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5. Oliver

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Oliver balancierte das Tablett in einer Hand und suchte in seiner Hosentasche nach dem vibrierenden Telefon. Den Klingelton konnte er im Geklirre und Geschepper der Kantine sowieso nicht hören.

„Klauenberg.“ Er schob das Tablett auf eine Tischecke und steuerte den Ausgang an. Es quakte aus dem Hörer, aber er hätte noch nicht mal sagen können, in welcher Sprache.

„Moment, hier ist es zu laut. So, jetzt bitte noch mal von vorn.“

„Zentrale hier. Wir haben ein Tötungsdelikt in Vahrenwald. Muss eine ziemliche Sauerei sein. Ist Robert in deiner Nähe?“

Oliver ging mit dem Hörer am Ohr zurück in die Kantine. Sein Kollege schaufelte sich alleine am Tisch Pommes in den Mund, als würde es nie wieder etwas zu essen geben, und verfolgte das Telefonat.

„Jep, er ist hier in der Kantine.“ Oliver zeigte auf das Telefon in seiner Hand und nickte. Robert verdrehte die Augen. Er umwickelte die eine Seite des panierten Schnitzels mit einer Serviette, kam zum Ausgang und biss von der anderen ab.

„Du fährst, ich esse.“ Robert schmiss Oliver den Wagenschlüssel rüber.

Oliver warf einen bedauernden Blick auf sein volles Tablett.

Rund um das abgesperrte Hochhaus reckten die Schaulustigen ihre Köpfe wie Erdmännchen in die Luft. Jedes Mal, wenn sich die Haustür bewegte, hielten sie wie auf ein unsichtbares Kommando ihre Smartphones hoch. Reihen von Klingelschildern, mehrfach überklebt, ungeleerte Briefkästen mit welliger heraushängender Werbung dokumentierten den Niedergang des Viertels. Oliver Klauenberg und sein Kollege duckten sich unter der Absperrung hindurch und stiegen die Treppen hoch. Graffitis zierten die schmutzig gelben Wände, und Dreck knirschte unter ihren Schuhen.

„Der Tod aller Mietergemeinschaften ist das Nichteinhalten der Hauswoche“, murmelte Oliver und stieg über eine zerknüllte McDonalds-Tüte. Die Kollegen standen auf dem Flur vor der Wohnung eines Edgar Szumanski.

„Mahlzeit. Was haben wir hier?“ Oliver nickte den Uniformierten zu. Eine junge Beamtin, die Oliver noch nie gesehen hatte, löste sich aus der Gruppe. Sie blätterte in ihrem Notizblock. „Tötungsdelikt. Vermutlich handelt es sich um den Mieter der Wohnung, Edgar Szumanski. Er ist ein alter Bekannter. Einbruch, Hehlerei – das Übliche. Seine direkte Nachbarin hat den Hausmeister informiert, weil in seiner Wohnung stundenlang Musik hämmerte und sie die Kinder nicht schlafen legen konnte. Da der Nachbar aber sonst eher zurückgezogen lebte und sie keinen Ärger mit der Polizei wollte, hat sie nur den Hausmeister angerufen. Auf das Klingeln hat Herr Szumanski dann nicht reagiert. Geht ruhig rein, dann wisst ihr auch gleich, warum.“ Sie trat einen Schritt zur Seite. „Ich warte gerne hier auf euch.“

„Hier, nehmt die Anzüge.“ Eine Kriminaltechnikerin reichte ihnen weiße Papieroveralls. „Ist dieses Mal auch zum Schutz eurer Klamotten.“ Sie hielt den Kollegen außerdem eine Dose Tigerbalm unter die Nase. War sie neu? Beide schüttelten den Kopf und gingen durch die Wohnungstür. Niemand, der länger als drei Leichen bei der Mordkommission blieb, würde sich Mentholzeug unter die Nase reiben. Beinahe bereute Oliver jedoch, dass er die olfaktorische Betäubungskeule ausgeschlagen hatte. Der süßliche Blutgeruch, das Ammoniak des Urins, gepaart mit dem Geruch nach der Darmentleerung ließen ihn sofort flach atmen. Neben ihm würgte Robert.

„Ich will dein Schnitzel jetzt auch nicht mehr. Reiß dich zusammen und behalte es drin.“ Oliver wollte auf keinen Fall vollgekotzt werden und trat einen Schritt von Robert weg.

In der Mitte des Zimmers lag ein Mensch in einer Blutlache. Das Gesicht bestand nur noch aus rohem Fleisch, wenn man von dem Kuli im Auge absah, der dort steckte wie in einer Halterung auf einem Schreibtisch. Die Nase war weggerissen. Da, wo mal die Wangen waren, konnte Oliver die Zähne wie durch ein Guckloch sehen. Er schlug die Hand vor den Mund und würgte nun auch. Blick an die Decke, flach durch den Mund atmen, ganz ruhig, befahl er sich.

Was war hier passiert? Oliver ließ den Blick über das Chaos in dem Zimmer wandern. Lampen, Matratzen und anderes Mobiliar lagen kreuz und quer auf dem Fußboden. Die Kissen waren aufgeschlitzt. Federn waren auf den Toten gefallen und hatten sich mit Blut vollgesogen. Es sah aus, als hätte er mit einem Schwarm tollwütiger Gänse gekämpft. Bloß nicht in das Blut treten. Er wich den dunklen Stellen auf dem vollgesogenen Teppich aus. Der Mann, der vermutlich bis vor wenigen Stunden Edgar Szumanski war, hatte vor allem am Oberkörper und im Gesicht schlimme Fleischwunden. An den Armen, wo sich noch unversehrte Haut befand, sah Oliver Bruchstücke von Tätowierungen.

Systematisch durchsuchte die Spurensicherung die verwüstete Wohnung. Als sie unter dem Couchtisch eine Fernbedienung fanden, wussten sie, dass vor ihnen bereits jemand professionell gesucht hatte. Das Gehäuse war aufgebrochen und das Batteriefach ausgeräumt. In einer Fernbedienung konnte man problemlos etwas verstecken. Oliver drehte sich noch einmal um die eigene Achse und musterte die Einzimmerwohnung. Seinen Ekel mühsam beherrschend, trat er wieder an die Leiche heran, wo der Geruch nach Exkrementen ihm Gallenflüssigkeit die Speiseröhre hochjagte. Er überprüfte die Hosentaschen der blutigen Jeans des Toten. Nichts. Der Inhalt des Kleiderschrankes war auf dem Boden verstreut. Außer einigen persönlichen Hygieneartikeln wie Zahnbürste oder Deo war das Bad leer und schmuddelig.

Er ließ seinen Blick den Raum durchwandern und sah unter der Heizung ein Handy liegen. Die Kollegen tüteten es in einen Beutel und gaben es Oliver. Er entsperrte die Tastatur. Der letzte Anruf ohne Rufnummer war erst vor wenigen Minuten eingegangen. Insgesamt waren es elf verpasste Anrufe. Hatte Edgar eine Verabredung versäumt? Oliver wechselte das Menü und scrollte durch die gewählten Nummern und fand als letzten Eintrag eine Telefonnummer aus Frankfurt, die der Tote am Vortag gewählt hatte. Er tippte die Nummer in sein Telefon und wartete auf das Freizeichen.

„Wirtschaftsredaktion, Apparat Liv Mika, André Spiel am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Die Stimme klang jung.

„Guten Tag, ich hätte gerne Frau Mika gesprochen.“ Oliver verzichtete auf die Nennung seines Namens.

„Oh, das tut mir leid. Die ist nach Hannover gefahren, und ich weiß nicht, wann sie wieder in der Redaktion ist. Kann ich Ihnen helfen?“

„Seit wann ist sie denn weg?“

„Wie war doch gleich Ihr Name?“ Der junge Mann klang nun alarmiert.

Oliver legte auf und notierte sich den Namen Liv Mika mit einem Fragezeichen. Warum kam ihm der Name bekannt vor? Er konnte Journalisten nicht ausstehen. Vor allem nicht die weiblichen, die immer glaubten, dass sie noch eine Spur bissiger sein mussten, um die männlichen Kollegen zu übertrumpfen. Aber was hatte eine Frankfurter Wirtschaftsjournalistin mit einem Kleinkriminellen aus Hannover zu schaffen? War sie die Anruferin mit unterdrückter Nummer? Hatte sie sogar etwas mit diesem Gemetzel hier zu tun? Oder war sie eine Verabredung, die Edgar nun nicht mehr wahrnehmen konnte?

Thriller Collection I

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