Читать книгу Das Mosaik des Islam - Perry Anderson - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеIn der neueren Geschichte des Westens hat der Islam nie so viel Beachtung gefunden wie heute, positiv wie negativ. Das hat mehrere Gründe. Seit einem Vierteljahrhundert toben im Nahen Osten unter Beteiligung europäischer Mächte und der Vereinigten Staaten Kriege, für die kein Ende in Sicht ist und die sich zunehmend auch auf den Westen auswirken. In Europa entstand durch die Einwanderung aus Gebieten des früheren Osmanischen Reichs zum ersten Mal eine signifikante muslimische Bevölkerungsgruppe. Transatlantische Debatten über den Multikulturalismus, die auch die religiöse Pluralität insgesamt berühren, befeuern das Interesse an der Religion, die historisch betrachtet die größte Konkurrenz zum Christentum darstellt. So entstand eine umfangreiche Literatur, die alle Fragen des Islams im öffentlichen Raum behandelt. In keinem Land erschienen wohl mehr Bücher als in Frankreich, wo Politikwissenschaftler wie Olivier Roy und Gilles Kepel immer wieder Debatten anschieben und ein breites Publikum erreichen. Im angelsächsischen Raum übernimmt ein Autor wie Malise Ruthven eine entsprechende Funktion.
Einen völlig anderen Bereich bilden westliche Traditionen historischer Forschung zur muslimischen Welt seit dem sechzehnten Jahrhundert, die das Korpus klassischer Texteins Zentrum rücken. Hier zeichnet sich Frankreich durch kontinuierliche Forschungstätigkeit aus, mit einer mehr oder weniger ungebrochenen orientalistischen Tradition von den 1540er Jahren bis in die Gegenwart, von Guillaume Postel über Antoine Galland und Silvestre de Sacy bis hin zu Louis Massignon, Jacques Berque und ihren heutigen Nachfolgern.1 In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts kamen aus der deutschen und österreichischen Forschung wegweisende Arbeiten protestantischer und jüdischer Gelehrter wie Julius Wellhausen und Ignaz Goldziher.2 Im dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts stammten die innovativsten Ansätze von Historikern aus England – John Wansbrough, Patricia Crone, Michael Cook, Martin Hinds –, ehe sich der Schwerpunkt der angelsächsischen Forschung in die Vereinigten Staaten verlagerte.3 Die beherrschende Disziplin eines solchen Orientalismus war, egal wo, meist die Philologie, die als stark spezialisierte und unzugängliche Geisteswissenschaft galt. Seit einigen Jahren ermöglichen methodologische Fortschritte in der Erforschung altarabischer und anderssprachiger Texte eine immer anspruchsvollere Quellenkritik, was diesen Forschungsbereich von der Betrachtung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Ereignisse absetzt.
Die Arbeit des Historikers Suleiman Mourad illustriert diese Fortschritte. Ende der sechziger Jahre in einer einfachen sunnitischen Familie in den Bergen des Südlibanon zur Welt gekommen, erlebte er in seiner Jugend die israelische Invasion und den libanesischen Bürgerkrieg. Mourad studierte an der Amerikanischen Universität Beirut zu einer Zeit, da die meisten Studenten Stipendien erhielten und es auf dem Campus so gut wie keine religiös motivierten Spaltungen gab. Drei seiner Dozenten waren in Palästina geboren (in sunnitischen und arabisch-orthodoxen Familien), ein Libanese stammte aus einer der ersten protestantischen Familien des Landes. Suleiman Mourad verfasste seine Master-Arbeit über die frühen arabischen Eroberungen, betreut von dem Historiker Tarif Khalidi, der den, wie er es formulierte, »islamischen Triumphalismus« ablehnte. Im Jahr 1996 lud die Universität Yale Mourad ein, dort zu promovieren. In Yale stürzte er sich in Sprachkurse – Syrisch, Persisch, Deutsch –, die er an der Amerikanischen Universität Beirut nicht belegt hatte, und in das Studium der Religionen: Islam und Mystik, das Neue Testament und das frühe Christentum. Sechs Jahre später erhielt er einen Lehrauftrag in Vermont, und heute ist er Professor für Religionswissenschaft am Smith College in Massachusetts.
Aus seiner Doktorarbeit ging sein erstes Buch hervor, eine kritische Untersuchung berühmter Texte, die Al-Hasan al-Basri zugeschrieben werden, einem der wichtigsten muslimischen Denker aus der Generation nach Mohammed; darin geht Mourad auch auf Umstände seines Lebens ein und zeigt auf, dass diese Texte – unter anderem der bekannte Brief an den mächtigen Umayyaden-Kalifen Abd al-Malik (der die Zerstörung des Felsendoms in Jerusalem befahl) – lange nach seinem Tod verfasst wurden, um spätere theologische Positionen zu legitimieren.4 Seither hat er als maßgeblicher Vertreter der Mediävistik richtungsweisende Studien veröffentlicht: über die Einflechtung von Legenden um Maria und Josef in frühe islamische Texte, über die hermeneutischen Methoden der Koran-Exegese durch die Gelehrten der Mutazila unter den Abbasiden sowie über die Entwicklung Jerusalems zum wichtigsten Ort der religiösen Vorstellungswelt des Islams.5 Jüngst wirkte er als Co-Autor an einer maßgeblichen Studie zum historischen Umfeld des zwölften Jahrhunderts mit, als das Dschihad-Gebot zur uneingeschränkten Pflicht umgedeutet wurde, nicht nur gegen Kreuzritter und Mongolen in den Kampf zu ziehen, sondern auch gegen die schiitische Fatimidenherrschaft in Ägypten und andere Muslime.6 Derzeit untersucht er Gegenströmungen der Toleranz im Aufeinandertreffen der muslimischen und der christlichen Welt im Nahen Osten des Spätmittelalters. Dies ist der cursus eines Historikers, der mit seiner Arbeit in der überaus anspruchsvollen Tradition einer in die Moderne überführten philologischen Gelehrsamkeit steht.
Es fällt jedoch auf, dass Mourad als Historiker durchaus nicht entrückt ist von den jüngeren oder aktuellen Umbrüchen in der arabischen und islamischen Welt, sondern dass er die politische und intellektuelle Landschaft der Gegenwart bestens kennt. Es ist diese Kombination, die Mourad auszeichnet und die er in diesem Buch so aufschlussreich zur Entfaltung bringt. Denn hier wird die Trennung zwischen historischen und gegenwärtigen, philologischen und sozialen Auffassungen des Islams in Westasien und Nordafrika, die Trennung zwischen Literaturen, die sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart befassen, aufgelöst zugunsten einer kohärenten Betrachtung. Ausgehend von der Entstehung des Korans und seiner Beziehung zu jüdischen und christlichen Formen des Monotheismus, wendet er sich der Literatur über das Leben Mohammeds zu und beleuchtet die frühen arabischen Eroberungen und die Streitigkeiten über die Nachfolge für das Kalifat, die später die Spaltung zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam herbeiführten. Gegensätzliche mittelalterliche Interpretationen des Dschihad-Gebotes von der Zeit der Abbasiden bis zu den Kreuzzügen leiten über in eine Analyse der modernen salafistischen Glaubenslehren. Die Geschicke der reformatorischen Moderne einerseits und der Neubelebung des Wahhabismus in jüngster Zeit andererseits, die theologische Einordnung von Bewegungen wie den Muslimbrüdern (Ichwan) in Ägypten oder der AKP in der Türkei, die Ursachen für die augenfällig unterschiedliche politische Entwicklung der Schia in Syrien und im Irak, die Faktoren, aufgrund derer Nordafrika von einer einst vorherrschend schiitischen zu einer homogen sunnitischen Region wurde, der Niedergang der klassischen islamischen Rechtsschulen, die Zunahme religiöser Feindseligkeiten im gesamten Nahen Osten seit der iranischen Revolution: All diese Fragen und mehr beleuchtet Suleiman Mourad in unnachahmlicher Ruhe, Klarheit und Unparteilichkeit.
Das ausgedehnte Gespräch,7 das den Rahmen für diese Ausführungen bietet, entspann sich während eines gemeinsamen Aufenthalts am Institut d’Etudes Avancées in Nantes, wo Gelehrte aus aller Welt und besonders aus dem globalen Süden die einmalige Gelegenheit erhalten, Fächer- und Ländergrenzen überschreitend voneinander zu lernen. Unzählige Gespräche über verschiedenste Themen gingen kreuz und quer über die Tische hinweg. Im Laufe eines unvergesslichen Jahres entfachten alle möglichen Fragen die Neugier der Umsitzenden. Dieses Buch ist eine Frucht dieser Neugier. Ihre Form verdankt es dem genius loci und der Herzlichkeit und Intensität des intellektuellen Austausches, den er in Gang setzte. Ohne das Institut hätten die in diesem Buch gestellten Fragen nie Gestalt annehmen, noch hätten die Antworten dem Geiste, der an diesen Abenden an der Loire herrschte, so lebhaft Ausdruck verleihen können.
Perry Anderson