Читать книгу Dr. Sonntag Box 4 – Arztroman - Peik Volmer - Страница 6

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Ja, sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser, hätten sie das gedacht? Vom Verlag erhielt ich die freundliche Aufforderung, einige weitere Folgen zu schreiben. »Offenbar mögen die Leute doch lesen, was du geschrieben hast. Los. Weitermachen!«

»Hättet ihr mir das nicht etwas eher sagen können? Das ist wirklich knapp!«

»Hätte, hätte, Fahrradkette! Statt hier zu lamentieren, hättest du schon längst mit dem Schreiben beginnen können! Du weißt doch: Die Deadline ist prinzipiell gestern!«

»Aber …«

»Jammere nicht! Leg los!«

Verlage haben eine Tendenz zur Hartherzigkeit. Na jedenfalls sehen wir uns auf diese Weise hier wieder. Das letzte, woran ich mich noch erinnere, ist Dagmar an Deck des Kreuzfahrtschiffs, und die filmreife Szene, in der James Bond im Smoking sich aus einem Hubschrauber abseilt. Ach ja, und Emmerich im Kloster Benediktbeuern. Und an Vronis heitere Abschiedsfeier – Beerdigung passt als Ausdruck da nun wirklich nicht.

Es ist eine Menge passiert, in den vergangenen 15 Monaten. Am wichtigsten: Im Hause Sonntag sieht man freudigen Ereignissen entgegen. Und zwar die ganze Familie. Max ist aus England heimgekehrt. – Lukas war ja ›umständehalber‹ schon eher zurückgekommen, und auch Egidius hat sich aus Minnesota verabschiedet, wenn auch schweren Herzens. Eine solche Möglichkeit, fachlich und wissenschaftlich weiterzukommen, wird sich ihm vermutlich nie wieder bieten.

Andererseits, was sind schon Ruhm und Ehre, wenn man dafür den Schliersee, die großartigen Mitarbeiter der Klinik und – mag es auch pathetisch klingen – die Heimat verlassen muss? Irgendwann muss man sich entscheiden, wenn man Arzt ist. Geht es darum, Menschen zu helfen, oder darum, Wissenschaft zu betreiben? Sicher, Wissenschaft ist notwendig, um Menschen helfen zu können. Aber wenn jemand die Gabe hat, mit seinen Patienten umgehen zu können, auf einer herzlichen, vertrauensvollen Ebene, dann sollte der auch tatsächlich Basisarbeit leisten. Es gibt Kollegen – und bei denen haben Sie auch schon im Wartezimmer gesessen, wetten? – die wären einfach besser in einem Forschungslabor aufgehoben.

In welche Kategorie mag der junge Kollege Amandus Pachmayr gehören? Er verfügt über ein wirklich gewinnendes Lächeln, einen Schwall erstaunlich blonder Haare und gute Umgangsformen, soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Aber ist er wirklich so nett, wie er auf den ersten Blick wirkt?

Notfälle

»Schwester Nasifa, ich bräuchte mal Xylocain 1%ig und Catgut 6x0!«

»Ginge auch 4x0? 6x0 müsste ich rasch aus dem OP holen!«

Amandus runzelte die Stirn.

»Womit nähen Sie denn Platzwunden auf der Stirn? Wir wollen doch nicht, dass da eine häßliche, entstellende Narbe bleibt, oder? Immerhin ist die Patientin eine schöne Frau, und dass soll sie auch bleiben!«

»Wenn Sie intrakutan nähen, bleibt da nur ein feiner, weißer Strich, Herr Doktor!«, antwortete Schwester Nasifa freundlich.

»Kompromiss: Ich nähe intrakutan, aber mit 6x0! Einverstanden?«

Nasifa griff zum Telefon.

»Notfallambulanz! Marion, kannst du mir ein Nahtset richten, mit 6x0 Chromcat? Ich komme schnell ‘rauf und hole es! Wie bitte? Das ist aber lieb, vielen Dank!«

Sie wandte sich Dr. Pachmayr zu.

»Das Gewünschte ist schon auf dem Weg.«

»Perfekt«, bemerkte dieser. »Und vielleicht legen Sie einen kleinen Vorrat mit feineren Nähten hier an?«

»Das hätten Sie gar nicht sagen müssen, Herr Doktor. Wenn Sie noch weitere Wünsche haben, würde ich Sie bitten, eine Liste anzulegen, damit ich die entsprechenden Arbeitsmaterialien besorgen kann.«

»Wäre es möglich, Herr Doktor, dass Sie mich bis zum Wochenende krankschreiben?«, fragte die Patientin, die sich an einem Schrank gestoßen hatte.

Der Doktor verzog sein Gesicht zu einer überraschten Grimasse.

»Gute Frau, das wären ja drei Tage! Das geht nun beim besten Willen nicht!«

»Wissen Sie, ich bin da in einer Zwickmühle. Ich pflege im Augenblick meine kranke Nachbarin –, bei der habe ich mir ja auch die Verletzung zugezogen. Auf die Weise hätte ich etwas mehr Zeit für sie. Sie ist schon sehr alt. Und in meiner Firma wurde mir gekündigt, weil der Betrieb Ende des Monats schließt.«

»Wenn das jetzt jeder täte? Nein, das kann ich nicht verantworten! Jeder hat seine Pflicht zu erfüllen! Wo kämen wir denn hin, wenn niemand mehr seine Arbeit ernst nimmt!«

»Ich hätte es eher als meine Pflicht angesehen, der alten Dame zu helfen … Aber es ist schon in Ordnung, Herr Doktor. Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit meinem Anliegen behelligt habe.«

»Sie hatten völlig recht, Herr Doktor«, bemerkte Schwester Nasifa mit feinem ironischen Unterton. »Mit Menschen, die so pflichtvergessen sind, dass sie lieber anderen helfen als angesichts einer Kündigung zu arbeiten, muss man streng sein!«

Die Ironie war Dr. Amandus Pachmayr entgangen.

»Ja, danke, Schwester. Es kann wirklich nicht sein, dass man sich auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung auf die faule Haut legt.«

»Sie waren noch nie in einer schwierigen Lage?«, fragte Nasifa vorsichtig. »Oder haben mal in einer solchen Hilfe benötigt?«

»Wenn Sie den Überblick behalten, sich nicht verzetteln und gut organisiert sind, Schwester, dann ergeben sich solche Probleme gar nicht erst.«

»Ich verstehe, Herr Doktor. Wenn ich organisatorischen Rat brauche, weiß ich ja zukünftig, an wen ich mich wenden kann!«

In diesem Moment stieg der Geräuschpegel von draußen erheblich. Eine Männerstimme rief etwas von ›Notfall‹ und ›dringend‹. Nasifa riss die Schiebetür auf.

Der ausgemergelte, bewusstlose alte Mann auf der Trage schien dem Tod näher als dem Leben. Er hatte offenbar in selbstmörderischer Absicht alle Medikamente, die er einzunehmen hatte, gesammelt und geschluckt. Dr. Pachmayr funktionierte wie eine gut geölte Maschine. Während Nasifa den Monitor anschloss, intubierte und defibrillierte er. Spülte über eine Magensonde Aktivkohle-Suspension in den Patienten. Verabreichte Naloxon und Thiamin und Dextrose. Und vollbrachte das kleine Wunder. Der Patient schlug die Augen auf.

»Was machen Sie denn für Geschichten?«, herrschte er den alten Mann an. »Wir haben hier mit kranken Menschen schon genug zu tun. Wir brauchen nicht noch Leute, die uns mit solchen Scherzen die Zeit vertreiben!«

»Das war, glaube ich, kein Scherz, Herr Doktor Pachmayr«, gab die Schwester zu bedenken. »Hier, sehen Sie!«

Amandus Pachmayr blätterte in den Unterlagen. »Ein metastasiertes Pankreaskarzinom«, murmelte er betroffen. Dann fuhr er fort: »Egal. Meine Aufgabe ist es, Leben zu erhalten, um jeden Preis.«

In diesem Moment bog Ludwig um die Ecke.

»Wäre der Chef schon zurück«, erklärte er, »hätte er dich in der Morgenkonferenz in der Aula vorgestellt! Aber der kehrt erst Anfang der kommenden Woche zu uns zurück! Mein Name ist Lechner. Ludwig Lechner. Timon Süden hast du schon kennengelernt?«

Der junge Arzt schien sich unbehaglich zu fühlen. Er zog die Stirn kraus.

»Grüß Gott, Herr Lechner – Ludwig. Ich bin Doktor Pachmayr – also Amandus!«

»Ist es dir nicht recht, wenn wir uns duzen?«

»Im Prinzip schon. Ich befürchte aber immer, damit falsche Erwartungen zu wecken. Ich bin eben nicht so der gesellige Typ!«

»Nein?«, grinste Ludwig. »Schade. Du wirst hier einige Herzen brechen! – Sag mal: Pachmayr? Der Bauunternehmer, der die Häuser in der Unterleiten gebaut hat?«

»Das ist mein Vater!«

»Da hast du dir ja die richtigen Eltern ausgesucht, herzlichen Glückwunsch! Ach so, und eben hast du deine erste Reanimation hinter dich gebracht, Donnerwetter! Deine Feuertaufe! Zeig mal …«

Er schnappte sich die Unterlagen.

»O weh! Wusstest du das mit dem Bauchspeicheldrüsenkrebs? Ich schätze, der Mann wollte wegen seiner Schmerzen sterben! Also, unter den Bedingungen hätte ich eine Umdrehung langsamer gearbeitet, denke ich! – Na, egal. Trotz allem – ein herzliches Willkommen!«

*

Auf keinen Fall. Jetzt nicht. Zumindest nicht, solange Egidius nicht zurück war. Der landete am Samstag auf dem Flughafen München. Und so lange musste das Kind sich gedulden. Aua, nicht schon wieder!

Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen.

Sie versuchte, diese wegzuhecheln. Jetzt nicht, hörst du? Erst, wenn Papa wieder zu Hause ist!

»Doktor Graf von Falkenegg, bitte! Mein Name ist Sonntag. Corinna Sonntag, mein Mann und ihr Chef sind Kollegen!«

Was denn los wäre, wollte man am anderen Ende der Leitung wissen. Corinna berichtete von der überraschenden Wehentätigkeit, obwohl das Kind erst in zwei, drei Wochen erwartet wurde.

»Frau Sonntag, ich sage meinem Chef Bescheid. Packen Sie bitte ein paar Dinge zusammen und setzen Sie sich in das nächste Taxi. Nicht selbst fahren, hören Sie?«

Corinna versprach's der Helferin. Sie rief eins der lokalen Taxiunternehmen an. Der kleine Koffer stand gepackt im Schlafzimmer. Es galt nur, diesen irgendwie die Treppe herunterzubefördern, ohne zwischendurch das Kind zur Welt zu bringen. Ach verflixt! Egidius würde enttäuscht sein. Er wollte derjenige sein, der die Nabelschnur durchtrennte. Was blieb er auch so lange in den Staaten? Aber Moment mal: Wer holte ihn ab, während sie in der Klinik war? Er würde sich doch Sorgen machen, wenn er sie nicht erreichte! Weder Max noch Lukas wussten Bescheid, und da sie nicht in St. Bernhard entband, konnte ihm auch dort niemand Auskunft erteilen. Es war auch zu spät, Frau Fürstenrieder zu informieren. Die gab sich vermutlich gerade ihrem wohlverdienten Feierabend und Severin Pastötter hin. Eine komische Kombination, oder? Egal. Eine Bewertung stand ihr nicht zu, und solange Frau Fürstenrieder glücklich war, war ja auch alles in Ordnung.

Als die Hebamme ihr das verknautschte kleine Bündel mit den feuchten pechschwarzen Härchen auf den Bauch legte, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Die Kleine war Egidius’ Tochter. Die Ähnlichkeit war schon fast peinlich. Lukas kam sehr stark nach seiner Mutter Leonie, nur die Zähne und besonders die Hände hatte er von seinem Vater. Aber diese kleine Maus hier war das Ebenbild ihres Mannes.

»Liebe, gnädige Frau!«, rief Dr. von Falkenegg. »Das ist ja wirklich ein ganz zauberhaftes kleines Mädchen! Ich hoffe, dass Ihr Gatte sich nicht auf einen Stammhalter kapriziert hat!«

»Den hat er ja schon, Graf von Falkenegg! Mir war das Geschlecht egal. Hauptsache ein gesundes Kind. Und die Babyausstattung ist grün – in weiser Voraussicht!«

»Sehr klug, gnädige Frau! Ja, und ihre Tochter ist von einer robusten Konstitution und bemerkenswert erfreulichen Gesundheitszustand! Ich gratuliere von Herzen!«

Corinna betrachtete das kleine Mädchen liebevoll.

»Willkommen auf der Welt, Sophie«, sagte sie. »Ich wünsche dir allzeit Glück und Liebe und Frieden. Besonders Frieden. Die Menschen sind doch so klug. Vielleicht werden sie eines Tages auch gescheit.«

Aussprachen

Ausgerechnet. Woher wusste Anton, wo sie sich gerade aufhielten? Wie konnte sie ihre Schwangerschaft vor ihm verbergen? Moment! War das nicht sogar ein günstiger Zufall? Sie würde mit ihm schlafen, und wenn sie das Kind bekam, konnte sie immer behaupten, dass er der Vater sei! Genial!

Aber dann vergegenwärtigte sie sich das Bild von Sep … nein, Esfandar. Der Südländer par excellence, mit schwarzen Haaren, braunen Augen und dunklem Teint. Nein, Anton würde auffallen, dass dies Kind nicht von ihm sein konnte. Aber wer weiß? Vielleicht klappte der kleine Betrug?

»Anton, du bist ja total verrückt! Was veranstaltest du hier? Vermutlich habe ich in der kommenden Zeit noch mehr zu tun, weil jeder mich fragen will, wer der Mann ist, der sich meinetwegen aus einem Hubschrauber stürzt!«

»Ach, ich bitte dich! Kein Wind. Spiegelglatte See. Keine schwindelerregende Höhe. Meine Großmutter wäre dort herausgeklettert! – Du, ich habe großen Hunger! Meinst du, man serviert uns einen Imbiss?«

»Ich esse meist in der Offiziersmesse! Wie lange bleibst du?«

»Nur bis morgen. In Martinique gehe ich von Bord und fliege über Paris zurück! Ich wollte ja auch nur mal sehen, wie meine Schiffsärztin sich so macht! Wie sagtest du? Offiziersmesse?«

Um Himmels willen! Mit Sicherheit hatte Sepandar Dienst! Und warum bekam sie es nicht auf die Reihe, dass es sich um seinen Zwillingsbruder Es­fandar handelte? Irgendwie musste sie ihm ein Zeichen geben! Sie achteten zwar ohnehin auf Diskretion, Anton allerdings achtete auf Dinge, die niemand sonst sah. Und er war nicht leicht zu täuschen.

»Wir könnten auch versuchen, im Restaurant einen Tisch zu ergattern. Die Auswahl an Getränken ist dort entschieden besser.«

*

Der Abend im Restaurant verlief entspannt und in Harmonie. Dagmar plapperte munter wie ein Wasserfall. Anton freute sich. Ihre Entscheidung, die Enge ihrer Beziehung aufzubrechen, war offenbar richtig gewesen. So heiter hatte er seine Frau schon lange nicht mehr gesehen.

»Wo verbringst du eigentlich die Nacht?«, erkundigte sich Dagmar mit gespielter Sorge. »In einem der Rettungsboote, oder beim Käpt’n auf der Brücke?«

»Nun, ich dachte, dass die Koje meiner mir rechtlich angetrauten Gattin groß genug für zwei Personen ist?«

»Also, nach den Portionen, die wir eben verdrückt haben, dürfte das eng werden«, lachte sie. »Aber Probieren geht über Studieren!«

*

Sie hatten schon geschlafen. Ein Klopfen an ihrer Kabinentür weckte sie. Vorsichtig, um den leise schnarchenden Anton nicht zu wecken, erhob sie sich, schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

»Bist du wahnsinnig? Du musst gehen, sofort! Ich erkläre dir alles morgen!«, wisperte sie. Ja, konnte es denn sein, dass er wirklich nichts von der spektakulären Hubschrauberaktion ge­hört hatte?

Behutsam kroch sie zurück in ihr Bett. Anton schnarchte sein unaufdringliches, zartes Schnarchen.

*

»Was willst du von mir hören, Michael? Ich habe mich entschuldigt. Mehr als einmal. Und nicht nur so. Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe. Du hast das nicht verdient. Ich habe deine Freundlichkeit ausgenutzt, und das tut mir mehr leid, als ich es in Worte fassen kann. Ich weiß, dass du glaubst, dass ich dich weiter, nun ja, missbrauchen will. Aber ich schwöre dir, dass das nicht so ist, hörst du?«

Constanze war in sein Reich eingedrungen. Immer wieder hatte sie es versucht, eine Aussprache mit dem sensiblen Mann herbeizuführen. Er war ihr ausgewichen. Ausgewichen? Geflohen war er vor ihr. Hatte sich am Telefon verleugnen lassen. Ihre Anrufe auf dem Handy weggedrückt.

»Weißt du, was das eigentlich Schlimme an der Sache ist, Constanze?«, fragte Michael Barbrack. Er spielte mit einem Knopf seiner schneeweißen Küchenjacke. »Das Schlimme ist nicht, dass du mich für deine Zwecke schamlos missbrauchst. Das Schlimme ist, dass du keinen Respekt vor mir hast. Wie soll das gehen, mit uns beiden? Du hast mich als ›treuen Dackel‹ bezeichnet. Glaubst du, dass ich das jemals vergessen kann?«

Scheinbar desinteressiert ordnete er ein paar Töpfe und Vorlegegabeln.

Er hatte ja recht. Vielleicht tat es gerade deswegen so weh? Sie hatte ihr Herz an den Falschen gehängt. Andreas Stehr war ein Charmeur, ein Herzensbrecher. Gepflegt, attraktiv, hinreißend in seinen Umgangsformen. Aber er war eben kein Mann für eine einzige Frau. Und sie hatte keine Lust, ihn mit anderen zu teilen.

Michael war eben die graue Maus. Nur in seiner Küche lebte er auf und war plötzlich ein anderer Mensch. Dort gab es kein Problem, das er nicht zu lösen verstand. Das Bemerkenswerte war, dass er bei diesem Versöhnungs-Grillabend in ihrem Elternhaus, als sie ihn als Begleiter auserkoren hatte, zu einer ebenso überraschenden Form auflief und sich ihrem Vater gegenüber geradezu todesmutig präsentiert hatte. Ausgerechnet dem Staranwalt Sebastian Schickenreuth, vor dem alle zitterten, die mit ihm zu tun hatten. Da war sie zwar zunächst erschrocken, hatte ihn dann aber bewundert, weil sie ihm so viel Standfestigkeit gar nicht zugetraut hatte.

Er hatte sie angebetet. Sie war seine Traumfrau.

Und, zugegeben: Sie war es immer noch. Er hatte sie um ein Haar getötet, mit Bakterien im Tiramisu. Na gut, das war keine Absicht gewesen. Er hatte ihr aus der Verlegenheit geholfen. Er war solide, zuverlässig und ein charakterlich einwandfreier Mensch, der sogar mit ihrem unehelichen Söhnchen Leander gut auskam und mit dessen Atemwegserkrankung fertig wurde.

Sie bereute ihre Dummheit. Und sie schien keine Chance zu haben, ihn davon zu überzeugen, wie leid es ihr tat. Sie sah im fest in die Augen.

»Ich verstehe, dass ich dir weh getan habe. Soll ich dir was sagen? Ich habe nicht geglaubt, dass man dir überhaupt weh tun kann. Wäre ich nur halb so gut in meinem Beruf wie du in deinem, dann wäre ich wirklich glücklich und würde den ganzen Tag selbstsicher und mit hoch erhobenem Haupt herumlaufen. Ich bin auch besser geworden. Aber ich habe mir, als ich hier anfing, schon so einige Dinger geleistet. Du hingegen bist ein Meisterkoch. Man gibt dir eine Dose Kondensmilch, einen Schokoriegel und etwas tiefgefrorenen Schnittlauch, und du zauberst ein Drei-Gänge-Menü daraus. Ich habe nicht viel richtig gemacht in meinem Leben. Ich bin zwar gerade dabei, die Dinge zu korrigieren. Aber – der Mann, in den ich verliebt war und mit dem ich ein Kind habe, hat mich sitzen lassen. Mein Kind ist chronisch krank. Mein Vater war enttäuscht bei meiner Geburt, weil ich kein Junge war. Ich habe mich unmöglich benommen in St. Bernhard. Eigentlich verdanke ich es dir, dass überhaupt noch jemand mit mir spricht. Aus Mitleid. Wegen des Tiramisu. Und, ja, ich falle immer wieder auf Kerle rein, die so – glänzen, weißt du? Die so gut reden können. Guten Geschmack haben, gut aussehen.«

Ihre Augen füllten sich mit Wasser. Erschrocken beobachtete Michael, wie vereinzelte Tränen auf ihrem Weg in Richtung Kinn glänzend-feuchte Linien in ihrem Gesicht hinterließen. Sie sprach jetzt sehr leise.

»Vermutlich warst du meine letzte Chance, einen Mann kennenzulernen, der mich wirklich liebt. Und weißt du was? Ich habe es geschafft, sogar diesen sanften, freundlichen Mann, der es nur gut mit mir meinte, in die Flucht zu schlagen. Michael, ich brauche deinen Rat. Dringend. Offenbar bin ich gerade nicht in der Lage, die richtige Entscheidung zu treffen. Verstehe mich bitte nicht falsch: Ich mache hier nicht auf dummes kleines Frauchen, die ohne den Rat ihres Beschützers aufgeschmissen ist. Aber ich denke, wenn man ein Brett vor dem Kopf hat, darf man auch mal um Hilfe bitten, oder? Ich frage dich als Freund. Was soll ich tun? Es muss einen Weg geben, um um Verzeihung zu bitten. Es muss ein Wort geben, dass man ausspricht, und dann wird alles wieder gut.«

»Ein Wort?«, sagte Michael heiser und räusperte sich. »Wie im Märchen? So ein Zauberspruch, der alles wieder gut macht?«

»Ja. Oder wie in einem Liebesroman. Wenn die Heldin erkennt, dass sie sich geirrt hat, weil der Mann, von dem sie es nicht erwartet hätte, der einzige ist, der es wert wäre, für ihn zu sterben. Oder zu leben.«

»Und diesen Mann hast du getroffen?«, fragte er neugierig.

»Ja. Aber ich war zu dumm, um ihn festzuhalten. Und jetzt läuft er vor mir weg!«

»Dann lauf doch einfach hinter ihm her! Vielleicht holst du ihn ein! Wenn es der Richtige ist, dann liebt er dich doch auch! So ist das wenigstens immer im Märchen. Oder im Liebesroman.«

»Und wenn ich ihn einhole, was soll ich dann sagen?«

»Versuch’s doch einfach mit etwas Einfachem. ›Ich liebe dich‹!, zum Beispiel.«

»Ich liebe dich?«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich?«

»Ich liebe dich!«

Die Töpfe und Vorlegegabeln verharrten bewegungslos. Der Kühlschrank hielt die Luft an. Sogar der Wasserhahn vergaß einen Moment lang das Tropfen, als zwei Menschen, die endlich begriffen hatten, dass sie zueinander gehörten, sich in die Arme sanken.

Sprechen wir drüber!

»Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch! Ihre Frau war schon zu Besuch und hat berichtet! Aber eins muss ich sagen: Das war nicht schön von Ihnen, Herr Professor! Eine alte Frau so zu erschrecken!«

»Na na, Frau Fürstenrieder! Alt? Jetzt übertreiben Sie aber! Außerdem: Jeder ist zu ersetzen, glauben Sie es mir. Cortinarius hätte einen mehr als brauchbaren Vertreter abgegeben, und was glauben sie, wie viel Oberärzte sich wie Habichte auf diese wunderbare Stelle hier gestürzt hätten!«

Egidius lachte vergnügt.

»Das einzige, was mich traurig stimmt, ist, dass ich die Geburt meines Töchterchens verpasst habe! Aber die junge Dame war etwas zu voreilig! Wie haben uns um 24 Stunden verpasst!«

»Gott sei dank ist alles reibungslos verlaufen. Sie haben uns allen gefehlt, Herr Professor, und die Nachricht von dem Stellenangebot hat sich hier wie ein Lauffeuer verbreitet. Mein Telefon stand nicht still! Ihre Kollegen, Patienten … Sogar der neue Herr Landrat zeigte sich höchst besorgt!«

»Das ist aber sehr aufmerksam von dem neuen Herrn Landrat! Gut zu wissen! Dann habe ich wenigstens ein Druckmittel, wenn es darum geht, etwas für die Klinik durchzusetzen! Ich muss nur darauf hinweisen, dass ich in den Staaten ein vergleichsweise unbegrenztes Budget gehabt hätte!«

»Erlauben Sie mir die Frage, wie es Ihrem Sohn geht?«

»Ich bekomme nur bröckchenweise etwas aus ihm heraus. Immerhin redet er wieder mit mir. Die Pubertät, Sie wissen ja. Ich bin etwas wenig für ihn da gewesen in letzter Zeit. Und mit dieser Englandreise fühlte er sich abgeschoben.«

»Ein schönes Gefühl, wenn man weiß, dass die Kinder einen noch brauchen, oder, Herr Professor?«

Egidius grinste.

»Das ist ein permanenter Balanceakt zwischen ›Papa, ich brauche dich‹ und ›Papa, du bist voll peinlich‹! Aber diese Erfahrungen macht vermutlich jeder im Leben«, bemerkte der Chefarzt lachend. »Und zwar aus beiden Perspektiven! Sagen Sie, ist die Frage nach Ihrem Privatleben gestattet? Ich habe läuten gehört, dass der verehrte Herr Kommissar Pastötter Ihnen zugetan ist!«

Die Chefsekretärin errötete wie eine Sechzehnjährige. »So? Hört man das läuten, ja? Nun, Severin und ich verstehen uns wirklich gut.«

»Aha!«

»Nichts aha! Auf einer absolut geistigen Ebene!«

»Ach was!«

»Ja, so ist das. Ein rein platonische Freundschaft.«

»Ich verstehe!«

Das Grinsen in Egidius’ Gesicht grenzte an Unverschämtheit. Er zwinkerte vergnügt.

»Wieso zwinkern Sie denn, Herr Professor?«

»Ach, das … das muss ich mir wohl beim Flug zugezogen haben! Die Air Condition war etwas kühl!«

»Ah ja. Die Air Condition! Ja, daran muss es wohl liegen!« In diesem Moment klopfte es an der Tür.

»Herr Professor, ich hatte noch nicht das Vergnügen, mich Ihnen vorzustellen! Mein Name ist …«

»Amandus Pachmayr! Und sie wohnen in meinem kleinen Studentenwohnheim in Miesbach, stimmt’s?«

»Korrekt, Herr Professor! Ich bin überrascht, dass Sie sich meinen Namen gemerkt haben!«, erklärte der Arzt im Praktikum.

»Mein lieber Herr Pachmayr, das gehört nun mal zum Dasein eines Chefarztes dazu! Er muss seine Mitarbeiter kennen. – Und? Gefällt Ihnen die Arbeit?«

»Selbstverständlich, Herr Professor. Kürzlich hatte ich sogar eine Rea!«

»Erfolgreich?«

»Ja, natürlich.«

»Den Fall bereiten Sie bitte für die Besprechung morgen früh vor, Herr Pachmayr!«

»Selbstverständlich, Herr Professor!«

Herr Somnitz klopfte an die Tür.

»Als Vertreter der Verwaltung möchte ich Sie herzlich willkommen heißen!«, sagte er höflich.

»Danke!«, riefen Egidius und Amandus unisono.

»Wer denn jetzt?«, erkundigte sich Amandus verunsichert.

»Eigentlich beide!«, strahlte der Verwaltungsleiter. »Aber meine Glückwünsche zur Geburt des Töchterchens gehen exklusiv an Professor Sonntag!«

Egidius zwinkerte abermals.

»Wer weiß, wer weiß!«

»Dem schließe ich mich selbstverständlich an, Herr Professor«, beeilte sich Amandus Pachmayr zu sagen. »Mutter und Kind sind wohlauf? Ihre Gattin wurde doch sicher hier entbunden?«

»Nein, in der Privatklinik des verehrten Kollegen Graf von Falkenegg. Ein ganz hervorragender Gynäkologe, übrigens. Ja, danke, beiden geht es gut! Ich denke, meine Frau darf morgen schon heim!«

»Ich habe vernommen, Herr Professor, dass Ihre Frau sich für eine grüne Babyausstattung entschieden hat, trifft das zu?«, fragte Frau Fürstenrieder.

»Ja, sie wollte weg von diesen hellblau-rosa-Klischees!«

»Dann haben wir ja alles richtig gemacht«, freute sich die Sekretärin, und überreichte ihrem Chef ein recht umfangreiches Paket.

»Aber Frau Fürstenrieder! Was ist das denn? Das wäre doch wirklich …«

»Doch, das ist nötig gewesen. Jeder in der Klinik hat sich nach seinen Möglichkeiten beteiligt. Und Babys brauchen ständig Sachen zum Wechseln!«

»Jetzt bin ich ganz verlegen! Herzlichen Dank! Das ist wirklich rührend von Ihnen!«

Frau Fürstenrieder sah glücklich aus. »Nun fehlt bloß noch Herr Fahl! Aber der kommt Montag zurück, und dann sind wir bis auf Frau Dr. Schattenhofer wieder komplett!«

*

»Na, was glaubst du denn wohl, woher ich weiß, wo du bist?«

»Von Timon?«

Emmerich war zunächst sehr überrascht gewesen, als ihm der Besuch ›einer Kollegin‹ angekündigt wurde. Um welche Kollegin mochte es sich da handeln? In der Klinik waren alle sehr nett zu ihm, insbesondere der Chef schätzte ihn und zögerte nie, ihn für seine Arbeit zu loben und als leuchtendes Beispiel hinzustellen. Wie hatte er kurz vor seinem Unfall gesagt? »Mit Menschen, die mitdenken, kann man einfach am besten arbeiten.«

Aber so beliebt, dass man ihn besuchen würde, war er maximal bei Philipp und Chris.

»Marion! Das ist aber eine Überraschung!«

»Wieso? Ich hatte gedacht, dass wir Freunde sind!«

»Ja, schon, aber dass du diese Reise auf dich nimmst!«

»Ich habe das zunächst gar nicht mitbekommen, deswegen erscheine ich jetzt erst. Im OP hat man ja nicht so viel mit der Bäderabteilung zu tun! Aber jemand erzählte, du hättest einen Autounfall gehabt. Naja, und dann habe ich deinen Lebensgefährten gefragt. Der wollte anfangs so gar nicht raus mit der Sprache. Aber ich habe nicht locker gelassen!«

»Wir hatten gestritten. Und ich bin aus dem Haus gerannt und einfach losgedüst wie nichts Gutes. Und am Baum gelandet!«

»Ja, danke. Ich habe das arme Ding gesehen! Aber die Mönche haben die Wunde in der Rinde mit irgendeiner Art Kunstharz überzogen. Er wird es überstehen!«

»Und ich hab’s auch überstanden!«

»Das will ich hoffen! Du, ich brauche dich noch! Ich habe nicht so viele Menschen, mit denen ich reden kann! Was war denn bloß los bei euch?«

»Ach, ein dummer Streit. Timon lebt sein Leben!«

»Das kann man ihm ja wohl auch nicht verdenken!«

»Natürlich nicht. Aber ich würde gern daran teilhaben. Ich will ja nicht ständig hinter ihm her rennen. Aber es wäre schön, wenn er vorher erzählen würde, übrigens, ich treffe mich heute Abend mit XYZ, und ich komme sehr spät heim. Dann sitze ich nicht da wie Pik Sieben und warte mit dem Essen auf ihn!«

Schwester Marion stimmte zu, dass das nicht zu viel verlangt war.

»Naja, und dann kommt bei mir noch dazu, dass ich ja weiß, dass ich nicht so toll bin wie er. Wenn wir zusammen irgendwo hingehen, wird nur er angeschaut. Ich stehe wie das häßliche Entlein in seinem Schatten. Ich bin ja auch dankbar, dass er mich überhaupt genommen hat. Aber ich habe immer die Angst, dass er jemanden kennenlernt, der attraktiver, intelligenter, selbstbewusster ist als ich.«

Marion war verblüfft.

»Ich bin jetzt wirklich überrascht, Emmerich Fahl! Warum, glaubst du, lebt er mit dir zusammen? Denkst du, er hat dich als Pausenclown engagiert? Oder als Koch? Dir ist aber schon klar, dass er dir so gut wie alles verdankt nach seinem Schlaganfall, oder?«

»Ach nein, das stimmt doch gar nicht! Die Logopädin hat viel mehr Arbeit geleistet!«

»Depp, depperter! Wenn ich allein daran denke, wie du mich unterstützt hast. Du warst mir nicht nur Physiotherapeut, Emmerich. Du warst und bist mir der beste Freund, den ich mir wünschen kann. Bist du denn hinter ihm hergelaufen?«

»Nein, er hat mich gefragt, ob ich ihm beim Einrichten seiner Wohnung helfen kann, dann haben wir was getrunken, und es war zu spät heimzugehen … Naja, und so kam eins zum anderen!«

»Also war es seine Entscheidung! Hältst du es denn nicht für möglich, dass du ihm etwas bedeutest?«

»Ach, na ja … Er hat neulich mal was gesagt, dass ich die Nummer Eins in seinem Leben bin. Aber er verhält sich nicht so. Und ich kann das eben auch nicht wirklich glauben!«

»Warum sollte er es dir erzählen, wenn’s nicht wahr wäre?«

»Keine Ahnung. Mitleid?«

»Du hast wirklich keine Ahnung, oder? Wie sehr er dich liebt, meine ich. Wenn du sehen könntest, wie er durch die Klinik schleicht und wie traurig er guckt, würdest du das nicht sagen. Warum redet ihr eigentlich nicht miteinander? Übrigens, dieses Schweigen hat auch meine Ehe kaputtgemacht. Wir haben irgendwann aufgehört, miteinander zu sprechen. Und den gegenseitigen Respekt verloren. Zum Schluss war alles Routine geworden. Wir funktionierten. Und wir hatten vergessen, wie sich das anfühlt, glücklich zu sein. Hätten wir zur rechten Zeit mal gesagt, was wir von unserem Partner erwarten, mal angemeldet, was wir brauchen, wäre nie diese Gleichgültigkeit entstanden. Also: Du bittest ihn darum, dich an seinen einsamen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Und du glaubst ihm einfach, wenn er sagt, wie wichtig du für ihn bist. Ihr werdet überrascht sein!«

*

Timon war von Bruder Basilius angerufen worden. Emmerich wusste nichts davon, dass er gerade auf den vor dem Kloster gelegenen Parkplatz einbog, um ihn abzuholen.

»Meinen Sie, Bruder Basilius, dass er es wünscht, dass ich ihn abhole?«

»Ich bin kein Prophet, Herr Doktor Süden. Es kann sein, dass ich mich irre. Wir haben hier auch so eine Art Shuttle-Bus. Im Augenblick denkt er noch, dass er von uns zum Schliersee chauffiert wird. Wir werden sehen, wohin es ihn zieht, wenn er da Sie und dort mich sieht!«

»Sie haben ihn gern, oder, Bruder Basilius?«

»Er ist einer der wunderbarsten Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Er hat ein reines, gutes, unschuldiges Herz. Und er denkt mehr an andere als an sich selbst.«

»Hat er … Ich meine … hat er über mich … also, über uns …?«

»Ob er über Sie und Ihre gemeinsame Beziehung gesprochen hat?«

»Ja.«

»Oh, das hat er. Oft sogar. Eigentlich hauptsächlich.«

»Und?«

Bruder Basilius lachte.

»Beichtgeheimnis, Herr Doktor. Aber vielleicht reicht Ihnen ja schon die Tatsache, dass ich Sie anrufe und bitte, ihn abzuholen. Ich bin sicher, seine Wahl zu kennen.«

»Ich stehe in Ihrer Schuld, Bruder Basilius. Ich würde Ihnen so gern etwas Gutes tun zum Dank. Aber ich glaube, dass Sie keine Geschenke annehmen dürfen, oder?«

»Meine Belohnung liegt in Ihrer Dankbarkeit und in dem Umstand, einem Menschen wie Emmerich begegnet zu sein. Es gibt zwischen uns keine Schuld. Aber vielleicht begegnen Sie einmal jemandem, der unglücklich, hungrig, einsam ist. Wenn Sie dann an mich denken und diesen Menschen aufrichten, wäre das wunderbar.«

»Ich glaube, ich verstehe, warum Emmerich sich bei Ihnen so wohl gefühlt hat«, erklärte Timon. »Sagen Sie … Falls es mir einmal schlecht gehen sollte, meinen Sie …«

»Denen, die Hilfe suchen, stehen unsere Türen immer offen«, erwiderte Bruder Basilius.

*

Ja, und nun stand er links vom Eingang des Klosters. Der dunkelblaue Kleinbus mit der Aufschrift ›Kloster Benediktbeuern‹ parkte rechts.

Bruder Basilius öffnete die Tür und gab den Blick auf Emmerich frei. Dieser bewegte sich zielsicher auf den Bus zu.

»Emmerich!«, rief Timon.

Der Angesprochene fuhr zusammen. Sein kurzes Zögern währte nur Bruchteile von Sekunden, auch wenn sie für Timon eine Ewigkeit zu dauern schienen. Mit wenigen Sätzen war er bei ihm, ließ die Tasche fallen und hielt ihn im Arm.

»Ingwer und Koriander«, flüsterte er, an dessen Haar riechend. »Kaum zu glauben, wie sehr mir das gefehlt hat! Ich lass dich nie wieder los.«

Bruder Basilius hatte die Szene beobachtet. Sein Herz war erfüllt von Freude. Und Dankbarkeit.

»Herrgott, Vater im Himmel!«, betete er für sich, »wie wunderbar ist Deine Schöpfung. Und es ist genauso, wie der Apostel Paulus an die Korinther schreibt. Die Liebe ist das Größte.«

*

»Hast du dich schon um einen Platz bei der Schülerhilfe gekümmert, Lukas?«, erkundigte sich der Chefarzt bei seinem Sohn.

»Nö. Warum?«

»Nachhilfestunden. Das mit England hat ja leider nicht geklappt, was ich persönlich sehr schade finde. Aber egal: Englisch braucht man heutzutage. Wir leben in Europa, und zwei Sprachen müssen junge Menschen fließend beherrschen: Englisch und Spanisch.«

Lukas schwieg und schnibbelte ein Stück vom Rand seiner Pizza. Gott sei Dank kommt Corinna morgen heim, dachte Egidius. Dann kehren endlich wieder normale Verhältnisse ein!

»Sei so lieb und kümmere dich, ja?«

»Kein Bock auf Englisch. Voll aggro, die Leute!«

»Du meinst, mit den Butterfields bist du nicht gut ausgekommen? Ich habe einmal mit ihr telefoniert! Sie schien mir doch ganz nett zu sein!«

»Die Bitch, ey!«

»Bitte rede nicht so, Lukas. Du hast es deiner Gastfamilie auch nicht besonders einfach gemacht, dich ins Herz zu schließen. Und das Council of International Contact hat mich darauf hingewiesen, dass eine erneute Anmeldung nicht möglich sei, angesichts deiner Verfehlungen.«

Ungerührt stopfte Lukas in weiteres Stück Pizza in seinen Mund. Egidius versuchte, ihm seine Hand auf die Schulter zu legen. Lukas wich der Berührung mit angeekeltem Gesichtsausdruck aus.

»Ich weiß, Lukas, dass ich wenig Zeit für dich hatte. So geht das, wenn man Menschen für selbstverständlich hält. Man vergisst, ihnen zu sagen, dass man sie lieb hat. Man versäumt festzustellen, wie stolz man auf sie ist. Das ist meine Schuld. Aber hättest du mir nicht helfen können? Ich bin Chefarzt. Das kann ich. Als Vater bin ich eher wohlmeinender Amateur!«

»Du hast mich weggeschickt!«

Lukas sagte dies mit heiserer Stimme und enttäuschtem Unterton.

»Ich habe es gut gemeint, Lukas. Ich hatte gedacht, dass du dich freust. Warum hast du nichts gesagt?«

Der Junge beantwortete die Frage achselzuckend.

»Weiß nicht!«

Es entstand eine weigere Pause. Die Pizza war vertilgt.

»Sag mal, mein Junge … Das mit den Drogen – das ist doch erledigt, oder? Falls nicht – ich hab das gute Beziehungen zu einem Therapeuten …«

»Mann, Papa! – Ich geh mal Musik hören!«

»Wollen wir nicht zusammen …?«

Lukas sah seinen Vater mit schräg gehaltenem Kopf mitleidig an.

»Muss ja nicht«, erklärte dieser entschuldigend. Der Junge zog sich zurück.

Er würde in seine Welt abtauchen, in den Schutz seiner Kopfhörer, die man neudeutsch Over-Ear-Headphones nannte. Damit war er unerreichbar. Diesen Fehler durfte er bei seiner Tochter nicht machen, auf keinen Fall. Auch für Lukas hatte er immer da sein wollen. Aber im entscheidenden Moment hatte er versagt. Er hatte entschieden, was er für das Beste hielt. Und es war keine Entschuldigung, dass der Junge nicht geredet hatte. Er hätte zuhören müssen. Begreifen können. Ohne Schuldzuweisungen. Er schien immer über alles informiert zu sein. An allem teilzunehmen. Zu allem einen Kommentar abgeben zu können. Er war ein wenig wie Gott, der über den Wassern schwebte. Jeder, der ihn beobachtete, würde annehmen, dass er hundertprozentig zugewandt und fokussiert war. Aber das stimmte nicht. Das galt nur für seinen Beruf. Im Privaten war er ein Blender.

Wieder einmal stellte er fest, dass ein akademisches Studium und der Erwerb von Titeln nicht immer nützt, und dass Wissen und Bildung leider ausgesprochen relativ sind.

Elisabeths Platzerl

Wer die Geschichte nicht kannte, hätte im Leben nicht angenommen, dass der Herr und die Dame am Nebentisch, die vergnügt mit ihrem Töchterchen schwatzend den für die Jahreszeit obligatorischen Zwetschgendatschi mit viel Schlagsahne verdrückten, sich noch bis vor Kurzem spinnefeind waren. Leider ist es oft so, wenn Eltern sich trennen. Selbst, wenn man in einem jähen Anfall von Vernunft beschlossen hatte, einander freundschaftlich verbunden zu bleiben, des Kindes wegen. Dann kommen irgendwelche materiellen Forderungen, und die Laune sinkt auf den Gefrierpunkt. Und wenn gar einer der beiden Kontrahenten eine neue Partnerschaft eingeht, dann ist es vorbei mit der Herrlichkeit.

Schnell verliert der Satz, den man den Kindern zum Trost sagt, an Wert und Gültigkeit. ›Es ist zwar so, dass Mama und Papa sich nicht mehr lieb haben, aber wir bleiben natürlich immer deine Eltern‹, sagt man gern. Faktisch mag das stimmen. Und Trennungen sind sicher sinnvoll, denn Kinder leiden nicht nur darunter, dass Eltern auseinandergehen. Oft ist es sehr viel schwieriger für die Kleinen, täglich Zank, Streit und Sticheleien zu ertragen. Kinder spüren sehr wohl, dass da was nicht stimmt, selbst wenn man bestrebt ist, nicht in deren Anwesenheit zu kämpfen.

Durch all diese Stadien waren der Herr Oberarzt und seine Lebensgefährtin auch gegangen. Und das wäre vermutlich bis in alle Ewigkeit so geblieben, wenn ihr gemeinsames Kind, Felicitas, nicht so klug und beherzt die Wiedervereinigung der Erwachsenen vorangetrieben hätte. Und wenn nicht ihre Mutter begriffen hätte, dass ihre Verweigerungshaltung letztlich nur dazu geführt hatte, dass die Tochter sie ablehnte.

Felicitas aber war glücklich. Auch, wenn ihr Papa sich nach solchen Tagen immer wieder verabschiedete und sie mit ihrer Mama nach Hause ging, das geschah nie, ohne dass ein neues Treffen verabredet worden war, mit der Aussicht auf einen weiteren, harmonischen, lustigen Nachmittag oder Abend.

*

»Himmel, ist die süß!«, hatte Cortinarius ausgerufen. Das war nun mal so, im Kreis Miesbach. Man ging irgendwo hin und sah mit Sicherheit Menschen, mit denen man bekannt, verwandt oder verschwägert war. So geschah es auch an diesem schon etwas herbstlich anmutenden Spätsommertag, an dem der halbe Landkreis sich in einem der beliebtesten Cafés traf: Elisabeths Platzerl.

»Nein, Schatz. Völlig illusorisch, mit dem Kinderwagen drinnen einen Platz zu ergattern. Hier, der Tisch an der Ecke ist doch perfekt! Da stört das Ding auch niemanden! – Ach! Schau mal, wer da kommt! Dein bestes Pferd im Stall!«

Cortinarius lachte.

»Das hat wirklich noch nie jemand zu mir gesagt, Frau Sonntag! Habe die Ehre, Herr Professor! Darf ich Ihnen meine Frau … also, Ex-Partnerin … Felicitas’ Mutter eben, vorstellen?«

Corinna und Egidius begrüßten die junge Frau herzlich, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

»Wollen Sie nicht der Einfachheit halber an unserem Tisch Platz nehmen? Für Felicitas organisieren wir noch einen Stuhl!«

Egidius zog mit Erlaubnis der Herrschaften vom Nebentisch einen freien Stuhl heran, auf dem sich des Oberarztes Töchterlein niederließ. Die Konversation zwischen den Damen drehte sich um Schwangerschaft und Geburt, Babyausstattung, Windeln und Babynahrung. Die Herren sprachen über Egidius’ USA-Aufenthalt und erörterten einige aktuelle Fälle aus der Klinik.

Nur wirklich scharfen Beobachtern, so wie Corinna Sonntag, fiel auf, dass Felicitas’ Mutter plötzlich nervös wurde. Ihr Blick, der während ihrer Konversation auf Corinna geruht hatte, flackerte plötzlich unruhig und schien ein anderes Ziel zu fixieren. Corinna hätte sich umdrehen müssen, um das Objekt ihres Interesses zu sehen, fand dies aber ungehörig.

Dann änderte sich ihr Verhalten erneut. Ihre Aufmerksamkeit war nun wieder ungeteilt.

»Sag mal, ist dir jemand aufgefallen, der in meinem Rücken gesessen hat? In Blickrichtung der Ex deines Oberarztes? Irgendetwas oder irgendjemand hat sie gesehen, das ihre Konzentration völlig in Anspruch nahm.«

»Nein, Schatz! Ich war so in dass Gespräch mit Cortinarius vertieft, ich habe überhaupt niemanden wahrgenommen!«

*

»Ich habe einen Riesenschreck bekommen, als du plötzlich aufgetaucht bist! Musste es denn ausgerechnet das Elisabeths Platzerl sein? Du wusstest doch, dass ich mit Feli und Kilian heute dort sein würde!« Es war recht kühl, auf dem Balkon, auf den sie sich zum Telefonieren zurückgezogen hatte. War ja nicht nötig, dass das Kind alles mitbekam. Aber sie bereute, ihre Strickjacke nicht angezogen zu haben.

Die Person am anderen Ende der Leitung rechtfertigte sich hastig, so viel war dem quäkenden Geräusch, dass an das Ohr der Nachbarin auf dem Balkon über dem Ihren drang, zu entnehmen.

»Nein, natürlich ist es nicht schlimm. Aber es ist auch nicht nötig, dass Kilian Bescheid weiß. Immerhin ist er …«

Wieder erklang das Quaken aus dem kleinen Lautsprecher.

»Ja, genau. Und ich möchte einfach nicht, dass es zu irgendwelchen Querelen kommt!«

Ihr Gesprächspartner schien dies zu akzeptieren. Die Geräusche klangen nicht mehr so hektisch und schroff.

»Du, ich bin hier auf dem Balkon, und mir ist wirklich kalt. Wir sehen uns morgen. Feli übernachtet bei Kiilian!«

*

»Also, wenn du mich fragst, ich finde, Cortinarius und seine … sag mal, wie heißt sie eigentlich? Ich habe keinen Namen mitbekommen!«

»Keine Ahnung! Dein Oberarzt hat sie nur als seine Ex-Frau vorgestellt, nicht mit ihrem Namen!«

»Na, egal! Also, wenn du mich fragst: Warum heiraten die beiden eigentlich nicht? Die schienen sich doch glänzend zu verstehen, oder?«

»Egidius, nicht wieder lieber Gott spielen. Es fragt dich ja auch niemand. Die beiden haben es versucht, und es hat nicht geklappt!«

»Nicht geklappt? Immerhin ist aus dieser Verbindung ein bezauberndes Kind hervorgegangen! Und die beiden sind doch sozusagen auch herangereift. Für das Töchterchen wäre es bestimmt am besten, wenn die Eltern sich aussöhnten. Gleich morgen werde ich mal meinem Oberarzt einen Floh ins Ohr setzen!«

»Schatz, bitte! Lass es bleiben! Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen! Oder fühlst du dich chronisch unterbeschäftigt? Dann habe ich eine schöne Aufgabe für dich! Deine Tochter braucht dringend eine neue Windel!«

Sie näherte ihre Nase der Körpermitte des Kindes, und rümpfte sie.

»Pfui Deibel!«, stöhnte der Chefarzt. »Muss ich das auch tun, obwohl ich Chefarzt und ärztlicher Direktor bin?«

»Gerade dann«, sagte Corinna streng. »Du hast Vorbildfunktion. Die Jungs lernen von dir!«

»Aber die sind doch gar nicht da!«

»Keine Ausreden!«

Seufzend machte sich Egidius an die Arbeit.

»Aber das werde ich später gegen sie verwenden, so viel steht fest!«, erklärte er. »Wenn sie ungezogen ist, werde ich Sätze vom Stapel lassen wie ›Das ist nun der Dank dafür, dass ich mitten in der Nacht aufgestanden bin und deine Windeln gewechselt habe!‹!«

»Schatz, es ist nicht mitten in der Nacht. Es läuft noch nicht einmal die ›heute‹-Sendung!«

»Mann, bist du aber pingelig!«

(Ent-)Täuschungen

»Bei Anton muss man immer mit allem rechnen, Sep … Esfandar! Das ist ja auch einer der Gründe, weswegen ich ihn geheiratet habe! Er ist immer für eine Überraschung gut! Und ich befürchte, dass es mir gelungen ist, mir selbst vors Schienbein zu treten und meine Ehe kaputtzumachen!«

»Mensch, Dagmar! Statistisch liegt die Zahl der Kuckuckskinder bei durchschnittlich 2%! Warum sollte er nicht dazu gehören?«

Anton war in Martinique von Bord gegangen, in seinem Smoking. Dagmar hatte sich darüber mokiert, und war noch vormittags mit ihm in die Boutique gegangen, um ihm weniger prätentiöse Kleidung zu besorgen. Leider waren jeweils die Hosen zu lang und die Ärmel zu kurz und eine Änderung auf Grund der Kürze der Zeit nicht möglich. Er nahm es gelassen.

»Ich bin mal für Daniel Craig eine Woche lang Stunt-Double gewesen. Da bin ich die ganze Zeit in so einer Montur herumgelaufen!«, hatte er festgestellt.

»Aber Esfandar! Hältst du Anton für blöd? Meinst du nicht, dass dein Kind einen etwas … sagen wir mal … dunkleren Hautton aufweisen könnte? Anton hat eine schon fast provozierend helle Haut!«

»Na gut. Dann bekommst du es, gibst es mir, und ich kümmere mich darum. Du kannst es besuchen, wann immer du willst. Und dein Mann muss nichts erfahren!«

»Mein Kind wächst bei seiner Mutter auf, Esfandar. Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass es von mir getrennt ist. Ich bin selbst bei fremden Menschen groß geworden. Mein Kind soll eine Mutter und einen Vater haben!«

»Ich bin ja kein fremder Mensch, Dagmar. Und ich sehe nicht, wie du das Problem lösen willst.«

»Darüber will ich jetzt einfach nicht nachdenken. Dafür ist genug Zeit, wenn es da ist. Hetz’ mich nicht!«

*

Mit einem gut gelaunten »Grias Gott!« hieß Egidius die Mitarbeiter in der Frühkonferenz willkommen, die den diensthabenden Kollegen die Möglichkeit eröffnete, aus den Nachtdiensten zu berichten. Im weiteren fand ein reger Informationsaustausch statt, über neue Therapieformen, gesetzliches Bestimmungen, besondere Fälle.

»Ich darf heute offiziell unseren AiPler, Herrn Amandus Pachmayr, begrüßen, der bereits seine Arbeit in der Zeit meiner Abwesenheit aufgenommen hat. – Sie werden ihn aus der Notfallambulanz kennen. Und dann hat sich eine künftige Kollegin hier für ein zweimonatiges Praktikum beworben, und ich bin auf diese Bewerbung sehr gern eingegangen. Frau Sydonie Scharnagl wird künftig in unserem Hause hospitieren. Ich darf die erfahrenen Kollegen bitten, den jungen Kollegen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen!«

»Das geht aber nur, wenn die jungen Kollegen uns um Rat fragen und nicht eigenmächtig handeln!«, knurrte Ludwig.

Egidius sah überrascht zu ihm herüber.

»Ludwig? Was erregt deinen Unmut?«

»Es handelt sich um die Reanimation, die ich gestern durchgeführt habe«, kam Amandus Pachmayr seinem Kritiker zuvor. »Der Patient wollte seinem Leben mit Tabletten ein Ende setzen. Ich wusste nicht, dass er unter einem fortgeschrittenen Stadium eines Pankreaskarzinoms leidet. Hätte ich es gewusst, hätte ich die Entscheidung zur Reanimation vermutlich nicht getroffen.«

»Das ist wirklich ein schwieriger Fall, Herr Pachmayr«, stellte Egidius ruhig fest. »Sie sahen sich zum raschen Handeln gezwungen, und mit etwas mehr Erfahrung hätten Sie bemerken können, dass bei der ausgeprägten Kachexie des Patienten hier vermutlich eine maligne Erkrankung vorliegt. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen. Auch du nicht, Ludwig. Selbstverständlich sind wir immer und unter allen Umständen verpflichtet, Leben zu erhalten. In diesem Fall allerdings führt unser Eingreifen dazu, dass der Patient zweimal stirbt. Ich bin der Überzeugung, dass es reicht, einmal diese Welt zu verlassen.«

Auf dem Weg aus der Aula beeilte sich Amandus, Ludwig, der dicht an der Tür saß, einzuholen.

»Hab ich dir irgendwas getan?«, fragte er. »Warum schwärzt du mich beim Chef noch an? Ich weiß doch, dass ich einen Fehler gemacht habe!«

»Einen unnötigen Fehler«, knurrte Ludwig grimmig. »Aber du musstest dich ja unbedingt als Lebensretter hervortun. Ich hasse es, wenn man den Beruf ausübt, nicht um den Patienten zu helfen, sondern um sein mickriges Ego aufzupolieren!«

»Mickriges Ego? Du kennst das Sprichwort vom Glashaus und dem Steinewerfer, oder? Wie sieht es denn aus, Herr Lechner? Da kommt ein kleiner Berufsanfänger wie ich, ohne Erfahrung, am Beginn seiner Laufbahn. Und führt mal eben eine Reanimation durch, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Und wieviel erfolgreiche Reanimationen gehen auf Ihr Konto, Herr Kollege?«

Er traf da einen wunden Punkt. In der Tat hatte Ludwig bisher noch keine Wiederbelebungsmaßnahme selbstständig durchgeführt.

»Das dachte ich mir!«, stellte Amandus Pachmayr fest. »Das dachte ich mir! Der pure Neid!«

Noch bevor Ludwig etwas einwerfen konnte, zischte Amandus ärgerlich: »Sehen Sie? Deswegen duze ich mich so ungern mit Menschen, die ich nicht weiter kenne. Und in unserem speziellen Fall schlage ich vor, dass wir zum ›Sie‹ zurückkehren, Herr Lechner!, Oh, und passen Sie gut auf, dass Ihnen kein Versehen unterläuft! Die Frühbesprechung findet jeden Tag statt!«

»Wenn Sie Krieg wollen, Herr Pachmayr, bekommen Sie Krieg! Ich komme aus kleinen Verhältnissen und habe mir alles im Leben erkämpfen müssen! Glauben Sie nicht, dass ich mich von Ihnen einschüchtern lasse!«

Die Herren hatten die Notfall-Ambulanz erreicht und begaben sich in ihre Räume.

»Ihnen auch einen recht schönen guten Morgen, meine lieben Doktoren!«, rief Schwester Nasifa über den Flur. »Guten Morgen, Schwester Nasifa«, fuhr sie in normaler Lautstärke fort. »Schön, dass Sie heute unsere Arbeit unterstützen. Übrigens: Ihre neue Frisur steht Ihnen ganz fabelhaft!«

*

Hatice war ärgerlich. So ein schöner Tag, wirklich! Ein wunderschöner, warmer Spätsommertag. Nur vereinzelt sah man Herbsttöne aus dem satten Dunkelgrün des Sommers hervorblicken. Die Obstbäume, Apfel, Birne und vor allem die Zwetschge, überboten sich gegenseitig mit ihren Früchten. Über allem dehnte sich ein hellblauer Himmel aus, dem einige harmlose Wölkchen Charakter verliehen. Alles in Allem: Kein Tag, um auf dem Friedhof zu liegen! Ein ausgedehnter Waldspaziergang, bei dem man Schwammerl suchen konnte. In einem Straßencafé sitzen und Leute beobachten. Auf einer Wiese sitzen, sich bei den Händen halten, und sich liebevoll in die Augen schauen. Dazu war dieser Tag gemacht.

»Und was tue ich? Ich sammle verblühte Blumen von deinem Grab, gieße Rhododendron und Buchsbaum und harke die Erde, die dich bedeckt. Soll ich dir was sagen? Ich habe überhaupt keine Lust zu dem Blödsinn. Ich weiß genau: Du hättest dich lustig gemacht und gesagt, alles muss seine Ordnung haben. Und dann hättest du mich ausgelacht und gefragt, ob diese Verbissenheit ein Resultat meines Pädagogikstudiums ist! Und ich hätte dich ›Dumme Gans!‹ geschimpft, und mindestens 30 – ach, was sage ich – 60 Sekunden kein Wort mehr mit dir gesprochen!

Und du? Du lässt mich hier allein zurück, mit einer Handvoll der schönsten Andenken und einem Herz, das mit jedem Schlag deinen Namen flüstert. Ich bin dankbar für diese Erinnerungen, weil sie so kostbar sind, und ich habe Angst vor ihnen, weil sie mir wehtun.«

Sie betrachtete ihr gärtnerisches Werk und nickte zufrieden. Dann verstaute sie die kleine Harke und die häßliche grüne Plastikgießkanne hinter dem Grabstein der Nachbarin, von der sie sich diese Utensilien ausgeliehen hatte.

»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde«, ertönte eine Stimme hinter ihr.

Sie fuhr zusammen.

»Birte! Hast du mich erschreckt! Es hätte nicht viel gefehlt, und du hättest mich direkt neben ihr vergraben können!«

»Das wäre aber schade gewesen«, raunte Birte. »Sehr, sehr schade.«

Ungeschickt versuchte sie, Hatices Hand zu ergreifen. Diese zog sie zurück und wandte sich ab.

»Birte, bitte hab Verständnis, aber – das ist für mich eindeutig zu früh. Ich habe die letzten Monate noch nicht verarbeitet. Es ist einfach zu viel passiert.«

Die Krankenschwester nickte verständnisvoll.

»Ich kann das nachempfinden, Hatice. Aber bitte denk daran, dass das Leben weitergeht. Und es soll weitergehen mit Frohsinn und Lachen und erotischer Begier. Du lebst ja noch, und du musste dein Leben genießen! Und du wirst Hilfe brauchen, um das Kind aufzuziehen! Ich dachte da an jemand Professionellen. Zum Beispiel eine staatlich geprüfte Kinderkrankenschwester!«

Hatice lächelte sie an. Sie machte eine Geste unbestimmter Bedeutung. Laut sagte sie: »Du hast vermutlich recht!«

Ja, vielleicht hatte Birte wirklich recht. Sie konnte ja nicht wissen, was in ihr vorging. Wie immens der Verlust war, den sie erlitten hatte. Veronika war ihre erste Frau gewesen. Nicht, dass ihr nicht schon die eine oder andere Freundin oder Kollegin gut gefallen hätte. Aber sie hatte sich nie eingestehen können, dass sie das eigene Geschlecht bevorzugte. Keine war es wert, die Konfrontation mit den Überzeugungen ihrer Mutter, der Tradition, der Religion und, ganz besonders, sich selbst, auf sich zu nehmen.

Dann war sie Veronika begegnet. Und schlagartig änderte sich alles. Veronika war so vielschichtig. Gebildet und albern. Sarkastisch und mitfühlend. Ihre Kurven waren faszinierend. Wie sie Vronis Körper liebte! Weich, warm, mütterlich und von einem sinnlichen Zauber, der ganz im Gegensatz stand zu dem aktuellen knochigen Schönheitsideal.

Sie fand nun endlich zu sich selbst. Sie ging nicht hausieren mit ihrem Coming out, aber sie bewegte sich höchst selbstsicher, mit der größtmöglichen Selbstverständlichkeit, durch ihr Leben. Wer sie darauf ansprach, dem begegnete sie nicht mit den üblichen Phrasen, dass sie den Richtigen noch nicht gefunden hätte, das überließ sie ihrer Mutter. In der Schule hatte eine neidische Kollegin gerüchteweise verbreitet, dass sie sie in eine stadtbekannt einschlägige Kneipe hatte gehen sehen. Das wäre zutreffend, hatte sie freundlich erwidert. Und gefragt, ob die Kollegin noch weitere Informationen über ihr Privatleben wünschte.

Einzig die Entscheidung, Veronika ihrer Mutter vorzustellen, hatte sie aufgeschoben. Wie überrascht sie war, dass Ayse so entspannt mit allem umging! Und wie unkompliziert sie Vroni begegnete!

Frohsinn, Lachen, erotische Begier, hatte Birte prophezeit. Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein. Das war weit entfernt. Sie haderte nicht mit dem Schicksal. Sie war dankbar für die Zeit mit Veronika. Aber der Gedanke, dass ein anderer Mensch nahtlos deren Platz einnehmen könnte, erschien ihr verwegen.

»Lass mir bitte Zeit, Birte. Ich muss ein Kapitel beenden, bevor ich ein neues beginnen kann. Ich danke dir sehr. Es ist schön, wenn man weiß, dass man nicht allein ist auf der Welt. Und außer den Vätern des Kindes selbst würde ich es niemandem lieber anvertrauen als dir!«

*

»Der Typ ist ein Arschloch!«

So wütend hatte man Ludwig überhaupt noch nie erlebt. Sydonie hatte kurz überlegt, sich zwischen die beiden Streithähne zu stellen. Aber beide stürmten in ihre Behandlungsräume, und sie hatte sich Ludwig angeschlossen.

»Ludwig, du machst mir Angst! Du bist so ein liebenswürdiger Mensch! Ich kenne doch ja gar nicht wieder! Amandus hat dir doch gar nichts getan!«

»Amandus? Seid ihr schon per du? Ich dachte, der Herr duzt sich nicht mit Kreti und Pleti!«

»Ich … Also, er hat mir das ›Du‹ angeboten. Er sagte, dass sei so üblich hier in der Klinik!«

»Eine Frechheit! An dich wanzt er sich heran! Als ob er irgendwelche Ansprüche an dich hat! Skandalös!«

Sydonie beschwichtigte. »Niemand hat irgendwelche Ansprüche an mich. Amandus nicht. Du nicht. Niemand.«

»Gut, dass du das noch einmal betonst. Natürlich besitze ich dich nicht. Aber ich dachte, dass da mehr zwischen uns wäre …«

»Ich mag dich, Ludwig, wirklich. Aber wir kennen uns doch kaum!«

»Ich liebe dich! Und das reicht mir. Schade, wenn es dir nicht genug ist!«

»Wie kann man nach so kurzer Zeit sagen, dass man jemanden liebt? Du weißt doch gar nichts von mir!«

»Ich weiß genug, um sagen zu können, dass du mir mehr als alles bedeutest!«

»Ludwig, das geht mir einfach zu schnell. Du verrennst dich da in etwas! Lass uns doch erst einmal ein gemeinsames Fundament finden!«

»Ich dachte, das hätten wir bereits«, bemerkte Ludwig grimmig. »Egal. Macht nichts. Wie sieht es aus? Gehen wir zusammen ins Theater? Oder möchtest du lieber mit Amandus …«

»Idiot!«, schimpfte Sydonie.

»›Passen Sie auf, dass Ihnen kein Versehen unterläuft!‹ Dieser Flegel! Spricht Drohungen aus! Was bildet der sich überhaupt ein?«

Ludwig hatte sich in Rage geredet. Zum Glück kündigte Schwester Nasifa den nächsten Notfall an, der sich als Nierenstein herausstellte. Nachdem der Patient verarztet war, transportierte die Schwester drei Becher Kaffee heran.

»Aua, heiß, heiß, heiß! Bitte, nimm mir mal jemand die Becher ab!«

»Sie könnten sich auf dem Oktoberfest glatt ein schönes Zubrot verdienen, Nasifa!«, lachte Ludwig. »Außerdem sind die Maßkrüge nicht so heiß!«

»Hier bleibe ich«, erklärte die Schwester. »Hier wird wenigstens mal gelacht!«

»Worüber wird gelacht?«, fragte Timon Süden, der in diesem Moment um die Ecke schaute.

»Nur so«, behauptete Ludwig. »Spaß an der Freude. Irgendjemand muss ja die gute Laune aufrechterhalten. Und mit diesem neuen – Kollegen – haben wir diesbezüglich sicher keine Trumpfkarte gezogen!«

»Sei sanft, Ludwig. Schau mal, ich bin ja auch noch nicht sooo lange hier. Und ich war dankbar, dass alle so nett zu mir waren!«

»Ich habe ja versucht, nett zu sein«, grollte Ludwig. Aber nett sein macht nur dann Sinn, wenn es beide sind, oder?«

»Du hast ihn auf einen Fehler aufmerksam gemacht, und er glaubt, dass du es dem Chef gepetzt hast. Das nimmt er dir übel, verständlicherweise.«

»Er sollte dankbar sein für jede Belehrung! Der Chef meckert nicht, schreit nicht rum, kanzelt einen nicht ab. Der Chef belehrt dich freundlich. Und diskutiert mit dir auf Augenhöhe.«

»Das weiß doch aber Amandus nicht«, beschwichtige Timon seinen jungen Kollegen. »Stell’ dir vor, dass du irgendwo ganz neu bist, und zum Einstand kommt so ein Problem auf dich zu. Der Junge war einfach verunsichert.«

»Vielleicht können wir alle zusammen zum Mittagessen gehen. Michael Barbracks köstliches Menü dürfte in der Lage sein, eine friedliche, versöhnliche Atmosphäre zu begünstigen«, schlug Sydonie vor.

Neue Menschen

Pfarrer Ettenhuber säbelte mit einer normalen Gabel ein Stück von seiner Flockensahne-Torte ab. Er hatte extra den Umweg über das Café ›Winkelstüberl‹ gemacht, um sich ein kleines Kuchentablett zusammenstellen zu lassen. Er verschmähte Kuchengabeln. Ohnehin aß er lieber mit Esslöffeln oder normal dimensionierten Gabeln. Genuss bedeutete für ihn vor allem viel von Etwas. Und da die Flockensahne auf der Basis eines leichten Brandteiges beruhte, bereitete ihm das Verputzen der Köstlichkeit keinerlei Problem.

Er bereitete gerade die Sonntagspredigt vor. Epheser 4:22. »Leget von euch ab den alten Menschen, der durch Lüste im Irrtum sich verderbt.« Das passte ja wirklich großartig, dachte er voller Ironie, und stopfte sich ein Stück Torte in den Mund. Ja, das Essen war ihm eine Lust. Die Fleischeslust kam für ihn in seinem Amt ja nicht mehr infrage. Also, eigentlich. Er dachte an die letzte Begegnung mit Elenore und kicherte verschämt. Also, verlernt hatte er es nicht, so viel stand fest. Er hatte nie wirklich verstanden, inwieweit die Beziehung zu einer Frau seine Arbeit für die Gemeinde oder sein ohnehin gestörtes Verhältnis zum Allmächtigen hätte beeinträchtigen können. Im Gegenteil.

Leget von euch ab den alten Menschen. Ja, natürlich. Das kannte er gut. Er war nicht mehr der hübsche, schlanke Jüngling, den es gewissenlos nach Befriedigung seines Triebes dürstete und der nicht gezögert hatte, deswegen ein unschuldiges junges Mädchen ins Verderben zu stürzen. Naja, Verderben. Es war ja trotzdem alles gut geworden, oder? Und Elenore hatte ihm vergeben. Und seine Tochter auch.

Natürlich. Den alten Menschen legte man doch zwangsläufig ab, oder? Allerdings war das selten ein Akt der bewussten Entscheidung. Ja, wenn man in der Lage wäre, eine schlechte Haltung, einen miesen Charakter auszuziehen wie ein altes Hemd! Ein neues, modisches Hemd … Würde sich damit auch seine innere Einstellung ändern? Zog man etwas an, weil man sich geändert hatte und feststellte, dass das alte Gewand nicht mehr passte? Oder handelte es sich um ein Kostüm, mit dem man vorgab, etwas zu sein, was man nicht wirklich war?

Das traf auf ihn zu, leider. Seine Soutane täuschte etwas vor. Das geistliche Gewand stand für Religiosität, für Glauben. Dabei verfügte er weder über das Eine noch empfand er das Andere. Er war ein Schauspieler. Ein guter Schauspieler sogar. Jeder kaufte ihm die Rolle ab, die er spielte. Er war ja auch kein böswilliger Mensch. Er, erzogen und aufgewachsen in einem erzkatholischen Haus, mit Hölle und Sündenpfuhl, hatte Vergebung gesucht für das, was er dem blutjungen Mädchen angetan hatte. Sie schwanger sitzenzulassen, war weiß Gott keine Heldentat.

Er war also in den Schoß der Kirche geflohen. Er fühlte sich nicht berufen. Er fühlte sich gezwungen. Und je weiter er in die Materie eintauchte, um so mehr entfernte er sich vom Glauben.

Allerdings war seine Position bequem. Er war versorgt, war nicht gezwungen, sich an einen Menschen zu binden, der versuchte, ihm lieb gewonnene Gewohnheiten abzutrainieren. Er war gesellschaftlich hoch geachtet durch die Integrität seines Amtes. Nein, wirklich. Es gab keinen Grund, den alten Menschen abzulegen und den neuen anzuziehen. Oder?

Die Begegnung mit Elenore sprach eine andere Sprache. Die Male, die er gegen die Regeln verstoßen hatte, mit schlechtem Gewissen, schwitzend angesichts der Angst vor Entdeckung, erfüllten nur eine biologische Notwendigkeit. Die Befriedigung eines Triebes. Etwas, was erledigt wurde, weil die Umstände günstig waren. Es entsprach … dem Verzehr einer Scheibe Schwarzbrot. Schwarzbrot war gesund, nahrhaft, sättigend, mit all seinen Ballaststoffen und Vitaminen. Dennoch aß man es leidenschaftslos. Weil man Hunger hatte eben.

Genuss war eine andere Sache. Genuss war … ein Stück Flockensahne aus dem Bräustüberl. Ein Käsekuchen in der Tasse beim Elisabeths Platzerl. Ein Datschi im Café der Klinik St. Bernhard. Dieser Kuchen erfüllte keinen physiologischen Sinn. Lauter Kalorien, die nicht sättigten. Aber sie waren köstlich. Sie erfreuten die Seele, sie machten Spaß. Die Wonne dieses Kuchens lag in ihrer heiteren, köstlichen Sinnlosigkeit.

Durch die Begegnung mit seiner alten Flamme begriff er, worauf er all die Jahre verzichtet hatte, auch wenn der Trieb im Laufe der Jahre in dem Maße abgenommen wie er körperlich zugenommen hatte. Aber er war immer noch ein Mann, und als solcher interessant. Und ganz offenbar hatte er einer Frau etwas zu bieten. Einer Frau? Der Frau. Elenore. Er hatte sie ›erkannt‹, im biblischen Sinne. Kinder, Kinder! Dieser Frau beizuwohnen, war … einfach unbeschreiblich! Sie war, mit ihren roten Haaren, ein loderndes Feuer, das in ihm aufstieg und ihn verzehrte. Die Erregung, die er spürte, raubte ihm den Atem. Das Verlangen nach ihr wurde unwiderstehlich.

Epheser 4? Ja, genau! Er wurde ein neuer Mensch. Es war ihm alles egal, bis auf das eine, das ihn zum Mann machte, und was er noch etwas lieber hatte als Kuchen. Er zückte sein Mobiltelefon.

»Hier Pfarrer Ettenhuber! Elli, bist du es? Ich denke, es ist Zeit, dir die Beichte abzunehmen!«

»Valerian, du Wüstling! Dir ist klar, dass ich das alles dem Generalvikar melden muss, oder?«

Er kicherte schelmisch.

»Der würde mich beneiden! Wann hast du Schluss?«

*

Quirin Bichlers Herz ging auf, als er seines ehemaligen Patienten ansichtig wurde. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Nichts mehr erinnerte an den blassen, dünnen, vom Krebs gezeichneten Jungen, dem er keine Überlebenschance eingeräumt hatte.

»Pirmin! Bist du es wirklich? Du bist ja kaum wiederzuerkennen!«

Er umarmte den Jungen und drückte ihn an sich.

»Danke, dass du wieder gesund geworden bist. Ich hätte mich sonst nach einem anderen Beruf umsehen müssen!«

»Wieso? Du machst doch deinen Beruf gut!«, stellte der Junge fest.

Quirin strubbelte ihm die Haare.

»Komm, wir machen mal einen Ultraschall, okay? Und ich nehme dir auch noch Blut ab!«

»Muss das sein? Das mit dem Blut, meine ich!«

»Unbedingt«, sagte Quirin streng.

»Na gut«, murrte Pirmin.

*

Die Untersuchungen zeigten ein sehr gutes Ergebnis. ›Vollremission‹, schrieb Quirin in großen Lettern auf die Karteikarte, die zusätzlich zur elektronischen Datei im Computer geführt wurde.

»Was heißt das?«, wollte der Junge wissen.

»Das heißt, dass du gesund bist«, stellte Quirin freudig fest. »Aber trotzdem müssen wir die Untersuchung in drei Monaten wiederholen. Ich werde das deinem Betreuer noch schriftlich mitteilen.«

Der Junge druckste herum.

»Was ist denn, Pirmin?«

»Hast du Zeit?«

Dr. Bichler schaute auf seine Uhr.

»Ich habe seit zehn Minuten Feierabend, wenn du das wissen willst!«, lachte er.

»Gehen wir ein Eis essen?«

»Du meinst, dass ich dich zu einem Eis einladen soll?«

»Nein, ich hab etwas Geld! Du musst mich nur nach Irschenberg in das Burger-Restaurant bringen!«

»Willst du mich einladen?«

»Ja. Ich kann sogar bezahlen, wenn du dein Eis mit Schokoladensauce willst!«

Sie fuhren zum Irschenberg. Stolz bestellte der Junge zweimal Eis, für Quirin mit Schokolade.

Eigentlich mag ich gar keine Schokolade, dachte Quirin, aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als Pirmin zu verletzen.

»Wolltest du keine Schokolade?«, fragte er das Kind.

»Ich hatte nur Geld für einmal Schokolade«, gestand der Kleine. »Magst du dein Eis?«

»Es ist köstlich, danke!«, erwiderte Quirin. »Und es ist unglaublich lieb von dir, dass du mich eingeladen hast!«

»Weil du mich doch gesund gemacht hast. Deswegen«, erklärte Pirmin.

Quirin rang um Fassung. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Tief ein- und ausatmen.

»Heulst du?«

Misstrauisch sah der Junge dem Arzt in die Augen. Dieser senkte den Kopf. »Ach Quatsch! Warum denn? Ist doch alles in Ordnung! Sag mal: Ich habe gerade ganz schrecklich Lust auf so einen Hamburger! Was denkst du: Sollen wir noch ein bis drei von diesen Dingern vernichten? Diesmal lade ich dich aber ein! Immerhin bist du ganz gesund, das muss doch gefeiert werden!«

»Wenn du unbedingt möchtest …!«

Mit Leichtigkeit verdrückten die beiden einige von den Sandwiches.

*

»Entschuldigung, Ihr Sohn hat seine Mütze liegen lassen«, rief der ältere Herr hinter Quirin her, nachdem sie aufgebrochen waren. Dr. Bichler sah den Herrn einen Moment lang irritiert an.

»Das ist nicht … oh! Vielen Dank! Sehr aufmerksam!«

Quirin steuerte sein Auto auf den Parkplatz vor dem Heim, in dem Pirmin untergebracht war. Keiner hatte ein Wort gesprochen. Der Junge machte keine Anstalten, auszusteigen.

»Das ist nicht mein Sohn, wolltest du sagen, oder?«

»Wie bitte?«

»Eben. Als der Mann meine Cap gefunden hat.«

»Pirmin, schau mal … Es war ein wunderschöner Abend. Und ich würde gern mit dir nach Hause fahren. Aber das geht doch nicht! Hier warten sie auf dich!«

»Warum geht das nicht? Magst du mich nicht?«

Der Junge hockte wie eine Handvoll Elend auf dem Beifahrersitz.

»Wie kannst du nur sowas denken?«, rief Quirin aus. »Aber du hast ganz recht. Mögen tu’ ich dich tatsächlich nicht.«

Pirmin riss seine Augen auf und richtete seinen Blick in ungläubigem Entsetzen auf den Arzt. Er wagte es nicht zu atmen. Quirin war aus dem Wagen gestiegen. Der Junge riss die Beifahrertür auf, sprang aus dem Auto und rannte zur Haustür.

»Pirmin! Pirmin! So warte doch!«

Schluchzend hämmerte das Kind mit seinen Fäusten an die Tür, die sich mit einem Summton öffnete. Quirin hatte ihn just in diesem Moment eingeholt und hielt ihn fest. Er kniete vor ihm nieder, nahm ihn in die Arme und flüsterte ihm ins Ohr.

»Du musst mich ausreden lassen, hörst du? Ich mag dich nicht. Ich habe dich sehr lieb. Und ich möchte dich auch nicht hier lassen, sondern mitnehmen. Denn wenn ich einen Sohn hätte, dann müsste er ganz genau so sein, wie du.«

»Guten Abend! Was, um alles in der Welt, ist denn hier los? Freudentränen, weil es vorbei ist, oder Abschiedsschmerz?«

Der junge Mann, offenbar einer der Betreuer, blickte voll Erstaunen auf die Szene und war bemüht, sich ein Bild zu machen – allerdings ohne Erfolg.

»Sagen Sie … Kennen Sie sich aus? Wir beiden hier, der Junge und ich, wir sind uns einig, dass er bei mir bleiben möchte. Was muss ich tun?«

»Der amtlich bestellte Vormund ist nicht da, aber ich bin sicher, dass man Ihnen ein Pflegekind anvertrauen würde. Vielleicht kommt sogar eine Adoption infrage? Na gut, dass entscheidet das Gericht. Aber jetzt kann ich Pirmin nicht herausgeben! Bei allem Respekt, Herr … äh … ?«

»Dr. Bichler.«

»… Herr Dr. Bichler, aber – ist das eine spontane emotionale Entscheidung, oder ein wohlerwogener Beschluss? Haben Sie denn genug Zeit? Ein Extra-Zimmer für das Kind? Ist Ihre Frau einverstanden?«

»Ich bin nicht verheiratet!«

»Oh!« Der junge Mann hielt kurz inne. »Das könnte problematisch werden!«

»Ach, wissen Sie«, erklärte Dr. Bichler kämpferisch, »wir beide, Pirmin und ich, haben Situationen erlebt und bewältigt, die bei weitem problematischer waren!«

»Kommst du mich holen?«, fragte Pirmin hoffnungsvoll.

»Das verspreche ich dir, mein Sohn. Das verspreche ich dir ganz fest.«

*

»Schön, dass du wieder bei mir bist«, stellte Timon fest. »Du bist mir schon sehr abgegangen!«

»Du hast mir auch gefehlt«, erwiderte Emmerich. »Scheiße, du hast mir so was von gefehlt! Aber ich konnte nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen. Ich musste erst einiges lernen, weißt du? Dieser Bruder Basilius – unglaublich! Er sieht einen an und … irgendwie kennt er einen! Er durchschaut dich, aber auf eine liebevolle Weise! Du fühlst dich keinen Moment nackt und ausgeliefert! Man empfindet nur Vertrauen und hat das Gefühl, gut aufgehoben und beschützt zu sein.«

»Was hast du gelernt?«

»Dass ich etwas wert bin. Dass ich liebenswert bin. Dass ich wichtig bin. Dass ich keine Leistung erbringen muss, damit man mich liebt.«

»Das hätte ich dir auch sagen können!«

»Ich hätte es dir nicht geglaubt, Timon. Schau mal, du bist so ein toller, selbstsicherer Mensch! Du betrittst einen Raum, und jeder merkt, dass du da bist. Du strahlst. Du schillerst in allen Farben. Du bist charmant, gebildet, du bist promovierter Akademiker. Ich hab mich dir immer unterlegen gefühlt. Ich habe nie gewusst, dass man so etwas Dummes, Hässliches, Tollpatschiges wie mich überhaupt lieben kann!«

»Moment, Moment! Einspruch, Euer Ehren! Du bist weder dumm noch hässlich, und schon gar kein Tollpatsch. Du bist laut Egidius der beste Physiotherapeut, den er in seinem Leben kennengelernt hat. Du bist attraktiv, und du bist ein feiner, geschickter Mensch.«

Timon stand jetzt dicht vor ihm.

»Und vor allem, Emmerich Fahl, bist du der Mann, dem ich alles verdanke, was ich heute bin. Was wäre aus mir geworden, hätte es dich nicht gegeben?«

»Timon, schau mal«, erwiderte Emmerich, »du kommst aus einer Ehe mit einer Frau. Du hast Kinder.«

»Die ich nur stundenweise und nur unter Aufsicht sehen darf. Und vergiß bitte Schmidt nicht!«

»Schmidt?«

»Schmidt, den Bobtail!«

»Ach ja, richtig! Nein … Ich dachte immer, dass ich dir das alles, was du hattest, nicht geben kann und dass du deswegen irgendwann unzufrieden sein würdest mit unserem Leben.«

»Mach dir da keine Sorgen, Emmerich. Meine Kinder und mein Hund, die bleiben mir ja. Und es stimmt: Ich hätte alles darum gegeben, meine Ehe aufrecht erhalten zu können. Ich hatte auch ein wenig Angst, weil ich mir so eine Beziehung mit einem Mann irgendwie nicht vorstellen konnte, auch wenn ich Männer immer schon attraktiv fand. Aber ich wollte mir das nicht eingestehen, weißt du?«

»Der Leute wegen?«

»Ja, sicher auch. Siehst du? Da hast du deinen selbstbewussten promovierten Akademiker! Traut sich nicht, mit einem Mann zusammenzuleben, weil die Frau Nachbarin die Stirn runzeln könnte! Ich lach mich halbtot!«

Timon kicherte albern.

»Seit meinem Schlaganfall sehe ich vieles anders, Emmerich. Ich habe höchstselbst erlebt, wie schnell so ein Leben zu Ende gehen kann. Ich will nicht eine Rolle spielen. Ich will mein Leben leben. Und zwar mit dir. Und ich verspreche dir, dass ich dir sage, wenn ich mal ohne dich ausgehe, mit wem. Und dass du keine Sorge haben musst. Und wann ich zurückkomme.«

Emmerich starrte Timon unentwegt an.

»Was guckst’n so? Hab ich einen Punkt auf der Nase?«

»Ich dachte nur gerade, was ich für ein Glück habe. Und dass ich es verdient habe. Und ich dachte, was du für ein Glück mit mir hast. Gut, oder?«

»Respekt! Behaupte keiner, dass du keine Fortschritte machst! – Sag mal, dürfen deine Mönche das Kloster verlassen?«

»In besonderen Ausnahmefällen – sicher!«

»Ich würde gern die Jungs einladen, die sich so um dich gekümmert haben. Ganz besonders diesen Bruder Basilius.«

Emmerichs Augen leuchteten.

»Weißt du, was ich mir wünschte?«

»Na?«

Emmerich verließ der Mut.

»Nein, vergiss es.«

»Jetzt mach’s nicht so spannend! Sag schon!«

»Ich hatte nur gedacht … Das vielleicht einer der Brüder unsere Beziehung segnen würde! Findest du das blöd?«

Timon grinste.

»Du bist ein hoffnungsloser Romantiker, Emmerich Fahl! Was haben sie dir da bloß ins Essen getan? So religiös habe ich dich ja noch gar nicht erlebt!«

»Mach dich nicht lustig, okay?«

»Mach ich doch gar nicht. Ich finde den Gedanken übrigens ganz schön. Aber immer, wenn ich gerührt bin, muss ich das ins Witzige ziehen. Humor als Abwehrmechanismus, weißt du?«

»Ich bin sicher, dass Bruder Basilius auch dir helfen würde!«

»Ist ja nicht so weit, bis nach Neubeuern! Vielleicht sollte ich es mal versuchen!«

Eine Dame verschwindet

Hannes hatte sich auf einen Mauervorsprung gesetzt und wartete. Felicitas musste gleich fertig sein mit ihrem Fotografie-Kurs. Er zählte sicherheitshalber noch einmal sein Geld. Ja, für zweimal Eis reichte es gut. Nicht zum Hinsetzen, aber um jeweils einen Pappbecher mit zwei Eiskugeln mitzunehmen, allemal.

Nicht, dass er sich sicher war. Felicitas war nett zu ihm. Und stellte keine Forderungen, wie an der Hand halten oder küssen. Es schauderte ihn bei dem Gedanken. Was sollte das überhaupt? Er hatte seine Väter gesehen, wenn sie sich küssten, zur Begrüßung, oder zum Abschied. Manchmal im Fernsehen. Oder wildfremde Leute, mitten auf der Straße! Und wenn jetzt der eine krank war? Schnupfen, zum Beispiel? Dann steckte er doch den anderen an! Eklig! Nein, dieses Rumgeschlabbere fand er scheußlich. Und irgendwie auch voll peinlich. Seine Mutter hatte ihn manchmal geküsst, wenn sie ihn zum Hort brachte oder zur Schule. Dann hatte er sich immer verlegen umgeschaut, um sich zu vergewissern, dass niemand die beschämende Aktion beobachtet hatte.

Die Jungs in seiner Klasse hatten alle eine Freundin. Zumindest taten sie so und redeten gern, viel und laut darüber und schrieben in den sozialen Netzen Botschaften mit Unmengen von Herzchen und Smileys.

Also hatte er beschlossen, auch für sich ein Mädchen zu suchen. Er war fast zwölf, immerhin. Die anderen nahmen ihn ohnehin nicht für voll. Er war der mit der Macke. Der immer so komisch war. Und der zwei Väter hatte, statt, wie alle anderen, Vater und Mutter. Der Klassenlehrer hatte darauf hingewiesen, dass nach der heutigen Auffassung nicht das Geschlecht der Eheleute, sondern die Liebe und die Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu übernehmen, wichtig waren. Die Mitschüler fanden das komisch, aber prinzipiell in Ordnung. Versuche, sich über ihn lustig zu machen, prallten wirkungslos an dem Jungen ab. Er verstand gar nicht, was man vom ihm wollte, wenn man sich über Chris’ und Philipps Beziehung mokierte. Sehr ernsthaft und ohne jede Aggression erkundigte er sich bei seinen Mitschülern nach deren Eltern, die geschieden waren oder sich andauernd stritten, was in so kleinen Orten schnell bekannt und gern Gegenstand ausführlicher Erörterungen wurde.

Hannes hatte für Informationen jeder Art ein sehr offenes Ohr. Und da er meist unbeteiligt wirkte, nahm man ihn als Zuhörer nicht wahr. Dennoch lauschte er den Gesprächen, die man in seiner Nähe führte, aufmerksam und speicherte sie in seinen Hirnwindungen ab, um sie gegebenenfalls bei passender Gelegenheit als Trumpfkarte aus dem Ärmel zu ziehen. Manchmal auch nur für sich selbst, im Stillen. So begriff er am Beispiel der Erzählungen, dass es durchaus unterschiedliche Arten von Elternpaaren gab. Eltern, die ihre Kinder in ein enges Gespinst von Strafen hüllten. Eltern, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt verfolgten, um Schaden von ihnen abzuwenden, sie biologisch wertvoll ernährten und sie keinen Moment unbeobachtet ließen. Eltern, die ihren Kindern wenig Beachtung und keine Liebe schenkten, als hätte es sich bei deren Herstellung um ein bedauerliches Versehen gehandelt. Eltern, die mit Ehrgeiz ihre Kinder zu Höchstleistungen antrieben und sie mit zur Schau getragener Enttäuschung quälten, wenn das Talent des Kindes nur Durchschnittliches erlaubte.

Wo nur Felicitas blieb? Er erhob sich und schritt von seinem Platz zum Schultor. Er durfte keinesfalls auf die Linien zwischen den Gehwegplatten treten, immer nur mitten auf die Platte. Würde sein Fuß die Linie treffen, würde wieder etwas Dummes passieren, wie diese Sache beim E-Springen. So blöd, wirklich! Dabei hatte er alle Hindernisse wunderbar und sicher bewältigt. Meist handelte es sich ja auch nur um Oxer und Ricks. Aber im letzten Bereich war das Gelände des Parcours abschüssig gewesen, und er hatte den richtigen Punkt fürs Abspringen verpasst.

Was hatte Philipp gesagt? ›Dann schaffst du es eben beim nächsten Mal! Hauptsache, dass du dir kein Loch in den Kopf geschlagen hast!‹ Und Chris war ohnehin der Auffassung, das Pferde heimtückische Kreaturen wären, die ihm nach dem Leben trachteten. Ihn selbst allerdings wurmte es, auch wenn Philipp immer sagte, dass die Schultern eines Kindes nicht dazu bestimmt wären, die Erwartungen ihrer Eltern zu tragen.

»Hallo, Hannes! Wartest du auf meine Tochter?«

Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme zu ihm sprach.

»Ja, Herr Dr. Cortinarius«, bestätigte er. »Der Kursus muss schon lange vorbei sein!«, ergänzte er.

»Komisch«, wunderte sich Kilian. »Gibt es hier noch einen anderen Ausgang, sodass wir Feli vielleicht verpasst haben?«

»Aus dem Haus selbst ja. Aber das ist die Tür zur Sporthalle und zum Keller. Und dann noch der Notausgang aus dem Neubau. Aber die führen alle auf den Schulhof. Der Weg hinaus geht nur über dieses Tor. Das hintere Tor zum Sportplatz ist immer zugesperrt!«

»Weißt du, Hannes, in welchem Raum der Kursus stattfindet?«

Hannes ging voraus, der Oberarzt folgte ihm.

»Hier. Raum 2.«

Sie inspizierten nicht nur diesen, sondern auch die anderen Kursusräume. Alle waren leer. Vom Lehrerparkplatz her dröhnte ein Geräusch. Jemand startete den Motor seines Wagens.

»Vielleicht der Kursusleiter?«, mutmaßte Hannes.

Beide rannten den Gang hinunter, aber als sie durch die Tür ins Freie stürmten, sahen sie gerade noch die Rücklichter des roten Toyota. Kilian rannte ein paar Schritte und rief »Halt!, Moment, bitte!« – Der Fahrer schien dies jedoch nicht zu bemerken.

»Wo ist Felicitas?«, fragte Hannes bestürzt.

Kilian wühlte hektisch in seiner Hosentasche und zog sein Mobiltelefon heraus. Auf Stirn und Oberlippe standen Schweißtropfen. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe verschwunden.

»Ist Feli bei dir? Nein? Weißt du, ob sie nach dem Kursus noch irgendwo hin wollte? – Nein, hier ist sie nicht. Hannes, der Sohn vom Kollegen Angerer, hat offenbar schon länger auf sie gewartet! – Hab ich gemacht! Alle Räume sind leer, und den Kursusleiter habe ich verpasst, der kutschierte gerade von dannen! – So, ich fahre mit Hannes einige von den Punkten ab, an denen sie sich für gewöhnlich aufhält. Und wenn sie da nicht ist, gehe ich zur Polizei!«

*

»Egidius? Hier spricht deine Mutter! Hast du einen Moment Zeit für mich?«

»Theres! Naja, es muss aber wirklich schnell gehen, der nächste Patient liegt schon auf, und die Narkose ist eingeleitet! Was gibt’s denn?«

»Nein, wenn du in Eile bist, möchte ich dich nicht aufhalten. Wir können später sprechen, wenn du mehr Ruhe hast!«

»Wenn es dir nichts ausmacht, wäre mir das wirklich lieber! Ich bin sicher ab 18 Uhr zu Hause!«

*

Der Klang ihrer Stimme hätte ihn misstrauisch machen müssen. Auch die Tatsache, dass sie ihn in der Klinik anrief, was er hasste. Er aber hatte gerade nur einen Kopf für den Patienten, der sich ihm anvertraut hatte, und dessen ramponiertes Hüftgelenk, das dringend ausgetauscht werden musste – und so sollte es ja auch sein.

Theres, nachdem sie aufgelegt hatte, blieb noch eine ganze Weile in ihrem Lieblingssessel. Von diesem Platz aus konnte sie den Wallberg, den Tegernseer Hausberg sozusagen, innerhalb eines lieblichen Voralpenpanoramas sehen. Und auch den Fernseher. Diesen zwar aus leicht schräger Perspektive, aber für ihre politischen Magazine und für Konzert- und Opernübertragungen reichte es allemal. Sie betrachtete die Bewegung der Tannenzweige im Wind. Wunderschön, die glänzenden Blätter der Rotbuche. Bald würden ihre kahlen Zweige wieder schneebedeckt sein. Ein prächtig-buntes Schmetterlingspaar schickte sich an, für Nachwuchs zu sorgen. Und Wespen flogen herum, kurz aufleuchtend, wenn sie die Strahlen der Sonne passierten. Ob hier irgendwo ein Nest war?

Plötzlich verzog sie das Gesicht, und krümmte sich. Gott sei Dank hatte der Arzt ihr ein Schmerzmittel verschrieben. Gewissenhaft zählte sie die ihr zugestandenen 30 Tropfen ab. Die gelbliche Flüssigkeit schmeckte bitter. Wie lange dauerte es, bis die Krämpfe nachließen?

*

Tassilo war bester Laune, als er die kleine Wohnung betrat, die Maria und er angemietet hatten. Zugegeben war Hausham nicht die edelste Gegend, aber die Wohnung war bezahlbar, die Nachbarn waren nett, man hatte einen noch unverdauten Ausblick, und es gab einen Fahrstuhl, was sehr praktisch ist, wenn man in eine Dachgeschosswohnung zieht. Als Tüpfelchen auf dem i verfügte die Wohnung über einen winzigen Balkon, der Platz für zwei Stühle und einen Tisch bot. Die Aussicht, hier sommers gemeinsam zu frühstücken oder die abendliche Brotzeit einzunehmen, hatte den Ausschlag gegeben.

Tassilo Resch, seines Zeichens für die ordentliche Ausleuchtung bei Film- und Fernsehproduktionen zuständig, strahlte wie eine seiner Jupiterlampen. »Du glaubst es nicht, aber – wir fahren in den Urlaub!«

»Moment, Moment!«, dämpfte die Stationsschwester der Chirurgie seine Begeisterung. »Du willst mir doch nicht sagen, dass du etwas gebucht hast, ohne zu wissen, ob das mit meinem Diensten bestimmt werden kann!«

»Beruhige dich, mein Schatz! Es kostet uns ja keinen Cent! Trotzdem wäre es gut, wenn du in etwas mehr als vier Wochen vierzehn Tage Urlaub machen könntest!«

»Und wieso kostet das nichts?«

»Weil ich als Beleuchter auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten werde!«

»So eine ›Traumschiff‹-Serie?«

»Nein, das ist keine Serie, sondern ein Spielfilm, der zu zwei Dritteln auf so einem Schiff spielt!«

»Tassilo, du weißt aber schon, wie schlimm das für die Umwelt ist, oder?«

»Ich weiß. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass wir auf dem einzigen Schiff drehen, das ohne Schweröl fährt. Das ist zwar auch nicht ›sauber‹ im wahrsten Sinne des Wortes, aber immerhin ein Anfang!«

Maria setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den PC ein. Sie konnte sich mühelos mit dem PC auf der Station verbinden, auf dem die Dienstpläne erstellt wurden.

»Naja … wenn Katja wieder gesund ist, könnte sie mit Cilly die Schicht tauschen. Und ich kann dann das Wochenende vorher arbeiten, und wenn Waltraud mir für drei Tage jemanden von der Privatstation leiht, könnte es gehen!«

Sie öffnete die Homepage der Reederei, fand das Schiff und scrollte sich durch die Attraktionen und Angebote.

»Tassilo – das geht nicht. Ich kann da unmöglich mitfahren. Schau dir das an: Allein das Käpt’ns Dinner! Ich habe dafür überhaupt nichts anzuziehen, und du auch nicht. Hier, bitte! Schau dir das Foto an! Siehst du, was die für schicke Frisuren haben? Und erst die Garderobe! Das sind doch alles Designer-Fummel, oder? Und die Herren, in ihren eleganten Anzügen! Hier, die beiden tragen sogar Smokings mit Dinner-Jackets!«

»Maria, an diesen Luxus-Veranstaltungen müssen wir ja nicht teilnehmen! Wir essen einfach in einem der einfachen Restaurants. Hier, siehst du? Die haben auch ein Steakhouse.«

»Was? Du schleppst mich auf so ein Ding, und dann wird mir nur das Programm für Arme geboten? Und was machen wir, wenn alle anderen die Show besuchen? Stehen wir dann im Maschinenraum und schaufeln Kohlen?«

»Du hast entschieden zu oft ›Titanic‹ geguckt, Maria!«, lachte Tassilo. »Und während der Vorstellung ist es doch sowieso dunkel im Zuschauerraum!«

Maria starrte ihren Herzensmann mit wütend funkelnden Blicken an.

»Wir fahren nach München!«

»Wann?«

»Jetzt. Sofort. Wir brauchen die passende Garderobe. Ich werde mich nicht als die Landpomeranze outen, die ich vermutlich bin. Ich will was Schickes fürs Essengehen und was Raffiniertes fürs Theater. Oder umgekehrt. Und du brauchst was Elegantes und was Legeres. Los! Kaufingerstraße, wir kommen!«

*

Wenn es die Redewendung ›über seine Verhältnisse leben‹ nicht schon gäbe, für das, was Maria da tat, hätte man sie erfinden müssen. Sorgenvoll betrachtete Tassilo seine Angebetete, die sich wie im Rausch durch die gegenwärtige Mode probierte. Andererseits, dachte er im Stillen, konnte man ihr nicht den Vorwurf machen, das sie mit Geld um sich warf, im Gegenteil. Seit sie zusammen waren, hatte sie sich nicht ein einziges Mal etwas zum Anziehen gekauft. Und der Urlaub war, sozusagen, gratis und franko. Warum sollte sie nicht ihre Freude haben? Außerdem brauchte sie tatsächlich etwas Schickes zum Anziehen. Er hatte nämlich etwas ganz Besonderes vor an Bord. Er grinste breit beim Gedanken an seine Überraschung.

Gut, dass die meisten Läden, in denen Damen einkauften, ›Männerecken‹ eingerichtet hatten, in denen er neben seinen Leidensgenossen Platz nehmen konnte. Je nach dem Preisniveau des Geschäfts traktierte man die Träger der Einkaufstüten mit Mineralwasser oder sogar einem Gläschen Sekt.

Sein Einkauf gestaltete sich wesentlich unkomplizierter. Die Jacketts saßen perfekt, die Hosen mussten gekürzt werden. Maria bestand noch auf dem Erwerb von drei schicken Krawatten und einigen eleganten Hemden.

»Du kannst zu den schicken Anzügen ja wohl kaum deine Polohemden oder diese Flanell-Dinger anziehen, in denen du wie ein kanadischer Holzfäller aussiehst!«

»Ich hatte keine Ahnung, dass dir meine Hemden so zuwider sind! Warum sagst du denn nichts?«

»Ich habe ja schon heimlich einige von den Dingern in die Altkleider-Sammlung gegeben!«

»Maria! Wie konntest du! An jedem Hemd hängen wunderbare, wehmütige Erinnerungen an meine Jugend!«

»Bist du sicher? Wenn dem so ist, fand deine Jugend vor langer Zeit statt. Vor sehr langer Zeit! Außerdem hast du noch nicht mal gemerkt, dass welche fehlen!«

»Aber die waren doch noch gut, bei der Qualität! Unverwüstlich!«

»Unverwüstlich bis auf die Manschetten und die Krägen. Die waren so abgewetzt, dass sie kurz vor der Auflösung standen!«

Tassilo seufzte. Zugegeben: Die Dinger waren teilweise wirklich ramponiert und ziemlich verwaschen. Aber er trug sie meistens bei der Arbeit, da interessierte sich keiner für seinen Aufzug.

»Wünscht der Herr noch weitere Accessoires? Halstücher? Oder Einstecktücher?«, erkundigte sich die Verkäuferin mit affektierter Liebenswürdigkeit.

Tassilo schüttelte energisch den Kopf. Maria packte ihn am Arm.

»Ja, der Herr wünscht!«, behauptete sie.

*

»Kennen wir uns nicht?«, fragte Severin Pastötter den aufgeregten Oberarzt. Seine Begleiterin sah den Kommissar überrascht an.

»Ich … äh … meine Tochter! Unsere Tochter! Sie ist verschwunden!«

»Sie haben eine Tochter, Herr Doktor Cortinarius?«

»Felicitas. Sie ist acht Jahre alt und heute nicht beim Foto-Kursus gewesen!«

»Dass sie längst zu Hause vor dem Fernseher sitzt, halten Sie für ausgeschlossen?«

»Da haben wir bereits nachgesehen, Herr Kommissar. Wir haben alle abtelefoniert, bei denen sie sein könnte. Und an allen Orten nachgesehen, an denen sie sich bevorzugt aufhält. Sie ist nirgendwo!«

»Sie sind die Mutter des Mädchens, Frau …?«

»Ja, bin ich. Kühn. Ricarda Kühn!«

»Nun, Frau Kühn, Herr Doktor Cortinarius … Gut, dass Sie sich entschlossen haben, Anzeige zu erstatten. Bei Erwachsenen sind wir etwas langsamer, denn die dürfen sich aufhalten, wo sie mögen. Aber Kinder unterstehen der Aufsichtspflicht. Gab es irgendeine Kontaktaufnahme? Eine Lösegeldforderung oder so? Nein? Bitte, regen Sie sich nicht auf. Die meisten Kinder sind innerhalb von 24 Stunden wieder zu Hause. Sagen Sie mir nur, seit wann Ihre Tochter – Felicitas, richtig? – vermisst wird und wann und wo sie zuletzt Kontakt mit ihr hatten! Ach ja … Ein Foto des Mädchens haben Sie nicht zufällig …?«

»Selbstverständlich!«, rief der Oberarzt aus und zog aus seiner Brieftasche ein Passbild seiner Tochter.

Mit den Angaben der Eltern zog er sich kurz in sein Zimmer zurück und kehrte zufrieden zurück.

»So. Eine Funkstreife ist bereits unterwegs zur Schule, und in den Landkreisen Miesbach, Rosenheim und Bad Tölz sind die Kollegen angewiesen, die Augen offen zu halten. Das Foto habe ich der Suchmeldung beigefügt, Ihr Einverständnis vorausgesetzt.«

»Entschuldigung, wo ist ihre Toilette?«, fragte Ricarda Kühn.

»Einmal durch die Glastür hindurch, zweite Tür auf der linken Seite, meine Dame!«, deklamierte Kommissar Pastötter.

Die Dame zog sich zurück.

Severin Pastötter senkte die Stimme.

»Ihnen geht es gut, Herr Doktor? Alles wieder im Lot?«

»Ja. Ich bin drogenfrei, und ich habe – dank der Großzügigkeit meines Chefs – meine Stelle wieder!«

»Und, wie ich höre, sind Sie außerordentlich tüchtig und außerordentlich beliebt, Herr Cortinarius!«

»Woher wissen Sie das?«

»Ach, ich habe da so meine Informanten«, lachte der Kommissar und dachte dankbar an Frau Fürstenrieder, die niemals Klatsch verbreitete, es sei denn, es handelte sich um etwas Freundliches.

*

»Komisch, wie sich die Dinge entwickeln, oder, Kilian?«, fragte Ricarda. »Noch bis vor kurzer Zeit hätte ich angenommen, dass du schuld bist am Verschwinden unserer Tochter. Jetzt weiß ich, dass du genauso viel Angst um sie hast wie ich.«

Ihre Stimme klang dankbar, als sie fortfuhr: »Es ist schön, in dieser Situation nicht allein zu sein.«

Er legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Das geht mir auch so, Ricarda. Fast wie damals, als wir uns kennenlernten, oder?«

Er lächelte. Dann wurde er ernst.

»Du hast dir damals nicht viel aus mir gemacht, oder? Das Ganze war ja wohl nur eine Scharade.«

Sie trat vor ihn hin.

»Bitte, Kilian, das darfst du nicht glauben! Ja, gewiss, zu Beginn war das alles nicht ernst gemeint. Aber ich habe etwas für dich empfunden. Liebe war es nicht wirklich. Du warst so unsicher, so ängstlich – und du hast so darum gekämpft, als starker Mann dazustehen. Man musste dich gern haben. Vielleicht war es eher Mitleid oder eine Art Mutterinstinkt. Aber stell’ dir vor: Ich war dir immer treu! Warum, glaubst du, lebe ich mit Fee allein?«

»Sie hasst es, wenn du sie ›Fee‹ nennst!«

»Ich weiß!«

Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Er spürte am Zittern ihres Körpers, wie sehr sie bemüht war, ihre Tränen zu unterdrücken.

»Sie wird bestimmt wieder auftauchen, Ricarda. Sie ist doch ein verständiges, kluges Mädchen! Es ist bestimmt nichts Schlimmes passiert!«

»Wenn sie wieder zurückkommt, schicke ich sie in einen Kursus für Selbstverteidigung! Und zum Judo! Und Karate!«

»Das machen wir so«, stimmte der Oberarzt zu.

Sie blickte an ihm hoch.

»Inzwischen bist du ein starker Mann«, bemerkte sie. »Früher warst du ein verunsicherter Junge. Aber jetzt bist du ein starker, richtiger Mann.«

*

»Entschuldige bitte, Mutter, aber in der Klinik war wirklich der Teufel los heute! Da hatte ich für Anrufe von Familie, Verwandten und Verschwägerten überhaupt keinen Kopf! – Was gibt es denn Schönes?«

Egidius hatte sich an sein Versprechen gehalten. Allerdings hatte er zunächst zu Abend gegessen und sich dann mit einem Glas Wein in seine Ecke zurückgezogen, währen Corinna, Lukas und Max aufräumten.

»Wenn du den Begriff ›Schönes‹ umfassend definierst, könntest du recht haben, Egidius. Ahrens glaubt, dass ich Magenkrebs habe.«

Egidius verschlug es für einen Moment die Sprache.

»Theres! Was sagst du da?«

»Reg dich nicht auf. Ich habe keine Angst. Ich finde nur diese Schmerzen und Krämpfe lästig.«

»Schmerzen und Krämpfe? Seit wann hast du Schmerzen und Krämpfe?«

»Seit gut vier Monaten. Tendenz zunehmend!«

»Und warum sagst du nichts? Ich bin Arzt!«

»Ich weiß, mein Junge. Ich dachte, dass es von selbst vorüber geht. Und ich wollte dir nicht noch zusätzlich Sorgen bereiten!«

»So ein Blödsinn! Wenn wirklich was ist, haben wir wertvolle Zeit verstreichen lassen! Hat schon jemand in dich hineingesehen und eine Probe entnommen?«

»Siehst du? Deswegen rief ich dich an. Ich würde damit ungern zu irgendjemand anderem gehen als dir.«

»Du weißt, dass Ärzte niemals Verwandte behandeln sollten, oder?«

»Stell’ dich nicht so an, Egidius. Mein Magen sieht auch nicht anders aus als der von anderen Menschen!«

»Ich kenne den Plan nicht, aber bleib bitte ab sofort nüchtern. Nur Wasser trinken!«

»Was ist mit meinen Tabletten?«

»Die nimmst du bitte. Du kannst auch etwas Brühe zu dir nehmen, nur bitte ohne Einlage. Frau Fürstenrieder ruft dich morgen um acht Uhr an und sagt dir, wann du in der Klinik sein sollst. Corinna holt dich mit dem Wagen ab!«

»Bitte, Egidius, mach nicht so viel Aufhebens um mich! Siehst du? Deswegen wollte ich erst gar nichts erzählen!«

»Ab Mitternacht nüchtern, hörst du?«

*

»Was ist den los, Egidius?«, fragte Corinna. »War das Theres? Du bist ja leichenblass! Ist was Schlimmes passiert?«

»Theres’ Hausarzt denkt, dass sie irgendetwas Bösartiges im Magen hat«, verkündete er mit Grabesstimme.

»Was ist mit Oma?«, wollte Lukas wissen.

»Deine Großmutter scheint ziemlich krank zu sein, Lukas«, antwortete Corinna.

»Krass!« Lukas sah erschrocken aus. »Was ist denn?«

»Ganz genau wusste sie es nicht. Irgendwas mit dem Magen.«

Er drehte sich zu Corinna und grimassierte. Sie verstand.

»Du kümmerst dich, oder?«, fragte sie ihren Gatten.

»Ja, natürlich«, sagte dieser. »Morgen spiegeln wir erstmal. Und entnehmen ein paar Gewebeproben …«

*

»PE-Zange, bitte, Marion!«, kommandierte Egidius leise. Er knabberte ein Stück aus dem Tumor, der den Magen seiner Mutter gut zur Hälfte ausfüllte.

»So, die Probe bitte mit dem Vermerk ›Dringend‹ umgehend in die Pathologie, wenn ich bitten dürfte!«

»Selbstverständlich, Herr Professor. – Darf ich fragen …?«

»Nein, Marion. Bitte seien Sie mir nicht böse, aber … Ich habe mir diese Frage selten gestellt und noch nie beantwortet. Ich kann gerade nicht darüber reden!«

»Ihre Mutter wird fragen, wenn sie aufwacht!«

»Lügen Sie. Sagen Sie ihr, dass ich mich nicht geäußert hätte. Und dass ich zu einem dringenden Fall gerufen wurde.«

»Herr Professor!«

»Herr Professor, Herr Professor!«, imitierte er den Tonfall der OP-Schwester. »Was – Herr Professor? Haben Sie noch nie einen Sohn gesehen, der seiner Mutter sagen muss, dass ihre Tage gezählt sind?« Egidius klang ungeduldig und verzweifelt. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

»Ich meine ja nur. Ich kann mich nicht erinnern, dass in diesem Haus jemals ein Patient belogen wurde. Schon gar nicht, seit Sie hier der Chef sind.«

»Stimmt auffallend, Schwester Marion. Ich hasse es, wenn man Patienten über ihren Zustand im Unklaren lässt. Vielleicht wollen sie noch Gespräche führen. Dinge erledigen. Sich aufgeschobene Wünsche erfüllen. Einen Streit beenden. Oder jemandem sagen, dass man ihn lieb hat.«

»Genau, Herr Professor. Das ist doch Ihr Credo. Warum …«

»Jedem Patienten würde ich die Wahrheit sagen. Aber der Mensch, der da hinter uns auf dem Tisch liegt, ist meine Mutter. Ich muss erstmal innerlich Anlauf nehmen.«

Er lachte bitter auf. »Wir wissen so viel, wir können so viel. Wir erforschen das Wunder des Lebens bis zur letzten Aminosäure herunter. Wir haben so viele Rätsel gelöst, so viel Fragen beantwortet. Das hängt damit zusammen, dass wir ein Leben lang lernen. Wir sind auf alles vorbereitet.«

Er machte eine kleine Pause, in der er tief ein und ausatmete.

»Ja, und dann liegt plötzlich ein Mensch vor dir, den du liebst. Dieser Mensch sieht dir ins Gesicht, und fragt dich, ›Junge, sag mir: Was ist mit mir?‹ Kannst du dann sagen, ›Mama, dein Leben geht zu Ende‹?«

Er senkte den Kopf.

»Die Währung des Lebens ist die Zeit. Irgendwann haben wir eben alles ausgegeben. Meine Mutter bewegt sich schon im Dispo. Und ihr Sohn ist ein Feigling.«

Er wandte sich zur Flucht.

»Danke, dass Sie mir zugehört haben, Marion. Sie sind nicht nur die beste OP-Schwester. – Frau Pahlhaus? Herzlichen Dank!«

Die Narkoseärztin winkte zurück.

»Alles stabil mit der Dame! Sie schnauft prima!«

*

»Pastötter hier … Frau Cortinarius?«

»Kühn. Herr Kommissar, haben sie Fee gefunden?«

»Ja, Frau Kühn. Wir haben ihre Tochter. Es geht ihr gut, machen Sie sich keine Sorgen!«

Es hatte sich um ein Eifersuchtsdrama gehandelt. Einer von Felicitas’ Klassenkameraden war offenbar unsterblich verliebt in sie. Er hatte sie vor dem Kursus abgefangen und unter einem Vorwand in den Keller gelockt. Dort hatte er ihr seine Zuneigung gestanden, sie jedoch blieb ungebeugt. Da hatte er sie gepackt und in den Heizungsraum geschubst, der von einer schweren Metalltür verschlossen wurde. Diese war zugefallen und hatte sich verklemmt. Der Knabe, getrieben von schlechtem Gewissen, war zunächst weggerannt, statt Hilfe zu holen. Dann aber hatte ihn offenbar das Gewissen geplagt. Gemeinsam mit dem Hausmeister der Lehranstalt befreite er das Kind.

»Natürlich steht sie noch unter Schock, Frau Kühn. Drei Stunden in einem fensterlosen Raum? Man kann sich vorstellen, dass das nicht spurlos an einem so jungen Menschen vorübergeht, oder? Ich habe dafür gesorgt, dass sie zunächst einmal in die Klinik St. Bernhard kommt!«

»Wir fahren sofort dorthin. Herzlichen Dank, Herr Kommissar!«

*

Professor Tauber kümmerte sich persönlich um seine kleine Patientin.

»Erstaunlich, wie erwachsen sie mit dem Trauma umgeht, liebe Frau Cortinarius, lieber Herr Kollege!«, sagte er.

»Kühn. Ich heiße Kühn«, sagte Ricarda. »Aber Sie denken doch auch, dass sie unbedingt noch einige Stunden lang zu einem Kinderpsychologen gehen sollte, oder?«

»Ja, auf jeden Fall. Stellen Sie sie doch bitte bei Frau Hauptmann in der Schlierseer Straße vor. Eine erfahrene, kompetente Psychotherapeutin. Wir beide jedenfalls haben schon miteinander gelacht, nicht wahr, Felicitas?«

Das Mädchen nickte und lächelte.

»Gelacht?«, staunte der Oberarzt. »Worüber denn?«

»Dass mache Jungs glauben, dass sie das Herz der Angebeteten dadurch für sich erobern können, dass sie sie einsperren! Wir wissen es besser, oder, Felicitas?«

»Jedenfalls haben mein Mann und ich beschlossen, sie zusätzlich zu einem Kursus für Selbstverteidigung für Kinder zu schicken. Ja, Fee?«

»Großartige Idee! Am Windfeld gibt es eine Kampfsportschule, die ›Taekwondo‹ heißt. Die habe ich schon häufig empfohlen.«

»Ist da nicht auch die Tanzschule?«

»Ja, genau!«

»Wie sieht es aus, Frau Kühn«, sagte Dr. Cortinarius zu der neben ihm stehenden Dame. »Während unsere Tochter lernt, wie man Unholde windelweich klopft, könnten wir doch in der Nachbarschaft unsere soziale Kompetenz steigern – mit Chachacha, Marsch und Foxtrott?«

Ricarda hatte sich gefasst.

»Da kommt jetzt etwas plötzlich! Wie kommst du darauf, dass mir das gefallen könnte?«

»Erstmal hast du früher gern getanzt. Außerdem hast du mich eben ›mein Mann‹ genannt.«

»Hab ich nicht!«

»Doch, hast du!«

»Das kann gar nicht sein!«

»Doch!«

»Doch, Mama. Ich habe es auch gehört!«

»Du stehst unter Schock, Fee. Du kannst da gar nicht mitreden!«

»Wenn ich als habilitierter Kinderarzt eine Aussage machen dürfte«, mischte sich Professor Tauber lachend ein, »aber – es ist wahr!«

§ 1744 BGB

»Herr Dr. Bichler«, sagte die Amtsperson streng, »Sie beantragen die Pflegschaft für das Kind Pirmin Ortner als Einzelperson. Dagegen ist soweit nichts einzuwenden. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um eine Adoptionspflege gemäß § 1744 des Bürgerlichen Gesetzbuchs über Tag und Nacht handelt?«

Der Pädiater bestätigte die Annahme.

»Gut. Sie benötigen ein ärztliches Gesundheitszeugnis, ein polizeiliches Führungszeugnis, den Nachweis regelmäßiger Einkünfte und den Nachweis über ausreichenden Wohnraum. Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie keinen Anspruch auf ein spezielles Kind haben. In diesem besonderen Fall allerdings machen wir eine Ausnahme. Ich habe bereits mit Pirmins Betreuer und Amtsvormund gesprochen. Der Junge redet von nichts anderem mehr. Sie haben sich durch die schwere Erkrankung des Kindes kennengelernt, oder?«

»Ja, das ist richtig. Ich habe versucht, den Jungen von dieser Idee abzubringen, aber … Das hat nicht so gut geklappt. Und da wir ohnehin Zeit miteinander verbringen …«

»Ah, das ist wichtig! Eine soziale Bindung außerhalb des Arzt-Patienten-Verhältnisses existiert bereits zwischen Ihnen beiden?«

Quirin war amüsiert.

»Das Arzt-Patienten-Verhältnis dau­erte ungefähr einen halben Tag lang. Danach war ich tatsächlich so etwas wie ein liebender Vater, der um das Leben seines Sohnes kämpft. Als der Junge mich bat, die Pflegschaft zu übernehmen, habe ich sehr zurückhaltend reagiert. Immerhin bin ich alleinstehend!«

»Herr Dr. Bichler, das ist völlig egal. Wir machen die Eignung einer Pflegefamilie nicht von Trauscheinen abhängig. Frau-Mann, Frau-Frau, Mann-Mann, Einzelpersonen … Das spielt vor dem Gesetz keine Rolle. Das wäre ja auch schlimm, wenn die Fähigkeit zur Kindererziehung von derlei Konstellationen abhinge. Schwierig allerdings kann es werden, wenn in dem Haushalt bereits Kinder leben, Sie verstehen? Eifersuchtsdramen, etc.!«

»Nein, da kann ich Sie beruhigen. Pirmin wird das einzige Kind bleiben.«

»Der Junge sitzt draußen? Wollen wir ihn einmal hereinbitten?«

»Ich hole ihn!«

Quirin erhob sich.

»Ich hab schon zusammengepackt«, erklärte der Junge zu seinem künftigen Pflegevater aufschauend.

»Moment, Moment!«, lachte die Amtsperson. »So schnell schießen die Bayern nicht! Es fehlen noch einige Unterlagen, und dann muss der Verwaltungsakt vollzogen werden. Für uns spricht der § 33 SGB VIII. Alle Pflegeeltern, die ein Kind von einer anerkannten Vermittlungsstelle vermittelt bekommen, sind Pflegeeltern im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Rahmen der Hilfe zur Erziehung. Damit sind Sie gewissermaßen Partner der betreuenden Stelle und sollten mit dieser eng zusammen arbeiten!«

»Aber ich komm’ doch jetzt mit zu dir, oder?«, fragte Pirmin unsicher.

»Haben Sie denn schon Vorbereitungen getroffen, Herr Dr. Bichler? Der Junge benötigt einen Raum, in dem mindestens ein Bett steht!«

Dr. Bichlers Erheiterung war grenzenlos.

»Wir haben bereits zusammen eingekauft, Pirmin und ich. Und ich habe in der Wohnung einen Raum für mich. Zum Rest habe ich nur noch mit besonderer Erlaubnis Zugang!«

»Ich hab ein Hochbett!«, verriet der Junge stolz.

»Ein Hochbett, soso!« Der Herr vom Amt war überrascht. »Darf ich fragen, was sie mit dem Hochbett anfangen werden, wenn Ihr Antrag abschlägig beschieden wird?«

»Das ist eine Möglichkeit, die wir für uns gedanklich ausgeschlossen haben!«

»Nun«, seufzte der Beamte, »wenn von Seiten der bisherigen Betreuer nichts im Weg steht, kann das Kind – zunächst besuchshalber – bei Ihnen einziehen!«

»Hurra!«, rief Pirmin aus und strahlte über das ganze Gesicht. Er schmiegte sich eng an Quirin. Der legte die Hand auf die Schulter seines Pflegekindes.

»Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute, Pirmin – Herr Dr. Bichler. Pirmin, ich hoffe, dass du immer brav bist und gut folgst!«

Quirin sah ihn überrascht an. »Das finden Sie wirklich wesentlich?«

»Nun, ich hatte letzte Woche hier ein Ehepaar, das darum bat, die Pflegschaft beenden zu dürfen, weil das Kind deutlich über die Stränge schlug!«

»Wie soll ein Kind sich entwickeln, wenn es nicht gelegentlich mal über die Stränge schlägt? Was hätten diese ›Eltern‹ denn getan, wenn ihr leibliches Kind über die Stränge geschlagen hätte? Es umgetauscht?«

»Bitte vergessen Sie nicht, Herr Dr. Bichler, das viele Kinder einiges mitgemacht haben und deutliche Verhaltensauffälligkeiten an den Tag legen!«

»Da bin ich mir sicher. Meine Eltern waren auch nicht mit allem einverstanden, was ich tat. Ich war kein pflegeleichtes Kind. Ich habe geklaut, wissen Sie? Und mit meinem Fußball die Scheiben der Nachbarn kaputtgeschossen. Und wissen Sie, was meine Eltern getan haben?«

»Äh, nein!«

»Sie haben mich trotzdem geliebt.«

»Da gratuliere ich Ihnen, Herr Doktor. Dies Glück hat nicht jedes Kind.«

»Ich weiß. Und ich finde das schrecklich.«

*

Als sie das Amtsgericht verließen, wirkte Pirmin nicht so glücklich, wie man es hätte erwarten sollen. Schweigend stapfte er neben Quirin her, der spürte, dass Pirmin düsteren Gedanken nachhing.

»Ich dachte, dass du dich freust«, bemerkte er freundlich.

»Ich freu’ mich ja auch!«

»Ach, so sieht das bei dir aus! Das wusste ich nicht!«

Die beiden liefen weiter still nebeneinander her.

»Du, Quirin, sag mal – wenn ich was falsch mache … schickst du mich dann weg?«

Beide blieben stehen. Quirin kniete sich vor dem Jungen hin und packte ihn bei den Schultern.

»Nein!«, sagte er nachdrücklich. »Niemals. Und das ist ein Versprechen!«

*

»Guten Tag, Herr Kollege Bichler«, ertönte hinter ihnen eine Stimme. Quirin drehte sich erschrocken um.

»Herr Süden! Das war unerwartet!«

»Entschuldigung! Ich wollte sie nicht erschrecken!«

»Passt schon, Herr Süden, passt schon. Wir haben hier nur gerade unser zweites Problem erörtert und gelöst!«

»Ihr Sohn?«

Gespannt sah Pirmin seinen Pflegevater an.

»Ja, mein Sohn«, entgegnete Dr. Bichler ruhig und bestimmt.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Frau haben! Ich dachte, Sie sind überwiegend mit der Klinik verheiratet!«

Die Herren lachten.

»Sind wir das nicht alle?«, fragte Emmerich.

»Da haben Sie recht, Herr Fahl«, antwortete Quirin. »Erstaunlicherweise jedoch bleibt auch immer noch Zeit für Privates. Schauen Sie sich um: Die Klinik stiftet die Partnerschaften! Wir sind doch alle vom Bau, oder? Es wird mal Zeit, dass ein Arzt sich eine Partnerin oder einen Partner sucht, der nicht mit Medizin zu tun hat!«

»Hatte ich ja! Meine Ex war Politikerin! Sie saß für ihre Partei in der Hamburgischen Bürgerschaft, jetzt im Bayrischen Landtag!«

»Welche Partei?«

»Die Grünen!«

»Das ist aber mal eine Abwechslung vom ewigen Klinikweiß!«, lachte Emmerich.

»Papa?«

Pirmin zupfte an Quirins Ärmel. »Ich hab Hunger!«

»Sollen wir schnell zum Irschenberg fahren und einige Hamburger vernichten?«

Der Junge nickte begeistert.

»Haben Sie Lust, mitzukommen, meine Herren?«

»Lust schon, aber … Ich habe zu Hause etwas vorbereitet. Emmerich wurde quasi heute entlassen und ist seit fast drei Wochen wieder zu Hause!«

»Schreck, lass los! Ich habe gar nicht gemerkt, dass Sie abwesend waren, Herr Fahl, bitte um Entschuldigung! Ab er in der Pädiatrie haben wir nicht so oft mit der Physiotherapie zu tun!«

»Aber ich bitte Sie, Herr Dr. Bichler! Dass ist doch wirklich keine Sache! Das mit den Hamburgern holen wir aber mal nach, ja? Ich habe schon Lust, mal wieder so etwas zu essen!«

»Dass Sie das zugeben!«

»Warum nicht? Wenn man auf Heuchelei verzichtete, wäre schon viel Elend aus der Welt geschafft, finden Sie nicht?«

Fröhlich verabschiedeten die Herren voneinander.

*

»Du hast etwas vorbereitet?«, erkundigte sich Emmerich neugierig.

»Was? Wie? Wer hat etwas verbreitet?«

»Du hast eben gesagt, dass du etwas vorbereitet hast!«

»Habe ich? Da hast du dich sicher verhört! Wann sollte ich denn etwas vorbereiten? Ich bin froh, dass ich es hinbekommen habe, dich abzuholen!«

»Ja, das ist wahr«, sinnierte Emmerich. »Das war auch wirklich schön, dich da stehen zu sehen. Du hast mich angesehen, als befürchtetest du, dass ich für immer im Kloster bleiben würde!«

»Das hätte doch sein können, Emmerich! Und, was noch schlimmer gewesen wäre: Es wäre meine Schuld gewesen. Ich habe dir nie gezeigt, was ich fühle. Ich habe immer vorausgesetzt, dass du das eigentlich wissen müsstest. Aber wer nicht zeigt, was er fühlt, läuft Gefahr, zu verlieren, was er liebt.«

*

Sie waren zu Hause angekommen. Die Dämmerung war hereingebrochen. Emmerich betätigte den Lichtschalter im Flur. Es blieb dunkel. Er drückte einige Male auf die Taste.

»Nanu? Was ist denn mit dem Licht?«

»Keine Ahnung! Heute morgen funktionierte noch alles! Ein Stromausfall, vielleicht? Probier doch mal im Wohnzimmer!«

Emmerich durchquerte den Flur und versuchte, das Deckenlicht einzuschalten.

Es flammte auf, und aus vielen Kehlen ertönte ein »Herzlich willkommen!«

»Ich weiß ja, dass du kein Fan von Überraschungsparties bist, Emmerich, aber irgendwie bot sich das an. Wir alle hier wollten dir zeigen, wie sehr wir dich vermisst haben, und wie sehr wir uns freuen, dass du wieder zurück bist!«

Verlegen stammelte der Heimkehrer etwas wie »Ihr spinnt ja total!«. Es war ihm peinlich. Für ihn gab es kaum etwas Unangenehmeres, als im Mittelpunkt und im Zentrum des allgemeinen Interesses zu stehen.

»Ich bin hier zwar auch nur als Gast und nicht in meiner Eigenschaft als Chefarzt«, betonte Egidius, »aber – wenn mir die Bemerkung gestattet ist: Es wird langsam Zeit, Herr Fahl, dass Sie uns wieder voranbringen, mit Ihrem Talent! Wir haben Sie vermisst. Natürlich auch menschlich. Besonders als Menschen. Aber Sie wissen, wie sehr ich Ihre Professionalität schätze! Also: Willkommen daheim!«

»Der Michael hat ein unglaubliches Catering hingelegt«, staunte Timon. »Schau dir das bloß mal an! Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen!«

Michael Barbrack stellte den Maxi-Cosi mit Leander neben den von Murat und Katrin mit Sinan Elias, der bereits neben Corinnas und Egidius’ Sophie Aufstellung genommen hatte.

»Das ist die nächste Generation«, freute sich Frau Fürstenrieder. Wenn von uns keiner mehr redet, werden diese Kinder den Ruhm der Klinik St. Bernhard fördern!«

»Wer hat eigentlich diese Dinger erfunden?«, fragte Amandus Pachmayr. »Ich meine, der hat doch ausgesorgt, für alle Zeiten, oder? Genial, wirklich!«

»Sie meinen den Maxi-Cosi? Ja, ich denke auch. Und nicht nur der Erfinder. Vermutlich auch die kommenden Generationen. Ich bin sicher, dass die weltweit vertrieben werden!«

Philipp und Chris stießen sich an.

»So ein Ding müssen wir auch noch besorgen! Obwohl wir ja vermutlich nur sekundäre Väter werden. Eigentlich ist es ja Hatices Kind!«

Amandus sah verständnislos von einem zum anderen.

»Hatice? Sie werden Väter? Ich dachte, Sie sind …«

»Sind wir, ja. Aber durch derlei Nebensächlichkeiten lassen wir uns nicht aufhalten, Herr Pachmayr«, behauptete Philipp.

»Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden«, deklamierte Chris.

»Meine Damen und Herren, das Büfett ist eröffnet!«

*

»Eine rundum gelungene Feier, oder?« In Timons Stimme klang ein stolzerfüllter Unterton mit.

»Eine rundum gelungene Feier!«, bestätigte Emmerich. »Aber weißt du, was ich so besonders mochte? Du hast mich erstmals so behandelt, als gehörte ich hierher. Nicht wie einen guten Freund, der mal drei Tage hier übernachtet, weil er auf seinem Weg von Augsburg nach Meran kurz am Schliersee Rast macht.«

»Weißt du auch, warum? Weil du hierher gehörst. Punkt.«

An Bord

»Maria, was redest du? Du gehörst zu mir. Punkt!«

Maria hatte der Mut verlassen. So eifrig, wie sie damit befasst war, beiden eine neue Garderobe zu beschaffen, so zurückhaltend, fast schüchtern, wurde Sie, als es ans Packen ging.

»Ich werde das fünfte Rad am Wagen sein, Tassilo. Du wirst abends mit deinen Kollegen an der Bar sitzen, und ihr werdet die Einstellungen und Scheinwerfer-Positionen für den Dreh am nächsten Tag besprechen, während ich einsam und allein der Kabine hocken werde!«

»Oder im Casino!«, zwinkerte Tassilo ihr zu.

»Im Leben nicht!«, versicherte Maria pathetisch.

»Wieso? Solange du gewinnst, ist doch alles gut!«

»Ohne dich trau’ ich mich da gar nicht hinein. Nein, Tassilo. Die vielen Menschen, die reichen, feinen Pinkel, was habe ich denen schon entgegenzusetzen? Ich, die poplige kleine Krankenschwester vom Schliersee! Eine Landpomeranze, wie sie im Buche steht! Ich wette mit dir: Wenn ich den Raum verlasse, lachen alle über mich!«

»Soll ich alles absagen, Maria? Wenn du lieber hier bleiben möchtest, ist das in Ordnung!«

»Du sagst überhaupt nichts ab. Zumindest nicht meinetwegen. Du hast gesagt, dass dieses Engagement wichtig für deine Karriere ist. Du fährst, ich bleibe hier.«

Tassilo schüttelte heftig den Kopf.

»So siehst du aus! Das kommt überhaupt nicht infrage. Entweder zusammen oder gar nicht. So was fangen wir gar nicht erst an. Sonst erreichen wir irgendwann das Stadium, in dem wir unseren Bekannten beichten, ja, wisst ihr … Wir haben und auseinander gelebt!«

Seufzend nahm Maria Abstand von ihren löblichen Absichten. Mit Tassilo war nicht gut Kirschen essen. Warum waren Männer bloß immer so halsstarrig? Sie würden von München über Frankfurt, wo sie die Film-Crew treffen wollten, nach Miami fliegen, und dort das Schiff besteigen. Na gut. Sie ergab sich in ihr Schicksal.

*

Überraschenderweise klappte alles reibungslos. Die VIP-Lounge auf dem Frankfurter Flughafen war prall gefüllt mit Schauspielern, Maskenbildnern, Kostümbildnern, Kameramännern, Technikern – kurz, mit allen, die man für die Produktion eines kurzweiligen, familientauglichen Films brauchte. Maria schaute verschüchtert die Stars und Sternchen an. Es war ja nicht ihre erste Berührung mit Leuten vom Film. Aber als die Arztserie auf ihrer Station gedreht wurde, da war sie die Hausherrin gewesen. Jetzt war sie nur die ›Frau von jemandem‹, die Mitgenommene, die dankbar sein musste für die Chance, der glitzernden, schillernden Welt der Schönen, Prominenten und Reichen so nahe zu kommen. Näher, als sie es nach eigenem Verdienst jemals selbst hätte bewerkstelligen können. Nun gut. Sie sah sich um. Immerhin. Weder Christine Neubauer noch Christiane Hörbiger waren dabei. Vielleicht würde es doch ein netter Urlaub werden?

Für den Transfer vom Flughafen zum Schiffsanleger hatte die Produktionsfirma einige Kleinbusse gechartert. Niemand redete mit Maria. Halt! Das stimmte nicht ganz! Einer der Darsteller, so ein attraktiver, etwas dicklicher blonder Mann, denn sie als vertrauenswürdigen Arzt aus einer Serie kannte, wandte sich an sie.

»Na, Schätzchen?«, sprach er. »Kennen wir uns nicht aus dieser Serie, die in der Schule mit dem Reiterhof spielte? Hast du da nicht die Frau des Hausmeisters gespielt?«

»Nein. Ich bin keine Schauspielerin. Und ich möchte nicht ›Schätzchen‹ genannt werden. Wenn, dann maximal von meinem Mann!«

»Was zickst du denn ‘rum? Hast du deine Tage?«

Warum ohrfeigte sie diesen öligen Typen nicht einfach? Allerdings musste man ihm eins lassen: Er war ein grandioser Schauspieler. Die Rolle des kompetenten, zuverlässigen, altruistischen Mediziners gab er überzeugend. So überzeugend, dass niemand geglaubt hätte, was für ein ekelhafter Typ er eigentlich war.

*

Die Kabine war bescheiden ausgestattet und weit entfernt von dem, was die Reedereien in ihren Hochglanzprospekten abfotografierten. Aber immerhin hatte sie einen kleinen Außenbalkon, den sie allerdings nie würde benutzen können, weil er eklig hoch lag.

»Schatz, dass musst du dir ansehen«, versuchte Tassilo die Liebste hinauszulocken.

»Vielleicht später«, lächelte sie beherrscht. »Ich möchte erstmal auspacken und die Sachen in den Schrank hängen! – Da fehlt noch ein Koffer, oder? Der nette junge Kerl wollte ihn doch bringen!«

In diesem Moment klopfte es an der Kabinentür.

»Wer ist da?«

»Esfandar ist mein Name! Ich bringe Ihr Gepäck!«, tönte es von draußen.

Tassilo drückte dem jungen Mann ein kleines Trinkgeld in die Hand und zog sich in das kleine Bad zurück, aus dem Geräusche der Dusche an Marias Ohr drangen.

»Ich bedanke mich, Esfandar. Sie gehören zur Crew des Schiffs?«

»Genau! Eigentlich bin ich Steward in der Offiziersmesse. Aber wenn viel zu tun ist, mutiere ich zum Mädchen für alles! Wenn Sie etwas benötigen, wenden Sie sich gern an mich. Ihre erste Cruise?«

»Das kann man so sagen!«

»Sie kommen aus Bayern?«

»Oberbayern, sogar! Ich bin Krankenschwester!«

Das war an diesem Tag das erste Mal, dass man Maria lächeln sah. Sie gestattete sich einen Blick auf den schönen jungen Mann, der da vor ihr stand. Die schwarzen Locken. Die vollen Lippen. Die großen, melancholischen, dunklen Augen. Die perfekten Zähne. Ihr Blick ging auf seinem Gesicht auf Entdeckungsreise. Wie schön er war!

»Mein Zwillingsbruder studiert in München. Deswegen kenne ich den Dialekt!«

»Was? Sie gibt es zweimal?«, lachte Maria. Ihr wurde unerklärlich heiß. Mit den Händen fächelte sie sich Kühlung zu.

»Überlegen Sie sich jetzt gut, was Sie sagen«, grinste der junge Mann. »Meine Mutter hat immer gejammert, dass einer allein schon schlimm genug wäre, oder so ähnlich!«

Er machte eine kleine Pause und strahlte Maria an.

»Heute Abend habe ich Dienst im Restaurant. Es ist zwar Self Service, mit einem tollen Büfett, aber ich würde mich freuen, Ihnen die Getränke servieren zu dürfen. Und wenn Sie Extras wollen, kann ich da bestimmt was für Sie tun. Ohne …« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Soll ich Ihnen einen Tisch in meinem Revier reservieren?«

Komisch. Bis Esfandar auftauchte, hatte Maria sich fremd und deplatziert gefühlt. Jetzt hatte Tauwetter eingesetzt. Ein Gefühl von Heimat. Sie nickte.

»Ist 19 Uhr recht? Oder früher?«

»19 Uhr hört sich fabelhaft an!«

»Sie bekommen den schönsten Tisch. Mit Aussicht. Versprochen!«

*

»Hoffentlich verletzt sich niemand von den ›Stars‹«, lachte die Krankenschwester, die Dagmar zur Seite stand. Das Wort ›Stars‹ klang ironisch aus ihrem Mund. »Irgendwie belastend, oder? Stellen Sie sich vor, es passiert etwas, und dann heißt es, dass trotz sofortiger medizinischer Intervention die berühmte Schauspielerin XYZ nicht gerettet werden konnte, und alle werden denken, naja, an Bord eines Schiffes, da gibt es eben keine Hochleistungsmedizin, Pech gehabt!«

»O ja. Und dann werden sie fragen, wer war denn die verantwortliche Ärztin, und in jedem Boulevard-Blättchen wird mein Bild erscheinen, möglichst unvorteilhaft, um den Leuten zu zeigen, da! Die hier! Die ist schuld! – Ach, das ist doch mal eine nette Abwechslung, auch für die anderen Gäste, finden Sie nicht? Filmaufnahmen sieht man ja nun nicht alle Tage! Ich bin ziemlich sicher, dass wir so ziemlich jeden am Leben halten können, es sei denn, er springt nachts von Bord!«

»Vielleicht werden wir entdeckt?«

Die Schwester betrachtete ihr Spiegelbild über dem kleinen Waschbecken im Behandlungsraum mit Wohlgefallen.

»I am ready for my close-up, Mr. DeMille!«, rief sie aus, und warf den Kopf in den Nacken.

Dagmar konnte sich das Lachen kaum verbeißen.

»So, großer Star! Die Instrumente sind im Steri? Und die Stieltupfer fertig gedreht?«

»Frau Doktor, ich muss Ihnen leider sagen: Sie haben etwas erschrecken Desillusionierendes an sich!«, stellte die Krankenschwester fest.

»Tut mir leid, wenn ich mich Ihrer Karriere in den Weg stelle, Schwester. Ich denke, bis Hollywood anruft, werden wir noch einige Pillen gegen Migräne und Reisekrankheit verteilen, Platzwunden nähen und Panikattacken bekämpfen müssen. Deswegen: Lassen Sie uns vorbereitet sein!«

Klinikalltag

»Wo ist denn nun mein Sohn, Frau Doktor? Hat er etwas gesagt? Wie schlimm ist es?«

Elenore Pahlhaus befleißigte sich in untypischer Weise stoischer Zurückhaltung. »Ich … Ich habe nichts verstehen können, Frau Sonntag! Er murmelte ununterbrochen etwas vor sich hin, aber er sprach wirklich undeutlich und leise. Er versprach mir aber, bevor er den OP verließ, dass er so schnell wie möglich zu Ihnen kommen wollte. Ich versuche gleich noch einmal, Frau Fürstenrieder anzurufen. Die weiß immer, wo er ist, und wird ihn sicher zu uns scheuchen!«

»Darf ich schon etwas trinken?«

»Ihr Sohn hat eine Gewebeentnahme durchgeführt, deswegen … Nur kleine Schlucke in größeren Abständen, wenn’s recht ist!«

*

Frau Fürstenrieder betrachtete ihren Chef mit Sorge.

»Sie gefallen mir gar nicht, Herr Professor!«, bemerkte sie.

»Wir könnten Sie ins Sekretariat von Professor Tauber versetzen«, entgegnete Egidius. »Seine Sekretärin hört zum Oktober auf!«

»Herr Professor!«, rief die Dame vorwurfsvoll. »Sie wissen doch, wie ich es meine, oder?«

»Ja, natürlich. Nicht böse sein. Meine Mutter liegt mir wie ein Stein auf der Seele. Das tat sie zwar früher schon, aber aus anderen Gründen. Wie sagt man seiner Mutter, dass ihr Leben zu Ende geht?«

»Ich weiß nur eins, Herr Professor: Wenn mein Leben zu Ende ginge, würde ich es ertragen, wenn Sie es mir sagten. Sie finden immer die richtigen Worte.«

»Wissen Sie, Frau Fürstenrieder – müsste ich Ihnen diese Neuigkeit verkünden, hätte ich vermutlich ebenso große Schwierigkeiten. Wir kennen und so viele Jahre, und ich glaube, Sie wissen Dinge von mir, die ich noch nicht einmal meiner Frau erzählt habe. Sie stehen meinem Herzen ganz außerordentlich nahe. Aber die eigene Mutter? Das beinhaltet noch einmal ganz andere Schwierigkeitsgrade. Ach, verflixt! Warum konnte ich sie nicht nach München schicken? Warum musste ich mich mal wieder in den Vordergrund drängen?«

Frau Fürstenrieder kniff die Augen zusammen. Ihr freundliches Gesicht wurde ernst.

»Wissen Sie, Herr Professor, wovor ich am meisten Angst habe?«

»Sie und Angst? Das ist völlig undenkbar für mich!«

»Ich habe Angst, dass ich einsam und allein, ohne irgendeinen Beistand, in meiner Wohnung entschlafe, und die Nachbarn bemerken es erst, weil der Briefkasten überquillt. Man liest doch immer wieder von solchen Fällen!«

»Aber Frau Fürstenrieder! Glauben Sie nicht, dass mir auffallen würde, wenn Sie nicht zum Dienst erschienen?«

»Natürlich. Aber irgendwann werde ich in den Ruhestand gehen. Und was ist dann? Mein Mann starb früh, und die kurze Episode mit Herrn Kreuzeder hat mich nicht nachhaltig glücklich gemacht.«

»Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, aber – mir wurde zugetragen, dass Sie an der Seite eines uns nicht ganz unbekannten Kriminalkommissars gesehen wurden!«

»So! Zugetragen wurde es Ihnen, Herr Professor! Ja, er scheint sich für mich zu interessieren. Vermutlich ist er meine letzte Chance!«

»Ich habe es Ihnen schon oft gesagt. Sie sind eine wunderbare, warmherzige, attraktive Frau. Und meine Abteilung läuft unter anderem so gut, weil Sie hier das Sekretariat in der Hand haben. Erst neulich sagte ein Patient, dass der Klang ihrer Stimme schon so beruhigend auf ihn wirkte, dass er vor seiner Prostatapunktion keine Angst mehr hatte!«

»Sehen Sie? Darauf wollte ich hinaus. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich habe Angst, dass ich allein und vereinsamt irgendwo vergessen werde. Ich bin sicher, dass Ihre Mutter das ganz ähnlich sieht. Wenn Sie ihr beistehen, sie nicht allein lassen, ihr die Schmerzen nehmen, dann wird sie diesen Weg gehen können. Er gehört ja nun mal zum Leben dazu.«

Egidius packte seine Sekretärin an den Armen, zog sie zu sich heran, und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Was haben Sie da eben gesagt? Ruhestand? Das denken Sie! Ich lasse Sie hier gar nicht weg! Was sollte ich ohne Ihre Weisheit anfangen?«

*

Der Weg zum Aufwachraum erschien heute besonders lang zu sein. Egidius versuchte, würdig und beherzt voranzuschreiten, wie er es immer tat. Heute jedoch war sein Gang unsicher. Der Boden der Flure schien gummiartig seinem Schritt nachzugeben. So musste es sich anfühlen, durch ein Moor zu waten, dachte er, als er an die Tür klopfte.

Seine Mutter lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Ihre Gesichtshaut war gelblich. Sie wirkte seltsam transparent wie die Gesichter der Wachsfiguren bei Madame Tussaud. War ihre Nase schon immer so spitz gewesen? Ihre Lippen so blass?

»Mama?« Keine Reaktion.

»Mama!«, rief er lauter. Aber sie erwachte nicht.

Sie war doch nicht … Um des Himmels willen!

»Hallo! Mama! Mama!«, rief er laut.

Sie schreckte hoch.

»Junge! Was schreist du denn so? Ich bin doch nicht taub!«

»Ich dachte …«

»Was dachtest du?«

»Du bist nicht aufgewacht, und ich habe einfach einen Schreck bekommen!«

Theres Sonntag sah ihren Sohn prüfend an. Sie begriff.

»So schlimm steht es um mich?«

»Nun, ich muss selbstverständlich noch auf die feingewerbliche Untersuchung warten, aber …«

»Rede nicht mit mir, als wäre ich eine Patientin, Egidius. Ich bin deine Mutter. Wir haben uns immer die Wahrheit gesagt, von kleineren Notlügen mal abgesehen. Was ist los?«

»Du hast einen Tumor im Magen, der ihn zur Hälfte ausfüllt. Es sieht nicht gut aus.«

»Du willst mir sagen, dass – dass man nichts mehr tun kann?«

Egidius senkte den Kopf.

Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante.

»Es sieht sehr ernst aus. Aber, wie gesagt: Ich warte auf die Histologie. Wenn es nur den Schatten einer Hoffnung gibt, dann operiere ich.«

Die Mutter ergriff die Hand des Sohnes.

»Wieviel Zeit bleibt mir, wenn ich mich nicht operieren lasse, oder wenn eine Operation keinen Sinn mehr hat?«

»Das kann man nicht wissen, Mama. Ein halbes Jahr? Ein Vierteljahr? Ein Jahr? Du warst immer eine starke Frau!«

Theres hielt Egidius’ Hand fest, wie ein Ertrinkender den Rettungsring.

»Ich habe eine Bitte an dich, mein Sohn. Ich möchte nicht im Ruperti-Stift sterben, bei fremden Leuten. Könnte ich nicht hier, in deiner Klinik …«

»In der Klinik? Das ist ja wohl ein Scherz! Du kommst zu uns! Max und Lukas ziehen unters Dach, und du wohnst im Anbau!«

»Nein, Egidius. Corinna hat das Baby, und du siehst den ganzen Tag Krankheit und Leid. Wenn du dann heimkommst, sollst du nicht mit deiner alten, nutzlosen Mutter konfrontiert werden! Ich möchte nur, dass wir den richtigen Zeitpunkt nicht versäumen!«

»Den richtigen Zeitpunkt?«

»Den zum Verabschieden, Egidius. Unsere Wege werden sich bald trennen. Und wenn es so weit ist, möchte ich dir noch einige Verhaltensregeln mit auf den Weg geben!« Sie lachte.

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Glaubst du nicht, dass du damit etwas zu spät kommst? Deine Fehler in meiner Erziehung kannst du jetzt auch nicht mehr ausbügeln!«

»Hilf mir hoch! Ich möchte mich aufsetzen!«

Er tat, wie ihm geheißen.

Sie legte ihre Hand an seine Wange.

»Wann hast du dich zuletzt rasiert? Du kratzt!«

»Mama! Heute Morgen! Das ist ja nun schon einige Stunden her!«

Sie umarmte ihn und legte ihren Kopf an seinen.

»Wie dein Vater«, schmunzelte sie. »Bei dem war der Bartwuchs auch so stark.«

Und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Ich habe keine Angst, weißt du? Es ist nur schade, dass ich meine Enkeltochter nicht aufwachsen sehen werde. Aber Lukas durfte ich noch kennenlernen. Er ist ein feiner, kluger, sensibler Junge.«

Egidius kämpfte mit den Tränen. Er räusperte sich.

»Mama, wir richten dein Zimmer her, und morgen holt Corinna dich ab!«

»Wenn sie es nicht möchte, ist das in Ordnung, hörst du? Mir wäre es schon recht, wenn ich hier in eurer Nähe sein könnte!«

»Ich bin sicher, dass sie mir die Ohren langziehen würde, wenn ich dich nicht zu uns nach Hause holen würde!«

»Wenigstens eine Frau, die dich im Griff hat«, bemerkte Theres erleichtert.

*

›Elisabeths Platzerl‹ war Schauplatz besonderer Ereignisse. Im Gänsemarsch betraten ein gut aussehender Herr, ein niedliches, rothaariges Mädchen und eine attraktive Dame das urgemütliche Café am Stadtplatz in Miesbach und zogen sich in der Hoffnung auf einen ruhigen Platz in den hinteren Teil zurück.

»Es ist Datschi-Zeit«, erklärte Elisabeth fröhlich. »Bleibt die Frage: Mit oder ohne?«

»Keine Frage. Dreimal mit!«, rief Kilian vergnügt. »Ohne Sahne ist Datschi nur halb so gut!«

Die Erwachsenen tranken Tee, das Kind bekam eine heiße Schokolade.

»Wir behalten zunächst einmal unsere Wohnungen, würde ich vorschlagen«, erklärte Ricarda.

»Meinst du nicht, dass es für das Kind einfacher wäre, wenn sie nicht ständig zwischen uns hin- und herpendeln müsste? Was sagst du, Felicitas?«

»Zusammenwohnen ist praktischer«, behauptete das Kind.

»Das ist prinzipiell richtig, Feli. Aber schau mal: Wir beiden, Mama und ich, leben jetzt schon so lange allein! Da geht es nicht nur darum, welchen Toaster wir nehmen oder welches Geschirr. Es geht um das, was wir im Kopf haben, verstehst du? Wenn man zusammenlebt, stellt man sich auf den anderen ein. Man macht nicht mehr, was man will, weil das den Partner zu sehr einschränken würde. So. Jetzt müssen wir uns erst einmal gedanklich daran gewöhnen. Aber, wenn du einverstanden bist, Ricarda, wir können doch schon mal nach einer Wohnung suchen, die uns allen gefällt. Was sagt ihr?«

»Und wenn uns gleich die erste Wohnung ganz gut gefällt?«, fragte Felicitas neugierig.

»Dann mieten wir sie und richten Sie uns wunderschön ein. Das meiste kaufen wir neu. Und du bekommst sowieso lauter aufregende neue Sachen!«

Das Kind ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Mehr und mehr gefiel ihr die Situation. Alles neu?

»Kann ich auch ein Aquarium haben?«

»Und wer wird sich um das Aquarium kümmern? Die Fische füttern, das Wasser wechseln, die Scheiben putzen?« Ricarda hatte die rechte Augenbraue zweifelnd hochgezogen.

»Das mache ich, ich versprech’s!«

»Wollen wir hoffen, dass das keine leeren Versprechungen sind, Feli«, lachte Kilian. »So. Alles aufgegessen? Ich zahle mal und fahre euch rasch heim!«

*

»Gehst du schon mal vor, Schatz? Mama muss schnell noch über etwas mit Papa sprechen!«

Was mochte das sein? Ob das etwas mit der Ausstattung ihres neuen Zimmers zu tun hatte? Ihre Eltern lächelten beide, also konnte es nichts Unangenehmes sein.

»Ich decke schon mal den Tisch fürs Abendbrot«, erklärte sie. »Kommst du auch, Papa?«

»Nein, leider! Ich habe Dienst!«

Felicitas zog sich zurück.

»Ich wollte noch kurz etwas klären, Kilian«, sagte Ricarda. »Weil das kürzlich vielleicht falsch 'rübergekommen ist.«

»Was meinst du?«

»Ich habe dir gesagt, dass ich nicht verliebt in dich war, sondern eher mein Mutterinstinkt sich meldete. Ich hoffe, dass du mir das nicht übelgenommen hast!«

»Warum sollte ich das verübeln, Ricarda? Du hast mir ja auch nie etwas vorgespielt. Alles, was war, entstand wohl eher in meiner Fantasie!«

»Das ist sicher richtig. Und ich will dir jetzt auch nichts vormachen. Ich tue das alles nur des Kindes wegen. Wir können doch Freunde sein, findest du nicht?«

»Na klar können wir das«, bekräftigte der chirurgische Oberarzt heiter. »Vermutlich ist das der bessere Teil einer Partnerschaft, meinst du nicht? Diese schwammige, wahnsinnige Liebe legt sich ohnehin mit der Zeit. Wohl dem Paar, bei dem die Freundschaft weiter existiert!«

»Danke, Kilian. Schön, dass du es auch so siehst!«

»Weißt du, was mir besonders wichtig ist? Ehrlichkeit. Und, dass wir immer so miteinander reden wie jetzt und hier.«

Ricarda wurde flammend rot. Da war noch etwas, das sie klären musste. Dringend. Bis jetzt hatte sie sich nur einer Schwindelei schuldig gemacht. Einer kleinen Notlüge, allenfalls. Dabei hatte er Ehrlichkeit gefordert. Egal. Sie würde das klären, ein für alle Mal. Nur Kilian sollte nichts davon mitbekommen.

Andere Verhältnisse

»Darf ich eigentlich ›Papa‹ zu dir sagen?«

»Was stimmt nicht an ›Quirin‹?«

»Findest du es nicht schön, wenn ich dich ›Papa‹ nenne?«

»Ich weiß nicht! Du hast ja noch nie Papa zu mir gesagt! Zu mir hat überhaupt noch nie jemand ›Papa‹ gesagt. Wie denn auch? Deswegen habe ich keine Ahnung, wie sich das anfühlt!«

»Ich mach’s einfach mal. Wenn du nicht damit rechnest. Und dann sagst du mir, wie du es findest.«

»Warum ist dir das so wichtig?«

»Ich hab mir vorgestellt, dass ich dann – irgendwie fester zu dir gehöre!«

Quirin Bichler war gerührt. Er war weit davon entfernt, Träumer oder Romantiker zu sein. Genau dieser Realismus führte dazu, dass er alle Damen, die sich je für ihn interessiert hatten, verschreckte. (Als zweiter Grund wurde gern der Umstand angeführt, dass er ohnehin mit der Klinik verheiratet wäre.) ›Man muss Prioritäten setzen!‹, war sein Leitsatz. Und die seine war eben der Beruf. Würde sich mit dem Jungen daran etwas ändern?

Sicher nicht. Selbstverständlich würde er sich bemühen, Pirmin ein schönes Leben zu bereiten. Er würde ihm seine materiellen Wünsche erfüllen. Er würde ihm emotionale Nähe und Halt geben. Vielleicht würde sich zwischen ihnen so etwas wie Vater-Sohn-Liebe entwickeln. Er würde aber auch streng sein. Immerhin hatte er die Vaterrolle auszufüllen. Er wunderte sich immer über Eltern, die stolz darauf waren, ›die besten Freunde ihrer Kinder zu sein‹. Seiner Ansicht nach war das falsch. Freunde sind die Freunde. Eltern bleiben die Eltern. Quirin hatte Dinge in seinem Leben für wichtig erkannt, Werte, Ziele, die er gern vermitteln wollte. Und er war darauf vorbereitet, dass in wenigen Jahren, nach dem Einsetzen der Pubertät, Schwierigkeiten auftreten würden, Streit, Zerwürfnis.

»Ich habe nichts dagegen, Pirmin. Auch, wenn es das nicht braucht.«

»Warum?«

»Weil wir ab sofort zusammengehören. Oder glaubst du, dass ich wegrenne, wenn es schwierig wird?«

Er zwinkerte dem Jungen fröhlich zu.

»Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass wir beide das Schwierigste schon hinter uns haben, glaubst du nicht?«

Pirmin verstand. Er dachte kurz nach. Dann nickte er kräftig.

»Siehst du. Und da bin ich auch nicht weggerannt. Im Gegenteil.«

Der Junge sah den Pädiater strahlend an. Eben war ihm bewusst geworden, dass er sehr, sehr glücklich war.

*

Die Atmosphäre in der Notfallambulanz war, um es positiv zu formulieren, angespannt. Wann bloß, dachte Schwester Nasifa, kommt Frau Dr. Schattenhofer zurück? Die Stimmung hatte den Gefrierpunkt erreicht. Ludwig und Amandus bemühten sich krampfhaft um Höflichkeit. Timon sprach gelegentlich ein Machtwort, wenn die Lage gar zu prekär wurde.

»Wenn es nicht funktioniert, dass wir hier friedlich und engagiert zum Wohle der Patienten zusammenarbeiten, dann verbanne ich jeweils einen von euch auf die Station zum Anamnesen und Entlassungsberichte schreiben. Inzwischen fällt diese Scheiß-Stimmung hier sogar schon den Patienten auf. So geht das nicht!«

Amandus Pachmayr und Ludwig Lechner redeten beide gleichzeitig. Jeder begann seine Ausführungen mit dem Wort ›aber‹.

»Ich will nicht hören, was ihr für Probleme miteinander habt, Kollegen. Ich will hören, wie ihr sie lösen werdet. Zeit, erwachsen zu werden!«

Timon hatte streng geklungen. Für den Rest des Tages rissen sich die Streithähne zusammen.

Schwester Nasifa betrachtete sich im Spiegel.

»Ausgezeichnet, Schwester Nasifa«, beeilte sich Dr. Timon Süden zu sagen. »Ganz ausgezeichnet!«

»Ich verstehe nicht?«

»Ihre Frisur! Die roten Strähnen beleben das Schwarz ihrer Haare, und der Schnitt ist frech und unterstreicht ihren Typ!«

Die Krankenschwester staunte.

»Dann ist es also doch jemandem aufgefallen! Na Gott sei Dank! Und ich hatte schon befürchtet, dass mich niemand hier ansieht!«

»Sie nicht ansehen? Unter uns gesagt, Schwester Nasifa: Ihr Anblick ist so ziemlich das Erfreulichste hier und verschönt meinen Tag!«

Schwester Nasifa sah den Doktor überrascht an.

»Aber ich dachte, dass Sie … Ich meine, weil Sie doch mit Herrn Fahl … Also …«

Sie errötete und blickte zu Boden.

Timon zwinkerte ihr zu. »Sie denken, bloß weil ich mit einem Mann zusammenlebe, bin ich nicht in der Lage, die Attraktivität einer Frau zu beurteilen? Sie! Lassen Sie das bloß meine Ex-Frau nicht hören!«

»Das ist ohnehin etwas, das ich nicht verstehe«, warf die Schwester eifrig ein. »Ich meine, wenn man eine Frau heiratet und sogar Kinder mit ihr hat – und dann plötzlich mit einem Mann … Bitte entschuldigen Sie, Herr Doktor. Es geht mich ja überhaupt nichts an!«

»Wissen Sie, es kommt sogar heute noch vor, dass Männer, die sich zu ihrem eigenen Geschlecht hingezogen fühlen, Frauen heiraten, um die Erwartungen der Gesellschaft, der Eltern, der Nachbarn zu erfüllen. Soziale Zwänge allerdings waren mir immer egal. Ich habe meine Frau geliebt. Aber ich erlaube mir eben manchmal auch ein zärtliches Gefühl einem Mann gegenüber. Und Emmerich und mich verbindet nicht nur dieses Gefühl. Er hat mich gerettet, nach meinem Apoplex. Sie können es sich nicht vorstellen, wie geduldig er war. Wie liebevoll! Wirklich! Ich glaube, dass das eins der Geheimnisse seines Erfolges ist. Er liebt Menschen, und er liebt das, was er tut.«

»Es gibt wirklich niemanden, der von Herrn Fahl nicht begeistert wäre«, bestätigte Nasifa. »Sogar Professor Sonntag lässt keine Gelegenheit aus, ihn zu loben! – Herr Dr. Süden?«

»Ja, bitte?«

»Sie nehmen mir nicht übel, dass ich gefragt habe, oder?«

»Natürlich nicht, Nasifa. Im Gegenteil. Wir arbeiten so hautnah miteinander, dass es gut ist, wenn zwischen uns vertrauensvolle Offenheit besteht! Anders als bei unseren beiden Streithähnen!«

»Ja, das ist wirklich ein Problem! Ich meine, Herrn Dr. Pachmayr kenne ich nicht so lange und konnte ihn deswegen nicht wirklich einschätzen, aber Dr. Lechner? Das überrascht mich wirklich! Dabei hatte ich ganz zu Anfang den Eindruck, dass die beiden sich ganz gut verstehen!«

»Wer weiß, was dahinter steckt. Ich mische mich da nur insoweit ein, als es die Qualität der Arbeit beeinträchtigt. Das kann und darf ich nicht zulassen.«

*

Maria hatte auf eigene Faust mit der Erkundung des Schiffs begonnen. Tassilo hing mit dem Film-Team zusammen. Morgen begann der Dreh, einige Bereiche des Decks, der Kabinengänge, des Fitnessraums und des Restaurants waren bereits abgesperrt und von der Requisite inspiziert worden. Die Fachkraft übergab der Schiffscrew eine Liste von Gegenständen, die bereitgestellt werden mussten.

Nun gut. Schade, dass Tassilo keine Zeit für sie hatte. Aber sie war eine selbstständige, emanzipierte Frau. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie auf dem Oberdeck mit seinem großen Swimmingpool und den Unmengen an Liegestühlen herum.

Warte nicht mit dem Abendbrot auf mich!, hatte Tassilo zu ihr gesagt. Nein, es hätte auch keinen Sinn gehabt, zu warten. Um die Besprechung des morgigen Tages nicht zu unterbrechen, war dem Filmteam ein besonderes Catering zur Verfügung gestellt worden. Also suchte sie die Kabine auf, wählte ein freundliches, buntes Sommerkleid aus, vielleicht nicht das passendste Kleidungsstück für das abendliche Diner, aber sie fühlte sich wohl darin, und das war schließlich die Hauptsache. Ihr Spiegelbild stimmte sie überraschend zufrieden. Dabei war das Kleid ganz billig gewesen. Aber die Nähte waren gut verarbeitet, und es passte ohne Änderung wie angegossen.

»Ich habe schon auf Sie gewartet!«

Sie war einen Moment unsicher im Eingangsbereich des Restaurants stehengeblieben und hatte versucht, einen freien Platz zu finden. Erfolglos. Es war wirklich voll. Kein Wunder! Das Büfett sah wirklich sensationell aus, ihr neuer Freund Esfandar hatte nicht übertrieben. Eine einzige Aneinanderreihung von Delikatessen.

Und nun, plötzlich und unerwartet, wurde sie angesprochen, von einer samtigen, dunklen Männerstimme, die sich wie auf Katzenpfoten in ihren Gehörgang schlich.

Esfandar hatte für sie einen Platz reserviert. Ganz, wie er es versprochen hatte. Mit Seeblick. Und frischen Blumen. Ja, tatsächlich! Natürlich standen auf allen anderen Tischen diese restauranttypischen Behältnisse für Zucker, Essig und Öl, Pfeffer und Salz. An ihrem Platz allerdings gab es als einzigem eine kleine Porzellanvase mit einem kleinen Blumenstrauß.

»Das ist aber lieb!«, staunte Schwester Maria. »Wo haben Sie die denn her, seemeilenweit von einem Blumenladen entfernt?«

Esfandar schmunzelte.

»Die gehören eigentlich zur Dekoration unseres Musicaltheaters! Ich habe ein paar Blumen gemopst. Fällt gar nicht auf! – Kommen Sie! Ich zeige Ihnen, was Sie unbedingt kosten müssen! Die Remoulade zum Roastbeef ist ein Gedicht, und in den Lachs im Salzmantel werden Sie sich hineinlegen wollen!«

Mit insgesamt vier Tellern beladen kehrten sie zu Marias Tisch zurück.

»Was sollen bloß die Leute denken?«, lachte Maria. »Die müssen mich für einen Vielfraß halten!«

»Warten Sie ab, bis ich Ihnen eine Auswahl unserer Desserts auf den Tisch stelle! Sie können den anderen hier nie wieder unter die Augen treten! Ach so – rot oder weiß?«

»Wie, rot oder weiß?«

»Der Wein! Zum Lachs sollten Sie eigentlich den Weißen nehmen, aber scheren Sie sich nicht um solche Vorschriften. Der rote ist ein kalifornischer Merlot, samtig, weich, fruchtig, mit einer zarten Vanillenote am Gaumen!«

»Wie wäre es mit einem stillen Wasser?«

»Machen Sie Witze?«

»Also den Merlot!«

»Eine gute Wahl!« Er imitierte den Tonfall eines Oberkellners. »Ich bringe eine Demi-Bouteille!«

»Was ist das jetzt schon wieder?«

»Eine halbe Flasche. Wenn ich eine Ganze auf den Tisch stelle, jammern Sie wieder!«

Dieser Junge konnte einen umhauen. Von seiner hinreißenden Erscheinung mal abgesehen, war er charmant, humorvoll, verstand seinen Job – und er gab ihr das Gefühl, der einzige Gast weit und breit zu sein. Bedeutend und schön. Ja, schön! Maria hatte keinen Bezug zu ihrem Aussehen. Wenn sie in den Spiegel sah, erschien ihr Reflex erträglich zu sein, zumindest schloss sie dies aus den Reaktionen ihrer Mitmenschen. Ihr Erscheinen löste keine Begeisterungsstürme, allerdings auch kein Entsetzen aus. Man nahm sie eben wahr. Fertig. Esfandars Aufmerksamkeit allerdings bewirkte, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben begehrenswert fühlte. Nein, damit tat sie Tassilo nicht unrecht. Ihre Beziehung zu Tassilo hatte sich langsam entwickelt und war zu Beginn eher unschön gewesen. Zwischen Esfandar und ihr vibrierte die Luft – von der ersten Sekunde an.

»Wir könnten eine ganze Flasche gemeinsam leeren, Esfandar! Na? Wie sieht es aus?«, erkundigte sie sich munter.

Traurig blickte dieser in ihre Augen.

»Wenn ich doch nur keinen Dienst hätte! Aber ich bin hier so was wie Mädchen für alles! Sogar, wenn ich offiziell frei habe, kann es sein, dass ich irgendwo oder für irgendwen einspringen muss! Das gibt dann gut Geld, aber …«

»Ich verstehe«, unterbrach Maria. »Mit Ihnen geht es nur spontan oder gar nicht!«

»So ungefähr, ja!«

»Wir sind ja noch ein paar Tage unterwegs! Ich bin da ganz optimistisch!«

*

»Sag mal, wo steckst du denn? Seit Anton von Bord gegangen ist, habe ich dich nicht mehr … gesehen!«

Dagmar Schattenhofers Stimme klang nach einem Anflug von Vorwurf.

»Ich weiß, Dagmar, es tut mir auch leid, aber ich habe wirklich alle Hände voll zu tun!«

Komisch. Mit Esfandars Zwillingsbruder lief es genau umgekehrt. Da war sie diejenige, deren Terminplan derart gefüllt war, dass Sepandar sich zurückgesetzt fühlte.

»Kannst du dich denn heute Nacht freimachen?«

Er kicherte anzüglich.

»Das hat nur Sinn, wenn wir uns beide freimachen, findest du nicht?«

»Alberner Kerl!«

»Ich versuch’s! Offiziell habe ich um Mitternacht Schluss!«

»Du weißt, wo du mich findest!«

Der Besuch der alten Dame

»Egidius! Das ist doch überhaupt keine Frage! Selbstverständlich zieht Theres zu uns!«

»Ich habe ihr gesagt, dass es allein deine Entscheidung ist, Corinna. Ich bin wirklich froh, dass du es so siehst!«

»Was ist mit Oma?«, unterbrach Lukas.

»Mein Sohn … Ich …«, stotterte Egidius. »Verflixt! Ich hätte nicht gedacht, dass das so schwer werden würde!«

»Ich glaube, Egidius, dass du deinem Sohn mehr zutrauen darfst!«, erklärte Corinna ruhig.

Lukas sah von einem zum anderen.

»Oma kommt zu uns? Für wie lange?«

»Lukas, bitte setz’ dich mal zu uns. Also: Theres geht es nicht gut. Gar nicht gut. Und Corinna und ich – also, wir möchten nicht, dass sie damit am Tegernsee allein bleibt. Deswegen haben wir ihr angeboten, dass sie zu uns kommen kann, bis ….« Er biss sich auf die Lippen.

»Bis was? Bis es ihr wieder besser geht?«

»Lukas – deiner Großmutter wird es nicht wieder besser gehen. Deswegen kommt sie zu uns. Sie hat den Wunsch geäußert, nicht bei fremden Menschen – sterben zu müssen.«

*

In der Tat. Die Histologie der Gewebeprobe hatte das Magenkarzinom eindeutig bewiesen. Bei den Zellen handelte es sich um sogenannte Siegelring-Zellen.

»Na prima«, knurrte Egidius sarkastisch. »Schlimmer ist nur noch die Atombombe!«

»Werden Sie es Ihrer Mutter sagen, Herr Professor?«, fragte Frau Fürstenrieder vorsichtig.

»Ich muss. Ich hatte gehofft, dass die feingewebliche Untersuchung die Möglichkeit zu einer Operation eröffnen würde. In diesem Fall jedoch … Nur ein Idiot würde hier operieren! Diese Information bin ich ihr schuldig. Wenn ich es verschwiege, würde sie mich fragen.«

»Es tut mir so leid, Herr Professor. So viel habe ich allerdings von Medizin begriffen, dass der Erfolg nicht immer im Gesundwerden und in der Heilung liegt. Man kann eben den Tod nicht verhindern. Er gehört zum Leben dazu, und meine Mutter hat immer gesagt, dass man es ja nicht merkt, wenn man tot ist. Nur für die anderen, die Hinterbliebenen, wäre es schwierig.«

»Das ist richtig, Frau Fürstenrieder. Ich denke auch, dass Theres es gelassen aufnehmen wird. – Sind Sie so lieb und veranlassen einen Krankentransport, morgen, nach dem Frühstück?«

»Ins Rupertistift oder zum Laubries?«

»Zum Laubries. Wir bereiten heute Abend alles vor. Ich muss noch mit den Jungs sprechen. Lukas wird es hart treffen. Der liebt seine Großmutter, und sie ihn nicht minder!«

*

Ja, er hatte recht behalten. Lukas starrte seinen Vater voller Entsetzen an.

»Aber du bist doch Arzt! Du musst ihr doch helfen! Du kannst sie doch operieren, Papa! Bitte! Du kannst sie doch nicht einfach sterben lassen!«

»Lukas, ich kann dich verstehen. Aber es gibt Krankheiten, die man eben nicht mehr einfach wegschneiden kann.«

»Aber du hast es gar nicht versucht! Man weiß dass doch erst, wenn man es versucht hat! Bitte, Papa!«

»Schau mal, Lukas, ich habe mit Theres gesprochen. Das ist ja nicht allein meine Entscheidung. Auch sie hält es so für das Beste!«

*

Er hatte sich mit der grauen Patientenakte in der Hand zum Zimmer seiner Mutter begeben. Der Befund war noch nicht eingeheftet. Die Schwester hatte das Blatt mit einer überdimensionalen Büroklammer an dem Plastikdeckblatt befestigt.

Er traf Theres lesend und mit einer Tasse Tee am Tisch sitzend an.

Er trat zu ihr und küsste sie auf die Stirn.

»Grüß Gott, Mama!«

»Grüß dich, mein Kind!«

Ja. Das war er. Komisch, dieses Wort aus ihrem Mund zu hören. Komisch und ungewohnt. Immerhin: Er war Chirurg. Professor, mit internationalem Ruf. Ärztlicher Direktor. Nicht zuletzt Ehemann, und Vater, sogar mehrfacher Vater. Und dennoch blieb er Kind. Lebenslänglich. Ihr Kind.

Er nahm auf dem Stuhl, der dem Ihren gegenüberstand, Platz.

»Wie lange sitzt du schon auf diesem Ding?«, erkundigte er sich erstaunt. »Ich merke heute zum ersten Mal, wie unbequem die sind!«

Theres lächelte.

»Bist du sicher, dass der Stuhl das Gefühl des Unbehagens verursacht?«

Er hatte sie nicht täuschen können. Er hob die Krankenakte vom Tisch und hielt sie vor sich wie einen Schutzschild.

Er erklärte den Befund.

»Für eine Operation im Stadium IV ist es zu spät, Mama. Aber es gibt noch die Möglichkeit einer Chemotherapie, und zwar als Dreier- oder Vierer-Kombination …«

Sie hob gebieterisch die Hand.

»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, mein Junge. Ich verstehe, dass es dir als Arzt nicht passt, dass eine Patientin ohne Therapie verstirbt. Aber ich habe keine Lust auf eine Chemotherapie. Ich lege keinen Wert auf permanente Übelkeit, ausgefallene Haare und Augenbrauen, Erbrechen und wunde Schleimhäute.«

Egidius öffnete den Mund.

»Und versteige dich bitte nicht zu Versprechungen der Art, dass das heutzutage gar nicht so schlimm wäre und dass man diesen Widrigkeiten mit wunderbaren Medikamenten begegnen könnte!«, kam sie ihm zuvor. »Ich merke, dass mein Leben verrinnt, und daran wirst auch du nichts ändern können. Einer Chemotherapie stimme ich nicht zu. Unter keinen Umständen!«

*

Lukas schluchzte laut auf.

»Mein lieber Junge«, versuchte Egidius zu beschwichtigen, »ich verstehe, wie es in dir aussieht. Es handelt sich immerhin um deine Großmutter. Bitte glaub mir, dass das auch an mir nicht spurlos vorbeigeht. Theres ist meine Mutter, und so viele hat man ja nicht von der Sorte.«

»Dann hilf ihr doch! Du stehst nur da und schaust zu!«, schrie der Junge verzweifelt. »Aber dir ist es ja offenbar egal!«

»Lukas, bitte rede nicht so«, mischte sich Corinna ein. »Und behalte abgedroschene Phrasen wie ›Du bist nicht meine Mutter‹ für dich. Dein Vater leidet wie ein Viech, glaub mir. Morgen kommt Theres zu uns, und ich möchte nicht, dass wir ihr mit Konflikten, Streit und Unruhe das Herz schwer machen.«

Ohne ein weiteres Wort sprang Lukas auf und rannte, die Wohnzimmertür hinter sich zuschlagend, die Treppe zu seinem Dachbodenzimmer hinauf. Durch den Knall wachte die Kleine auf und plärrte.

»Ich denke, mit Max wird das keine Probleme geben«, sagte Corinna zu Egidius. »Ich hoffe, dass er Lukas beruhigen kann, wenn er nach Hause kommt!«

*

»Jetzt hast du deine Schwiegermutter am Hals, meine liebe Corinna!«, grinste Theres spitzbübisch. »Ich weiß gar nicht, warum man mich in diesen Stuhl gesetzt hat. Einige Schritte kann ich schon laufen, ohne mich auf meinen Allerwertesten zu setzen! Hilfst du mir bitte, mich einigermaßen würdevoll zu erheben? Ich würde euer Haus gern auf meinen zwei Beinen betreten!«

Der Krankentransportwagen wendete und schickte sich an, über den unbefestigten Weg zur Straße zurückzufahren.

»Halt, Halt!, meine Handtasche!«, rief Theres.

Der Fahrer trat auf die Bremse, Corinna öffnete die Tür und schnappte sich die elegante Tasche aus glänzendem Leder. Sie hakte Theres, die im Eingang stand, unter.

»Deine Sachen vom Rupertistift kommen leider erst morgen, Theres, schneller haben wir das nicht hinbekommen. Wenn du etwas benötigst, sag bitte Bescheid.«

Theres winkte ab.

»Das ist alles kein Problem. Viel wichtiger ist es, dir danke zu sagen!«

»Wofür das denn?«

»Dass du zugestimmt hast, dass ich euch hier zur Last fallen darf.«

Sie umarmte ihre Schwiegertochter und drückte sie an sich. Corinna erwiderte die Umarmung.

»Pass mal auf, Theres«, erwiderte sie. »Du bist uns noch nie zur Last gefallen. Und ich habe nicht die leiseste Befürchtung, dass du es je tun könntest. Im Gegenteil. Dein ältester Enkel, dein Sohn und sogar deine Schwiegertochter freuen sich, dass du bei ihnen bist. Deine Enkelin kann sich noch nicht darüber freuen, aber wir werden etliche Fotos machen, auf denen du sie auf dem Arm hältst. – So, dein Zimmer kennst du ja!«

Ein neues Hobby

Der Platz im Restaurant, den Esfandar für Maria reserviert hatte, war wirklich ideal. Von ihrem Platz aus konnte sie fast den gesamten Raum überblicken, ohne selbst zu sehr ins Visier der Beobachter zu geraten. Jeden, der hineinkam, konnte sie beobachten.

Sie war es gewohnt, Menschen zu beobachten. Das hatte sie in ihrer Ausbildung gelernt. ›Krankenbeobachtung‹, hieß das Fach. Es war eine Art Spiel, wenn sie mit ihren Kolleginnen zusammen ausging. An der Art, wie jemand aussah, wie er ging, wie er den Arm hielt, sein Gesicht verzog, ordneten Sie diesen Menschen bestimmte Erkrankungen zu.

Hier allerdings ging es nicht um pathologische Auffälligkeiten. Sie erforschte sehr genau, wie man sich in der gehobenen Gesellschaft kleidete, frisierte. Wie man lachend den Kopf in den Nacken warf, dass die Kreolen lustig hin- und herschwangen. Wie man sich bei dem begleitenden Herren unterhakte, um leichtfüßig und elegant über das Parkett zu schweben. Ungeahnte Düfte und Aromen umwehten sie und flüsterten Maria ihre Geschichte von Klasse und Reichtum in die Nase.

Ja, an diesem Spiel hätte sie ohne Weiteres teilnehmen können. Sie hätte jeden täuschen können. Die Rolle der kleinen Krankenschwester aus einer kleinen oberbayrischen Klinik abstreifen können wie einen alten Mantel. Was allerdings nicht funktioniert hätte, war die Konversation, deren Zeuge sie gezwungenermaßen wurde. Sie kannte nicht den Unterschied der Preise für Schmuck bei Bergdorf und Tiffany. Sie hatte keine Erfahrung mit den Zimmern im Adlon oder dem Waldorf Astoria. In Cannes und Nizza war sie noch nie gewesen. Sie besaß keine Yacht und keinen Pool im Garten der von einem Stararchitekten designten Villa.

Jedoch hatte sich etwas ereignet, durch das sie sich vom Kreis der gewöhnlichen High Society deutlich abhob. Dies Ereignis hatte schwarze, straff nach hinten gekämmte Locken, die am Hinterkopf zu so einem kleinen Knauf zusammengedreht waren, wie man ihn immer wieder bei jungen Männern sah. Es hatte warme, abgründige braune Augen. Es hatte perfekt geformte, weiche Lippen, die, wenn sie sich zu einem Lächeln verzogen, den Blick auf ein sensationell weißes Gebiss freigaben.

Und sie wäre blind jede Wette eingegangen. Jede von diesen vornehmen Damen mit ihren Pools und Segelbooten und Villen hätte einiges dafür gegeben, Esfandar aufgefallen zu sein. Sie sah genau, wie dem athletischen Jungen, der sich mit ungeheurer Geschmeidigkeit bewegte, alle Blicke folgten. Er aber war nur für sie da. Für sie allein. Sie war seine Herzdame. Seine Königin.

Und sie genoss jede Sekunde. Stolz, hoch erhobenen Hauptes, hatte sie sich bei ihm eingehängt, warf den Kopf zurück und lachte, wie sie es zuvor bei den feinen Damen beobachtet hatte.

Er hatte sie zur Kabine begleiten wollen. Ein kurzer Spaziergang an Deck. Die Sonne war lange untergegangen. Die Nacht war lau und sternenklar. Die Sichel des Mondes tat ihr Bestes, um die Szene zu beleuchten. Vergeblich. Aber vielleicht war das auch besser so. Immerhin waren auch Kinder an Bord. Und man konnte es schwerlich als jugendfrei bezeichnen, dass Esfandar seine Begleiterin zwischen die Rettungsboote zog. Sie war bereit, sich ihm hinzugeben. Der Geschmack seiner Zunge in ihrem Mund … seine zärtlichen Liebkosungen … seine Lippen, die von ihrem Hals zu ihrer Brust wanderten. Ihr Körper bebte dem seinen entgegen. Wollte er das wirklich? Hier, im Stehen – in aller Öffentlichkeit? Er machte sich an ihrer Bekleidung zu schaffen. O mein Gott! Er wollte! Sie spürte seine wortlose Forderung, seine Gier. Sie gab nach. Zum ersten Mal erlebte sie das, wovon Tassilo ihr nur eine Ahnung hatte vermitteln können. Sie erlebte es nicht nur einmal. Es war einfach unbeschreiblich. Der Himmel auf Erden.

*

»Ich habe leider keine Zeit für ein gemütliches Frühstück«, bedauerte Tassilo am nächsten Morgen. Maria hatte gar nicht gehört, dass und wie er nachts in die Kabine geschlichen war.

»Eine Frühbesprechung?«, mutmaßte sie.

»Ja, und außerdem wollen der Regisseur und der Kameramann das Licht am Morgen für vier Szenen ausnutzen!«

»Viel Spaß und viel Erfolg!«, rief sie heiter. Fast etwas zu heiter. Aber Tassilo fiel das nicht auf.

Was hätten ihre Eltern gesagt? Ihre Freundinnen? Die waren doch ebenso spießig und verkniffen wie sie selbst! Sie war ein böses Mädchen gewesen! Ein sehr, sehr böses Mädchen! Bei der Beichte würden dem Ettenhuber die Ohren abfallen!

Sie lachte laut auf.

Dann errötete sie. Warum hatte ihr eigentlich niemand gesagt, wie schön das war! Und sicher nicht zweckgebunden, zum Zeugen von Nachkommenschaft! Zur Befriedigung der Bedürfnisse des Ehemannes! Esfandar! Eine kribbelnde, prickelnde, heiße Woge durchflutete ihren Körper beim bloßen Gedanken an … also wirklich! An Deck! Im Stehen! Sie lachte wieder. Was man so Stehen nennt! Fast hätte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können, so weich wurden ihre Knie, so zittrig.

Ob sie ihn beim Frühstück sehen würde? Und ob sich dieses Jahrhundertereignis von gestern Nacht wiederholen ließe?

Sie betrat das kleine Bad und betrachtete sich im Spiegel.

»Guten Morgen, du Sünderin!«, zwinkerte sie sich vergnügt zu. »Ich glaube, ich habe ein neues Hobby!«

*

»Also, an mir lag es nicht!«, bemerkte Dagmar spitz. Sie gab sich Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen

»Ich lag, wie verabredet, ab Mitternacht in meiner Kabine. Allein, übrigens. Wie bestellt und nicht abgeholt!«

»Komm, sei nicht sauer! Gestern dauerte alles extra lang und ich war noch zum klar Schiff machen eingeteilt! Und hinterher haben die Jungs mich bequatscht, noch einen Absacker zu trinken. Und außerdem: Du bist schwanger! Geht das denn überhaupt im Augenblick? Nachher passiert dem Kind was, wenn ich dich kräftig …«

»Danke, ich habe es begriffen. Nein, dem Kind passiert nichts. Weißt du: In einem bist du deinem Bruder sehr ähnlich! Um Ausreden seid ihr beiden nie verlegen!«

Er kicherte verlegen. »Das hat Mama auch immer gesagt!«

»Wusstest du, dass schwangere Frauen in dieser Hinsicht besonders – bedürftig sind?«

»Nein. Ich war ja noch nie schwanger!«

»Ich auch nicht. Aber die Erfahrung habe ich gestern Nacht gemacht. Und in der kleinen medizinischen Fachbibliothek im zweiten Behandlungsraum gibt es einen Band ›Frauenheilkunde‹, in dem ich das gestern noch einmal minutiös nachlesen konnte!«

»Es geht doch nichts über Fortbildung«, grinste Esfandar. »Sag mal, ich habe da so ein Brennen! Hast du zufällig eine Creme oder Salbe für mich?«

»Nanu? Wo brennt es denn?«

»Da … unten! An meinem besten Stück!«

»Das Beste an dir, mein lieber Es­fandar, sind deine Lippen. Darf ich mal einen Blick drauf werfen?«

»Muss das sein?«

»Stell’ dich nicht so an! Ich habe damit schon wesentlich mehr angestellt, als es anzusehen!«

»Aber nicht als Ärztin! – Na gut! Hier!«

Er legte die entscheidende Stelle seines perfekten Körpers frei.

Mit einem Watteträger rieb Dagmar ein Pröbchen ab, das sie auf ein Glasplättchen strich und mit einer Art Tinte betropfte.

»Ist das nicht übertrieben?«, erkundigte er sich.

»Candida africana«, staunte sie. »Nein, das ist es nicht! Normalerweise hätte ich dir Cotrimazol gegeben, das ist bei dieser Sorte leider wenig wirksam! Hier, Bifonazol! Gute Besserung! Ach ja, Verkehr nur mit Präservativ, okay?«

Sie nickte ihm zu.

»Alles klar, Chef!«, grinste er frech.

*

Lukas und Max waren bemüht, keine überflüssigen Geräusche zu verursachen. Sie redeten leise und bewegten sich langsam und vorsichtig. Beim Essen vermieden sie die typischen Geräusche, wie sie durch Besteck auf Porzellan verursacht wurden.

Ein feines Lächeln umspielte Theres’ Lippen.

»Meine Herren! Darf ich Sie beide darauf hinweisen, dass ich noch am Leben bin? Daran werden auch ein Lachen, ein Rufen oder ein Klappern nichts ändern! Tut mir bitte den Gefallen und behandelt mich nicht, als fiele ich in den nächsten Sekunden tot um!«

Verlegenheit lastete auf den Schultern der Jungen.

»Wir wollten dich nicht stören, Oma,« gestand Lukas endlich, und senkte den Kopf.

»Ach, mein Lieblingsenkel! So etwas Dummes! Deswegen bin ich doch hier! Um mich stören zu lassen! Da hätte ich auch gleich in meiner Gruft in Rottach bleiben können! Mir bleibt ja nicht mehr so viel Zeit, wisst ihr?«

»Aber du bist doch gar nicht so alt, Oma!«

Theres sah ihn einen Moment streng an.

»Also, unter den gegebenen Umständen werde ich dir für die Dauer meiner Gegenwart die ›Oma‹ durchgehen lassen. Eigentlich hatten wir uns ja auf ›Großmama‹ geeinigt, oder sehe ich das falsch? Nun, jedenfalls ist Krankheit und Tod ja nicht nur eine Frage des Alters, Lukas. Es gibt Erkrankungen, die bereits im Kindesalter auftreten, gegen die kein Kraut gewachsen ist!«

»Ich will aber nicht, dass du …!«

Lukas biss sich auf die Lippen.

»Dass ich sterbe? Ach, Lukas, irgendwann sterben wir alle mal! Gönne mir doch meine Ruhe! Dein Vater ist genauso schlimm wie du! Aber bei ihm ist das eine Berufskrankheit!«

»Warum?«, erkundigte Max sich neugierig.

»Wenn man Arzt geworden ist – dazu noch ein genialer Arzt, zugegeben! –, dann plagen einen Allmachts­fantasien«, konstatierte die alte Dame.

»Man glaubt, dem lieben Gott ein Schnippchen schlagen zu können. Man spürt die Verpflichtung, das, was man gelernt hat, anzuwenden. Jeder Operationstechnik, jede Therapie. Der Patient rückt dabei völlig in den Hintergrund. Der wird mit Spritzen, Infusionen und Tabletten behelligt. Aufgeschnitten und wieder zugenäht. Bestrahlt und an Maschinen angeschlossen.«

»Warum auch nicht, Mama«, mischte sich Egidius ein. »Du hättest mit der Therapie eine reelle Chance auf eine Lebensverlängerung. Die Daten zeigen eine Überlebensrate von …«

»Junge!«, fiel Theres ihm energisch ins Wort. »Du willst mich doch nicht damit beeindrucken, dass ich vielleicht 18 Monate länger auf dieser Welt weile? Für welchen Preis, wenn mir die Therapie davon 6 Monate zur Hölle macht?«

»Aber in der Statistik gibt es auch Ausreißer nach oben! Wer kann das wissen!«

»Und was ist mit den Ausreißern nach unten? Nebenbei, mein Sohn: Es ist wenig schmeichelhaft, von der Frucht seines Leibes als statistische Zahl betrachtet zu werden!«

»Oma, bitte! Mach doch, was Papa sagt!«

Theres sah in die flehenden Augen des blassen, dünnen Jungen, der sie so sehr an ihren eigenen Sohn erinnerte.

»Es tut mir so leid, dir wehzutun, Lukas. Es tut mir leid, euch allen wehzutun. Aber versteht mich doch bitte auch! Ich habe ein schweres Leben gehabt, und ich möchte nicht zu Tode therapiert werden. Ich verlasse mich darauf, Egidius, dass du mir, sollte ich Schmerzen bekommen, helfen wirst. Mehr verlange ich nicht. Und wenn ich mich mit irgendetwas nützlich machen kann, Corinna, und wenn es Kartoffelnschälen ist, dann zögere nicht, mich zu fragen.«

»Oma! Ich brauch’ dich doch!«

Wie eine Explosion zerriss Lukas’ Schrei die Luft. Theres sah ihren Enkel erschrocken an.

»Es ist dir wirklich ernst.«

Das klang nicht wie eine Frage. Eher wie die sachliche Feststellung eines Umstands, mit dem nicht zu rechnen war.

»Du weißt schon, Lukas, was das alles mit sich bringt, oder? Die Herauszögerung meines Abschieds wird verbunden sein mit lauter ärgerlichen und peinlichen Begleiterscheinungen, wobei meine drohende Unfähigkeit, feste Nahrung bei mir zu behalten, noch die Angenehmste sein dürfte. Als menschliches Wesen unterliege ich, wie alle, dem Stoffwechsel, dessen Produkte ich vielleicht nicht regelmäßig unter Kontrolle halten kann!«

Trotz der schwierigen Situation musste Egidius lachen.

»Dein Feingefühl sowie deine unbegrenzte rhetorische Fähigkeit, auch delikateste Situationen noch dezent zu beschreiben, machen dir alle Ehre.«

»Ich hab das nicht verstanden«, murrte Lukas.

»Deine Großmutter hat einen Hinweis darauf gegeben, dass sie eventuell dieselben Probleme mit den Produkten ihrer Ausscheidungen haben könnte wie deine kleine Schwester!«, erklärte sein Vater geduldig.

»Ach so. Ja und? Das habe ich alles bei Schwester Stefanie gelernt, als ich meine Sozialstunden hatte! Du machst die Therapie, ja, Oma? Ich kümmere mich um dich!«

Theres seufzte. »Dafür müsste ich in die Klinik zurück, oder, Egidius?«

Ihr chefärztlicher Sohn strahlte.

»Sogar vier Mal. Von Montag bis Freitag. Zwischendurch bist du 14 Tage zu Hause.«

»Und meine Haare?«

»Verschwinden. Komplett!«

»Ich besorg’ dir so ‘ne Skifahrer-Mütze in deiner Lieblingsfarbe!«, schlug ihr Enkel eifrig vor.

»Eine Ski-Maske wäre sinnvoller! Damit könnte ich dann später die hiesige Sparkasse überfallen! – Was ist mit den restlichen Nebenwirkungen?«

»Die können wir mit wunderbaren neuartigen Medikamenten unterdrücken, mach dir keine Sorgen, Mama.«

»Ich müsste verrückt sein, um dieser Tortur zuzustimmen«, stellte Theres nüchtern fest. »Und wenn ich es nicht aushalte?«

»Dann verlängern wir die Pause. Aber du wirst es schon aushalten! Andere schaffen es doch auch!«

»Vollkommen übergeschnappt!«, murmelte Theres wie zu sich selbst. »Vollkommen übergeschnappt! – Nun gut. Ich verspreche, dass ich wohlwollend darüber nachdenke. Ich verspreche nicht, dass ich mich in Behandlung begebe.«

Lukas ging auf die alte Dame zu und nahm sie in den Arm.

»Ich hab dich lieb, Oma«, flüsterte er in ihr Ohr.

Da wirkt nur Bifonazol!

»Ricarda hier. Ricarda! Hast du schlechtem Empfang?«

Die Anruferin nahm das kleine Gerät von ihrem Ohr, schüttelte es und starrte aufs Display, als könnte sie mit diesen Maßnahmen die Empfangsqualität steigern.

»Soll ich noch mal anrufen?«

Offenbar hatte sich die Tonqualität bei der angerufenen Person verbessert.

»Kannst du dir das nicht denken? Außerdem – ich habe läuten hören, dass du dich auch anderweitig orientierst! – Ach, weißt du – ich komme ja aus der Branche! Und vergiss nicht, dass wir auf dem Land leben! Da wird nun mal getratscht!«

Sie setzte sich auf eine der Bänke am Marktplatz und blinzelte in die Herbstsonne. Einer der letzten schönen Tage, dachte sie. Das Wetter hatte gegenüber der Natur einiges an Schulden zu begleichen, und der Vorhersage zufolge hatte es das Soll anerkannt.

»Natürlich habe ich dich bei Elisabeths Platzerl gesehen, ich bin ja nicht blind! – Du musst das bitte verstehen. Ich will nicht noch mehr an meinem Kind herumzerren. Und … in unserer Situation … ich … ich halte das einfach nicht für richtig!«

Es schien heftiger Widerspruch zu folgen.

»Du hörst mir überhaupt nicht zu, oder? Das geht doch nicht gegen dich! Aber der wichtigste Mensch in meinem Leben ist nun mal mein Kind, und das wird es immer sein! – Was? Ja, natürlich! Ich bin eine Mutter! Dem ordne ich alles unter, basta. Weißt du, was mein Vater immer gesagt hat? ›Das Glück meiner Kinder ist mein Glück‹. Damals habe ich das nicht verstanden, heute begreife ich, was er gemeint hat.«

Vom anderen Ende der Leitung erntete sie für diese Aussagen Protest. Vermutlich heftigen und lautstarken Protest, da sie erneut das Mobiltelefon in einiger Entfernung von ihrem Ohr hielt. Nach einer Weile horchte sie, ob der Sturm sich gelegt hatte.

»Kilian ist nicht mein Traumpartner, zugegeben. Aber er ist ein guter Vater. Das hat er in jüngster Zeit unter Beweis gestellt. Und es hat Sinn, uns eine zweite Chance zu geben. Dass wir uns getrennt haben, war ja zum großen Teil meine Schuld, nicht seine. Ich habe ihn verarscht, und er hat die Konsequenzen gezogen.«

Es klang nachdenklich, nein, doch wohl eher traurig, als sie nach einer kleinen Pause hinzufügte: »Ich danke dir für alles, mein Schatz. Es war eine wunderbare Zeit. Eine aufregende Zeit mit dir. Aber diese Zeit muss jetzt zu Ende gehen. Ich wollte, dass du das, was war, ebenso schätzen würdest, wie ich es tue. Aber vielleicht brauchst du einfach nur mehr Zeit!«

*

»Der Nächste, bitte!«

Dagmar hatte über die Sprechanlage in das kleine Wartezimmer hineingerufen.

Die Tür öffnete sich.

»Schwester Maria!«

»Frau Dr. Schattenhofer! Das ist aber eine Überraschung!«

»Das kann man wirklich so sagen! Was machen sie hier an Bord?«

»Mein Lebensgefährte ist doch Beleuchter beim Film! Der hast mich hergeschleppt!«

»Ach Gott, ja! Die neuen Traumschiff-Folgen! Wenn man hier unter Deck arbeitet, vergisst man wirklich völlig, dass oben das Leben tobt! Und? Haben Sie schon Stars kennengelernt?«

»Leider!«, bejahte die Krankenschwester. »Und sollte ich ihn je in die Finger bekommen, werde ich ihm höchstselbst einen Einlauf verpassen. Einen Hebe-Senk-Einlauf. Dieser Gedanke hält mich über Wasser!«

Die Damen lachten.

»Was hat sie hergeführt, Maria?«, erkundigte Dagmar sich besorgt.

»Ich habe seit gestern so ein Brennen und Ausfluss. Sehr lästig!«

»Hatten Sie Verkehr?«

»Und wie!«

O mein Gott, dachte Schwester Maria. Hab ich das eben laut gesagt? Die Ärztin freute sich.

»Ich schaue mir gerade einen Ausstrich an, Maria!«, erklärte Sie. Sie nahm eine Probe mit einem Watteträger und strich diese auf einem Glasplättchen aus. Nach dem Färben blickte sie in das Mikroskop. Sie hielt die Luft an.

»Candida africana?«, fragte sie misstrauisch.

»Albicans, meinten Sie, Frau Doktor?«

»Nein!«, blaffte Dagmar sie wütend an. »Africana! Wissen Sie, was lustig ist? Einen solchen Fall hatte ich heute schon einmal. Obwohl der Pilz extrem selten ist. Soll ich raten, mit wem sie Verkehr hatten?«

Plötzlich durchfuhr es sie, als hätte ihr jemand ein Schwert in den Unterleib gerammt. Sie stöhnte laut auf, und krümmte sich.

»Frau Doktor? Frau Doktor! Was ist denn mit Ihnen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Dagmar war leichenblass und presste die Lippen aufeinander. Ächzend drückte sie mit beiden Händen auf ihren Bauch.

»Frau Doktor! O mein Gott! Sie bluten ja!«

Dagmar blickte an sich herunter und nahm noch wahr, dass der feuchte rote Fleck auf ihrer weißen Klinikhose sich langsam vergrößerte.

Dann rutschte sie vom Stuhl auf den Boden. Aber das merkte sie nicht mehr. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

Kurzes Nachwort

Erinnern Sie sich, sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser, an die Folge, in der Theres und Lukas sich erstmals gegenüberstanden? Die alte Dame war völlig verzickt in Schliersee angekommen und hatte mit diversen Spitzen ihre Schwiegertochter auf die Palme getrieben. Dann hatte sie den Sohn ihres Sohnes kennengelernt und war so angefasst von seiner unschuldig-offenen Art, dass aus ihr die weise, antwortfähige Großmutter wurde, die vergeblich darauf bestand, von ihrem Enkel ›Großmama‹ statt ›Oma‹ genannt zu werden.

Lukas hat Erfahrungen mit Verlusten. Er hat - was ihn vor seinen Altersgenossen auszeichnet - schon Angst um Menschen gehabt, die er liebt. Seine Mutter, zum Beispiel. Oder die Dame im Seniorenwohnheim, an deren Namen ich mich gerade nicht erinnern kann. Sie wissen schon, deren Tonfigur er versehentlich zerbrach. Und jetzt?

Wie würden Sie sich entscheiden, meine Damen, meine Herren? In dem Bewusstsein, dass eine schwierige Therapie Ihnen die Gesundheit nicht zurückbringen, lediglich das Leben verlängern kann? Stellen Sie sich vor: Die Augen Ihres sechzehnjährigen Enkels blicken Sie flehentlich an und bitten Sie, Ihren wohlerwogenen Entschluss zu überdenken. Wie entscheiden Sie sich? Würden Sie ihm zuliebe die Strapazen auf sich nehmen? Und wie eigentlich wird Sebastian Schickenreuth sich verhalten?

Erinnern Sie sich an die Szenen im Elisabeths Platzerl? Ricarda sieht jemanden, den sie kennt. Und später heißt es, dass da noch Klärungsbedarf bestände, möglichst ohne dass Kilian davon etwas mitbekommt oder so ähnlich. Das hat sie ja nun wohl auch versucht. Mit wem hat sie da bloß telefoniert? Hoffentlich passiert nichts, was das Glück von Felicitas in irgendeiner Weise trübt.

Eine Blutung in der Frühschwangerschaft muss nicht notwendigerweise ein schlechtes Zeichen sein. Wenn sie allerdings mit Schmerzen und Ohnmacht verbunden ist, sollte man Vorsicht walten lassen. Aber wer kümmert sich medizinisch um den Arzt an Bord? Ein Dilemma! Oder nicht? Darf ich mal ganz böse sein? Kommt diese Sache doch ganz gelegen? Dieses Kind ist ja ein - ich bitte um Vergebung! - ›Unfall‹. Darf man das überhaupt so sagen? Kann ein Kind überhaupt ein Unfall sein? Ist ein Kind nicht in jedem Fall ein Grund zur Freude? Sogar, wenn seine Existenz die Beziehung Dagmars und Antons bedroht? Und erst ein Kind von dem attraktiven Sepan …, nein, Esfandar, und der hübschen Dagmar? Aber das ist nicht die Schuld des Kindes. Das ist, wie immer, die Schuld der Erwachsenen, die sich nicht unter Kontrolle haben.

Esfandar spielt ja sowieso die deutlich zwielichtige Rolle des Don Juan. Er hat das Talent, die Frauen glücklich zu machen, und setzt es ein. Dagegen ist doch auch nichts einzuwenden. Die Tatsache, dass die beiden Damen in unserer Geschichte gebunden sind, bedeutet dem jungem Mann gar nichts. Sowohl Dagmar als auch Maria sind einiges über achtzehn, und damit für ihr Handeln selbst verantwortlich. Außerdem hat Tassilo sich nicht wirklich um Maria gekümmert, oder? So geht es, meine Herren, wenn Sie den Menschen, den sie vorgeben zu lieben, vernachlässigen! Wann haben Sie Ihrer Partnerin zuletzt Blumen mitgebracht? Es muss ja kein Strauß mit 25 Baccara-Rosen sein. Ich glaube, ein Gebinde aus selbstgepflückten Wiesenblumen ist um ein Vielfaches effektvoller!

Solange Sie pflücken, schreibe ich mal den nächsten Teil, einverstanden? Den können Sie dann lesen! Tschüs solange! Servus! Pfiat Eahna!

Dr. Sonntag Box 4 – Arztroman

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