für mich die einzige Frau, mit der ich je zusammenleben wollte.«

»Nett von dir, das zu sagen. Trotzdem hätte ich damit eher umgehen können. Um dich kämpfen können, mit den Waffen einer Frau. Was aber soll ich gegen einen anderen Mann einsetzen? Wie kann ich mit einem Mann konkurrieren? Und es nimmt ja kein Ende, wie du siehst! Jetzt lebst du bei diesem Physiotherapeuten!«

»Was erwartest du? Du hast mich vor die Tür gesetzt! Glaubst du, es war lustig, aus dem Taxi zu steigen und festzustellen, dass die liebende Ehefrau die Türschlösser ausgewechselt hat? Emmerich hat mich aufgenommen, sonst hätte ich ins Hotel gehen müssen!«

»Was soll ich denn machen, Timon? Soll ich vergessen, dass du mich streichelst mit Händen, mit denen du diesen Chris angefasst hast? Mich küsst mit Lippen, die ihn berührt haben? Es ekelt mich vor dir.«

Timon erstarrte. Entsetzt blickte er sie an.

»Ich dachte, dass du mich liebst, Philine. Ich bin trotz allem immer noch der Mann, den du geheiratet hast. Ich habe mich nicht verändert. Ich war immer schon so. Und jetzt sagst du, dass du mich so, wie ich bin, nicht willst, und dass – was war das? – du dich ekelst vor mir? Dem Vater deiner Kinder? – Philine, ich denke, unsere Anwälte müssen das klären. Ich habe von deinem schon gehört, du wirst von meinem hören. Ich glaube, es hat wenig Sinn, wenn wir fortfahren, uns gegenseitig zu verletzen, ohne es wirklich zu wollen. Also – ich will es nicht. Bei dir bin ich mir da gerade nicht so sicher.«

Er erhob sich, kramte mit der linken Hand in seiner Tasche, zog eine Banknote aus der Tasche, warf sie auf den Tisch und ging. Er brauchte einen Anwalt. Einen guten Anwalt. Sie konnte seinetwegen alles behalten, Haus, Grundstück, alles. Sogar Schmidt. Er hing an nichts. Nur an seinen Kindern. Um die würde er kämpfen.

Täuschungsmanöver

»Timon, endlich! Mein Gott, du glaubst nicht, wie groß meine Sehnsucht nach dir war!«

»Mensch, Daggi! Wirklich, ich habe ein ganz rabenschwarzes Gewissen! Aber glaub mir, freiwillig habe ich dich hier nicht alleingelassen mit der ganzen Arbeit! Was ich hinter mir habe, wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht!«

»Ach, Quatsch, Timon Süden. Die Arbeit habe ich nicht gemeint. Und wenn es ganz hart auf hart ging, ist Ludwig eingesprungen. Nein, ich habe dich vermisst. Wir sind doch von Anfang an gut miteinander klargekommen oder? Na bitte. Und außerdem haben wir hier alle Angst um dich gehabt. Aber das hast du vielleicht auch gemerkt. Ich glaube, die gesamte Klink ist um dein Bett herumgelaufen!«

»Schön! Wenigstens hier darf ich mich willkommen fühlen, und zu Hause! Das wird gerade etwas selten, in meinem Leben!«

»Probleme mit deiner Frau?«

»Sie hat die Türschlösser ausgewechselt und plant die Scheidung. Ich muss nur dringend versuchen zu verhindern, dass sie mir die Zwillinge vorenthält. Kennst du eigentlich einen tüchtigen Anwalt?«

»Ich frage mal Anton. Mit Scheidungsanwälten hatte ich bisher nicht so viel zu tun!«

»Sei froh! Bei mir ist es auch das erste Mal! – So! Genug Trübsal geblasen! Diese Woche bin ich jeden Tag zwei Stunden da, und ich warne dich vor: Ich werde vermutlich arbeiten wie eine aufgehende Schlaftablette! Ich hoffe aber, dass ich mich langsam steigere!«

»Alles gut. Nimm dir Zeit, solange du brauchst. Und falls du Hilfe benötigst, melde dich bitte. Kein falsch verstandener Stolz! Das brauchen wir beiden nicht!«

»Aha, der verlorene Sohn kehrt heim?«

»Herr Professor Sonntag! Haben Sie mich erschreckt!«

»Ich muss dringend meine Wirkung auf andere Menschen einer kritischen Würdigung unterziehen! Meine Frau reagiert anders auf mich, aber die kennt mich auch gut!«, lachte Egidius. »Ich wollte doch nur mal geschwind nach Ihnen sehen, Herr Süden. Wie geht es denn?«

»Körperlich mache ich gelegentlich noch schlapp, aber das wird täglich besser. Mit meiner Psyche steht des nicht zum Besten!«

»Nanu? Die Sache mit Ihrer Gattin?«

»Designierte Ex-Gattin. Leider.«

»Ach du Schreck. Und daran ist nichts zu ändern?«

»Ich hatte gestern noch ein Gespräch mit ihr. Nein, ich glaube, sie sieht mich inzwischen als einen Fehler an, den sie in ihrem Leben gemacht hat.«

»Wenn Sie der Auffassung wären, dass mein Wort etwas ausrichten könnte …«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Professor. Ich danke Ihnen sehr. Ich will ihr freundliches Angebot nicht gleich ablehnen, aber nach der Unterredung gestern glaube ich, dass es für Philine und mich keine Chance mehr gibt. Ich wurde sogar von meinem Zuhause ausgesperrt.«

»Wo leben sie jetzt?«

»Bei meinem Freund Emmerich Fahl, dem ich viel verdanke … Jetzt sogar noch mehr.«

»Wenn das erstmal eine gute Lösung darstellt, freut es mich. Sollten Sie sich verändern wollen oder müssen, kommen Sie bitte auf mich zu. Ich habe schon für ganz andere ein Dach gefunden. Wir stehen hinter Ihnen, Herr Süden. Arbeiten Sie sich in Ruhe ein. Frau Dr. Rom- ääh, Schattenhofer passt auf Sie auf!«

»Fünf Euro in die Kaffeekasse, Herr Professor«, mahnte Schwester Nasifa.

»Warum? Ich hatte doch gar keinen Kaffee!«

»Das ist für den Versprecher. Am meisten hat Frau Doktor selbst eingezahlt.«

Egidius zog seufzend einen 5-Euro-Schein aus der Brieftasche.

»In Gottes Namen«, sagte er. »Das war ja ein teurer Besuch!«

»Hat jemand Lust, eine Platzwunde zu nähen? Sie ist am Hinterkopf, also kommt es nicht so sehr auf kosmetische Perfektion an! Wie sieht es aus, Herr Doktor! Erste Amtshandlung nach Ihrer Kur?« Schwester Nasifa streckte die Hand mit der Patientenakte in Timons Richtung.

»Gute Idee, wirklich, Schwester. Ich werde mich trotzdem bemühen, es so hübsch wie möglich zu machen, dann kann ich gleich sehen, was ich mir zutrauen darf!«

Man merkte Timon an, dass er wieder voll in seinem Element angekommen war. Er untersuchte mit Händen und Ultraschall, horchte ab, sprach mit den Patienten. Er verabreichte Spritzen, legte Infusionen und Verbände an und nähte. Von Patient zu Patient wuchs seine Sicherheit.

»Man sollte nicht glauben, dass du vor nicht allzu langer Zeit zu Dreivierteln tot in deinem Bett gelegen und dich selbst bemitleidet hast«, staunte Dagmar. »Daran sieht man: Je früher die Behandlung einsetzt, umso besser sind die Chancen, dass alles wieder gut wird! – So, mein Lieber: In drei Minuten sind deine zwei Stunden um! Trink noch einen Kaffee, und dann ziehst du dir die Fluchthosen an und kommst erst morgen wieder!«

»Du bist sicher, dass ich nicht noch länger bleiben soll? Ich fühle mich wirklich gut, weißt du? Und vor allem … Es wartet ja niemand auf mich, außer Emmerich!«

»Aber das ist doch schon sehr schön. Emmerich ist wirklich einer der kompetentesten Physiotherapeuten, die ich je kennengelernt habe! Der hat eine alte Dame mit einer operierten Schulter bei Zustand nach Sturz so gut mobilisiert, dass sie wieder völlig normale Beweglichkeit erreicht hat. Und er ist sehr, sehr nett mit den Patienten. Auf so eine ehrliche Weise, weißt du? Nicht dieses professionelle Rumgeschleime. Ganz natürlich und freundlich.«

»Das stimmt wirklich. So ist er. – Na gut, wenn du sagst, dass ich gehen soll, dann breche ich jetzt auf!«

Dagmar erhob sich kurz und drückte den jungen Doktor an sich.

»Schön, dass du wieder da bist. Egal, was jetzt auf dich zukommt: Bei uns bist du gut aufgehoben.«

*

Ludwig erschien pünktlich um 20 Uhr zur Dienstübergabe.

»Und? Hat Timon alles hinbekommen?«, erkundigte er sich bei Dagmar.

»Einhundert Prozent. Echt! Wir mussten ihn fast hinausprügeln, als die zwei Stunden um waren! Ich verstehe das aber auch. Hier ist er von seinen privaten Problemen weit entfernt und abgelenkt. Ich verstehe die Frau nicht, wirklich. Ich würde um ihn kämpfen, an ihrer Stelle.«

»Ich glaube, sie hat einfach Angst, dass ihr wieder ein Mann in die Quere kommt«, behauptete Ludwig. »Das ist aber auch wirklich ein Problem, wenn man die Fähigkeit hat, mehr als einen Menschen zu lieben!«

»Es ist bestimmt schwierig. Aber ich glaube, dass er es wert ist, es trotzdem zu versuchen. Wenn ich an die Generation unserer Eltern und Großeltern denke … Gewiss, es gab auch Treue. Aber es gab eben auch Treuebrüche. Und was haben die Frauen gemacht? Sie haben es ertragen, aus mannigfaltigen Gründen. Wegen des Hauses oder Hofs, beispielsweise. Wegen der Kinder oder des Vermögens. Man warf Beziehungen wegen eines Fehltritts nicht einfach weg. Heute wechselt man die Partner mit einem Achselzucken. ›Wir haben uns auseinandergelebt‹, sagt man dann. Und sucht sich den Nächsten!«

»Ja, aber Timon ist doch mit einem Mann …«

»Ja und? Macht das einen Unterschied?«, fragte Dagmar. »Untreue ist Untreue. Ich hoffe, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Es muss nicht immer um Rache und Vergeltung gehen. Man kann auch vergeben, weißt du? – So, mein Lieber! Ich ziehe mich dann mal graziös zurück. Ruhigen Dienst! Vielleicht kommst du mal ein wenig zum Schlafen!«

»Herr Doktor, die Arbeit ruft! Eine aparte junge Dame, die sich mit kochendem Wasser verbrüht hat!« Der Pfleger hielt Ludwig den hellbraunen Pappdeckel hin. In der Ambulanz hatte man, im Gegensatz zu den Stationen, noch nicht auf Computer umgestellt. ›Radnitz, Dorit‹, stand in großen Lettern auf dem Deckel. Zudem klebten einige Adrema-Sticker darauf, ein Beleg dafür, dass die junge Frau häufiger in der Ambulanz behandelt worden war.

»Die schon wieder!«, ächzte Ludwig. Warum geht sie eigentlich nicht zu den niedergelassenen Ärzten?«

»Bestimmt wegen der Wartezeiten. Naja, und jetzt haben die Praxen ja auch schon geschlossen!«

»Ich schau sie mir an! Um so eher ist sie wieder verschwunden!« Ludwig klang eher genervt.

»So sieht man sich wieder, Herr Doktor!«, strahlte die junge Frau den Diensthabenden an. »Da fühle ich mich ja gleich schon viel besser!«

»Was hat Sie denn diesmal hergeführt, Frau Radnitz?«, erkundigte sich Ludwig, bemüht, seiner Stimme einen leicht genervten Unterton zu verleihen.

»Ich bin ja so ungeschickt, Herr Dr. Lechner! Ich wollte mir einen Tee zubereiten, und habe mir das kochende Wasser über die Hand gegossen!«

Ludwig ergriff ihre Rechte.

»Also ich sehe da nichts!«

»Oh, ich glaube, es war die andere!«

»›Ich glaube?‹ Haben sie denn keine Schmerzen?«

»Ich habe die Hand sofort mit kaltem Wasser und Eiswürfeln gekühlt, danach ist es besser geworden!«

Tatsächlich waren beide Hände völlig unauffällig. Selbst als Ludwig sie kräftig drückte, verzog Frau Radnitz keine Miene.

»Was unternehmen wir denn nun, Herr Doktor?« Dorit Radnitz sah ihren Behandler erwartungsvoll und etwas kokett an.

»Ich denke, da bei Ihnen keine Verbrennungszeichen nachzuweisen sind, verzichten wir auf medizinische Notfallversorgung.«

»Aber Sie können mich doch so nicht gehen lassen! Wollen Sie mich nicht zur Beobachtung aufnehmen?«

»Das erscheint mir nicht sinnvoll, Frau Radnitz. Ich brauche die Betten für echte Notfälle!«

»Ich bin ein echter Notfall! Entschuldigen Sie, dass ich nicht blute und noch atme!«

»Geht in Ordnung, Frau Radnitz. Bitte verlassen Sie jetzt das Haus!«

*

Im Prozess sagte der nachtdiensthabende Pfleger später aus, er hättee aus dem Behandlungsraum 2 die Schreie einer Frau gehört, ein Poltern, als ob ein Infusionsständer umfallen würde. Er wäre dorthin gelaufen und hätte die verschlossene Tür geöffnet. Die Patientin hätte Kratzwunden am Oberkörper und an den Unterarmen gehabt, eine Prellmarke am Kopf, die Bluse wäre aufgerissen, der Rock hochgeschoben gewesen. Sie hätte auf dem Boden gelegen. Dr. Lechner hätte sich in dem Moment, als er hereinkam, über sie gebeugt. Er hätte Kratzspuren in Gesicht und auf den Handrücken erlitten. Die Patientin hätte ihn um Hilfe angefleht und ihm gegenüber geäußert, dass der Arzt versucht hätte, ihr Gewalt anzutun.

*

»Es war klug von dir, Ludwig, selbst die Polizei anzurufen«, lobte Egidius seinen Mitarbeiter. »Und es war ebenso klug, den diensthabenden Gynäkologen zur Beweissicherung dazu zu rufen. Für mich steht natürlich außer Zweifel, dass die Anschuldigungen der jungen Frau aus der Luft gegriffen sind. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, sich korrekt zu verhalten. Bis die Angelegenheit geklärt ist, bist du beurlaubt.«

»Aber …«

»Nichts aber. Das ist das übliche Procedere in einem solchen Fall. Wer ist eigentlich für den Dienstplan verantwortlich? Das ist ein organisatorischer Fehler, meine Damen und Herren! Im Nachtdienst dürfen bitte nie wieder ein Arzt und ein Pfleger zusammenarbeiten. Und im Raum darf der Arzt nie alleingelassen werden. Es haben sich dort immer zwei Personen aufzuhalten!«

Ludwig schlich niedergeschlagen über die Flure. Er allein wusste, was passiert war – nämlich gar nichts. Frau Radnitz war zunächst nur deutlich geworden, in der Vermittlung von dem, was sie sich von Ludwig wünschte. Als er sie zurückwies, begann sie, sich die Bluse aufzureißen, kratzte sich, und schlug mit dem Kopf an den Verbandswagen. Als Ludwig versuchte, sie davon abzuhalten, begann sie, zu schreien und zu strampeln, wobei der Infusionsständer zu Boden ging und sie dem Arzt Kratzspuren zufügte.

Nachdem die Situation durch den Pfleger geklärt war, hatte Ludwig die Polizei angerufen.

Die Beamten nahmen nach Feststellung der Personalien und kurzer Schilderung des Tathergangs sowohl ihn als auch Frau Radnitz mit auf das Revier.

Dort erfolgte noch eine kriminaltechnische Untersuchung.

»Herr Professor, Sie glauben mir doch, oder?«

»Aber Ludwig«, beschwichtigte Egidius seinen Assistenzarzt. »Dass du das überhaupt fragen musst!«

»Wer macht denn meine Arbeit, wenn ich beurlaubt bin?«

»Die zusätzliche Stelle für einen Weiterbildungsassistenten für Herrn Antretter wurde genehmigt. Vielleicht kann ich den Mann kurz ausleihen. Allgemeinchirurgische Erfahrungen haben ja noch keinem Arzt geschadet, nicht wahr? Ich werde das gleich mit ihm abklären!«

Unruhige Nächte

Tassilo Resch starrte auf die Schachtel, die der Apotheker gegen das blaue Privatrezept, dass Dr. Wachs ihm nach ausführlicher, sensibler Untersuchung und Beratung ausgehändigt hatte, eintauschte. Er betrachtete die Packung wie ein Kaninchen ein besonders giftiges Reptil. Das Päckchen beinhaltete sechs Tabletten und einen Beipackzettel, der ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Ohnmachtsanfälle, stand da. Die Liste allerdings war bedeutend länger.

»Mein armer Tassilo«, bedauerte Maria ihren Freund, »es tut mir so leid! Was du da alles auf dich nehmen willst! Wohlgemerkt: ›Willst‹, nicht ›musst‹. Ich bin da ganz gelassen. Vermutlich bessert sich das Ganze ohnehin von selbst. Dr. Wachs hat ja gesagt, dass du gesund bist wie ein Pferd!«

»Hier! Guck dir das an! Herzrasen! Oder noch besser: Depressionen! Das wird schwierig, für mein Gehirn! Da freust du dich gerade, dass es geklappt hat – und dann bist du plötzlich depressiv! Na großartig!«

Maria lachte. »Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, nennt man das! Wirklich komisch! Für die Depression bekommst du dann Medikamente, die wiederum Nebenwirkungen haben. Und zum Schluss endest du mit einem Schuhkarton voller Pillen, die dich über kurz oder lang erledigen. Und auf deinem Grabstein steht dann: ›Die Medizin hat den verzweifelten Kampf um dies junge Leben verloren!‹

»Lach du nur«, knurrte Tassilo. »Du hast den Vorteil, dass man bei Frauen nicht merkt, wenn es nicht klappt. Das ist zwar für die Frau ärgerlich. Aber zumindest bleiben ihr peinliche Bekenntnisse erspart!«

Er setzte die Lektüre der Packungsbeilage fort.

»Ein bis drei Stunden vorher, soso. Aber wann die Wirkung optimal ist, sagen sie dir nicht. Und was ist, wenn ich das Ding nehme, und dann klingelt das Telefon, und meine Mutter ist dran und erzählt und erzählt? Dann ist die Wirkung hinüber, und wir haben zwölf Euro versiebt! So teuer ist nämlich eine Tablette! – Egal. Ich werfe jetzt mal so ein Ding ein. Schaust du bitte auf die Uhr? Ich denke, nach eineinhalb bis zwei Stunden werde ich den Höhepunkt meiner Leistungsfähigkeit erreichen!«

Keiner von den beiden hatte Wunder erwartet. Vor überzogenen Hoffnungen hatte Dr. Wachs auch schon gewarnt. »Üben, üben, üben!«, hatte er heiter geraten. »Das wird nicht zack! auf einmal gut, sondern bessert sich langsam. Setzen Sie sich nicht unter Druck. Erleben Sie und genießen Sie!« Die beiden hatten beschlossen, das ganze entspannt und von seiner heiteren Seite her anzugehen. Und tatsächlich: Diese unverkrampfte Einstellung half.

Na gut: Sie half eher ihm. Ohne dabei auf die Uhr gesehen zu haben, hatte es deutlich länger gedauert. Trotzdem blieb Maria mit ihren Wünschen auf der Strecke. Aber das würde schon noch kommen, da war sie sicher.

Und Tassilo war irgendwie so – niedlich, in seinem Stolz. Legte man sein strahlendes Gesicht zu Grunde, konnte man annehmen, dass er mindestens eine Stunde durchgehalten hatte.

»Es war doch besser, oder? Findest du nicht? Was meinst du, wie lange es war? Bestimmt gibt es Männer, die noch länger können. Aber ich glaube heute zum ersten Mal, dass das bei mir auch noch was wird. Was sagst du? Denkst du das auch?«

»Aber natürlich, Tassilo. Davon bin ich fest überzeugt!«

»War es denn für dich auch schön?«

»Ja, natürlich«, log Maria überzeugend. »Wunderschön!«

»Wirklich? Du würdest doch sagen, wenn was nicht stimmt, oder?«

»Ich würde dich nicht beschwindeln«, log Schwester Maria bereits zum zweiten Mal heute Abend.

Beruhigt ließ er sich in die Kissen sinken.

»Ich gewinne bestimmt mal einen Preis damit. Meinst du nicht?«

»Bestimmt, Tassilo. Ganz sicher. Jetzt schlaf aber. Ich muss morgen früh raus!«

»Wirst du es jemandem erzählen?«

»Wem was erzählen?«

»Das es geklappt hat. Und das es schön war.«

»Aber Tassilo! Natürlich nicht! Was denkst du denn bloß?«

Er grübelte.

»Aber Dr. Wachs erzähle ich’s. Der freut sich doch bestimmt mit uns über den Erfolg. Oder?«

»Ganz sicher. Schlaf jetzt!«

Maria war gerade eingeschlafen, das stupste Tassilo sie an.

»Maria? Maria?«

»Was ist denn los?«, fragte sie schlaftrunken.

»Ich kann nicht schlafen!«

»Mach einfach die Augen zu. Stand nicht ›Müdigkeit‹ bei den Nebenwirkungen?«

»Ja. Aber mich macht das Zeug wach! Schrecklich!«

Erst in den frühen Morgenstunden, als Marias Nacht zu Ende war, schlief Tassilo endlich ein.

*

»Kannst du vielleicht mal gehen, Murat?«

»Was is’n?«

»Sinan. Kriegst du das nicht mit? Er quakt schon seit mindestens zehn Minuten!«

»Schau du doch nach!«

»Ich war die letzten zwei Male. Du bist dran!«

Unwillig seufzend und im Zeitlupentempo schälte sich Murat aus den Federn.

»Ach menno, Kurzer!«, rief er. »Was ist denn nun schon wieder los? Hat er Hunger?«

»Glaub ich nicht«, gähnte Katrin. »Er hat vor einer Stunde was bekommen!«

Murat nahm Sinan aus dem Bettchen und bot ihm das Fläschchen an. Der Kleine verzog das Gesicht und drehte den Kopf weg.

»Hunger oder Durst können’s nicht sein«, diagnostizierte der Vater. Er steckte vorsichtig seinen Finger in den Mund seines Sohnes.

»Ha! Weißt du, was los ist? Hier! Fühl mal!«

»Sag nicht, dass er schon Zähne bekommt!«

Auch Katrin tastete vorsichtig die untere Kauleiste ab. Eine reiskorngroße, etwas raue Stelle. Kein Wunder, dass der Kleine plärrte! Notiz an mich: Veilchenwurzel und einen Beißring kaufen, dachte sie. Murat zugewandt empfahl sie: »Lenk ihn ab! Lauf mit ihm herum! Spiel mit ihm, dann vergisst er die Schmerzen! Fieber hat er keins, oder?«

Murat setzte das Ohr-Thermometer ein, gegen das Sinan sich heftig zur Wehr setzte.

»37,1. Völlig normal!«

*

»Du könntest bei mir einziehen, Timon. Meine Wohnung ist wirklich groß genug! Und wir würden uns gut verstehen, glaubst du nicht?«

»Wir würden uns bestimmt gut verstehen, Emmerich. Aber mehr eben auch nicht. Und damit würde ich nicht nur deine Hoffnungen enttäuschen, sondern noch zusätzlich deinem Lebensglück im Wege stehen!«

»Wie – Hoffnungen? Was habe ich denn für Hoffnungen?«

»Naja, ich dachte, dass du dir vielleicht wünschst, das zwischen uns mehr läuft, als ein – sagen wir mal – brüderliches Verhältnis!«

»Ich will ganz ehrlich sein, Timon. Ich hätte nichts dagegen. Im Gegenteil. Ich weiß aber, dass das für dich keine Alternative zu deiner Familie darstellt. Das respektiere ich natürlich. Und mach dir keine Sorgen um mein, wie hast du es formuliert? Lebensglück? Ach, du liebes Bisschen! Danach suche ich bereits seit gefühlten hundert Jahren! Ab und zu trifft man ja auch mal jemanden, der einem ein wenig heller vorkommt. Enden tut es dann aber in Pleiten, Pech und Pannen. Ich glaub, den Mann, der mir gefällt, gibt es gar nicht. Oder ich muss mir, wie meine Mutter immer sagt, einen backen. Leider fehlt mir das Rezept. Sonst hätte ich es längst getan!«

»Du bist ein unglaublicher Mann, Emmerich. Du übst deinen Beruf mit Leidenschaft und hoher Kompetenz aus. Hätte ich dich nicht gehabt, wäre ich mit Sicherheit nicht mal halb so weit, wie ich jetzt bin. Du bist liebenswert. Du bist ein freundlicher, intelligenter Mensch.«

»Vergiss bitte nicht, noch etwas zu meinem hinreißenden Äußeren zu sagen!«

»Du siehst einfach umwerfend aus!«

»Was? Das war alles? Schau dir allein meine Muskeln an!«

»Also, mir fällt da eher das kleine Bäuchlein auf …«

»Spielverderber!«

Beide Herren lachten.

»Vergiss nicht … Ich gehe auf die Vierzig zu!«

»Gib nicht so an! Du bist Anfang 30! Und es stimmt schon. Du bist ein Traumtyp!«

»Na endlich! Das wollte ich hören! Ich dachte schon, du sagst es nie! – So, ab in die Heia! Brauchst du noch was?«

»Beherrsche deinen Mutterinstinkt, o Emmerich! Ich habe alles. Und mit dir geht es mir immer gut!«

Er fühlte den festen, tröstlichen Druck seiner Arme, und spürte die Wärme seines Körpers.

»Schön. Wirklich«, befand Emmerich Fahl. »Willst du es dir nicht doch noch mal überlegen?«

»Emmerich!«

»Ist ja gut! Ich frag ja nur!«

Unerwartet

Im Augenblick war es wirklich still im Haus. Weder Max und Lukas noch Egidius waren zugegen. Max war im Kino, Lukas bei seiner Schwester Stefanie. Wo steckte Egidius bloß wieder? In letzter Zeit kam er immer sehr spät aus der Klinik. Als Frau eines Arztes war sie ja nun einiges gewöhnt, und vor noch nicht allzu langer Zeit, als sie die schreckliche Diagnose von Graf von Falkenegg bekam, hätte sie fast dem Impuls nachgegeben, die Beziehung zu beenden.

Ihr Leben lief in ruhigen Bahnen. Der Verlauf ihrer Schwangerschaft war völlig unauffällig.

Die Übelkeit morgens war erträglich. Ihre Beine waren gelegentlich geschwollen und schmerzten, aber ihr Blutdruck blieb konstant. Das Kind wuchs und gedieh. Ach übrigens – es wurde ein Mädchen. Nein nein, das wusste sie nicht vom Frauenarzt. Sie hatte ihn nicht gefragt, und er hatte nichts gesagt. Nein, eine Frau spürte das. Das wurde ein Mädchen, und wie dankbar würde sie sein, wenn endlich das geschlechtsspezifische Missverhältnis im Hause Sonntag – drei Männer gegen eine Frau – durch das Erscheinen eines weiteren weiblichen Wesens abgemildert würde.

Corinna lehnte sich zurück. Es tat ja auch gut, wenn mal keiner was von ihr wollte. Vorsichtig ließ sie die Füße kreisen. Die bleierne Schwere hatte sich gebessert, die Knöchel waren abgeschwollen. Ob sie mal in der Klinik anrufen sollte? Sie hätte auch versuchen können, Egidius auf seinem Mobiltelefon anzurufen, aber sie befürchtete, ihm damit auf die Nerven zu gehen. In der vergangenen Woche hatte sie, nachdem ihr Dienst auf der Intensivstation beendet war, einen kurzen Abstecher zu seiner Ordination gemacht. Frau Kreuzeder hatte bedauert, der Gatte sei außer Haus. Eine Besprechung im Landratsamt. Wenigstens hatte sie ihr einen Kräutertee gemacht. Gegen Blähungen. Wegen der Schwangerschaft. Na prima.

Irgendwo musste doch noch ein Glas mit Cornichons herumstehen! Sie richtete sich auf und erhob sich. Der Kühlschrank war auch schon wieder so gut wie leer! Immerhin, noch zwei Gläser mit den leckeren kleinen Gürkchen!

*

»Was für ein schöner Gedanke, Herr Professor Sonntag!«

Pfarrer Valerian Ettenhuber hatte vor Begeisterung sogar aus eigenem Antrieb die Kuchengabel aus der Hand gelegt und seine Ausgabe der Bibel aufgeschlagen. Egidius hatte ihm erläutert, dass er, der er als junger Assistenzarzt Corinna geehelicht hatte, mit bescheidener Feier, sie nunmehr mit einer prächtigen Feier zu überraschen gedachte. Um in diesem Rahmen das Ehegelübde zu erneuern. Natürlich nach der Schwangerschaft, also im August.

»Haben Sie sich schon Gedanken um den Bibelvers gemacht, Herr Professor?«, erkundigte sich der Geistliche.

»Ich würde gern wieder den 145. Psalm auswählen, Herr Ettenhuber.

›Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen.‹ Meine Frau und ich haben uns damals für diesen Vers entschieden, und ihn immer besonders tröstlich gefunden. Besonders in den Zeiten, in denen die Arbeit hart und das Geld knapp waren.«

»Eine ausgezeichnete Wahl«, lobte der dicke Pfarrer den Chefarzt. Er tippte etwas in seinen Computer. Schmunzelnd bemerkte Egidius, dass im Verhältnis zu seinem Umfang die Arme zu kurz erschienen. Vermutlich hatte er abends eine Delle in seinem Bauch, vom Druck der Schreibtischplatte.

Die Herren erörterten den Ablauf des Gottesdienstes, die Auswahl der Musik und der Lieder. Egidius legte besonders viel Wert auf Corinnas Lieblingslied, ›Geh aus mein Herz und suche Freud‹ von Paul Gerhardt.

Als Letztes erledigte er den Termin bei Frau Adler, der tüchtigen Schneiderin, die die Garderobe für seine Frau Fürstenrieder angefertigt hatte, als sie sich anschickte, Frau Kreuzeder zu werden.

»Ich bin da völlig verunsichert, Frau Adler. Einerseits würde ich meine Frau gern überraschen. Andererseits bin ich nicht sicher, ob ich sie bei der Entscheidungsfindung, was ihr am besten steht und welches Kleid sie zu ihrer Hochzeit tragen möchte, übergehen darf.«

»Ich bin sicher, Herr Professor Sonntag«, gab Frau Adler zu bedenken, »dass wir Ihre Gattin nicht übergehen dürfen. Die Situation beim Ehepaar Kreuzeder war ja eine ganz andere. Frau Kreuzeder hatte geglaubt, dass ein Hochzeitskleid ihr nicht stünde. Sie hätte sich gar keins ausgesucht. Das dürfte bei ihrer Gattin anders sein. Ich kenne sie ja von Ansehen. Sie ist eine bezaubernde Frau mit einer Figur, für die manche Frau töten würde. Daran wird auch die Schwangerschaft nichts ändern. Wann wird ihre Gattin entbinden?«

»Der errechnete Termin ist Donnerstag, der 27. August!«

»Das bedeutet, das Sie die Hochzeit Ende September planen, nicht wahr?«

»Ganz genau.«

»Ach, das wird wunderbar! Spätsommer am Schliersee! Herr Professor Sonntag, machen Sie sich keine Gedanken. Ihre Gattin wird von dieser Hochzeit den Rest ihres Lebens zehren, glauben Sie einer alten, erfahrenen Frau!«

*

Wie immer, wenn neue Kollegen vorgestellt wurden, vibrierte die Aula. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass die Krankenhausverwaltung und die Stadt Miesbach der zusätzlichen Stelle für einen Weiterbildungsassistenten zugestimmt hatte. Professor Antretter genoss einen hervorragenden Ruf, der weit über den Landkreis hinausreichte. Allerdings waren die Kapazitäten begrenzt. Frau D’Amato erwies sich als wahres Organisationsgenie, was der gynäkologische Chefarzt ihr gar nicht zugetraut hätte. Er lud sie zum Gespräch.

»Liebe Frau D’Amato, ich sehe seit geraumer Zeit, dass Sie wirklich großartige Arbeit leisten. Ich gebe zu, dass wir ja ein paar Probleme miteinander hatten, als ich hier anfing. Sie haben mich vollkommen widerlegt. Ich würde Ihnen gern etwas Gutes tun. Habens Sie einen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann?«

»Sehen Sie, Herr Professor Antretter? Der Mensch wächst mit und an seinen Aufgaben! – Ich habe mich in Ihnen aber auch getäuscht. Um so mehr freue ich mich über Ihr Lob. Das ist mir eigentlich schon genug.«

»Wie – genug?«

»Weil Sie das von dem Wunsch sagten. Mehr als Anerkennung wollte ich eigentlich nicht. Aber wenn Sie mir etwas Zeit lassen, mir fällt bestimmt noch etwas ein! Vielen Dank!«

Ja, und nun hatte sich die Belegschaft der Klinik St. Bernhard in der Aula versammelt, um den neuen Kollegen der gynäkologischen Abteilung herzlich willkommen zu heißen, wie es im Hause so üblich war. Professor Antretter betrat den Saal. Von neugierigen Blicken verfolgt, schritt er schnell zu den anderen Chefärzten.

»Nanu? Ist Dr. Schickenreuth noch gar nicht da?«

»Der kommt schon noch. Es ist erst in drei Minuten acht Uhr!«

So verhielt es sich. Der Zeiger der großen Uhr sprang auf die zwölf. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine schlanke, junge Frau betrat den Raum, den sie zielsicher und hoch erhobenen Hauptes in Richtung Bühne durchpflügte. Der gestärkte Kittel rauschte, das energische Stakkato ihrer Absätze erinnerte in seiner gnadenlosen Regelmäßigkeit an das Geräusch mechanischer Schreibmaschinen.

Professor Antretter hatte sich erhoben und war ans Rednerpult getreten. Mit der Fingerspitze tippte der gegen das Mikrofon.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Ehre und dass Vergnügen, Ihnen hier die Verstärkung unserer Abteilung vorzustellen, Frau Dr. Cons­tanze Schickenreuth. Frau Dr. Schickenreuth wird zunächst in der Notfallambulanz die Kollegin Schattenhofer unterstützen, solange der Kollege Süden noch nicht wieder voll belastbar ist. Danach wird sie dann ihre ganze Arbeitskraft unserer gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung widmen. Bitte heißen Sie sie herzlich willkommen und haben Sie Geduld mit ihr, wenn ihr anfänglich die Abläufe hier im Haus nicht vertraut sind.«

Die neue Kollegin unterbrach den aufbrandenden Applaus.

»Danke, aber ich denke, dass ich mich zurecht finde. Ich komme aus der Tübinger Universitätsklinik und glaube nicht, dass ein Kreiskrankenhaus mich vor größere Herausforderungen stellen kann. Wer von Ihnen ist die Kollegin Schattenhofer?«

Die Überraschung, so unvermittelt angesprochen zu werden, stand Dagmar ins Gesicht geschrieben. Sie hob die Hand wie in der Schule.

»Na«, stellte die neue Ärztin fest, »worauf warten wir? Der Dienst beginnt um acht, nicht wahr! Gehen Sie bitte voraus. Ich folge Ihnen.«

So schnell, wie die Doktorin von der Tübinger Uni-Klinik den Saal betreten hatte, verließ sie ihn wieder und ließ eine Gemeinde zurück, die wie vom Donner gerührt da saß und bemüht war, des gerade Erlebte zu verarbeiten.

»Arme Dagmar«, äußerte Timon betroffen. »Hoffentlich bin ich zügig wieder voll einsatzfähig!«

»Kennt ihr diesen Dornröschen-Film, in dem die dreizehnte böse Fee mit einem Knall aus so einer violetten Wolke klettert und es nach Pech und Schwefel riecht?«, erkundigte Chris sich grinsend. »Ich hatte angenommen, dass es sich um ein Märchen handelte! Stellt euch vor, eine Frau bekommt gerade ihr Kind, und die kommt rein!«

*

Ja, die war in der Tat eine Anfechtung für Dagmar und Timon.

»Nett, dass Sie für mich einspringen, Frau Schickenreuth. Wissen Sie, ich hatte einen Schlaganfall, der mich doch deutlich zurückgeworfen hat. Obwohl es mir schon wieder deutlich besser geht!«

»Herr Kollege«, unterbrach die Medizinerin, »haben Sie vor, sich mir als Patient zur Behandlung vorzustellen?«

»Nein«, erwiderte Timon erstaunt.

»Dann ersparen Sie mir bitte Ihre Anamnese. Schwester Nasifa, wo ist die Aktie der nächsten Patientin?«

»Kommt sofort!«

»Aber die Patientin ist doch schon im Behandlungsraum! Wie kann es dann sein, dass die Akte noch nicht vorliegt? Ich darf Sie bitten, dafür Sorge zu tragen, dass die Daten erfasst und für mich einzusehen sind, bevor die Untersuchung stattfindet. Ohne Kostenträger – keine Untersuchung oder Behandlung. So einfach ist das.«

»Constanze, brauchen Sie für Ihren nächsten Patienten das Ultraschallgerät noch?«

»Ich bevorzuge die Anrede ›Frau Schickenreuth‹, Frau Kollegin Schattenhofer. Ich halte es für den Ruf der Ambulanz für unerlässlich, dass wir uns mit der höchstmöglichen Professionalität – auch untereinander – verhalten.«

»Aber Timon und ich duzen uns doch auch!«

»Habe ich erkennen lassen, dass mich das irgendwie interessieren könnte? Es steht Ihnen frei, sich zu benehmen, wie Sie es für richtig erachten. Aber ziehen Sie bitte mich da nicht mit hinein.«

Dagmars Lippen formten tonlos das Wort ›Zickenreuth‹.

»Wie bitte?«

›Zickenreuth‹. Wieder gab Dagmar keinen Laut von sich.

Das konnte ja heiter werden.

Spiel mit dem Feuer

Es war wirklich besser geworden. Tassilo war eigentlich ziemlich glücklich und sogar dicht vor zufrieden. Er hatte allerdings kürzlich mit ein paar Kollegen zusammengesessen. Na ja, und wenn Männer so zusammensitzen – Pauli hatte ‘ne neue Flamme. Na schön. In seinem Alter war es nun wirklich kein Problem. Man kehrte bei einem Wirt ein auf eine Feierabend-Maß oder besuchte eins dieser unablässig stattfindenden Volksfeste. Und wenn man es darauf anlegte … Wirklich nichts war einfacher.

Jedenfalls hatte er sie, oder sie ihn – das ergab sich nicht so recht aus seiner Erzählung – abgeschleppt, und im Verlauf des Abends hatte sich eine Art Freizeitspaß für Erwachsene ergeben, den Pauli genussvoll noch einmal Revue passieren ließ. Selbstverständlich nahm er in seiner testosteronschwangeren Geschichte die Rolle des Helden ein, die Rolle des perfekten Liebhabers, der seiner Konkubine stundenlang sinnliche Genüsse bereitete, bis sie, japsend auf dem Rücken liegend, die weiße Fahne schwenkte und um Gnade bat. Ja, er war eben ein richtiger Kerl, der Pauli. Die Frage, ob er sie wiedersehen würde, fand er völlig überflüssig. Na klar! Eine Frau, die einmal in den Genuss seiner anatomischen Vorzüge und seines Talents, mit diesen umzugehen, gekommen war, kam immer zurück für mehr davon!

Das war bei ihm, Tassilo, leider wesentlich weniger spektakulär. Körperlich war er eher – ja, eher durchschnittlich.

Was stand auf den Toilettenschüsseln immer, gerade, als ob sie sich über ihn lustig machten? ›Ideal Standard‹. Und das mit dem ›stundenlang‹ … wie machten die anderen Männer das bloß? Was lief bei ihm falsch? Lag es an ihm? Dieser Dr. Wachs hatte doch gesagt, dass er völlig gesund war.

»Pauli! Pauli! Du, warte mal eben! Jetzt bleib doch mal stehen! Ich muss dich kurz was fragen!«

»Kollege, ich muss nach Hause! Ich muss meinen Rausch ausschlafen, sonst schaff ich es morgen nicht pünktlich zum Dreh!«

»Kannst du gleich. Ich wollte nur fragen: Du hast gesagt, dass du stundenlang kannst! Wie machst du das? Einfach so?«

Pauli schwankte erheblich, nach einigen Litern Bier zu viel. Mit seinem Zeigefinger drohte er spaßhaft seinem Kollegen.

»Na? Neidisch? Keine schöne Charaktereigenschaft!«

»Nicht neidisch. Aber ich möchte das auch einmal können!«

»Moment!«

Pauli nestelte eine kleine Plastiktüte aus seiner Jackentasche. Er schüttete den Inhalt auf seinen Handteller, ergriff einige der kleinen, blauen Tabletten mit der Rautenform, und ließ den Rest vorsichtig in das Behältnis zurückgleiten.

»Da!«

»Was ist das?«

»Aus dem Internet. Damit bringst du es voll!«

»Hat das nicht Nebenwirkungen?«

»Quatsch! Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich was genommen habe! Aber mein Mädchen hat es gemerkt! Und wie! Ihr – blaues Wunder, du verstehst?« Er lachte anzüglich.

Tassilo hatte die Pillen in das Kleingeldfach seines Portemonnaies gesteckt. Maria würde Augen machen. Und er wäre der Held. Endlich mal.

»Dank dir schön, Pauli! Bin ich dir was schuldig?«

»Ach … du weißt ja: Eine Leberkas-Semmel ist in Bayern noch immer ein gültiges Zahlungsmittel!«

*

Professor Antretter hatte zugestimmt. Chris und Philipp hatten sich auf längere Diskussionen eingestellt, aber der Chefarzt der gynäkologischen Abteilung zeigte sich eher aufgeschlossen.

»Werden Sie, meine Herren, denn auch Einfluss nehmen können, was den Werdegang Ihres gemeinsamen Kindes angeht? Oder bleibt das Recht bei den Müttern?«

»Also, vertraglich vereinbart ist, dass wir uns aus Erziehung, Ausbildung und so weiter großenteils heraushalten. Wir werden aber als eine Art beratende und befreundete Familienmitglieder zur Verfügung stehen. Und sollte das Kind Fragen nach dem Erzeuger stellen, werden wir es darüber nicht im Unklaren lassen.«

»Warum fragen Sie das, Herr Professor Antretter? Trauen Sie uns denn nicht zu, dass wir unser Kind zu einem nützlichen Mitglied der menschlichen Gemeinschaft erziehen können?«, fragte Veronika stirnrunzelnd.

»Aber nicht doch, Frau Froschauer. Es gibt mannigfaltige internationale Studien zu diesem Thema. Zwei Männer oder zwei Frauen sind ebenso gute Eltern wie ein Mann und eine Frau. Alles bewiesen. Und die, die sich an irgendwelchen Zweifeln festklammern, sind ideologisch verblendet und befinden sich im Irrtum. Es geht dabei allerdings meist um Kinder, bei denen einer oder beide Elternteile unbekannt sind. Hier sind die Erzeuger eben nicht anonym. Deswegen rate ich Ihnen: Verpassen Sie den richtigen Zeitpunkt nicht, meine Damen und Herren. Schließen Sie die Väter nicht aus!«

»Wir wissen ja noch gar nicht, wer von uns sich als Erzeuger durchsetzen wird«, warf Philipp ein. »Deswegen werden wir ja beide eine entsprechende Probe produzieren!«

»Glauben Sie mir«, lachte der Professor, »Sie werden es wissen! Das hat Mutter Natur so eingerichtet, klugerweise! In den ersten Lebensmonaten ist das Kind seinem Vater nämlich unglaublich ähnlich. Alles Absicht! Damit es dem Erzeuger leicht fällt, die Nachkommenschaft als seine anzuerkennen! Nach dem ersten Lebensjahr driftet die Ähnlichkeit dann eher in Richtung der Mutter, und im Erwachsenenalter ergibt sich dann die gute Mischung, so wie wir sie von uns allen kennen. Schauen Sie, ich habe die Hände und die Zähne meiner Mutter, allerdings die Gesichtszüge und die Statur meines Vaters! – Noch eine Bemerkung zu Ihnen, Frau Froschauer: Ich habe mir noch einmal genau ihre Krankenakte, die Befunde der Radiologie und die aktuellen Laborwerte angesehen. Ich denke, es besteht zurzeit keine dringende Indikation zu einer Chemotherapie. Ich darf Sie aber herzlich bitten, Ihre Erkrankung und die Nachsorgetermine sehr ernst zu nehmen.«

»Selbstverständlich, Herr Professor. Ich danke Ihnen auch sehr herzlich, dass Sie mich persönlich betreuen wollen. Immerhin bin ich nicht privat krankenversichert!«

Professor Antretter lachte laut auf.

»Ihre Meinung von mir ist nicht besonders hoch, oder? Glauben Sie wirklich, dass ich mich nur um Privatpatienten kümmere? Das ist leider ein Missverständnis, an dem allerdings weder die Patienten noch die Ärzte schuld sind. Das Problem ist, dass dem Gesundheitssystem aus vielen Gründen die Mittel gekürzt worden sind. Die Bezüge der Ärzte wurden erheblich reduziert, die Leistungen der Krankenkassen zurückgefahren. Gespart wird, wie immer, zu Lasten des schwächsten Gliedes in der Kette – zu Lasten der Patienten. Der Patienten, die jahrelang brav Beiträge bezahlt haben. Ein Skandal. Deswegen versuche ich, viele Leistungen kostenfrei zu erbringen, die eigentlich vom Patienten bezahlt werden müssten. Aber unbegrenzt geht das auch nicht. Ich muss nämlich auch an der Supermarktkasse bezahlen. Und nebenbei fragt man sich, woher die Kassen eigentlich das Geld für Fernseh- und Kinowerbung nehmen, oder die Anzeigen in Zeitschriften und Tageszeitungen. – So! Genug geklagt! An die Arbeit!«

*

Die zukünftige Frau Antretter war, als der Professor aus der Klinik heimkam, bereits zu Hause eingetroffen.

»Kannst du die Verbände ablegen?«, fragte Felix Antretter vorsichtig.

»Sogar wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Ich sehe einfach schrecklich aus! Verschwollen, überall Blutergüsse! Es ist entsetzlich, Felix! Ich hätte das nie machen sollen!«

»Reg dich nicht auf, Aglaja. Das ist doch alles völlig normal. So lange ist der Eingriff noch nicht her. Wenn die Schwellung erst abgeklungen ist und die Hämatome sich aufgelöst haben, ist alles gut!«

»Eben nicht, Felix. Der Chirurg hat einen Tumor an der Ohrspeicheldrüse gefunden. Aber um den mitsamt den Lymphknoten zu entfernen, hätte ich eine große Narbe in Kauf nehmen müssen – und das wäre es dann gewesen mit meiner ›Schönheit‹!

»Wieso hat er den Tumor nicht direkt entfernt? Das hast du doch bestimmt unterschrieben!«

»Weil das den geplanten Eingriff ad absurdum geführt hätte! Stell dir bitte vor: Du legst dich für eine Schönheits-OP auf den Tisch und wachst hässlicher auf, als du vorher warst!«

»Das ist mir völlig egal! Glaubst du denn, dass ich deine Schönheit wichtiger finde als deine Gesundheit? In dem Moment, in dem der aktuelle Eingriff abgeheilt ist, gehen wir zu Egidius Sonntag!«

»Richard wird sich ins Fäustchen lachen«, stellte Aglaja bitter fest. »Er hat mich genau zur richtigen Zeit gegen das junge Modell ausgetauscht, und du sitzt jetzt auf dem Müll von ›Rudis Resterampe‹!«

Felix Antretter ging auf Aglaja Tauber zu. Der sanfte Druck seiner Arme beeendete ihr angstvolles Zittern. Er beugte sich zu ihr herunter.

»Ich liebe dich, du dumme Gans«, flüsterte er. »Wehe, wenn du noch einmal an mir zweifelst!«

»Die ›dumme Gans‹ werde ich irgendwann gegen dich verwenden«, lachte Aglaja unter Tränen. »Ich bin nämlich ein nachtragendes, rachsüchtiges Biest!«

*

Ach, verflucht, dachte Dagmar, als sie das Martinshorn des Notarztwagens hörte. Dabei war alles so gut gelaufen an diesem Abend. Die kleineren Notfälle waren schnell erledigt, nichts Weltbewegendes, ein Zeckenbiss, eine Verbrennung, eine Schnittverletzung beim Gemüseputzen. Fertig.

»Ich lege mich mal ein wenig aufs Ohr«, kündigte sie dem Nachtpfleger an. »Es war ein langer Tag!«

»Na klar, Frau Doktor Schattenhofer«, lächelte der Pfleger. »Wenn was ist, weiß ich ja, wo ich Sie finde!«

»Seien Sie da nicht so sicher! Vielleicht verstecke ich mich!«, ulkte sie.

Ja, und nun lag sie in dem dunklen Bereitschaftszimmer und hörte den Wagen herannahen, in dem vermutlich ein Mensch lag, der dringend ihrer Hilfe bedurfte. Nein, sie würde nicht auf den Anruf des Pflegers warten. Seufzend setzte sie sich auf. Dann drehte sie sich, sodass sie noch einen Moment auf der Bettkante hocken konnte. Im Fenster spiegelte sich der Reflex des Blaulichts. Sie griff den Hörer des Telefons.

»Ich habe es mitbekommen! Bin schon auf dem Weg!«

*

Es war alles so gut gelaufen an diesem Abend. Tassilo hatte seine dritte Tablette aus der kleinen Schachtel mit den sechs Stück genommen, unmittelbar vor dem Abendessen. Maria hatte einen wunderbaren Schweinsbraten zubereitet, mit Knödeln und Kraut. Er hatte gar nicht gewusst, wie gut sie kochen konnte, und dazu noch auf dem winzigen Herd in der Kochnische ihrer kleinen Wohnung.

Sie hatte eine Schallplatte aufgelegt. Ja, eine Schallplatte, keine CD. Mr. Acker Bilk, ›A Touch of Latin‹, stand auf dem grau gehaltenen Cover mit dem Schattenriss eines Mannes. Die romantischen, verführerischen Klänge der Klarinette erfüllten den Raum. Sie hatten sich auf ihrer Couch herumgelümmelt. So. Das war er, der Zeitpunkt, um zum Angriff überzugehen. Schnell die blaue Tablette aus dem Internet, und binnen einer halben Stunde …

»Ich muss mal kurz ins Bad«, sagte er und erhob sich. Dort spülte er unter Zuhilfenahme eines Zahnputzglases das Medikament die Kehle hinunter. Er betätigte die Spülung der Toilette, und begab sich zurück an den Ort, der ihm und seiner Partnerin Erfüllung und Freude verheißen sollte, Nähe und Lust. Besonders Lust. Diesmal würde es sensationell werden, das spürte er. Maria würde staunen!

»Was hast du denn, Tassilo?«, erkundigte sich Maria besorgt. »Du zitterst so!«

»Das muss die Vorfreude sein!«

Es hörte sich ein wenig angeberisch an. Er hielt sie ihm Arm und machte sich an ihrer Bluse zu schaffen. Gott sei Dank musste er sich nicht mit dem Verschluss ihres Büstenhalters herumplagen – der Einfachheit halber trug sie keinen. Liebevoll streichelte er ihre Brüste. Das Stöhnen, das plötzlich zu hören war, interpretierte die Krankenschwester zunächst als Ausdruck sexueller Erregung, bis sie bemerkte, dass ihr feuriger Liebhaber in sich zusammengesunken war. Sie schubste ihn von sich herunter und wuchtete ihn auf den Rücken.

»Tassilo? TASSILO!«

Er röchelte und rang nach Luft.

»Mein Herz«, keuchte er und rang nach Luft.

Maria sprang auf und wählte 112 auf ihrem Handy …

Aglajas Entscheidung

Im Anschluss an den Termin bei Professor Antretter begaben sich die Damen nach Hause, wo Hatice sich auf Anweisung des Gynäkologen hinlegte. Der Duft im Treppenhaus verriet den beiden, dass irgendjemand in ihrer Küche etwas Leckeres zubereitete.

»Hallo, Schwiegermama«, neckte Veronika die Köchin. »Hmm, das duftet ja wie verrückt!«

Ayse hatte bereits den Tisch gedeckt und belud die Teller.

»Hat es geklappt, mit der Schwangerschaft?«, fragte sie ihre Tochter auf Türkisch.

»Die Chancen sind gut, sogar einige Prozent höher als nach der herkömmlichen Methode«, antwortete diese. »Trotzdem sagte Professor Antretter, dass man die Insemination vielleicht einige Male wiederholen muss. – Wo ist der Reis?«

»Na so was! Der steht noch in der Küche! Ich hole ihn rasch!«

»Was hat deine Mama gefragt?«, wollte Veronika wissen.

»Nur, ob es funktioniert hat. Ich habe ihr gesagt, dass man einfach entspannt abwarten muss.«

»Ich freue mich schon auf unser Kind, Hatice!«

Ayse Yildirim kehrte mit einer großen Schüssel aus der Küche zurück. Sie war zufrieden.

Endlich musste sie sich keine Sorgen mehr machen, wegen eines Enkelkindes. Und wer weiß? Vielleicht konnte man die ganze Sache sogar wiederholen? Sie hatte sich immer einen ganzen Stall voller Enkelkinder gewünscht. Jetzt musste sie nur darauf achten, dass Hatice sich gesund ernährte. Und sich körperlich nicht belastete.

Ihre Enkelkinder würden bestimmt richtige Doktoren. Oder Anwälte.

Und alle, die jetzt die Augen verdreht hatten, weil ihre Tochter mit einer Frau zusammenlebte, würden vor Neid zerspringen.

*

Chris und Philipp fuhren direkt in die Schule. Einige Eltern waren bereits eingetroffen und dekorierten im Schulhof die Lampions, stellten eine Musikanlage sowie Biertische und Bänke auf. Ein mit farbigem Zellstoff bedeckter Tapeziertisch diente als Buffet.

Das Fest stellte sich als Erfolg heraus, auch wenn die veganen Eltern mit gegrilltem Tofu und einer Mousse au Chocolat auf Avocado-Basis nur vereinzelt punkten konnten.

»Sie können sagen, was Sie wollen,« erklärte einer der Väter, der gerade neue Nackensteaks auf dem Grill für die Fleischesser auslegte, »aber nichts geht über eine Bratwurst oder ein Steak!«

»Sehen Sie, das ist eben eine von verschiedenen Möglichkeiten, sich zu ernähren.«

»Das Leben ist eben bunt und verschieden«, lachte der Vater. »Sie haben sich ja auch für eine andere Form des Zusammenlebens entschieden!«

»Das ist nicht ganz korrekt«, erwiderte Philipp. »Schauen Sie, man kann sich aussuchen, ob man sich vegan, ­vegetarisch oder normal ernährt. ­Welcher politischen Partei man nahesteht, oder welche Religion man ausüben möchte. Die sexuelle Orientierung ist angeboren, wie die Augenfarbe oder andere genetische Dispositionen. Dem kann man nicht entgehen. Und warum sollte man auch. Man nimmt ja niemandem etwas weg, oder?«

Dem konnte der Mann nur zustimmen.

*

Felix Antretter fuhr nach dem Termin umgehend in die Praxis des HNO-Kollegen, der Aglajas Tumor operieren wollte.

Seine zukünftige Frau wartete schon auf ihn.

»Unbedingt, Herr Kollege. Es gibt natürlich gutartige Tumoren, aber die Sonografie und der Palpationsbefund weisen darauf hin, dass es sich hier durchaus auch um einen malignen Befund handeln könnte. Ihre Gattin hat mir schon gesagt, dass sie Angst vor der Narbe hat. Ich habe versucht, sie zu trösten, aber sie scheint mir nicht recht glauben zu wollen, dass sie Ihnen mit einer kleinen Narbe und lebendig vermutlich lieber ist als makellos schön und tot!«

»Ich habe schon mit Menschen- und Engelszungen geredet, Herr Kollege. Glauben Sie mir. Ich wundere mich ja selbst, gerade weil auch Aglajas geschiedener Mann Mediziner ist. Sie müsste es besser wissen, nicht?«

»Unbedingt. Frau Antretter …«

»Noch heiße ich Tauber!«

»Na schön, Frau Tauber, also ich kann Ihnen etwas Privates von mir verraten, in der Hoffnung, dass es Ihnen hilft. Meine Frau ist sieben Jahre jünger als ich. Als wir heirateten, war sie Mitte zwanzig, ein fesches, junges Mädchen. Die schönste und begehrteste junge Frau im Dorf. Die Verehrer standen Schlange. Ich rechnete mir keine Chancen aus, aber anlässlich eines Festes kamen wir zusammen, und von da an waren wir unzertrennlich.

Das ist nun über zwanzig Jahre her. Vor vier Jahren erkrankte sie an Morbus Crohn, und zwar so schwer, dass sie einen künstlichen Darmausgang benötigte. Sie hatte viel Kortison nehmen müssen, sodass sie total aufgeschwemmt war. Und wissen Sie was, Frau Tauber? Wenn ich sie anschaue, dann sehe ich immer noch die hübsche junge Frau, die ich vor mehr als einem Vierteljahrhundert für mich erobern und vor den Traualtar zerren konnte.

Wir bleiben nicht für immer jung, drahtig und faltenfrei. Wir altern und werden unansehnlich, krank, hässlich. Allerdings nur in den Augen derer, die uns nicht kannten, als wir noch jung waren. In den Augen der Menschen, die uns lieben, bleiben wir lebendig, schlank, schön, und ewig jung.«

Aglaja schaute Felix an.

»Ich habe es dir gesagt, Aglaja. Es wäre schön, wenn du etwas mehr Vertrauen zu mir hättest.«

»Geben Sie mir bitte einen Termin, Herr Doktor. Ich möchte den Eingriff durchführen lassen.«

»Eine gute und richtige Entscheidung, Frau Tauber. Wir sollten noch ein paar Tage abwarten, bis die Spuren des Facelifts abgeklungen sind. Ich rechne da mit vierzehn Tagen. Wie sieht es aus, Herr Antretter – soll ich den Eingriff in Ihrem Hause durchführen? Dann hätten Sie die Liebste in Ihrer Nähe, und auch Sie, gnädige Frau, wären nicht so allein!«

»Es könnte allerdings auch sein, dass ich eher unliebsamen Besuch aushalten muss. Auch mein Ex-Mann arbeitet in der Klinik St. Bernhard. – Aber das ist egal, meine Herren. Ich denke, an deiner Seite bin ich stark genug, Felix. Ich danke dir dafür, dass du hörst, was ich meine, auch wenn ich es gar nicht ausgesprochen habe!«

Erkenntnisse

Corinna presste beide Hände gegen die Schläfen und kniff die Augen schmerzerfüllt zusammen.

»Verflixt«, schimpfte sie, »das kommt dabei heraus, wenn man Eis zu schnell in sich hineinstopft!«

Daniel lachte schadenfroh.

»Das kenne ich gut! Ist mir auch schon einige Male passiert!«

Nach ein paar Minuten entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder.

»Wundervolles Gefühl, wenn das Gehirn langsam wieder auftaut! – Wie weit bist du inzwischen mit deinem Werk?«

»Es läuft ganz gut. Bei Amazon gab es sogar schon eine Rezension, was sagst du!«

»Und? In deinem Sinne?«

»Unbedingt. Der Leserin hat es gefallen. Auch wenn ich mich, zugegeben, nicht immer an die Regeln des Romanschreibens halte!«

»Ach, Daniel, ich glaube, dass muss auch nicht immer sein. Wenn die Leute Spass daran haben zu lesen, was du schreibst, ist doch alles gut. – Du hattest gesagt, dass erstmal ein Volumen von zehn Romanen geplant war. Die hast du ja nun hinter dir. Wie sieht es aus? Geht die Serie weiter?«

»Ich denke schon. Der Verkauf auf Amazon ist wohl gut angelaufen, und sogar der Verkauf im Printbereich – auch wenn ich das Heft allzu oft nicht entdecke, wo es eigentlich stehen sollte! Ich bin auch mit dem 11. Band schon fast fertig. Die Dinge stehen eben nicht still. Weder bei mir noch bei euch in der Klinik!«

»Hast du eigentlich schon von der neuen Kollegin gehört, die neu auf der Gynäkologie angekommen ist?«

»Ja, leider. Constanze Schickenreuth. Eine wirklich unsympathische Frau. Eigentlich die einzige, die nicht in das Konzept von Egidius passt, oder?«, stellte Daniel fest. »Dabei wird sie im Moment ja dringend gebraucht, wo gegen Ludwig dieser hässliche Verdacht besteht und Timon noch nicht wieder voll einsatzfähig ist!«

»Weißt du, ich frage mich bei solchen Menschen immer, wie groß die Verletzungen sein mögen, die sie durchmachen mussten, um so zu werden. Oder denkst du, dass es jemanden gibt, der von vornherein so zynisch, bissig, bösartig ist?«

»Nein, das kann ich nicht glauben. Ich befürchte wirklich, dass einem das Leben übel mitgespielt haben muss. Aber andererseits denke ich auch, dass du, wenn du einen so verantwortungsvollen Beruf ausübst, deine persönlichen Befindlichkeiten zu Haus lassen musst. Kein Patient sollte darunter leiden, dass dir eine Laus über die Leber gelaufen ist.«

»Es ist wirklich schwer zu verstehen. Die Schickenreuths sind doch eine alt eingesessene Familie. Lauter Akademiker, meist Rechtsanwälte, glaube ich«, sagte Corinna.

Daniel lächelte nachdenklich. »Kennst du das Anwesen derer von Schickenreuth in Rottach-Egern? Eins von diesen Häusern, die man von der Straße aus gar nicht sieht. Nicht nur wegen der hohen Mauern und dem dichten Baumbestand. Es liegt eben auf einem riesigen Grundstück! Und auf dem Platz vor dem Haus stehen Lamborghinis, Ferraris und für die, die nicht so viel Geld haben, nur ein Audi A 8!«

»Gott sei Dank brauche ich das alles nicht, um glücklich zu sein, mein Lieber! Geld hat mir noch nie etwas bedeutet. Mir imponieren eher Freundlichkeit, Wertschätzung, Bescheidenheit!«

*

»Die neue Ärztin kümmert sich gleich um Sie, Herr Obernesser«, kündigte Schwester Nasifa an. Der Patient, der sich mit linksseitigen Oberbauchbeschwerden in der Notfallambulanz vorgestellt hatte, war der Leiter einer Musikkapelle, die auf Volksfesten spielte, aber auch die Aufführungen der diversen Bauerntheatergruppen im Landkreis begleitete. Martin Obernesser war, aufgrund seiner rundlichen Statur und seiner Körpergröße ein eher grobschlächtig anmutender Mensch. Wer ihn näher kannte, schätzte seinen Humor, seines Bildung und sein umfangreiches musikalisches Wissen.

»Vielleicht merken Sie sich bei Gelegenheit meinen Namen, Schwester Nasifa. Aber nur, wenn Ihre Aufmerksamkeitsspanne und Intelligenz dafür ausreichen. Ich bin für Sie Frau Dr. Schickenreuth!«

»Aber sehr gern, Frau Doktor! Ich gebe mein Bestes!«, sagte die Schwester mit übertriebener Höflichkeit. »Meinen Sie, Ihre Aufmerksamkeitsspanne könnte sich jetzt noch auf den neuen Patienten erstrecken?«

»Ich werde für dieses Mal Ihre Unverschämtheiten ignorieren, Schwester Nasifa. Im Wiederholungsfall werde ich mich über sie beschweren müssen!«

»Das steht Ihnen selbstverständlich frei, Frau Doktor«, stellte die Schwester achselzuckend fest. »Aber glauben Sie mir bitte, dass ich Ihnen rhetorisch gewachsen bin!«

»Kann ich helfen?«

Dagmar Schattenhofer hatte ihren Patienten versorgt und blickte um die Ecke.

»Danke, Frau Kollegin, aber ich fühle mich der Aufgabe gewachsen! – So, Herr Obernesser, ich bin Frau Dr. Schickenreuth! Was hat Sie denn hergeführt – außer Ihrem massiven Übergewicht? Also, das kann ich Ihnen gleich sagen: Der Speck, den Sie auf den Rippen tragen, ist ja an sich schon ungesund. Aber den können wir nicht als Notfall ansehen! Das ist das Ergebnis einer unkontrollierten Lebensweise! Sie müssen auch mal Obst und Gemüse essen, nicht immer nur Schokolade und Kuchen!«

»Entschuldigung, Frau Doktor, woher kennen Sie meine Lebensweise? Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet?«, stieß der Patient heraus.

»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete Frau Doktor kalt. »Aber das sieht man Ihnen an. Von nichts kommt ja bekanntlich auch nichts, nicht wahr?«

»Ganz, wie Sie meinen, Frau Doktor.«

Dagmar versuchte, der Situation die Schärfe zu nehmen.

»Und, Herr Obernesser? Bereitet das Schlierseer Bauerntheater ein neues Stück vor? Ihre musikalische Untermalung war ja wirklich großartig bei der letzten Inszenierung!«

»Dankeschön, Frau Doktor! Wir geben jedes Mal alles!«

Frau Doktor Schickenreuth war damit befasst, ihre Anforderungskarten fürs Labor zu markieren.

»Wieso ist die Blutabnahme noch nicht gerichtet, Schwester?«

»Wenn Sie schweigend irgendwas ankreuzen, Frau Doktor, kann ich kaum erahnen, welche Werte sie interessieren. Gäben Sie mir eine konkrete Anweisung, erleichterte das die Zusammenarbeit!«

»Statt hier klug daherzureden, könnten Sie schon mal Blut abnehmen – falls sie bei den Armen überhaupt eine Vene finden!«

»Was stimmt nicht mit meinen Armen?«, stöhnte der Patient unter Schmerzen.

»Sie sind dick«, erklärte die Medizinerin. »Ihre Blutgefäße sind tief im Fett eingebettet! – Hoffentlich kann ich mit dem Ultraschallgerät etwas sehen! Die Schallwellen dringen auch nur begrenzt durch die Speckschichten!«

»Frau Kollegin, darf ich Ihnen den Schall abnehmen?«, schlug Dagmar leise, aber nachdrücklich vor.

»Danke, aber ich bin der Aufgabe durchaus gewachsen, Frau Schattenhofer. Vermutlich Bauchschmerzen, weil der Mann sich überfressen hat. Kein Wunder!«

»Ich teile Ihre Ansicht nicht, Frau Kollegin.«

Es kostete Dagmar einiges an Mühe, die Beherrschung zu bewahren. »Ihre Vorurteile aufgrund des Körperbaus des Patienten verstellen Ihnen hier vermutlich die Sicht auf die Diagnose. Sie sehen, dass der Patient schwerkrank ist und starke Schmerzen hat. Sie haben die Pankreas-Enzyme mit angefordert?«

»Was habe ich denn, Frau Doktor?«, fragte der Patient in Dagmars Richtung.

»Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um eine Pankreatitis handelt, Herr Obernesser!«

»Also eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse«, ergänzte Schwester Nasifa.

»Schwester Nasifa, die Kollegin Schattenhofer und ich bedürfen Ihrer Übersetzungskünste und Belehrungen nicht!«

»Aber der Patient, Frau Dr. Schickenreuth. Und für den Patienten bin ich in erster Linie da.«

*

Die Spiegelung des Augenhintergrunds hatte den Augenarzt befriedigt.

»Sie müssten inzwischen wieder räumlich sehen können, Frau Kettel, oder irre ich mich?«

»Sie irren sich nicht, Herr Doktor. Ich habe im Stift auch schon angekündigt, dass ich für Tagschichten zur Verfügung stehe. Im Dunkeln fühle ich mich noch nicht ganz so sicher, aber mit der richtigen Beleuchtung ist alles in Ordnung.«

»Großartig. Ich kann Ihnen keine Garantie geben, dass eine solche Katas­trophe sich nicht mehr wiederholt. Trotzdem würde ich Ihnen zu engmaschigen Kontrollen raten, Frau Kettel. Manchmal erkennt man rechtzeitig, wo es demnächst zu bluten beginnen könnte, und kann dem dann durch gezielte Laser-Koagulation entgegenwirken. Ich würde Ihnen auch raten, dass, wenn es geblutet hat, man einmal einen Blick in das andere Auge wirft, nur, um so sicher wie möglich zu sein.«

»Ich versuche, das zu beherzigen, Herr Doktor. Ich danke Ihnen herzlich für alles!«

*

»Und?«, erkundigte sich Lukas. Alles wieder gut?«

»Alles wieder gut, Lukas. Ich kann wieder sehen wie ein Luchs! Und ab morgen arbeite ich wieder!«

»Echt? Übertrieben krass!«, kommentierte der Junge. »Soll ich noch was machen?«

»Nein, alles gut. Du hast mir wunderbar geholfen. Dafür danke ich dir von Herzen, mein Junge. Das kann ich nie wieder gutmachen.«

»Wenn wieder was ist – ich komme!«, sagte Lukas. »Meine Nummer ist eingespeichert, auf Ihrem Handy!«

»Das ist mir eine große Beruhigung, Lukas. Vielen Dank. Und grüße mir deine Eltern, hörst du? Und wenn du mal Rat oder Hilfe brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen.«

»In echt? Das merke ich mir. Dankeschön«, strahlt der Junge.

»Gern. In echt!«, antwortete Schwester Stefanie.

*

»So, Frau Tauber, suchen Sie sich bitte einen schönen Traum aus!«, lachte Elenore Pahlhaus die Patientin an, bevor sie die Spritze mit dem Propofol vollends in die Vene entleerte. »Wir sehen und gleich wieder! Der Kollege behauptet, dass der Eingriff schnell gemacht wäre!«

Aglaja Tauber schwebte ins Traumland.

Sie war sehr unruhig gewesen. Nicht so sehr wegern des Eingriffs. Ihr HNO-Arzt war absolut vertrauenswürdig und kompetent. Aber wie fast jeden Patienten, so verunsicherte die Aussicht auf den künstlichen Schlaf auch sie. Obwohl sie ja durch ihre Ehe und den gerade erst stattgehabten Eingriff fast schon Profi war, bewegten sie die üblichen Fragen: Wird die Tiefe der Narkose ausreichen, werde ich wirklich nichts spüren? Was ist, wenn ich zu früh wach werde? Werde ich überhaupt wieder wach?

Elenore Pahlhaus war nicht nur erfahrene Ärztin, sondern verstand die Ängste der Patienten gut. Sie war immer bestrebt, eine starke persönliche Bindung zu ihnen herzustellen, eine Vertrauensbasis. Dieses Wir-Gefühl, das vermitteln sollte, wir schaffen das, keine Frage. Wirf einfach deine Angst auf mich, ich helfe dir, sie zu tragen.

Richards Besuch gestern war ihr peinlich gewesen. Natürlich hatte es sich herumgesprochen, dass die ehemalige Frau des pädiatrischen Chefarztes, die gleichzeitig die zukünftige Gattin des gynäkologischen Chefarztes sein würde, als Patientin zur Operation aufgenommen worden war. Die Kommunikation in jeder Klinik auf der Welt funktioniert effektiver als der Bundesnachrichtendienst, das MI6, das Deuxième Bureau und die CIA zusammengenommen. Es war völlig unmöglich, etwas zu verheimlichen.

Sie hatte sich so schrecklich geniert, weil natürlich die Spuren des Facelifts noch sichtbar waren. Aber Richard war der perfekte Gentleman geblieben, in den sie sich damals verliebt hatte. Er ignorierte es völlig. Erst als sie begann, davon zu sprechen, nahm er Stellung.

»Ein völlig überflüssiger Eingriff«, sagte er stirnrunzelnd. »Hat dir denn der Schönheitsklempner nicht davon abgeraten?«

»Doch, hat er. Aber ich habe darauf bestanden«, gestand sie. »Ich wollte – ach, es ist albern. Lass uns von etwas anderem sprechen!«

»Du hast gedacht, weil ich jetzt so eine junge Frau habe, müsstest du mit ihr konkurrieren, nicht wahr?«

Den Blick, den sie ihm zuwarf, voll abgrundtiefer Trauer, würde er sein Leben lang nie wieder vergessen können. Er bohrte sich in seine Seele, und traf sein Herz.

»Ich kenne dich gut, Aglaja. Für mich bist du immer schön gewesen. Ich habe jede Falte in deinem Gesicht geliebt, jedes Gramm Speck. Einfach alles. Und kannst du das glauben? Ich habe alles leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. Ich habe dich für selbstverständlich gehalten, in meinem Leben. Hätte ich doch damals schon gewusst, was ich heute weiß! Lieben allein reicht eben nicht. Man muss es dem geliebten Menschen gelegentlich auch einmal sagen! Aber ich war dumm. Ich habe versucht, meine Probleme zu ertränken. Und plötzlich hatte ich noch ein zusätzliches Problem, statt die bekannten Sorgen zu lösen. Aglaja, du hattest ganz recht, dich von mir zu trennen. Ohne deine Konsequenz hätte ich nie gemerkt, dass der Strudel mich hinabzieht. Im Gegenteil: Fast hätte ich dich noch mitgerissen. Du hast jedes Recht, mir Vorwürfe zu machen. Ich nicht. Du schuldest mir nichts. Ich schulde dir alles.

Bitte vergib mir, Aglaja. Wir werden von jetzt ab getrennte Wege gehen. Aber die Erinnerung an unsere Liebe wird meine Welt erleuchten, mich trösten und mich für immer begleiten.«

Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Wangen.

»Ich schaue morgen nach dir, wenn der Eingriff vorüber ist. Schlaf gut. Und hab keine Angst. Es stehen lauter tüchtige Ärzte um dich herum!«

Die Wirkung des Beruhigungsmittels, das Frau Dr. Pahlhaus verordnet hatte, hatte eingesetzt. War das ein Traum, oder war das Wirklichkeit? Was war gerade passiert? Was hatte Richard gesagt? ›Die Erinnerung an unsere Liebe‹ …

Er war wieder zurück. Richard war wieder da. Ihr Richard. Der Richard, dem sie vor einer halben Ewigkeit das Ja-Wort gegeben hatte. Er war durchs Feuer gegangen, durch die Hölle.

Wäre es nicht ihre Pflicht gewesen zu kämpfen? ›In guten wie in schlechten Tagen‹, hatten sie sich doch damals versprochen. Sie hatten so viel gute Tage miteinander gehabt. Dann war es schwierig geworden. Ihre Versuche, ihn zu retten, waren untauglich gewesen. Aber wessen Schuld war das? Vielleicht war da noch was zu retten. Er empfand doch noch etwas für sie, oder? Sonst hätte er doch das alles nicht gesagt!

Sie würde nicht aufgeben. Sie hatte kampflos die Waffen gestreckt. Dieses junge Ding …

Vermutlich liebte er sie ebenso wenig, wie sie Felix liebte. Sie gehörten doch zusammen, Richard und Aglaja. Aglaja und Richard. Es galt, diesen Irrtum aufzuklären, bevor sie beide für immer ins Unglück rannten. Gleich morgen, nach der Operation, würde sie ihn sehen.

Gleich morgen würde sie seine Hand greifen, wie ein Schiffbrüchiger nach dem Rettungsring. Und sie würde alles fortwischen, energisch und voller Zuversicht.

»Ich liebe dich noch immer, Richard!«, murmelte sie verwaschen, bevor sie in den Schlaf sank.

»Ich heiße Felix«, flüsterte Professor Antretter, der, von Aglaja unbemerkt, einige Minuten zuvor das Zimmer betreten hatte. »Felix – der Glückliche.«

Dann wandte er sich zum Gehen.

Aglaja Tauber schlief tief und fest.

*

Der bewusstlose Patient in Begleitung von Schwester Maria wurde in den Behandlungsraum von Frau Dr. Schickenreuth geschoben.

»Der arme Kerl ist bewusstlos«, flüsterte Dagmar verschwörerisch der Schwester zu. »Das könnte sich bei dieser Kollegin als Vorteil herausstellen. Dann hört er wenigstens nicht das Gequatsche! – Timon? Du bist schon zweieinhalb Stunden hier! Los, ab nach Hause, bevor ich nackte Gewalt anwende!«

»Aber ich könnte doch eben noch bei dem Bekannten von Maria helfen!«

»Ja, könntest du. Aber du willst es nicht, glaube mir. Je weniger Kontakt du mit ihr hast, umso besser geht es dir!«

»Was hat ihr Partner denn eingenommen?«, erkundigte sich Constanze Schickenreuth ungeduldig.

Schwester Maria zeigte die Schachtel mit dem Dapoxetin. »Außerdem habe ich noch diese Tabletten gefunden«, gestand sie. »Könnte das Sildenafil sein?«

»Na prima. Und ich wundere mich über die Extrasystolen und dass Vorhofflimmern! Wer von Ihnen hat denn diesen Blödsinn verzapft? Haben Sie zu viele von diesen billigen Filmchen gesehen? In denen die Frauen immer wollen, und die Männer immer können? Hauptsache Sex, oder? Und wenn man über Leichen gehen muss!«

»Frau Dr. Schickenreuth, wie können Sie denn so etwas sagen? Sie kennen doch gar nicht die Hintergründe … Ich weiß sie ja noch nicht mal! Was ist das?«

Der rhythmische Piepton des Monitors war zu einem gellenden Dauerton geworden, die vordem gezackte Kurve eine gerade Linie!

»Herzstillstand! Schnell, den De­fi!«, schrie Schwester Maria.

»Sie haben hier überhaupt keine Anweisungen zu geben«, keifte Frau Dr. Schickenreuth. In diesem Moment wurde die Schiebetür aufgestoßen, und Schwester Nasifa rannte mit Dagmar Schattenhofer zum Behandlungstisch mit dem Patienten, in der Hand den Defi.

»280!«, kommandierte Dagmar. »Und – weg vom Tisch!«

Tassilo bäumte sich auf. An der Nulllinie änderte sich nichts.

»Wir verlieren ihn!«, rief Maria in Panik.

»360! – Und – weg vom Tisch!«

Da! Piep – piep – piep – das Herz hatte sich entschlossen, seine Arbeit wieder aufzunehmen.

»Ab hier kommen Sie allein klar, Frau Kollegin?«, fragte Dagmar bissig. Constanze Schickenreuth stand in sicherer Entfernung und nickte.

*

Kilian Kreuzeder hockte auf der Bettkante, als Karin erwachte.

»Schatz, was ist denn?«, murmelte sie schlaftrunken. »Wieso sitzt du, statt im Bett zu liegen?«

»Ich trau’ mich nicht, mich zu bewegen«, gestand der Redakteur. »Es tut nicht mehr weh! Ganz so, als wäre nie etwas gewesen! Und ich denke, dass, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache, alles wieder von vorn losgeht! Weißt du, was man da macht?«

»Ich werde dich jetzt mit der ­durchblutungsfördernden Salbe eincremen.«

»Ist das die, die so heiß wird auf der Haut?«

»Genau die. Und wenn die Durchblutung kräftig, und die Muskulatur gut gewärmt ist, kann dir nichts passieren! Glaube ich.«

»So, glaubst du! Und wenn nicht?«

»Dann fahren wir zum Arzt!«

»Das tröstet nicht wirklich«, lachte Kilian vorsichtig.

Seine Haut wurde knallrot und glühend heiß.

»Das ist aber auch ein Teufelszeug«, klagte er.

»Jammere nicht! Sei froh, dass sich jemand um dich kümmert!«

Alles ging gut. Kilian war zunächst misstrauisch. Er konnte sein Glück kaum fassen.

»Ich kann es kaum fassen, Karin. Wirklich. Ich kann nur hoffen, dass das so bleibt!«

»Du kannst es ja testen und noch einmal versuchen, mich über die Schwelle zu tragen!«

»Ach, diese überkommenen alten Rituale, die braucht doch nun wirklich kein Mensch!«

»So, mein Lieber, damit eins klar ist: Am Wochenende besuchen wir deine Mutter! Du hast dich bei ihr schon so lange nicht mehr sehen lassen! Jetzt muss es sein!«

»Bist du sicher? Lust habe ich keine!«

»Darum geht es nicht. Irgendwann ist sie nicht mehr da, und dann wünschst du dir, dass du sie öfter mal besucht hättest. Mütter hat man ja nicht so viele, weißt du. Bei Vätern verhält es sich mitunter deutlich anders!«

»Ich habe eine sehr kluge Frau geheiratet«, stellte Kilian mit Begeisterung in der Stimme fest. »Ich denke nur … Hat sie denn überhaupt was davon? Die Demenz schreitet fort, und wir hatten hier doch schon Phasen, in denen sie mich nicht mal mehr erkannte und mal für meinen Vater, mal für mich als Kind hielt. Vielleicht ist es sogar besser wegzubleiben, um sie nicht zu beunruhigen!«

»Ich könnte dir von Patienten erzählen, die im Koma gelegen haben. Zum Beispiel mein Chef nach seinem schweren Autounfall. Sein Sohn Lukas kam jeden Tag von der Schule in die Klinik und las ihm aus einem Buch vor, weil seine Frau darauf Wert legte, dass er vertraute Stimmen hören sollte. Und was soll ich dir sagen? Er konnte, nachdem er wieder aufgewacht war, sogar das Buch nennen, aus dem Lukas vorgelesen hatte. Man kann nie genau sagen, wieviel ein scheinbar bewusstloser Patient – noch nicht mal ein sterbender Patient – mitbekommt. Deswegen werden das Krankenpflegepersonal und auch die Ärzte gelehrt, ausnahmslos jeden Patienten mit der größten Würde und dem höchsten Respekt zu behandeln.

Und deine demente Mutter? Wer weiß? Auch sie wird sicher ihre lichten Momente haben!«

Kilian senkte den Kopf. Er wirkte wie ein Schulbub, der einen strengen Verweis erhalten hatte. Karin musste lachen über seinen Anblick. Besonders über die vorgeschobene Unterlippe. Männer blieben eben ewig Kinder. Große Jungs. Ihrer war da keine Ausnahme!

*

Der Arbeitstag war wie im Fluge vergangen. Zwei Dinge standen im Mittelpunkt: Zum einen hatten sich einige Patienten über das Essen beschwert, zum anderen schien es mit dieser neuen Ärztin, die Prof. Antretter eingestellt hatte, Probleme zu geben. Menschliche – und medizinische.

»Ach, Frau Kreuzeder! Das ist ja heute wieder zum Wahnsinnigwerden! Eigentlich fehlen nur noch Herr Somnitz mit seiner ewigen Bettenbelegung und die Ärztekammer mit irgendwelchen Beschwerden, zu denen wir binnen vierzehn Tagen ausführlich und schriftlich Stellung zu nehmen haben! Es muss doch einfachere Arten geben, sein Geld zu verdienen!«

»Mit Sicherheit, Herr Professor. Aber mal unter uns: Würden Sie es denn anders wollen? Briefe austragen? Oder als Revierförster den Baumbestand des Waldes auf Borkenkäferbefall kontrollieren?«

Professor Sonntag lachte laut. »Beides wichtige, verantwortungsvolle Tätigkeiten!«

»Aber wäre das was für Sie?«, beharrte Frau Keuzeder. »Auch an Tagen wie diesen, an denen Ihre Ausgeglichenheit eher aufgeklebt wirkt?«

»Ja, Sie haben recht, Frau Kreuzeder. Und ich bin der glücklichste Chefarzt der Welt. Weil ich die beste Chefsekretärin der Welt habe. Tun Sie mir noch einen Gefallen? Könnten Sie mir für morgen bitte diese Frau Doktor einbestellen, vielleicht sogar mit Herrn Antretter zusammen? Und den Chef der Krankenhausküche?«

»Ist schon erledigt, Herr Professor. Frau Dr. Schickenreuth und Professor Antretter erscheinen um 14 Uhr 30, und der Küchenchef um 16 Uhr!«

*

Frau Kreuzeder hatte, bevor sie heimgehen wollte, noch eine kleinere Besorgung im Supermarkt zu erle­digen. Außerdem hatte sie sich mit Ludwig verabredet, im ›Elisabeths Platzerl‹.

Der Einkauf war sehr schnell erledigt. Komischerweise befanden sich kaum Kunden im Markt, sodass Karin Kreuzeder keinerlei Wartezeit am Fleischstand, beim Käse und an der Kasse in Kauf zu nehmen hatte. Sie sah auf die Uhr. Noch eine volle Stunde bis zu Ludwigs Eintreffen! Na, egal. Vor dem Café standen Bänke. Sie würde im Schatten der Kastanienbäume einen Moment die Frühjahrssonne genießen. Frische Luft schadete ja nie!

»Frau Fürstrenrieder!«, ertönte eine begeisterte Stimme. »Mit Ihnen habe ich hier nicht gerechnet! Dabei hätte ich es vorhersehen können – bei meiner prophetischen Gabe!«

»Kreuzeder, liebe Frau Rixner, Kreuzeder, neuerdings!«, rief die Chefsekretärin vergnügt. » Von Ihrer Gabe habe ich schon so oft geschwärmt! Sie haben mit allem recht gehabt! Erinnern sie sich noch, dass sie mir ein großes persönliches Glück vorhergesagt haben? Bitteschön! Ich bin verheiratet, mit einem wundervollen Mann! Dass mir so viel Glück beschieden sein würde – noch dazu in meinem Alter!«

Frau Rixner nahm neben ihr auf der Bank Patz.

»Da gratuliere ich Ihnen aber ganz herzlich, Frau Kreuzeder. Sehen Sie, ich verstehe mein Handwerk! Wie Sie ja auch!« Sie lachte, und ergriff Karins Hand. In der Sekunde, in der sie die Hand berührte, erstarrte sie plötzlich. Sie legte den Kopf in den Nacken, verdrehte röchelnd die Augen. Ein klagendes, ganz unwirkliches Geräusch drang aus ihrer Kehle. Ruckartig riss sie ihre Hand aus der Karin Kreuzeders.

»Frau Rixner? Frau Rixner! Hallo, Frau Rixner? Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut? So reden Sie doch, um des Himmels willen!«

Wie in Trance erhob sich die Wahrsagerin. Sie sah Karin mit einem Blick von ungläubigem Entsetzen an.

»Es – es ist nichts! Gar nichts! Ich – es geht mir nicht gut! Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen! Bitte, entschuldigen Sie mich!«

Ohne weiteren Gruß brach sie auf und taumelte von dannen.

In diesem Moment erschien Ludwig.

»War das nicht diese Wahrsagerin? Wie war noch ihr Name?«

»Rixner. Josefine Rixner«, antwortete Frau Kreuzeder nachdenklich. Was hatte Frau Rixner gesehen? Es musste etwas Fürchterliches sein, ihrer heftigen Reaktion nach zu urteilen.

Sie betraten das geschmackvoll eingerichtete Café und nahmen an einem Tisch im hinteren Teil des Raumes Platz.

»Was war denn bloß los?«, erkundigte sich Ludwig bestürzt. »Die Szene wirkte wie der Beginn eines Horror-Films!«

»Glaub es oder glaub es nicht, es ist mir völlig schleierhaft! Aber wir sind ja auch nicht hier, um uns die Zukunft weissagen zu lassen, oder? Wonach steht dir der Sinn, Ludwig? Kaffee und Kuchen gehen auf mich!«

Der Nachmittag ging schnell vorbei.

Ludwig litt unter den Anschuldigungen, die, wie er glaubhaft versicherte, völlig aus der Luft gegriffen waren.

»Wovor ich am meisten Angst habe, ist, dass, selbst wenn die Anwürfe entkräftet werden, da trotzdem so etwas wie ein Restzweifel an meiner Unschuld bleibt.«

»Was lernst du daraus, Ludwig?«

»Dass Egidius einmal wieder recht hat. Wenn man mit einer Frau den Untersuchungsraum betritt, muss unbedingt immer eine Schwester zugegen sein. Das habe ich jetzt begriffen.«

»Hab keine Sorge, Ludwig. Ich glaube, niemand kennt dich so gut wie ich. Kommissar Pastötter klingen vermutlich noch immer die Ohren. Er hat uns alle verhört, in dieser Angelegenheit. Und ich bin sicher, das jeder in den höchsten Tönen von dir gesprochen hat.«

Als sie aufbrachen, umarmten sie sich zum Abschied.

»In mir wirst du immer eine Verbündete haben, Ludwig«, erklärte Frau Kreuzeder herzlich. »Und ich weiß, dass auch der Chef ganz auf deiner Seite steht und keinen Moment an dir und deiner Integrität zweifelt.«

Sie begab sich zum Taxistand und ignorierte die schwarze Katze, die, faul in der Sonne liegend, sich nunmehr aufgemacht hatte, um ihren Weg zu kreuzen.

Kurzes offizielles Nachwort

Ich habe es kommen sehen. Das konnte ja auch nicht gut gehen, mit Aglaja, Richard und Felix. Wie sagt man? Kinder und Bertrunkene sprechen die Wahrheit? Ha! Was glauben Sie, was ich alles gehört habe von Menschen, die einschliefen oder aus der Narkose erwachten! Egal. Hauptsache, dass der Tumor entfernt wurde.

Und was machen wir mit dieser neuen Ärztin? Ich halte es für möglich, dass sie mit der Notfallambulanz überfordert ist. Eingestellt wurde sie ja als zukünftige Frauenärztin, das darf man nicht vergessen. Ich finde es allerdings schlimm, dass sie Empathie und Respekt vor anderen Menschen vermissen lässt. So wird das nix mit einer medizinischen Laufbahn!

Was wird mit Tassilo und Maria? Hat das geklappt, bei Hatice? Kann der hässliche Verdacht gegen Ludwig entkräftet werden? Und was, um Himmels willen, ist denn nun mit Timon, Philine und Emmerich?

Wird Frau Rixner langsam alt? Was soll denn schon bei den Kreuzeders passieren? Und das mit der Katze – sind Sie etwa abergläubisch? Ich nicht!

Wenn der nächste Roman erscheint, meine Damen und Herren, dann ist das ein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen! Wir haben Einjähriges! Kommt Ihnen die Zeit auch so lange vor? Schrecklich, wie schnell sie vergeht, oder? Erlauben Sie, dass ich noch einen Gedanken verfolge. Blättern Sie um.

Persönliches Nachwort

Darf ich Ihnen gerade noch etwas verraten, sehr verehrte Leserin, sehr geschätzter Leser? Ich verdanke Ihnen alles. Ich meine, eigentlich ist es ja klar. Nur die Fernsehserie, die angeschaut wird, bleibt. Die anderen werden abgesetzt. Mein Vertrag beschränkte sich zunächst auf 10 Folgen. Mal sehen, ob deine Geschichten ankommen. An der Tatsache, dass mit diesem Nachwort die 11. Folge zu Ende geht, erkennen Sie, dass es weitergegangen ist. Sie mögen es lesen, und dafür danke ich Ihnen herzlich.

Es fällt mir nicht weiter schwer, das hier aufzuschreiben. Es handelt sich ja um mein ( Er- )Leben. Natürlich musste ich einige Dinge ändern. Datenschutz, wie schon gesagt.

Was ich Ihnen gern an dieser Stelle sagen würde: Vertrauen Sie bitte Ihren Ärzten. Sie liegen den Kollegen am Herzen, auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Das liegt nicht daran, dass der Doktor, der versucht, Ihnen zu helfen, Sie nicht mag oder kein Interesse an ihnen hat. Das liegt daran, dass die Ärztekammern, die Kassenärztliche Vereinigung, die Versicherungen und ganz besonders die Krankenkassen mit ihren Prüfungskommissionen den Ärzten die Daumenschrauben anlegen und ihnen das Leben verwaltungstechnisch zur Hölle machen. Von den Finanzämtern und meinen besonderen Freunden, den Banken, rede ich hier mal lieber nicht. Wenn es nur um Sie ginge, meine Damen und Herren, dann wäre jeder Tag ein Fest. Aber wenn Sie die Praxis verlassen haben, sitzt ihr Arzt noch lange da und grübelt, wie er das Geld für die Steuer aufbringen soll, die Rechnungen bezahlen, die Regressforderungen abwenden kann. Sie sind das Highlight. Auf Sie freut Ihr Arzt sich, weil Sie ihn immer wieder an das erinnern, weswegen er sich für diesen Beruf entschieden hat.

So, jetzt ist aber Schluss! Bis in vier Wochen! Ich freue mich auf Sie!

Dr. Sonntag Box 3 – Arztroman

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