Читать книгу Tonglen - Pema Chödrön - Страница 9
ОглавлениеTonglen im täglichen Leben
Alle fühlenden Wesen ohne Ausnahme besitzen Bodhichitta, also die angeborene Zartheit des Herzens, seine natürliche Neigung zu lieben und sich um andere zu kümmern. Um uns gegen die Erfahrung von Schmerz und Unbehagen abzuschirmen, haben wir jedoch im Laufe der Zeit massive Barrieren aufgebaut, die unsere Zartheit und Verletzlichkeit überdecken. Das führt dazu, dass wir oft der Entfremdung, Wut und Aggressivität anheimfallen und uns der Sinn des Lebens abhanden kommt – sowohl auf der individuellen als auch auf der globalen Ebene. Auf der ständigen Jagd nach dem Glück haben wir uns, ohne es zu beabsichtigen, nur noch größeres Leiden aufgeladen.
Tonglen, oder die Übung des Aussendens und Empfangens, kehrt diesen Prozess der Verhärtung und Abschottung um, indem es Liebe und Mitgefühl kultiviert. Statt vor Schmerz und Unbehagen davonzulaufen, nehmen wir sie in der Praxis des Tonglen voll und ganz zur Kenntnis und machen sie uns ganz zu eigen. Statt ständig auf unseren eigenen Problemen herumzureiten, versetzen wir uns in die Situation anderer Menschen und würdigen unsere gemeinsame Teilhabe am Menschsein. Dann beginnen die Barrieren zu schmelzen, und unser Herz und Geist fangen an, sich zu öffnen.
Bevor ich mich der formellen Tonglen-Praxis zuwende, möchte ich an einigen Beispielen aufzeigen, wie wir die Haltung des Tonglen in unser Alltagsleben integrieren können. Denn schließlich ist der entscheidende Punkt einzig und allein, wie wir unseren Alltag leben – ob wir es mit Maitrī* und Mitgefühl für uns selbst und für andere tun. Außerdem wird uns die formelle Praxis viel leichter fallen, wenn wir uns zuvor täglich in der allgemeinen Haltung des Tonglen geübt haben.
Trungpa Rinpoche empfahl seinen SchülerInnen immer, ihr Leben als ein Experiment anzusehen. Das sollte heißen: Seid neugierig, seid offen und ohne Erwartungen; dann seht zu, was geschieht, und lernt aus euren Erfahrungen. Aus diesem Grund schlage ich meinen SchülerInnen oft vor, sie sollten erst einmal einen begrenzten Zeitraum – sagen wir drei Monate oder ein Jahr – der Arbeit mit dem Tonglen-Ansatz widmen, um einfach herauszufinden, wie sich das auf ihr Leben auswirkt. Wir sollten allerdings nicht glauben, dass wir diese Praxis in einer derart kurzen Zeit meistern können. Im Grunde ist Tonglen eine Übung für den Rest unseres Lebens.
Sitzen als Grundlage
Ein guter Anfang für unsere Schulung in der Tonglen-Haltung ist es, wenn wir jeden Tag ein wenig Sitzen oder Samādhi vipassyana-„Einsichtsmeditation“ üben. Das ist ein Weg, uns über unseren gegenwärtigen Bewusstseinszustand klarzuwerden – so, als hielten wir uns selbst einen Spiegel vor. Insbesondere müssen wir Standhaftigkeit kultivieren, den Mut und die Geduld, einfach zu sitzen mit allem, was während der Meditation in uns aufsteigt. Ansonsten werfen uns die Emotionen, die das Tonglen hervorruft, nur allzu leicht von unserem Sitzkissen. Deshalb ist es immer angeraten, jede Tonglen-Übung mit Sitzen zu beginnen und abzuschließen. Auch wenn Sie gerade nicht auf dem Kissen sitzen oder sich in einer Meditationshalle befinden, können Sie mit der Übung von Achtsamkeit und Gewahrsein experimentieren.
Sie können diese Übung als ein Hilfsmittel benutzen, das Sie mit Ihrem Fühlen im gegenwärtigen Augenblick in Berührung bringt. Manchmal zum Beispiel, wenn ich allein bin oder mich in einer friedlichen Umgebung befinde – bei einem Spaziergang im Wald, während ich still aus dem Fenster meiner Hütte in die Ferne schaue oder auf einer Bank am Meer sitze –, lasse ich einfach ab von meinen Gedanken und versuche zu sehen, was darunter liegt.
Das ist in der Tat die Essenz der Achtsamkeitspraxis: immer wieder in die Unmittelbarkeit unserer gegenwärtigen Erfahrung zurückkehren und alles Nachdenken und Urteilen darüber loslassen. Wahrscheinlich werden Sie dann entdecken, dass da etwas übrig bleibt, wenn Sie all die Gedanken und Skripts haben fallen lassen. Was bleibt, ist die Unmittelbarkeit der Sinneswahrnehmungen – Sehen, Riechen, Tastsinn und so weiter – sowie ein Gefühl oder eine Stimmung.
So könnte das Gefühl unter Ihren Gedanken zum Beispiel eines von Selbsthass sein. Wenn Ihre Gedanken dann wieder hervorsprudeln, nehmen sie leicht die Form an von „schlecht, schlecht; gut, gut; du solltest, du darfst nicht“. Sobald Sie merken, dass Sie solche Gedanken hegen, lassen Sie sie einfach los und kehren zur Unmittelbarkeit Ihrer Erfahrung zurück. Das ist an sich schon die Übung von Maitrī, des Sich-mit-sich-selbst-Anfreundens.
Wunschgebete sprechen
Ich bin ein großer Fan von Wunschgebeten. Meiner Auffassung nach sind sie eine große Hilfe auf dem Weg, weil sie uns helfen, in Kontakt mit unserer Motivation zu bleiben und Bodhichitta zu entwickeln. Die Lojong-Losung „Zwei Aktivitäten: eine zu Beginn und eine am Ende“ empfiehlt uns, jeden Tag damit zu beginnen und abzuschließen, dass wir unsere Motivation, alle Barrieren aufzulösen, unser Herz zu öffnen und uns anderen Menschen zuzuwenden, bekräftigen. So könnten Sie jedes Mal ein Wunschgebet sprechen, wenn Sie morgens aufwachen und bevor Sie abends einschlafen. Sie können dabei Ihre eigenen Worte wählen oder ein traditionelles Wunschgebet wie die „Vier Grenzenlosen“ oder das „Bodhisattva-Gelübde“ sprechen (siehe das Kapitel „Tägliche Rezitationen“, Seite 125).
Manchmal haben Sie vielleicht das Gefühl, dass die formelle Praxis des Tonglen Sie im Moment überfordert. Wenn das der Fall ist, könnten Sie einfach das Wunschgebet sprechen: „Möge ich eines Tages fähig sein, mein Herz ein wenig weiter zu öffnen, als es mir heute möglich ist.“ Gehen Sie auf diese Weise damit um, dann kommen keine Schuldgefühle und keine Selbstbezichtigungen ins Spiel. Das ist einfach der aufrichtige Wunsch zu wachsen.
Übung der Gleichheit
Die Übung der Gleichheit ist eine Art und Weise, eine Verbindung zu anderen fühlenden Wesen herzustellen und zu erkennen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Es ist eine allgemein menschliche, schlichte Wahrheit, dass jedermann glücklich sein und Leid vermeiden möchte, genau wie wir selbst. So wie Sie selbst, will jeder Mensch Freude empfinden, akzeptiert und geliebt sein, respektiert und geschätzt werden für seine einzigartigen Qualitäten. Ein jeder möchte gesund sein und sich in seiner Haut wohlfühlen. So wie Sie selbst, will niemand ohne Freunde und einsam dastehen, von anderen verachtet werden, krank sein oder sich wertlos und deprimiert fühlen.
Die Übung der Gleichheit soll Sie immer dann, wenn Sie einer anderen Person begegnen, an diese einfache Tatsache erinnern. Sie denken: „Genau wie ich, wäre dieser Mensch gern glücklich; genau wie ich, möchte er nicht leiden.“ Sie können sich dafür entscheiden, dies einen ganzen Tag lang zu üben oder nur für eine Stunde oder fünfzehn Minuten. Ich schätze diese Übung sehr, weil sie die Schranke der Gleichgültigkeit gegenüber der Freude anderer Menschen, gegenüber ihrem persönlichen Schmerz und ihrer wundervollen Einzigartigkeit durchlässig macht.
In „Der Weg des Bodhisattva“ betont der große indische Meister und Dichter Shāntideva, wie wichtig es ist, über die Gleichheit von Ich und anderen auf diese Weise zu meditieren:
Bemühe dich zuerst, zu meditieren
Über die Gleichheit von dir selbst und anderen.
In Freude und Leid seid ihr gleich.
Behüte darum alle anderen genauso wie dich selbst.
Jeffrey Hopkins, der zehn Jahre lang Übersetzer des Dalai Lama war, erzählt folgende Geschichte über seine Reisen mit dem Dalai Lama im Westen. Wo immer sie hinkamen, pflegte der Dalai Lama auf Englisch zu sagen: „Jeder Mensch wünscht sich Glück und will nicht leiden.“ Zuerst dachte Jeffrey: „Warum sagt er das nur ständig“, denn es schien ihm allzu simpel und gewöhnlich. Aber nach einiger Zeit begann die Botschaft tiefer in sein Bewusstsein einzusinken, und er dachte sich: „Ja, genau das ist es, was ich brauche!“ Es ist ganz einfach – aber es ist auch zutiefst wahr … und es war genau die Art von Unterweisung, die er selbst nötig hatte.
Anfangs mag uns diese Praxis als Gemeinplatz und ziemlich seicht vorkommen. Aber glauben Sie mir: Sie ist ein wahrer Augenöffner. Sie macht uns demütig, weil sie uns unsere Gewohnheit, uns selbst für das Zentrum der Welt zu halten, vor Augen führt. Durch die Übung bestätigen wir, dass wir alle teilhaben am Menschsein; wir stellen eine überraschend intime Beziehung zu den anderen her. Sie werden so etwas wie Familienmitglieder für uns, und das trägt dazu bei, unsere Isolation und Einsamkeit aufzulösen.
Unser Herz öffnen
Die Übung des Öffnens unseres Herzens hat zwei Aspekte: Glück teilen und Schmerz annehmen. Das heißt zuerst einmal: Wenn in Ihrem Leben irgend etwas besonders Erfreuliches geschieht, dann wünschen Sie sich, dass andere an Ihrer Freude teilhaben können. Zum anderen heißt es: Wenn Sie irgendeine Form von Leiden erfahren, dann denken Sie, dass viele andere Menschen ebenfalls leiden, und Sie hegen den Wunsch, sie mögen frei sein vom Leiden. Das ist das Wesentliche der Tonglen-Haltung: Sind die Umstände angenehm, denkst du an andere; sind die Umstände schmerzlich, denkst du an andere. Sollte diese Praxis das Einzige sein, woran Sie sich nach der Lektüre dieses Buches noch erinnern, so wird sie doch Ihr Leben und das aller Menschen, mit denen Sie in Kontakt kommen, bereichern.
Glück teilen
Wenn Sie in Ihrem Leben irgendeine Freude, irgendetwas Angenehmes erfahren – ob Sie sich an einem strahlenden Frühlingstag freuen, ein gutes Mahl genießen, mit einem niedlichen Haustier spielen oder unter einer wohltuenden heißen Dusche stehen –, dann nehmen Sie es bewusst wahr und genießen Sie es! Solche einfachen Freuden können uns viel Glück, Sanftheit sowie ein Gefühl der Erleichterung bescheren. Es gibt viele solcher flüchtigen goldenen Momente in unserem Leben, aber wir hasten gewöhnlich einfach über sie hinweg. Der erste Teil der Übung besteht einfach darin, innezuhalten, diese Momente bewusst wahrzunehmen und ganz auszukosten. Als Nächstes hegen Sie dann den Wunsch, auch andere Menschen mögen diese Freude erfahren. Wenn Sie das häufiger üben, werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass Ihnen diese Augenblicke des Glücks und der Zufriedenheit immer häufiger auffallen.
Üben Sie auf diese Weise das Geben, dann gehen Sie nicht achtlos an Ihrem eigenen Glück und Ihrer eigenen Freude vorüber. Wenn Sie zum Beispiel eine Schüssel köstlicher Erdbeeren essen, dann denken Sie nicht etwa: „Ach, du solltest diese Erdbeeren eigentlich nicht derart genießen. Denk doch nur an all die armen Menschen, die nicht mal ein Stück Brot zu essen haben!“ Stattdessen können Sie denken: „Ahh! Was für eine herrliche Erdbeere. Selten so etwas Köstliches gegessen!“ Sie können Ihre Erdbeere aus vollem Herzen genießen. Aber dann denken Sie: „Ich wünschte, jedermann könnte diese Freude teilen; ich hoffe, dass alle Menschen die Gelegenheit haben, sich ebenfalls an solcher Köstlichkeit zu freuen.“
Sie könnten auch an einen persönlichen Besitz denken, der Ihnen viel Freude bereitet, etwa Ihren Lieblingspullover oder Ihre liebste Krawatte, und sich dann vorstellen, dass Sie diese Dinge Menschen schenken, denen Sie begegnen. Bei dieser Übung geht es nicht tatsächlich darum, etwas wegzuschenken, denn Sie arbeiten ja auf der Ebene der Imagination. Aber die Übung macht Sie aufmerksam auf Ihre Gewohnheit, an Dingen festzuhalten, sich zu verschließen und nicht mit anderen teilen zu wollen. Im Verlauf der Übung gewinnen Sie Zutrauen zu Ihrem inneren Reichtum – der Tatsache, dass Sie anderen stets sehr viel zu geben haben.
Treya Wilber beschreibt diese Art der Übung des Gebens in dem Buch Mut und Gnade, das von ihrem Kampf gegen eine tödliche Krebserkrankung berichtet. Sie hatte schon längere Zeit Tonglen geübt. Eines Tages verlor sie ein Halskettchen mit einem goldenen Stern, das ihre Eltern ihr geschenkt hatten; es war so etwas wie ein Glücksbringer für sie gewesen, und sie hatte es in ihren schwersten Zeiten während Chemotherapie und Operationen getragen. Als sie es nicht mehr wiederfinden konnte, schien ihr das ein schlechtes Omen zu sein, und sie war sehr niedergeschlagen. Aber aufgrund ihrer Übung des Tonglen kam ihr plötzlich die Idee, Millionen dieser Sterne zu visualisieren und sie allen Menschen, denen sie begegnete, zum Geschenk zu machen. Während sie auf diese Weise übte, wurden ihr all ihre Gewohnheitsmuster des Begehrens, Anhaftens und Festhaltens überdeutlich vor Augen geführt, und so begann sie alle Dinge wegzuschenken, sobald ihr auffiel, dass sie daran hing. Das half ihr zwar nicht immer, ihr Anhaften zu überwinden, aber durch diese Übung entwickelte sie Mitgefühl mit allen Menschen, die in einer ähnlichen Situation waren wie sie – die gute Absichten hatten, diesen aber nicht immer gerecht werden konnten. Mithilfe dieser Praxis sah sie durch persönliche Erfahrung ein, dass sie den Verlust des Sterns durchaus verschmerzen konnte, und, was noch wichtiger war, sie entdeckte, welche Freude es macht, vom Festhalten abzulassen und anderen etwas zu geben.
Schmerz annehmen
Der zweite Teil dieser Praxis ist für schon ein wenig fortgeschrittene Übende. Versuchen Sie sich deshalb erst dann damit, wenn Sie sich mit dem Grundgedanken anfreunden können. Wenn Sie etwas Unangenehmes, Schmerzhaftes oder Unerfreuliches erfahren, dann nehmen Sie es zuerst einmal aufmerksam zur Kenntnis. Dann wünschen Sie sich, alle anderen Menschen mögen vollkommen frei von diesen Dingen sein, und Sie stellen sich vor, dass Sie alles, was den Menschen Erleichterung verschaffen könnte, zu ihnen aussenden.
Wenn Sie sich zum Beispiel niedergeschlagen fühlen, dann sagen Sie sich selbst: „Da ich mich sowieso niedergeschlagen fühle, möge ich dieses Gefühl vollkommen annehmen, so dass andere Menschen davon frei sein können.“ Oder: „Wenn ich schon Zahnschmerzen habe, möge ich sie völlig annehmen, so dass andere Menschen davon frei sein können.“ Senden Sie dann das Gefühl der Linderung des Schmerzes zu ihnen aus. Tun Sie das ganz einfach, ohne sich viele Gedanken über die Logik dieser Übung zu machen.
Manch einem mag es so vorkommen, als verlange diese Art von Austausch etwas viel. Ich präsentiere diese Übung hier trotzdem, denn ich persönlich finde, dass sie uns viel Kraft geben kann. Sie verwandelt den Abscheu und die Paranoia, die wir gewöhnlich allem Unangenehmen gegenüber empfinden – das Gefühl, dass wir das Opfer sind –, und wir benutzen sie als Antrieb zum Erwecken des Herzens.
„Verkehrsstau-Tonglen“ ist eine besondere Variante dieser Übung. Wir arbeiten dabei mit all den unangenehmen Gefühlen, die uns überkommen, wenn wir in einem Verkehrsstau feststecken oder vielleicht in einer langen Schlange an der Kasse im Supermarkt stehen: Ärger, Empörung, Ungeduld, Nervosität, die Angst, einen Termin zu verpassen. Zuerst schauen Sie sich um und machen sich klar, dass all die anderen, die ebenfalls im Stau feststecken, das gleiche empfinden wie Sie. Dann atmen Sie das, was Sie fühlen, vollkommen ein und senden ein Gefühl der Entspannung und Erleichterung aus – für sich selbst und für alle anderen im Stau. Sie vergegenwärtigen sich, dass sie als Menschenwesen alle im selben Boot sitzen. Jedermann baut Barrieren um sich herum auf und fühlt sich aufgrund der unangenehmen Gefühle im Verkehrsstau mehr und mehr von den anderen isoliert. Also kehren Sie die Situation um und machen sie zu etwas, das Sie mit all den anderen Menschen verbindet, die in ihrem Auto festsitzen. Plötzlich werden sie dann, wenn Sie sich umschauen, alle zu menschlichen Wesen.
Tonglen im Augenblick
Diese Übung ist im Grunde die Essenz der Tonglen-Haltung. Da ich sie für mich selbst als sehr hilfreich erfahren habe, empfehle ich sie allen meinen Schülern. Auch wenn Sie sich entscheiden, die formelle Tonglen-Praxis nicht auszuüben, können Sie diese Übung im Augenblick jederzeit durchführen. Wenn Sie sich einmal daran gewöhnt haben und sie regelmäßig üben, wird die formelle Tonglen-Praxis wirklicher und bedeutsamer für Sie werden.
Dies ist eine Übung, die Sie in vielen konkreten Situationen des Alltagslebens anwenden können. Immer wenn Sie sich mit einer Situation konfrontiert sehen, die Ihr Mitgefühl weckt oder die schmerzlich oder schwierig für Sie ist, können Sie für einen Augenblick innehalten, das Leiden, das Sie sehen, einatmen und ein Gefühl der Erleichterung ausatmen. Das ist ein einfacher und direkter Vorgang. Anders als in der formellen Praxis beinhaltet diese Übung keine Visualisierungen und Stufen. Es ist ein ganz schlichter und natürlicher Austausch: Sie sehen ein Wesen leiden, Sie nehmen das Leiden mit dem Einatmen in sich auf, und Sie senden mit dem Ausatmen Linderung aus.
Sie könnten zum Beispiel in einem Supermarkt sehen, wie eine Mutter ihre kleine Tochter ohrfeigt. Es tut Ihnen weh, das mit ansehen zu müssen, aber Sie können in dem Moment nichts sagen oder dagegen tun. Ihr erster Impuls könnte sein, sich unangenehm berührt abzuwenden und zu versuchen, die Sache einfach zu vergessen. Aber in dieser Übung wenden Sie sich nicht ab. Sie machen vielmehr Tonglen für das kleine Mädchen, das zu weinen begonnen hat, sowie für die wütende Mutter, die mit den Nerven am Ende ist. Sie können ein allgemeines Gefühl der Entspannung und Offenheit aussenden oder etwas Spezifischeres wie eine Umarmung, ein freundliches Wort, oder was immer Ihnen in diesem Augenblick angemessen erscheint. Das ist kein sonderlich begrifflicher Vorgang – es geschieht beinahe spontan. Wenn Sie auf diese Weise auf eine schmerzliche Situation eingehen und dabeibleiben, dann kann sie Ihr Herz öffnen und zu einer Quelle des Mitgefühls werden.
Sie können auch Tonglen im Augenblick üben, wenn starke Emotionen in Ihnen aufwallen und Sie nicht wissen, wie Sie damit fertigwerden sollen. Sie mögen zum Beispiel einen unschönen Streit mit Ihrem Partner oder am Arbeitsplatz mit Ihrem Chef haben. Man schreit Sie an, und Sie wissen nicht, wie Sie reagieren sollen. In dieser Situation fangen Sie einfach an, die schmerzlichen Gefühle einzuatmen und ein Gefühl der Weite und Entspannung mit dem Ausatem auszusenden – für Sie selbst, für die Person, die Sie anschreit, und für alle Menschen, die sich in einer ähnlich schwierigen Situation befinden. Natürlich müssen Sie irgendwann auf die Person reagieren, die Sie anschreit, aber wenn Sie derart etwas Raum und Wärme in die Situation einbringen, werden Sie wahrscheinlich geschickter damit umgehen können.
Sie können diese Übung auch ausführen, wenn Sie eine Blockade gegen das Sich-Öffnen und die Entwicklung von Mitgefühl verspüren. Sie begegnen zum Beispiel einem Obdachlosen auf der Straße, der Sie anbettelt und der ein Alkoholiker zu sein scheint. Obwohl Sie sich darum bemühen, mitfühlend zu sein, wollen Sie sich unwillkürlich abwenden, fühlen sich abgestoßen und wollen nichts mit ihm zu tun haben. An diesem Punkt können Sie beginnen, Tonglen für sich selbst auszuführen und für alle Menschen, die gern offen sein möchten, sich aber für die Außenwelt verschlossen haben. Sie atmen dieses Gefühl des Zumachens ein, ihr eigenes und das aller anderen Menschen. Dann senden Sie ein Gefühl der Weite und Entspannung und des Loslassens aus. Wenn Sie sich blockiert fühlen, so ist das kein Hindernis für die Übung von Tonglen – es ist ein Teil der Übung. Sie arbeiten mit dem Gefühl des Blockiertseins, und es wird für Sie zu einem Keim des Erwachens Ihres Herzens und zu einer Verbindung mit anderen Menschen.
Tonglen auf der Straße
Diese Übung besteht darin, die Straße entlangzugehen, vielleicht nur ein oder zwei Häuserblocks weit, in der Absicht, für jeden, dem Sie begegnen, so offen wie möglich zu bleiben. Auf diese Weise schulen Sie sich darin, ehrlicher mit Ihren eigenen Gefühlen umzugehen und emotional zugänglicher für andere zu sein. Während Sie so die Straße entlanggehen, könnten Sie Ihre Körperhaltung entspannen und das Gefühl haben, dass die Gegend um Ihr Herz und Ihr Brustkorb sich öffnen. Wenn Sie an anderen Menschen vorübergehen, dann mögen Sie sogar eine subtile Verbindung zwischen deren Herz und Ihrem eigenen spüren, so, als seien Sie beide durch eine unsichtbare Schnur miteinander verbunden. Sie können im Vorübergehen denken: „Mögest du glücklich sein!“ Der wichtigste Punkt ist, dass Sie dieses Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen empfinden, denen Sie begegnen.
Sollten Sie sich irgendwie bloßgelegt fühlen und sich genieren, die Übung auszuführen, dann nehmen Sie das einfach zur Kenntnis und machen sich klar, dass die anderen Menschen wahrscheinlich ähnlich empfinden wie Sie selbst. Ihnen mag auffallen, wie die Menschen Sie für einen Moment anschauen, während sie näherkommen – meist aus sicherer Distanz, so dass es nicht zu sehr auffällt –, in einer automatischen Geste der Zuwendung. Vielleicht warten diese Menschen ja nur auf jemanden, der freundlich zu ihnen ist und sie begrüßt, jemanden, zu dem sie einen echten Kontakt herstellen können. Kommt Ihnen das vielleicht bekannt vor?
Während Sie den Menschen so begegnen, werden Sie sich in jedem Fall Ihrer Gedanken und emotionalen Reaktion ihnen gegenüber bewusst. Achten Sie darauf, ob Sie ein Gefühl der Zuneigung, der Abneigung oder der Indifferenz gegenüber den Menschen empfinden, an denen Sie vorübergehen. Aber fügen Sie dem nicht noch irgendeine Selbstbeurteilung hinzu. Vielleicht lächelt irgendjemand Sie an, und Sie fühlen sich sofort leichter und können sich weiter öffnen. Oder Sie sehen jemanden, der deprimiert dreinschaut, und das könnte ein Gefühl der Zärtlichkeit und des Mitgefühls in Ihnen auslösen.
Achten Sie darauf, wann Sie beginnen, sich zu verschließen oder sich zu öffnen. Doch wenn Sie merken, dass Sie sich verschließen, dann verurteilen Sie sich nicht dafür. Sie können dann einfach Mitgefühl mit all den Menschen empfinden, die sich ebenso verschließen, wie Sie selbst es tun, und die doch so gern offener wären. Genauso können Sie sich wünschen, jedes Gefühl der Erleichterung und der Freude, das während Ihres Spaziergangs in Ihnen aufsteigt, mit den Menschen zu teilen, denen Sie begegnen.
Sich an die Stelle anderer versetzen
Diese Übung des Tauschens mit anderen wird in Shāntidevas „Der Weg des Bodhisattva“ vorgestellt. Es ist eher eine Kontemplationsübung, und anders als beim Tonglen wird diese Übung nicht mit dem Ein- und Ausatmen synchronisiert. Diese Praxis kann Ihnen nicht nur helfen, sich für die sogenannten „neutralen“ oder „indifferenten“ Menschen in Ihrem Leben zu öffnen und Mitgefühl mit ihnen zu empfinden – sie hilft auch bei denen, mit denen Sie wirkliche Schwierigkeiten haben.
Zuerst stellen Sie sich die Person, mit der Sie arbeiten wollen, möglichst lebhaft vor. Fühlen Sie sich so weit wie möglich in sie ein, und versetzen Sie sich für eine Weile an ihre Stelle. Versuchen Sie die Welt so zu sehen, wie diese Person es tut. Was fühlt sie? Was wünscht sie sich? Wovor fürchtet sie sich? Wenn Sie anderen Menschen ein derart großes Interesse entgegenbringen, dann können Sie bei der Entwicklung von Anerkennung und Fürsorge für diese Menschen sehr weit vorankommen.
Schließlich gehen Sie noch einen Schritt weiter und denken, dass Sie diese Person sind und die Person ist Sie. Sie versetzen sich an ihre Stelle und sehen sich selbst nun so, wie diese Person Sie sieht. Wie also sieht diese Person Sie? Nur als eine neutrale Person, als einen potenziellen Freund, als Feind, als überheblichen Menschen, als warmherzigen Menschen? Was bekäme diese Person gern von Ihnen: eine freundliche Umarmung, ein ermutigendes Wort, ein offenes und aufmerksames Ohr, die Anerkennung ihrer Intelligenz, eine Entschuldigung, Vergebung?
Indem Sie derart mit anderen tauschen, entdecken Sie, das diese Menschen sich im Grunde genau dasselbe wünschen wie Sie selbst. In diesem Sinne sind Sie und andere gleich. Vielleicht wird Ihnen auch klar, dass Sie diese Menschen niemals zuvor wirklich gesehen oder ihnen zugehört haben, dass Sie ihnen keine Anerkennung geschenkt oder sie nie wirklich fair behandelt haben. Auf der Grundlage dieses neuen Verstehens können Sie sich diesen Menschen bei ihrer nächsten Begegnung möglicherweise leichter öffnen.
* Im deutschen Sprachraum ist der Pali-Begriff „Metta“ statt des Sanskrit-Begriffs Maitrī gebräuchlicher (Anm. d. Lekt.).