Читать книгу Blutspur der Revolverhelden: Western Bibliothek 10 Romane - Pete Hackett - Страница 11
Abtrünnige Sturmreiter
ОглавлениеWestern von Larry Lash
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Der Umfang dieses Buchs entspricht 178 Taschenbuchseiten.
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Die Namen der Girty-Brüder haben bis heute in der amerikanischen Geschichte keinen guten Klang. Man nannte sie die Abtrünnigen, und doch war jeder für sich ein Besonderer. Sie teilten das Schicksal vieler, die, in die Wildnis geschleppt, Aufnahme in einem Indianerstamm fanden. Sie wurden wie Indianer erzogen und lebten als solche.
Die Girty-Brüder, vor allem Simon und James, machten sich große Namen. Während James und George für immer bei den Indianern blieben, wurde Simon später der Mann, der Lord Dunmore hörig war und mit seinen Seneca-Irokesen gegen die Grenzer vorging, um den Aufstand der Kolonisten zu zerschlagen. James wurde durch den Tod des großen Indianerhäuptlings Logan daran gehindert, zu einem dauernden Friedensbündnis beizutragen.
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Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker (https://www.lovelybooks.de/autor/Alfred-Bekker/)
© Roman by Author / Cover: Hugo Kastner
© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Prolog
Die Eroberung des wilden Westens von Amerika in all seinem historischen Geschehen wird überschattet von dem Untergang einer Nation, die den Eindringlingen nach überaus harten und oftmals auf beiden Seiten grausamen Kämpfen immer mehr weichen musste. Was Wunder, dass die Feinde von gestern in dem Geschichtsbild damaliger amerikanischer Autoren wenig schmeichelhaft und oftmals verzerrt dargestellt wurden. Erst die neuere Geschichte stellt eindeutig klar, dass diesem an sich friedlichen Volk der Indianer oftmals bitter Unrecht getan wurde. Dass für den roten Mann der Kampf gegen die weißen Eindringlinge ein Existenzkampf war, ein Kampf um Sein oder Nichtsein, wurde vielen erst klar, als es schon fast zu spät war. Der Rote war der Angegriffene, in sein Gebiet brach man ein, tötete zu Tausenden die Büffel, die ihn ernährten, drängte ihn immer weiter zurück und sperrte ihn schließlich in Reservate. Mit Intrigen und Vertragsbrüchen, mit immer wieder neuen Angriffen und Diffamierungen zermürbte man damals allmählich ein Volk, von dem abzustammen heute sich mancher Amerikaner gern rühmt.
Vor dem Hintergrund dieser historischen Tatsachen spielt dieser Roman.
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1.
Der Sand knirschte unter den Kielen der langen, aus der Nacht herangleitenden Boote. Es waren drei Boote, die auf das seichte Ufer aufliefen, flach gebaut und mit wenig Tiefgang. Die paddelschwingenden Besatzungen der Boote konnten sie ans Ufer bringen, ohne erst von Bord gehen zu müssen. Ein Boot nach dem anderen kam zum Stillstand. Die Augen von über einem Dutzend Männern starrten zum Festland hin, wo die dunklen Wälder sich gleich einer Mauer gen Himmel redeten. Sie suchten das Ufer ab, das sich in sanfter Krümmung ausdehnte, um sich im Schatten der Nacht schließlich zu verlieren.
Keiner der Männer sagte etwas. Sie schienen im Banne der Nacht zu stehen, die mit ihrem dunklen Schweigen drohend auf sie einwirkte. Die Wellen schlugen in monotonem Rhythmus ans Ufer. Der Wind bewegte hörbar die Baumkronen von Ahorn, Sykomoren, Pappeln und Weißeichen.
„Aussteigen, die Boote ins Rohr ziehen und tarnen“, tönte die dunkle, leise Stimme eines Mannes durch die Nacht. „Ich möchte die Boote später wiederfinden. Los denn, holt die Decken und versuchen wir unsere Fährte so gut wie möglich am Ufer zu verwischen.“
Der Mann, der diese Worte sagte, stand im Bug des Bootes, das mit fünf Männern besetzt war. Dick Sterling war sein Name. Er hatte breite Schultern, ein schmal geschnittenes Gesicht, und er trug einen Bart. Er war in der Hirschlederkleidung der Grenzer gekleidet, jener Kleidung, die von den Grenzern selbst hergestellt wurde, in der alle Männer in den Booten ohne Ausnahme steckten.
Mit geschmeidigen Bewegungen kletterte Dick Sterling aus dem Boot. Der morastige Sandboden unter seinen Füßen gab ein wenig nach. Bei normalem Wasserstand stand der Schilfrohrgürtel unter Wasser. Man hätte in das Schilf hineinfahren können. Jetzt blieb den Männern unter Dick Sterlings Kommando nichts weiter übrig, als die Boote ins Rohrdickicht zu ziehen. Sie taten es ohne Widerrede. In wenigen Minuten waren die Boote mit mannshohem Schilfrohr bedeckt, so dass nicht eine Planke von ihnen zu sehen war.
Dick Sterlings Stimme war wieder zu hören. Er rief den Männern zu, ihm zu folgen, und zwar so, dass ein Mann hinter dem anderen schritt, genauso wie es die Indianer machten, wenn sie sich „auf dem schwarzen Pfad“ befanden und das Kriegsbeil ausgegraben hatten. Als die Männer das Schilfrohr hinter sich gelassen hatten und festen Boden betraten, lösten sich zwei Männer am Schluss der Gruppe damit ab, mit einer beschwerten Decke, die sie hinter sich her schleiften, die Spur zu verwischen.
„Mit diesem Trick täuscht man keinen Miami, Schawanese, Delaware und schon gar nicht einen Irokesen“, sagte Josuah Slem, ein älterer Mann der Gruppe, leise zu seinem Vordermann. „Seit dem Pontiac zum obersten Kriegshäuptling dieser roten Bande gemacht wurde, ist die Hölle los, und es ist noch nicht abzusehen, wie es noch enden soll. Pontiac ist gefährlich, seine Ideen sind ansteckend. Von diesem roten Indianerführer werden wir noch eine Menge zu hören bekommen.“
Josuah Slem bekam keine Antwort. Er hatte auch keine erwartet. Was er sagte, war allen nichts Neues. Die Grenzer wussten, dass die Grenze in Flammen stand. Jeder von ihnen hatte es am eigenen Leibe erfahren müssen. Es gab keinen unter ihnen, in dessen Familie nicht ein oder mehrere Opfer zu beklagen waren. Jeder wusste, dass Pontiac kein gewöhnlicher Häuptling war. Von diesen Männern ahnte jedoch noch niemand, dass der schmähliche Verrat, den Paquita, die Tochter Pontiacs, ihrer Rasse antun würde, die große Niederlage für die Indianer bringen würde, dass Pontiac selbst durch den schnöden Verrat eines Kriegers ans Messer geliefert werden sollte. Paquita musste den Verrat an ihrer Rasse büßen. Sie stellte sich selbst ihren Richtern, wurde von den Frauen ihres Stammes in Büffelfelle eingenäht und in den Fluten des tiefen Wabash ertränkt.
Diese Männer hier, die einer ganz bestimmten Spur folgten, wussten nur, dass es sehr gefährlich war, den roten Schuften ihre Beute abjagen zu wollen. In allen, keinen von ihnen ausgenommen, brannte Erregung, Zorn und Wut. Vor zwei Tagen hatte man die Girty-Familie auf ihrem kleinen Siedlergehöft aufgefunden, schrecklich verstümmelt, jedoch fehlten die beiden Buben, der zwölf Jahre alte Simon Girty und sein um zwei Jahre jüngerer Bruder James. An Hand der vorhandenen Spuren war es dann für die erfahrenen Männer ein Leichtes gewesen festzustellen, dass der Kriegstrupp, der die Siedlerstätte überfallen hatte, auch die beiden Jungen mitgenommen hatte. Man hatte nicht einen Augenblick gezögert und alles getan, um einige beherzte Männer zusammenzutrommeln. Zwei Tage schon war man unterwegs. Längst hatte man die Pferde unter Bewachung zurückgelassen und mit den Booten die Verfolgung ins Niemandsland fortgesetzt. Jetzt war man in Feindesland. Jeder Baum, jeder Schatten, jede Mulde konnte die Feinde hervorzaubern.
„Wir müssen die Buben finden“, hörte der Vordermann die heisere Stimme Josuah Slems durch die Nacht dringen. „Ich habe meiner Schwester versprochen, für die Jungen zu sorgen. Ich bin noch der einzige aus der Familie, der etwas für sie tun kann, alle anderen kamen bereits an der mörderischen Grenze um.“
„Wir wissen alle, was du durchgemacht hast und was deiner Sippe widerfuhr, Josuah“, antwortete der vor Josuah gehende Mann ebenso leise. „Gestern wollten wir umkehren, doch du hast durchgesetzt, dass die Männer weitermachen und Sterling uns weiterführt. Überleg es dir gut, verlange nichts Unmögliches, Freund! Viele Familien wurden leidgeprüft, und das Leben geht weiter.“
„Es ist schlimm genug, dass diesmal einige Schawanesen und Irokesen zusammengingen“, antwortete Slem. „Die Irokesen, die wildesten und unheimlichsten aller Stämme, halten zu den Engländern und mit ihnen die Cherokeestämme. England liefert ihnen Feuerwaffen und Rinderherden und zeigt ihnen, wie man Ackerbau betreibt. Man sagt, dass die Irokesen blühende Felder haben, herrliche Obstgärten, prächtige Viehherden, und dass sie sehr schnell begriffen haben, dass Ackerbau und Viehzucht sie rasch unabhängig machen kann. Man weiß, dass die Schawanesen, Delawaren und Miamis Freunde Frankreichs sind. Wir können nur hoffen, dass zwei so große Stämme wie die Schawanesen und Irokesen sich nicht gegen den weißen Mann vereinen. Das wäre nämlich unser aller Ende, der Beginn einer alles niederreißenden Flutwelle. Man muss sich fragen, ob die Regierung etwas davon weiß, dass Irokesen bei dem Überfall dabei gewesen sind. Wurde es ihr gemeldet?“
„Ich glaube nicht, Freund“, wurde ihm erwidert. „So lange wir vom englischen Mutterland abhängig sind, zählen einige abtrünnige Irokesen nicht. Für unsere Regierung jenseits des Ozeans zählt nur die Tatsache, dass die Irokesen gegen die eigenen Rasseangehörigen kämpfen. Ihr Drang, andere Indianerstämme zu unterwerfen, kann England nur recht sein. Man wird nicht den Fehler machen und den besten Verbündeten Steine in den Weg legen, schon gar nicht, seitdem in der amerikanischen Kolonie immer mehr Stimmen laut werden, die zur Selbständigkeit drängen. Eines Tages kann man das nicht mehr überhören. Eines Tages wird man dann die Irokesen gegen die Grenzer einsetzen, um sie niederzuhalten.“
„Das wäre schrecklich, Freund“, erwiderte Slem. Was er jetzt hörte, gab ihm zu denken. Oh ja, man wusste in England nur zu gut, dass der Freiheitsdrang der Grenzer und Siedler gegen alles Stellung nahm, was ihre Freiheit einzuengen suchte. Die Steuern waren es, die manchen Mann dazu bewogen, die vermessenen Gebiete zu verlassen und weiter nach Westen zu ziehen, mit allem Vieh und allem Hab und Gut. Daniel Boone zum Beispiel war einer der größten amerikanischen Scouts. In seinem Leben stand er oft vor einem neuen Aufbruch. So wie er vergaßen es viele Grenzer, ihr Land rechtzeitig eintragen zu lassen. Sie wurden, als die Zivilisation weiter nach Westen vorrückte, von ihrem Land, das sie sich mit ihrem Schweiß errungen hatten, verjagt. Der unbändige Freiheitsdrang in der amerikanischen Kolonie loderte immer stärker in den Herzen der Menschen. Sie lebten und starben für die Freiheit und nahmen das harte Leben in Kauf, das die Nähe der Wildnis und der Indianer ihnen bescherte.
In England kannte man diesen Freiheitsdrang und beobachtete ängstlich, wie er sich weiterentwickeln würde. Was Slem nicht wusste, war, dass noch eine Reihe von Jahren ins Land gehen würden, bevor die Flamme in den Herzen der Freiheitsdurstigen sich zum lodernden Brand entfachte. Noch weniger konnte er ahnen, dass der Tag kommen würde, an dem der Seneca-Häuptling Josef Brant darauf bestehen würde, dem englischen König ein mitgebrachtes Geschenk persönlich zu überreichen. Es wurde ihm klargemacht, dass das nicht ginge, und nur mit Mühe konnte man ihn dazu überreden abzuziehen. Er ging erst, als man ihm versicherte, dass der König das Geschenk tatsächlich bekommen würde. Im Begleittext zu dem Geschenk war unter anderem zu lesen, dass der König das Geschenk betrachten und sich daran erfreuen möge.
Nun, es war keineswegs ein erfreulicher Anblick, als man die Geschenkpakete öffnete und nichts anderes als Skalps zu sehen bekam. Das erste Paket enthielt die Kopfhäute von 43 Kongresssoldaten, deren innere Haut rot bemalt war. Verschiedene waren darunter, die kleine schwarze Flecken aufwiesen. Letzteres bedeutete, dass der so gezeichnete Skalpträger durch eine Kugel gefallen war. Es folgten 62 Kopfhäute von Farmern, die der Tod in ihren Blockhütten ereilte. Die Innenkopfhaut dieser Skalps war braun gefärbt und mit einer Sichel bemalt. Das deutete an, dass der Skalpträger in der Nacht getötet worden war. War ein Beil dazu dargestellt, so konnte man daraus ersehen, mit welcher Waffe der Mann getötet worden war. Ein anderes Paket enthielt die Skalps von 98 Farmern, deren Innenkopfhaut mit weißen Kreisen geschmückt war. Das bedeutete, dass sie am Tage getötet worden waren. Ein dazu gemalter roter Fuß bedeutete, dass sich der Skalpträger tapfer bis zum letzten Atemzug verteidigt hatte. Weitere 97 Skalps mit grünen Kreisen besagten, dass es die Männer auf den Feldern erwischt hatte. 102 Kopfhäute waren mit einer gelben Flamme gezeichnet, was bedeutete, dass sie Menschen gehört hatten, die lebendig verbrannt wurden. Es folgten 85 Kopfhäute von Frauen, 193 Skalps von Knaben und 211 Skalps von Mädchen verschiedener Altersgruppen. Weitere 122 Skalps und eine Schachtel aus Birkenholz, die 28 Säuglingsskalps enthielten, wurden aus den Paketen genommen.
Kein Wunder, dass der König beim Anblick der Skalps ausrief: „Womit soll diese Tat vor Gott verantwortet werden!“
Suffolk, sein Berater, soll entgegnet haben: „Gegen Rebellen, Majestät, ist alles erlaubt!“
Soweit die historische Überlieferung.
Nein, dass es so kommen würde, konnte Slem nicht ahnen. Er bangte um Simon und James, die, von den Indianern verschleppt, sich irgendwo in den dunklen Wäldern befanden. Vor einer Woche hatte er sie zum letzten Male gesehen, den hoch aufgeschossenen Simon, der mit zwölf Jahren bereits ein großer starker Junge war, der ohne Zweifel bereits als Mann anzusehen war und den kleineren, verschlossenen James. Noch hatte er die Hoffnung, dass man den Indianertrupp einholen, ihn stellen und die lebendige Beute abnehmen konnte, noch klammerte er sich an die Hoffnung, dass der fähige Dick Sterling wieder einmal eine Meisterleistung vollbringen, das Unmögliche wahrmachen und die Knaben den Entführern entreißen und in das Leben zurückbringen würde.
Die Hoffnung Josuah Slems wuchs, als von vorn die Meldung kam, dass man Mokassinspuren gefunden habe. Wenig später fand man jene leicht gebauten Birkenrindenkanus, die die Entführer benutzt hatten. Jetzt konnte man aufatmen und neue Hoffnung schöpfen.
„Wenn ich ehrlich gestehen soll“, sagte Sterling, „mir gefällt das nicht, es riecht zu sehr nach einer Falle.“
„Oder nach Flucht“, sagte einer der Grenzer. „Sie haben sich nicht einmal die Zeit genommen, die Kanus zu verstecken und ihre Spuren zu verwischen. Wir sollten jetzt schnell weitermarschieren. Das Mondlicht ist ausreichend. Wir können die gut sichtbare Fährte nicht verlieren. Zögern wir also nicht, zeigen wir es diesen Schuften und schicken wir sie in die ewigen Jagdgründe, noch bevor sie noch weitere frische Skalps an ihre Lanzen hängen. Sterlings übergroße Vorsicht mag sich als Hindernis auswirken. Wenn wir den armen Jungen noch helfen wollen, müssen wir uns sehr beeilen. Man muss sich fragen, ob die beiden Jungen überhaupt noch leben!“
„Sie werden es nicht überleben, wenn wir sie offen stellen! Nur wenn wir sie überraschen, werden sie keine Zeit mehr haben, ihre Gefangenen zu töten“, erwiderte Sterling und gab das Zeichen zum Weitermarsch.
Niemand widersprach. Nur zu gut wussten alle, dass Sterling recht hatte. Bei einem offenen Angriff konnte man nicht mit dem Überleben der Knaben rechnen. Jeder von ihnen wusste nur zu gut, in welcher Todesgefahr sich die beiden Girty Knaben befanden, dass sie, wenn nur das Geringste schiefging, das traurige Schicksal ihrer Eltern erleiden würden.
Sterling führte den Trupp an. Es war erstaunlich, mit welcher Sicherheit er die Fährte hielt, wie schnell er sie deuten und wiederfinden konnte, wenn sie einmal verloren gegangen war. In dieser Beziehung schien er Indianeraugen zu haben. Kein Wunder auch, denn Sterling war ein Waldläufer. Er war der einzige Mann aus der Gruppe, der sich keinen festen Wohnsitz angelegt hatte. Er lebte ständig in den Wäldern und kam nur dann zurück, wenn er Felle tauschen und sich etwas Lebensnotwendiges eintauschen wollte. Er hatte seine Frau und seine Kinder verloren. Vor langer Zeit schon waren sie durch eine streifende Indianerbande getötet worden. Von der Zeit an hatte er keine Bäume mehr gerodet, keinen Acker bebaut, keine Schafe, Ziegen und Kühe mehr gehalten. Er war ein Einzelgänger geworden, ein Mann, der die Einsamkeit liebte und die Gemeinschaft nur dann aufsuchte, wenn es unbedingt notwendig war. Dass dieser Mann drüben in Europa einmal ein großer Mann gewesen war, wussten nur Eingeweihte, die keinen Gebrauch davon machten. Wozu auch? In diesem Lande galt nicht das, was ein Mann war, sondern das, was er tat und wie er sich verhielt, wie er kämpfen konnte.
Seine Fähigkeit, sich in Busch und Wald und in der Prärie zurechtzufinden, hatte die Männer bewogen, ihn zu ihrem Anführer zu wählen. Es zeigte sich bald, wie recht man damit getan hatte, denn nach einer halben Stunde blieb er plötzlich stehen, beugte sich über die Fährte und verharrte in dieser Stellung wie ein witternder Wolf, dann ging er langsam vorwärts und blieb wieder stehen, um sich dann plötzlich scharf nach rechts zu wenden.
„Das habe ich befürchtet“, sagte er, als einer der Männer die Frage an ihn richtete, was das zu bedeuten habe. „Sie haben sich geteilt. Auf diesem Pfad sind die Irokesen abgebogen. Sie gingen nicht allein. Einen der Jungen haben sie mitgenommen. Die anderen führten den zweiten Jungen mit sich. Das ist kein schlechter Trick. Ich bin sicher, dass es die Irokesen sind, die hier abzweigten. Die Gruppe ist fünf Mann stark. Die Fährtenabdrücke lassen keinen anderen Schluss zu. Das ist schlimm. Der etwa zwanzig Mann starke Schawanesentrupp zog in gerader Richtung weiter. Was ist nun zu tun?“
Er schaute in die verdutzten Gesichter seiner Männer. Unruhe gepaart mit tiefem Erschrecken waren darin zu sehen.
„Wenn du nichts dagegen hast, folge ich allein den Irokesen“, sagte Slem schwer atmend. „Es wäre ein Fehler, wenn wir uns teilen würden.“
„John sollte mit dir gehen, Slem“, erwiderte Sterling. „Zwei Mann kann ich gerade noch entbehren. So leid es mir tut, der Hauptschlag muss gegen die Schawanesen geführt werden. John, willst du Slem begleiten?“
„Selbstverständlich, Dick“, erwiderte John, ein drahtiger, hagerer Mann, dessen langgezogenes Gesicht ihm Pferdeähnlichkeit verlieh.
„Wir treffen uns alle im Morgengrauen bei den Booten. Was auch kommen mag, versucht auf jeden Fall dort zu sein. Und nun, Cheerio!“
„Cheerio“, erwiderten Slem und John wie aus einem Munde. Sie schulterten ihre langen Büchsen fester, schoben Kugel und Pulverbeutel, die am Leibriemen hingen, weiter nach vorn und prüften den Sitz ihrer Bowiemesser.
Es wurden nicht viel Worte gemacht. Zwei Männer trennten sich vom Trupp und folgten der Fährte, die von der Hauptfährte abzweigte. Während Sterling seine Truppe in Marsch setzte, waren Slem und John bereits in der Nacht untergetaucht.
Einsam und allein waren die beiden Männer, die ihre Herzen laut schlagen hörten, zwei Männer, die sich vorsichtig, fast lautlos durch die Nacht bewegten, die immer tiefer in das drohende Feindesland eintauchten, die mit jedem Schritt wachsamer wurden. Die Tatsache, dass sie kein Licht zwischen den Bäumen gewahrten, bewies nur zu deutlich, dass der Feind nicht achtlos geworden war und sich in Sicherheit glaubte. Das deutete nichts Gutes an und erschwerte ein schnelles Vorwärtskommen. Die beiden Männer mussten sich äußerst vorsichtig vorwärts bewegen und darauf achten, dass kein trockener Ast unter ihrem Gewicht brach. Sie wurden zu Schatten der Nacht, die unhörbar dahinglitten, als wären sie von einer körperlosen Schwerelosigkeit. Sie hielten sich so, dass einer den anderen nicht aus dem Blickfeld verlor, doch blieben sie auch nicht so dicht zusammen, dass einer den anderen gefährden konnte. Kurz vor Mitternacht wurde die Stille des Waldes plötzlich von rasendem Gewehrfeuer unterbrochen. Das Schießen war so weit entfernt, dass nähere Einzelheiten nicht weiter zu unterscheiden waren.
Slem und John waren unwillkürlich in einer Deckung stehengeblieben. Es war so dunkel, dass sie nur ihre Silhouetten wahrnahmen. Keiner konnte in die Augen des anderen blicken und darin lesen. Beide lauschten geduckt, beide standen sie da, in jeder Sekunde zu allem bereit.
„Gott im Himmel, hoffentlich ist alles gut gegangen!“
„Hoffentlich!“, erwiderte John nachdenklich. „Für uns beide ist es jetzt noch schwerer geworden. Die Irokesen sind jetzt gewarnt. Was das bedeutet, Slem ...“
„Ich weiß“, unterbrach ihn Slem. „Diese Teufel sind wohl kaum noch zu überraschen. Es gibt keine grausameren und wilderen Kämpfer als die Irokesen. Sie sind so ganz anders als die anderen Indianerstämme. Sie sind intelligenter, selbstsicherer und weiterblickender. Wenn man ihnen Zeit ließe, würden sie fähig sein, ein eigenes Staatsgebilde zu schaffen. Sie sind die Normannen unter den Indianern, die Eroberer und Wegbereiter, aber auch die Grausamsten und Härtesten unter ihnen. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass Simon oder James bei ihnen ist.“
Tränen liefen Slem über die Wangen. Was tat es, der andere sah es nicht, und Slem brauchte sich seiner Regung nicht zu schämen. Seine Stimme hatte den festen Klang nicht verloren, und die Tränen brachten ihm Erleichterung.
Das Gewehrfeuer war verstummt. Kein Schuss zerriss jetzt mehr die Stille der Nacht. Das Schweigen hatte sich wieder über das Land gesenkt. Wer wollte sagen, was wirklich geschehen war, wer wollte voraussagen, ob Sterling mit seiner Gruppe Erfolg gehabt hatte? Zu viele Fragen türmten sich auf, doch keine würde vor dem Morgengrauen beantwortet werden können. Man musste Geduld haben, man durfte die Nerven nicht verlieren. Nur wer die Nerven behielt und sich nicht unterkriegen ließ, konnte mit Erfolg rechnen. Das Leben in der Wildnis forderte den ganzen Mann und seinen vollen Einsatz. Halbheiten führten hier nicht zum Ziel.
Mit einer Handbewegung gab Slem das Zeichen zum Fortsetzen des Marsches. John zögerte nicht. Beide verließen die Deckung und bewegten sich auf der gut sichtbaren Fährte weiter. Sie befanden sich jetzt in einem Gelände, das von einem Bach durchschnitten wurde. Es war einer der vielen Bäche, der zum großen Strom floss. Der Baumbestand wurde jetzt dichter. Niederbüsche verschwanden gänzlich. Urige Baumstämme trugen gewaltige Blattbaldachine, die sich hoch über den Männern vereinten. Das Ganze erinnerte an einen Säulentempel besonderer Art. Die Natur selbst hatte hier Gott einen Tempel von besonderer Schönheit geschaffen. Es war ein Tempel des Lebens, nicht gefügt aus totem Material. Der Waldboden war mit einem Moosteppich bedeckt. Die Sterne sandten ihr Licht aus unendlicher Ferne zwischen dem Ast und Blattgewirr hindurch. Im Wasser des Baches spiegelte sich die Sichel des Mondes wider.
Slem und John achteten nicht auf die Naturschönheiten. Weder der eine noch der andere hatte einen Blick für die Pracht der Natur. Sie bewegten sich vorwärts und ließen ihre Blicke hin und her schweifen, um ja nichts zu übersehen. Sie hielten an, als sie das verstohlene Geräusch einer Truthahnkolonie hörten. Beide hatten die Möglichkeit sich eins oder mehrere Tiere von einem Ast herunterzuschießen. Himmel, jetzt war keine Zeit dazu, an Truthahnbraten zu denken! Es liefen andere Wesen herum, die Federn im tiefschwarzen Haar stecken hatten.
Erst als ein Pfeil sirrend an John vorbeizischte, hinter ihm in einen Baumstamm schlug und vibrierend steckenblieb, kam es beiden zum Bewusstsein, in welch tödlicher Gefahr sie bereits schwebten. Jetzt begann das tödliche Spiel. Nicht ein einziger verdächtiger Laut hatte sie vorher gewarnt. Sie hatten weder eine Bewegung noch sonst etwas Verdächtiges gesehen, das auf die Nähe des Feindes schließen ließ. Der Pfeilschuss alarmierte sie beide und ließ sie augenblicklich handeln. Lautlos sanken sie hinter den Baumstämmen in Deckung. Beide wussten, dass der erste Pfeilschuss ungezielt war und nach Irokesenart nur den Kampf einleitete. Diese Normannen unter den Indianern kämpften auch nachts, zu einer Zeit also, in der die Angehörigen anderer Stämme den Kampf mieden, die Nachtgeister fürchtend, die ihnen den Weg in die ewigen Jagdgründe versperren würden. Irokesen lachten nur darüber. Nachtkämpfe machten ihnen so wenig aus wie dem weißen Mann.
Jetzt war jeder der beiden Männer auf sich allein gestellt, jeder ein Einzelkämpfer. Jetzt begann das Spiel mit dem Tod nach den Regeln der Wildnis. Es gab weder Milde noch Erbarmen. Auf jeden Zuruf und jede Antwort musste jetzt verzichtet werden.
John Wells sah seinen Partner nur einen Moment lang hinter einer Bodenwelle auftauchen, dann blitzte es auf und krachte es. Im Wald ertönte ein Lachen, so wild und unheimlich, wie es nur aus einer Irokesenkehle kommen konnte. Der Detonationsknall und das Lachen verschmolzen einen Augenblick lang, dann wurde es wieder still. Slem hatte nach dem Schuss sicherlich sofort seine Position gewechselt. Es war für John Wells besser, sich um die eigene Haut zu kümmern. Es galt sich seiner Haut zu wehren. Die Irokesen wollten kämpfen, nicht morden. Dass es so war, hatte der Pfeilschuss deutlich gezeigt. In ihnen war die Lust zum Kräftemessen so deutlich ausgeprägt, dass es jetzt ein Katz- und Mausspiel geben würde. Slem und Wells machten sich in dieser Beziehung nichts vor. Sie wussten, dass es ein tödliches Kampfspiel ohne Erbarmen war.
Nun, die Irokesen sollten den Kampf haben! Der nächtliche Todesreigen mochte beginnen. Keiner von ihnen litt unter Angstgefühlen, jeder handelte jetzt selbständig für sich.
Wells schoss auf einen Schatten und wusste im Wegrollen sofort, dass er auf einen Trick eines der Indianer hereingefallen war. Ein Pfeil bohrte sich an der Stelle, an der er gerade noch gewesen war, in den Boden. Die Pfeilstellung verriet nur zu deutlich, dass der Bogenschütze vom Ast eines Baumes her geschossen haben musste. Sich aufstemmen und auf den dunklen Fleck im Geäst zu schießen war für Wells das Werk von Sekunden. Ein spitzer Schrei zeigte ihm an, dass er getroffen hatte. Ein Körper schlug dumpf auf dem Waldboden auf. Wells kümmerte sich nicht weiter um den Gegner. Er war nach dem Stellungswechsel bereits dabei, Pulver aufzuschütten, die Kugel aufzusetzen und sich feuerbereit zu machen. Bevor das geschehen war, riss ihm ein Pfeil die Kopfbedeckung herunter. Wells wusste nur zu gut, dass man mit Pfeilen schneller als mit einer damaligen Schusswaffe schießen konnte. Bevor man die Schusswaffe einmal geladen hatte, konnte ein Bogenschütze seinen Gegner dreimal anvisiert haben. Das war ein Umstand, der Wells beinahe das Leben gekostet hatte. Er rollte weiter und blieb dann still liegen, die Büchse im Anschlag.
Die Stille ringsum war unheimlich, doch dann ertönte ein Siegesschrei aus einer Irokesenkehle. Wells hielt den Atem an und fragte sich, ob es seinem Partner galt, der unter dem Skalpmesser eines Irokesen sein Leben verströmte. Seine Augen zogen sich schmal, die Kehle wurde ihm eng. Dann begriff er, dass es ein Trick der Irokesen war, der die beiden Gegner umeinander besorgt machen und sie unvorsichtig werden lassen sollte. Das war es, was die Gegner erreichen wollten. Man musste die List und Schläue der Irokesen nur kennen und durfte die Nerven nicht verlieren.
Wieder ertönte der Triumphschrei. Er kam aus verschiedenen Richtungen. Das zeigte Wells an, dass man seinen Partner noch nicht erwischt hatte. Dass er sich nicht getäuscht hatte, wurde dadurch bewiesen, dass plötzlich ein Schuss aufdröhnte. Ein Zornesschrei folgte, der in ein wildes Gelächter überging, das einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen konnte. Es wurde deutlich, dass die Irokesen die Einleitung hinter sich gebracht hatten und jetzt zum Anschleichen übergehen würden. Es galt sehr wachsam zu sein, mit Augen und Ohren jede Bewegung und jedes Geräusch zu erfassen.
Der Wind raschelte in den Blättern. Laute kamen aus dem Wald, die man richtig deuten musste. Man musste rechtzeitig handeln, bevor man urplötzlich einen der roten Teufel über sich hatte. Ein trockener Zweig brach irgendwo. Wells registrierte das Geräusch, hielt es jedoch für ein von einem Tier verursachtes. Er schoss in diese Richtung und gleich zwei Pfeile verrieten ihm, dass er den Gegner erraten hatte.
Kommt nur, kommt! Je schneller wir es hinter uns haben, umso besser, dachte Wells und machte sich erneut schussbereit. Eine tiefe, zuversichtliche Ruhe erfüllte ihn. Auch jetzt kam keine Spur von Angst in ihm auf. Es war nicht das erste Mal, dass er in einer schlimmen Lage seinen Mann stehen musste. Er wartete, wusste nur zu gut, dass sie kommen würden. Sie würden keinen Durchbruch zulassen. Sicherlich hielten sie nicht nur die Eschenbögen bereit, sondern auch die Lanzen und Schmetteräxte.
Nur acht Schritte von Wells entfernt war etwas, was ihm nicht geheuer vorkam. Er ließ keinen Blick von dem dunklen Umriss, der sich möglicherweise als Gegner entpuppen würde, auf den zu schießen es sich lohnte. Er hielt so gut es ging den Atem an, bis er das Blut in den Ohren dröhnen hörte. War es ein Gegner, so musste er sich verraten, musste sich bewegen. Als sich die Umrisse ein wenig verschoben, wusste Wells, dass er es mit einem Gegner zu tun hatte. Er hob die Waffe. Im gleichen Moment, als er den Hahn durchzog, sprang etwas in seinen Rücken hinein. Der Gewehrlauf senkte sich und die Kugel ging vor ihm in das Moos. Mit aller Kraft warf Wells sich zur Seite, doch ein zweiter und dritter Schatten sprangen auf ihn ein. Kräftige Hände packten ihn und rangen ihn nieder. Er spürte den Stahl einer Klinge an seinem zu Boden gedrückten Kopf. Mit einer ungeheuerlichen Kraftanstrengung riss er sich los, doch wenig später hatte man ihn abermals überwältigt. Er vernahm schnell gesprochene Irokesenworte, dann explodierte etwas auf seinem Kopf. Wells verlor das Bewusstsein, ein schwarzer Abgrund tat sich vor ihm auf. Wie von selbst löste sich ein gellender Schrei von seinen Lippen, bevor er in Ohnmacht sank.
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2.
Josuah Slem hörte den Schrei von Wells. Einen Augenblick lang drohte sein Herzschlag auszusetzen, drohten ihm die Nerven durchzugehen. Das Gefühl, aufzuspringen und wild um sich schießend gegen die Feinde anzugehen, war übermächtig in ihm. Doch dann sagte er sich, dass genau das erreicht werden sollte, dass das Kampfspiel ein Nervenspiel war, das deutlich das indianische Wesen enthüllte.
Er unterdrückte die Regung und lag ganz still. Seine Zähne knirschten leise aufeinander. Er wusste, dass er für Wells nichts tun konnte. Nur der Himmel mochte wissen, ob er bereits tot war, oder ob er noch lebte. Die Übermacht der Indianer war jetzt zu groß geworden. Slem wusste nur zu gut, dass jeder der Irokesen ein Kämpfer war, von Jugend an zum Kampf erzogen. Slem war kein Feigling. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, was für Chancen er noch hatte. Der Freund und Partner war gefasst worden, ihm konnte er nicht mehr helfen. Sein Schicksal war besiegelt. Es galt jetzt für ihn, den unsichtbaren Ring der Feinde zu durchbrochen, sich lautlos zu empfehlen und herauszufinden, wo sie den Jungen gelassen hatten. Vielleicht bot sich noch die Gelegenheit, ihn zu befreien. Slem wusste nur zu gut, wie waghalsig sein Unternehmen war, dass es besser sein würde, nur an die eigene Haut zu denken.
Ich habe meiner Schwester versprochen, dass ich ihre Jungen, was immer auch kommt, nicht im Stich lassen werde, durchfuhr es Slem. Ich habe mein Gelöbnis gegeben und werde es, solange ich lebe, halten. Vorwärts, Josuah!
Alle Sinne Slems waren gespannt. Vergeblich horchte er auf Schleifgeräusche, die entstehen würden, wenn die Feinde Wells umdrehen und seine Taschen plündern würden. Die Feinde waren viel zu gerissen, um sich jetzt schon ihre Beute zu holen. Sie ließen sich Zeit damit, bis sie den zweiten Weißen erwischt haben würden. Die Lage wurde mit jedem Sekundenschlag für Slem kritischer. Wenn er nur eine Idee schlechter als die Gegner war, würden sie ihn bald gestellt haben.
Was dann kam, konnte er sich nur zu gut ausmalen. Fester umklammerte er sein Gewehr. Kugeln und Pulver hatte er noch genug. Die große Büchse war jetzt allerdings sehr hinderlich. Die Irokesen hatten es mit ihren weichsohligen Mokassins in diesem nächtlichen Reigen entschieden leichter. Ihre Ausrüstung gestattete ihnen zudem ein lautloses Schießen. Ein Pfeil wurde nicht gleich zum Verräter der Abschussstelle, wie es das Mündungsfeuer bei der Schusswaffe war.
Ganz langsam kroch Slem weiter. Er schreckte zurück, als seine vorwärtstastenden Hände einen Körper berührten, der quer vor ihm im Weg lag. Seine Hände zuckten zurück, doch dann sagte ihm ein Gefühl, dass er auf keinen lebendigen Gegner gestoßen war, denn der hätte bei der Berührung sicherlich gehandelt. Dieser Körper war ohne Leben, regte und rührte sich nicht. Unwillkürlich streckten sich Slems Hände noch einmal vor, umtasteten den Kopf. Sofort wusste Slem, dass er einen toten Irokesen vor sich hatte. Es war jener Gegner, den Wells vom Baum heruntergeschossen hatte. Von einem toten Gegner drohte keine Gefahr mehr.
Slem setzte seine Flucht fort, denn das war es. Immer wieder blieb er lautlos liegen, um in die Nacht zu lauschen. Er hatte den Toten nicht weiter beachtet. Ihm ging es darum, dem Jungen Hilfe zu bringen. Doch wie, das wusste Slem selbst noch nicht. Unablässig suchten seine Augen das Gelände ab, lauschten seine Ohren auf jedes Geräusch. Jeden Laut in der Nacht versuchte er zu deuten. Wenn es raschelte, blieb er mit angehaltenem Atem liegen. Oft stellte es sich heraus, dass es nur Mäuse oder Käfer waren, vor denen er erstarrte.
Kein Wunder, dass ganz langsam die Angst in ihm lebendig wurde. Irgendwo lag der Partner, ausgeschaltet, sicherlich bereits tot. Sein Skalp befand sich wohl bereits am Gürtel eines der pantherhaft schleichenden Irokesen. Slem konnte dieses grausame Bild nicht von sich abschütteln, es stand ständig vor seinen Augen. Diese Belastung war niederdrückend für ihn. Das Schweigen ringsum zerrte an seinen Nerven. Kein Kriegsgeschrei ertönte. Nichts als der Nachtwind war zu hören, der leise die Blattbaldachine bewegte. Das alles war mehr, als die Nerven eines weißen Mannes aushalten konnten.
Kalter Schweiß trat auf Slems Stirn, und tatsächlich, der düstere Slem betete. Er tat es nicht in Worten, sondern nur in Gedanken. Unendlich langsam kroch er auf allen Vieren über den Waldboden. Er erstarrte, als nicht weit von ihm ein Zweig knackte und verhielt sich ruhig. Sicherlich hatte ein Feind den Zweig absichtlich gebrochen, um ihn zu einer Handlung zu reizen. Slem dachte nicht daran, darauf hereinzufallen und tat genau das Richtige. Er verhielt sich so ruhig, wie es keine Rothaut besser hätte machen können. Er wusste, dass er zwar noch die Nervenkraft besaß, sich aus dieser tödlichen Falle herauszuarbeiten, dass er zu weiteren Aktionen aber wohl nicht die Stärke aufbringen würde. Die Irokesen hatten ihn in diesem Kampfspiel praktisch schon besiegt. Nur heraus wollte er, bevor sie geisterhaft wie mächtige Schatten über ihn herfallen konnten. Weder dem Neffen noch dem Partner war zu helfen. Was war damit erreicht, wenn auch er sein Leben aushauchte? Es gab nur eins, zurück! Jede Minute war kostbar.
Das Gefühl, dass sie ihn etwa schon ausgemacht hatten, dass sie ihn nur noch zappeln ließen, hatte etwas sehr Niederträchtiges an sich. Eine volle Stunde war verstrichen, seitdem er sich auf die Flucht begeben hatte. Er entschloss sich jetzt, nicht mehr auf allen Vieren zu kriechen, sondern geduckt weiterzugehen. Er erhob sich schwerfällig und lehnte sich an einen Baum, heftig atmend. Wild klopfte das Herz. Sein ganzer Körper war schweißbedeckt. Enttäuschung und ohnmächtige Wut brannten ihn schier aus. Jetzt dachte er wieder an die anderen, an die Männer, die den Schawanesentrupp verfolgt hatten. Was hatten sie erreichen können, hatten sie ihre Aufgabe lösen können? Das waren alles Fragen, die vorerst nicht zu beantworten waren. Wo waren die Irokesen? Slems Augen brannten vor Überanstrengung. Spielten die Irokesen ihr grausames Spiel weiter? Waren sie hinter ihm? Machten sie es wie die Katze, die mit der Maus spielte, sie laufen ließ, um sie umso sicherer zu fangen? Es war schlimm umzukehren, nichts erreicht zu haben. Schlimm und beschämend war es auch, einsehen zu müssen, dass man kein Held war, dass man so sehr am Leben hing. Er hatte nur sich allein Rechenschaft abzulegen, aber auch das schmerzte. Hatte er zu viel versprochen, als er seiner Schwester gelobte, auf ihre Jungen aufzupassen?
„Ja!“, sagte eine innere Stimme. Du hast mehr versprochen, als du zu halten vermagst. Du bist am Ende, Josuah Slem. Kurz vor dem Ziel hat man dich abgeschlagen und deine Nerven zerrissen. Jetzt bewegst du dich geduckt weiter, doch bald wirst du wild flüchten. Du wirst keine Kraft mehr haben, noch nennenswerten Widerstand zu leisten. Du bist dabei, in Panik zu verfallen. Reiß dich zusammen, Josuah Slem!
Er setzte seine Flucht weiter fort, immer wieder stehenbleibend und zurückblickend. Jedes Geräusch ließ sein Herz fast stillstehen. Dann krallten sich seine Hände um den Kolben seiner Büchse, und ein Zittern befiel ihn. Er atmete auf, als der Wald lichter wurde und er die Stelle erreichte, an der er sich zusammen mit Wells von dem Haupttrupp getrennt hatte. Wenn seine Feinde bis hierher Katz und Maus mit ihm gespielt hatten, dann würden sie jetzt die Krallen zeigen. Hatten sie ihn überrundet, erwarteten sie ihn wohlgetarnt im Schilf?
Noch nie im Leben hatte Josuah Slem sich nach der Gesellschaft der weißen Männer mehr gesehnt als jetzt. Wo sie nur blieben? Wieder hielt er an und spähte zum Schilfgürtel hin, dort wo die Boote zurückgeblieben waren. Der anbrechende Morgen kündigte sich mit einem hellen Streif im Osten an. Die ersten Wildenten fielen zu Dutzenden ins Rohrdickicht ein. Weiter hinten auf den Sandbänken stelzten Fischreiher umher.
„Wenn ich hier herauskomme, fahre ich nach Boston“, sagte Josuah Slem leise zu sich selbst. „Ich werde mich bei der Kolonialverwaltung über die Irokesen beschweren. Ich glaube zwar nicht, dass die Verwaltung ernsthaft durchgreifen wird, aber der Versuch muss gewagt werden. Man wird mir sagen, dass die Verwaltung für Abtrünnige eines Stammes nicht verantwortlich ist. Meine Reise wird umsonst sein, vielleicht kann ich aber erfahren, wo die Jungen blieben.“
Josuah Slem wurde jetzt etwas ruhiger. Es gelang ihm, sich wieder so weit in die Gewalt zu bekommen, dass die lähmende Furcht von ihm abfiel. Wenn die Irokesen Simon bei sich hatten, so wird er glauben, dass die Grenzer James aus den Händen der Schawanesen befreiten, denn die Schüsse waren gut zu hören. Ist James in der Gewalt der Irokesen, so wird er glauben, dass man Simon befreite, überlegte Slem. Vielleicht gibt das den Jungen Mut zum Durchhalten.
Slem wusste nicht, dass es Simon war, der sich in der Gewalt der Irokesen befand, dass Simon genau das annahm, was sein Onkel sich überlegt hatte, dass nämlich die Grenzer seinen Bruder James befreit hatten.
Die Wirklichkeit erforderte ihr Recht und trieb Josuah Slem in das Schilfdickicht hinein. Er fand nicht auf Anhieb die Boote, doch als er sie ausgemacht hatte, wuchs seine Unruhe, denn nicht ein einziger Mann der von Dick Sterling geführten Truppe war zum Ufer zurückgekehrt. Die Sorge um die Kameraden verstärkte sich, als es heller wurde und von ihnen noch niemand zu erblicken war. Vorsichtig nahm er die Tarnung von dem ersten Boot fort und schob es ins Wasser, dass es abfahrbereit war. Kaum war das geschehen, als er ein Geräusch auf dem Ufer hörte. Er kauerte sich zusammen, lud seine Büchse durch und wartete. Er hob die Büchse in Anschlag, senkte sie jedoch sogleich, als er Dick Sterling im Schilf auftauchen sah.
Der Anblick des Mannes ließ Slem fast das Herz stillstehen. Blutverschmiert war sein Gesicht, bleich wie der Tod. Er schwankte und schien sich nur mühsam auf den Beinen halten zu können. Wortlos sprang er ins Boot und winkte Josuah zu, es ihm nachzutun. Dann erst, als Josuah die Paddel ergriff, sagte er mit heiserer Stimme: „Fahr los, wir brauchen nicht mehr auf die anderen zu warten, sie sind tot ... tot ...“ Ein Schluchzen kam aus seiner Kehle. Im nächsten Augenblick ließ er sich ins Boot fallen und blieb ruhig liegen. „Rudere los, Josuah!“, sagte er nach längerer Pause, als das Boot die Strommitte erreicht hatte. „Jetzt ist es leicht, der Strom hilft uns, wir brauchen nicht mehr gegen ihn anzurudern. Schau über dich, die Sonne kommt heraus, vielleicht sehe ich sie zum letzten Mal.“
„Ich werde dich ordentlich verbinden.“
„Ich habe mir bereits selbst einen Verband angelegt“, erwiderte Sterling. „Das Boot darf nicht einen Augenblick steuerlos sein, bleib auf dem Posten! — Wo ist Wells?“
„Tot“, murmelte Josuah. „Wir hatten kein Glück. Die Irokesen sind durch euer Schießen gewarnt worden.“
„Nein, Freund, die Irokesen und Schawanesen wussten, dass wir ihnen folgten und erwarteten uns. Sie ließen uns so nahe herankommen, dass wir an dem kleinen Lagerfeuer deinen Neffen James erkennen konnten. Sie hatten ihn an einen Baum gefesselt. Ringsum in den Decken schliefen keine Schawanesenkrieger, wie wir fälschlicherweise angenommen hatten. Wir fielen auf einen ganz gewöhnlichen Trick herein. Es war unser zweiter Fehler, dass wir ausschwärmten, dass jeder für sich allein angreifen sollte. Es waren jedoch die Schawanesen, die lautlos angriffen und über uns herfielen. Deinem Neffen, Freund, ist nicht zu helfen. Simon und James sind für uns verloren. Man wird sie mitschleppen und zu Indianern machen. Bald werden sie vergessen haben, dass sie eine weiße Hautfarbe haben. Schon mancher Weiße, der in das indianische Leben hineinroch, blieb für immer dort und wurde indianischer als die Indianer.“
„Dick, das wäre das Schlimmste, was den Jungen passieren könnte!“
„Wir haben alles getan, um das zu verhindern, Freund“, sagte Sterling. „Wir haben unsere Pflicht erfüllt. Viele Männer haben es mit dem Leben bezahlen müssen. Es tut mir leid, Freund, aber wir sind jetzt am Ende.“
„Dick, dann will ich zu Gott beten und ihn bitten, dass er die Jungen beschützt“, erwiderte Josuah Slem. Es wurde nichts mehr gesprochen.
Am vierten Tage kamen sie mit dem Mann, der die Pferde bewacht hatte, am äußersten Grenzhaus an. Die reiterlosen Pferde führten sie mit sich. Greathouse war an der Grenze noch kein Begriff. Der Mann, der diesen Betrieb führte, war ebenso unordentlich und schlampig wie seine beiden Halbblutfrauen. Auch er trank wie sie oft über den Durst und ernährte sich davon, dass er rote Pelzjäger und Händler betrog. Hier in der Gegend trieben sich nicht gerade die besten Weißen herum. Abschaum und Gesindel mischte sich unter Pelzjäger und Waldläufer. Hier sprach man offen über die Schwierigkeiten im Lande, und wenn einer sagte: „Wir haben die Franzosen aus dem Lande geworfen und kämpfen jetzt gegen die Rothäute, nur um uns darin zu üben, eines Tages auch die Engländer über den großen Teich zu jagen“, nahm es kaum jemand übel, denn hier fühlte man sich bereits als Amerikaner und keiner Kolonialmacht angehörig. „Wir werden einst die Macht haben“, sagte der schlampige Greathouse immer wieder, wenn er bei den Gästen renommierte. „Eines Tages wird man nicht mehr fragen, welcher Amerikaner ein Hochverräter ist, jener, der für England kämpft, denn er verrät die Unabhängigkeit, oder jener, der für die Freiheit kämpft, denn er verrät England. Wir werden uns selbst verwalten, mögen die Engländer sich auch noch so sehr aufs hohe Ross setzen. Ihre Steuern sind niederträchtig, die Gouverneure nur England hörig. Eines Tages geht es gegen England, Freunde! Wer sollte Angst vor ihnen haben? Wir wissen, wie sie gegen Pontiac kämpfen, wie ihre grell uniformierten Soldaten in den Wäldern zusammengeschlagen werden. Ja, eines Tages werden wir das Joch Englands abschütteln und frei sein.“
So oder ähnlich waren Greathouses Reden, wenn er sich vor Gästen brüsten wollte. Wie Greathouse auch sein mochte, der Gedanke an Freiheit hatte nicht nur ihn befallen, eines Tages würde er zur lodernden Flamme werden. Was tat England auch gegen die aufrührerischen, noch immer franzosenfreundlichen Schawanesen, Miamis und Huronen? Was tat England, um die irokesischen Übergriffe zu bremsen? Gegen diesen Stamm unternahmen die Engländer gar nichts, denn sie galten als die besten Verbündeten, und man wollte ihnen nicht wehtun, denn bessere Kampfgenossen gab es nicht. Nur zu deutlich war bereits zu erkennen, dass England sich nur darum so gut an das irokesische Bündnis hielt, um diese Freunde einmal gegen die aufrührerischen Grenzer einsetzen zu können. Man sprach das bereits ganz offen aus.
Greathouse war erst vor einem Monat errichtet worden. Der Schankwirt war noch jung und seine Halbblutfrauen kaum dem Kindesalter entwachsen. Nein, Greathouse konnte nicht ahnen, dass noch über vierzig Jahre vergehen würden, bis es zum amerikanischen Freiheitskampf kam.
An dem Morgen, als die drei Reiter aus dem Indianerland zurückkamen, kam er mit einer Flasche Brandy vor die Tür gelaufen.
„Wo sind die anderen?“, fragte er, als er nur drei Reiter sah. „Heh, Sterling, was ist mit den beiden Girty-Jungen?“
„Schreib sie alle ab, Greathouse!“, erwiderte Sterling mit einem Blick zu dem jungen Indianer, der wie in Meditation versunken an einem Baum in der Nähe lehnte.
„Ich sehe, dass du ein verteufelter Irokese bist!“, wandte Sterling sich an den Indianer. „Ich habe dir einiges zu sagen, Freund. Bestelle deinen Stammesangehörigen, dass wir uns den weißen Jungen holen werden!“
„Ich bin Logan“, erwiderte der schlank gewachsene Krieger in trotziger Haltung. „Die Männer vom Stamme der Cayuga rauben keine weißen Kinder, solange die Zweigende Eiche, Taga Yuta, ihr Häuptling ist.“
„Ich höre wohl nicht recht, du bist Taga Yuca?“, entgegnete Sterling verblüfft.
„Ich bin es“, erwiderte Logan in fehlerfreiem Englisch, drehte sich um und ging ohne eine Antwort abzuwarten die Uferböschung hinunter zu seinem Boot.
„Man hätte ihn festnehmen sollen!“, erwiderte Slem böse, doch Sterling winkte ab.
„Wenn er Logan ist, sind wir an den Verkehrten geraten. Man sagt von ihm, dass er der friedlichste der Irokesenhäuptlinge ist. Er lebt in wahrem Frieden mit seinen weißen Brüdern. Soweit die Grenze reicht, ist man des Lobes voll über ihn. Es tut mir leid, Josuah, aber Logan hat mit den Indianern, die die Jungen raubten, nichts gemein. — Wir bleiben einige Tage hier. Ich muss mich erst erholen, bevor wir die Reise fortsetzen. — He, Wirt, kann man hier ein Unterkommen finden?“
„Sicher, Sterling, für klingende Münze ist hier alles zu haben, was das Herz begehrt“, erwiderte der Wirt. „Der Indianer eben war wirklich Logan. Man sagt von ihm, dass er und sein Stamm nicht nur mit den Weißen, sondern auch mit den anderen Indianern in Frieden lebt. Er hasst das Blutvergießen, hasst es, dass sich Menschen, gleich welcher Hautfarbe, bis aufs Messer bekämpfen. Er hat Gedanken, die ihn zu einem roten Messias stempeln. Er sagt, dass der Mensch schon ohne Krieg genug zu leiden hätte, dass es besser wäre, das Gute zu wollen, als das Böse herauszufordern. Dieser rote Mann hätte tatsächlich Prediger werden sollen. Wenn man sieht, wie er mit Kindern umgeht, dann wird einem erst klar, was er für ein Mensch ist. Ich glaube bestimmt, dass er sich nach dem geraubten Jungen erkundigen will. Wenn Sie einige Tage warten, werden Sie sicher etwas von ihm zu hören bekommen.“
„Ich werde mich überraschen lassen“, erwiderte Slem, der einen sehr beklommenen Eindruck machte und sicherlich davor zurückschreckte, die Nachricht von dem missglückten Unternehmen den Hinterbliebenen zu melden.
Sterling nickte ihm zu.
„Auf einige Tage mehr oder weniger kommt es jetzt nicht mehr an. Wenn dieser Indianer nicht gelogen hat, wenn er wirklich Logan ist, dann gibt es vielleicht noch eine Hilfe für den Jungen.“
„Ich traue keiner Rothaut über den Weg, mag er nun Logan oder Cornstalk heißen. Es ist schon schlimm genug, dass Logan sich mit dem Indianerhäuptling Cornstalk gut versteht, obgleich die Stämme in Todfeindschaft leben. Schlimm genug, dass er mit den Weißen Frieden hält. Der Himmel traue diesem Frieden!“
Im Grunde genommen war auch Slem ein gutmütiger und friedfertiger Mensch, der sich nach einem echten Frieden sehnte. Nach all dem, was er durchgemacht hatte, war diese Friedenssehnsucht nicht mehr so stark. Jetzt ließ er sich von Sterling dazu überreden, in Greathouse zu kampieren.
Schon am nächsten Morgen tauchte ein alter, greiser Indianer auf und wünschte Slem zu sprechen.
„Logan traf den Kahlen Adler, den Schawanesenhäuptling, auf dem Fluss. Ein weißer Junge ist wirklich zu den Rundhäusern aus Erde, der Schawanesenstadt am Mittellauf des Scioto, wo sich der Fluss in die Piquawebene eingegraben hat, unterwegs.“
„Großer Gott, das bedeutet, dass James auf Nimmerwiedersehen in der Hauptstadt der Schawanesen verschwinden wird! Was kann man tun?“
„Nichts“, erwiderte der alte Indianer. „Cornstalks Familie wird ihn adoptieren, und dann wird er Cornstalks Bruder sein.“
„Und was ist mit Simon, meinem anderen Neffen, den die Irokesen entführten?“
„Er geht durch die Nacht, und die Nacht ist noch nicht gelichtet. Doch sicher ist, dass ihm kein Leid zugefügt wird. Er wurde von Namenlosen entführt, von Kriegern, die aus dem Stamm gestoßen wurden. Es ist nicht anzunehmen, dass er in einem Irokesendorf auftaucht.“
„Um Gottes willen! Was wird man tun?“
„Er ist ein starker Junge, und man weiß nie, wann ein alter Krieger sich einen Sohn wünscht, damit sein Wigwamfeuer nicht erlöschen wird. Logan tat alles, um Licht in die Nacht zu bringen. Es wird nicht ewig Nacht sein. Einmal kommt auch der Tag.“ Nach diesen Worten drehte sich der greise Indianer um und verschwand.
„Ein verteufelt schwacher Trost!“, sagte Sterling, der bei der Unterhaltung zugegen gewesen war. „Sicher ist, dass keine Beschwerde im Osten helfen wird, denn wenn es selbst Logan nicht möglich ist, einen klaren Bericht zu geben, wo die Jungen sich aufhalten, wird jedes Suchverfahren der Regierung im Sande verlaufen. Die Grenze ist fürchterlich, grausam und voller Rätsel. Man darf die Nerven und die Geduld nicht verlieren.“
„Dick, wem sagst du das?“, erwiderte Slem mit heiserer Stimme. „Morgen breche ich auf. Dieser Logan oder Taga Yuta wird nicht alles gesagt haben. Wer kann schon einem Indianer trauen? Es gibt keinen einzigen unter ihnen, den man schonen sollte. Sie alle müssten ans Messer, alle ohne Ausnahme!“ Seine Stimme erstickte. Drohend ballte er seine Faust gen Himmel, dann fiel sie wie kraftlos geworden wieder herab.
––––––––
3.
Vierzig Jahre vergingen, in denen die Grenze stets unruhig gewesen war. Der große Indianerhäuptling Pontiac, der noch zusehen musste, wie das Lilienbanner überall eingeholt wurde und wie man stattdessen das Sternenbanner hisste, hatte noch erleben müssen, dass ganz Kanada den Engländern abgetreten wurde. Er hatte den Verrat seiner Tochter hinnehmen und ihren Tod mitansehen müssen. Anschließend war er selbst verraten und ermordet worden.
Was hatte dieser kühne indianische Streiter für seine Nation alles getan! Es wurde ihm nicht gedankt, denn schon wenige Jahre nach seinem Tode geriet er bei seinem Volke in Vergessenheit. Von einem Mann aus dem eigenen Volke war er verraten worden. Das eigene Volk vergaß, dass er ein genialer Führer gewesen war, ein Mann, dessen natürliche Kraft und überlegener Geist nicht zu ersetzen waren. Er hatte die Cherokee, die Tschippewaer, die Ottowa- und Pattawomistämme vereint, er hatte die Stämme des Nordens zu Bündnissen verpflichtet und schuf eine starke Macht im Norden, Süden und Westen. Man hatte vergessen, dass er mit List und Schläue und fester Hand regiert hatte, so dass er später in die Geschichte als ein Großer eingehen sollte. Noch war sein Tod zu frisch in der Erinnerung, und erst späteren Generationen war es vorbehalten, seine ganze Größe zu erkennen. Noch war alles viel zu turbulent, und jeder Tag brachte so viel Neues an der Grenze, als dass man das Vergangene beachtet hätte.
Josuah Slem hatte sein Land und seine Blockhütte verkauft. Wer ihn früher gekannt hatte und ihn jetzt zu sehen bekommen hätte, wäre über sein Aussehen erschrocken gewesen. Seit zehn Jahren ging es mehr und mehr bergab mit ihm. Er besaß nichts mehr, was er sein eigen nennen konnte. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in dem Drugstore eines kleinen Forts, das später einmal von sechs deutschen Siedlern gegen eine hundertfache feindliche Übermacht erfolgreich verteidigt werden sollte. Sein Lager war in einem Pferdestall in einer zugigen Ecke. Er war alt geworden und ging wie ein Mann, der nicht mehr weit vom Grabe war. Jeden Morgen erfüllte er seine Pflicht, so auch heute, an dem klaren Aprilmorgen. Er schaute von seiner Arbeit auf, als ein Einspänner vor dem Store hielt, dem Sterling entstieg. Auch Sterling war nicht mehr der Jüngste. Sein Gesicht war zernarbt und trug die Spuren vieler Kämpfe. Er war nie sesshaft geworden. Seit einigen Jahren war er wieder verheiratet. Seine Frau brachte ihm gleich zehn Kinder mit in die Ehe. Das bedeutete mehr Arbeit, als gut für ihn war.
Als er dem Einspänner entstieg, steuerte er sogleich auf den alten Kameraden zu und begrüßte ihn mit den Worten: „Wir beide, Josuah, sind viel zu lange am Leben geblieben. Unsere beste Zeit ist vorbei. Wir hätten damals nicht hierher ziehen sollen, denn diese Gegend taugt weder für dich noch für mich etwas.“ Der Mann, der diese Worte sprach, war nicht mehr der Sterling von früher. Er war ein alter Griesgram geworden, mit sich selbst nicht mehr zufrieden, ein Mann, der lebensmüde war und voller Misstrauen in die Welt sah.
„Ich bedauere es nicht, Dick“, erwiderte Josuah Slem dem alten Partner. „Damals, als wir die Unglücksbotschaft von dem schiefgegangenen Unternehmen brachten, hatte ich viel auszustehen, doch am schlimmsten wurde es für mich, als ich nach Hause kam und meine Frau mir mitteilte, dass auch der jüngste der Girty-Jungen, George, verschwunden sei.“
„Das werde auch ich nicht vergessen, Freund“, erwiderte Sterling. „George war bei dir zu Besuch und dir anvertraut. Als das Schreckliche über seine Familie kam, wusste er nichts davon, doch dann hat es ihm jemand erzählt, und er riss deiner Frau aus, um das Grab seiner Eltern zu suchen. Man will ihn vor dem Grab seiner Eltern gesehen haben, so geht noch heute das Gerücht um. Man will jetzt wissen, was aus ihm wurde. Er soll in einen Lenapenindianerstamm aufgenommen und dort erzogen worden sein.“
„Dann hat er also das gleiche Schicksal erlebt wie Simon bei den Irokesen und James bei den Schawanesen. Aus meinen drei Neffen wurden Indianer, die ihre Hautfarbe vergessen haben. Wer soll das ertragen? Man will Simon einige Male in Boston gesehen haben, wo er sich nach seinen Brüdern erkundigt haben soll. Scheinbar hat er dann die Suche nach ihnen aufgegeben. Er weiß, dass er ein Weißer ist und dass man ihn unter den Grenzern einen Abtrünnigen nennt, er weiß es und lacht darüber. Er wurde ein Irokese, und zwar der Schlimmste, den es jemals gab.“
„Der Weiße Tiger ...“
„Ganz recht, Freund“, erwiderte Josuah Slem mit frostig klingender Stimme. „Er gehörte zu den Seneca-Irokesen-Indianern, die für einige lumpige Dollars das Land Kentucky an Weiße verkauften, ohne ein Recht dazu zu haben, denn das Land gehörte den Irokesen überhaupt nicht. Ich habe zweimal versucht, ihn zu erreichen, und kann froh sein, dass ich meinen Skalp noch habe. Einmal schleppte man mich in sein Tipi. Dort sah ich viele Skalps von weißen Männern im Rauchfeuer hängen. Er wurde ein Weißenhasser, ein unbeugsamer Gegner unserer Rasse, Freund Dick. Er weiß, dass er den edlen Logan gegen sich hat und dass man auf Logans Stimme mehr hört als auf seine.“ Slem brach ab, und seine altersgeröteten Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. „Das also wurde aus meinem Neffen Simon, ein Mann, der seine Rasse hasst und nichts von seinen Blutsverwandten wissen will. Himmel, Dick, was habe ich nicht alles getan, um ihn zur Umkehr zu bewegen! Vergeblich, meine Mühe wurde nicht belohnt. Ich habe meine Briefe den Büffelhaut- und Indianerhändlern mitgegeben, ich habe ihn wissen lassen, dass er erwartet wird und zu seiner Rasse stehen muss. Umsonst, Simon ist verloren, genauso wie James, von dem niemand weiß, wo er wirklich lebt, ebenso wie George. Ich bin zu alt geworden, um mich noch einmal in den Sattel schwingen zu können, um nach Westen zu reiten, viel zu alt, um mein Versprechen zu erfüllen, zu alt, um noch zu hoffen. Ein Größerer als ich bestimmt unser aller Wege, Dick.“
„Warum war Simon in Boston, Josuah? Warum nur?“, fragte Dick Sterling, indem er zwei schwarze Zigarren aus seiner Westentasche holte und eine davon Josuah anbot. „Kannst du mir das erklären?“
„Gewiss, er suchte nach seinen Brüdern. Damals, als er das erste Mal in Freiheit kam, hat er annehmen müssen, dass wir James aus der Gefangenschaft der Schawanesen befreien konnten; also suchte er folgerichtig das alte Blockhaus auf und hörte in der Nachbarschaft herum. Er kam als Indianer und Trunkenbold, und man brannte ihm zwei Kugeln auf. Todwund schleppte er sich in den Busch, und nur der Himmel weiß, wie er die Schmerzen und Strapazen überstanden hat, wie er sich halb genesen und fast verhungert auf den Weg zu den Irokesen zurückmachte. Auf seinem Weg muss ihm ein Trupp betrunkener Büffeljäger hart zugesetzt haben. Wenn man das alles betrachtet, kann einem klar werden, dass er schwer enttäuscht war und sich zum Weißenhasser entwickelte. Durch das, was er durchstand, wurde er zum Weißen Tiger. — Freund Dick, auch du hast eine Menge mit durchgemacht. Wie ich hörte, ist eine deiner Töchter Logan, dem Irokesenhäuptling, angetraut worden. Sie hat ihm einen Sohn namens ,Gelbhaar‘ geboren?“
„Das stimmt“, erwiderte Sterling. „Logan ist ein hervorragender Mann. An der Grenze spricht man nur mit Achtung von ihm. Warum sollte Mary, meine Stieftochter, ihm nicht in seinen Wigwam folgen? Mehr oder weniger wird in der ganzen Nation rotes Blut einfließen, ob wir es nun wünschen oder nicht. Vielleicht wird man sich eines Tages noch rühmen, wenn man indianischen Bluteinschlag hat.“ Sterling lachte bitter in sich hinein, und sein Gesicht verdunkelte sich. Sterling war trotz allem, was er gesagt hatte, noch der allgemeinen Meinung von früher, dass nur ein toter Indianer ein guter Indianer sei. Kein Wunder, dass seine Verachtung durchbrach, denn in Slem fand er einen willigen Zuhörer. „Eine Rothaut bleibt eine Rothaut, ob sie nun Logan oder Cornstalk, Kahler Adler oder sonst wie heißt.“
„Ich weiß, mein Freund“, entgegnete Slem bitter. „Ich weiß auch, wie man über meine Neffen denkt und dass man sie als Abtrünnige bezeichnet, wie man sie verabscheut. Es fragt sich nur, ob James und George überhaupt etwas von ihrer Abstammung wissen und ob sie ihre Jugend nicht längst vergessen haben. Ich weiß, wie man sie verachtet, und das ist mein ganzer Jammer, Freund Dick.“
Dick Sterlings Rechte legte sich schwer auf die Schulter des gramgebeugten Mannes. Einen Moment standen die beiden Männer da und schwiegen, denn jeder hing seinen Gedanken nach. Sicherlich waren ihre Gedanken mit den Ereignissen vor langen Jahren beschäftigt, als die Kinder geraubt wurden.
„Wir können nichts ändern“, sagte Slem dann und steckte sich die Zigarre in den Mund, riss ein Streichholz an und gab Sterling Feuer, um dann seine Zigarre anzuzünden. „Was wissen wir schon, wozu uns das Schicksal auserwählt hat. Jeder hat seine Aufgabe in diesem Leben, auch wenn wir Menschen in unserer Einfalt nicht erkennen können, was wir mit dieser Aufgabe erreichen sollen. Ich bin aber sicher, dass in allen Zeiten, seitdem es Menschen gibt, ein übergeordneter Wille jedem Menschen das zudiktiert, was er zu tragen hat. Ich, Dick, habe mich damit abgefunden. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, dass meine Schwester drüben in der anderen Welt nicht böse sein wird, dass ich mein Wort nicht halten konnte.“
„Josuah, ich werde den heutigen Tag im Fort verbringen. Nimm dir einen Tag frei, so dass wir uns am Nachmittag in der Kantine treffen können.“
„Ich werde kommen, Dick.“
„Ich rechne damit, alter Freund“, erwiderte Sterling. „Es tut gut, nach langen Jahren wieder einmal mit einem alten Kameraden zusammen zu sein. Die Jahre entschwinden, man wird alt, und eines Tages ist alles zu Ende. Ich möchte von vergangenen Tagen sprechen, von gemeinsamen Bekannten, von der schönen Zeit. Bis zum Nachmittag habe ich meine Geschäfte abgewickelt. Hier ist eine Aufstellung all dessen, was ich laden will. Mach’s gut, Alter!“ Er überreichte Josuah Slem die Bestellliste, schwang sich auf den Bock und fuhr weiter.
Josuah atmete schwer. Ja, es tat gut, sich wieder einmal mit einem Menschen aussprechen zu können. Er war alt und sehr einsam geworden, ein Mensch, den man kaum noch beachtete und der wie ein Automat seine Arbeit tat. Man ließ ihn fühlen, dass man seine Verwandten verachtete. Als er ein wenig später die Bestellliste dem Drugstorebesitzer überreichte, bemerkte er zum ersten Male eine Veränderung bei dem kleinen, rundlichen Manne.
„Josuah, der Teufel wurde losgelassen", sagte der Drugstorebesitzer. „Cornstalk war in Richmond bei Gouverneur Lord Dunmore. Ich kann mir genau vorstellen, was dieser mächtige Schawanesenhäuptling mit der mächtigen büffelhorngeschmückten Lederhaube, die einst der sterbende Pontiac aufgesetzt hatte, für einen Eindruck gemacht haben muss. Die natürliche Würde dieses mächtigen Mannes ist unbestreitbar. Ich habe nur einmal in sein wie aus Stein gehauenes kupferfarbenes Antlitz geschaut und habe die Ehre gehabt, mit ihm das Kalumet zu rauchen. Dieser Mann braucht keine aufreizende Federpracht, wie sie die Sioux und noch weit schöner die Indianer im Süden tragen. Er braucht keine Hirschschwanztrottel oder einen Kodier aus Leopardenfell, seine Persönlichkeit ist einmalig und muss beachtet werden. Man sagt, dass Cornstalk nicht als Bittender kam. Er verlangte, dass Kentucky nicht besiedelt werden dürfte. Er sagte Lord Dunmore den Kampf an, als dieser ihm sagte, dass er an Pontiacs Schicksal denken solle. Er hat Lord Dunmore erwidert: ,Das ist die Waffe Englands, die Indianerführer morden zu lassen!' Er habe keine Angst und nähme das in Kauf. Als ihm Lord Dunmore sagte, dass er niemals siegen könne, hat er den Lord nur angelächelt und ihm erwidert, dass er bereits von den Verhandlungen, die Lord Dunmore mit den Irokesen führe, wüsste, dass er auch vor den sechs Nationen nicht zurückschrecken würde. Er wusste überhaupt erstaunlich gut Bescheid, zum Beispiel, dass die Regierungsstellen Englands die pensylvanischen Händler mit bösen Blicken betrachteten, die den Indianern Waffen verkauften und ihnen dafür die Pferde abnähmen, die sie den virginischen Siedlern geraubt hätten. Er wusste von der Großzügigkeit der Engländer ihren Bundesgenossen, den Irokesen, gegenüber, dass man diesem Volk von Seiten der Engländer Vieh und Saatgut zur Verfügung stelle, dass die Engländer alles tun würden, um die Freundschaft mit den Irokesen zu erneuern, da sie einen Aufstand der amerikanischen Grenzer gegen das englische Mutterland befürchteten. Cornstalk war ausgezeichnet informiert und hat seinen Besuch bei dem Gouverneur taktisch richtig wie ein Politiker gewählt. Er sagte Lord Dunmore ins Gesicht, dass die Engländer sich nicht scheuen würden, im Aufstandsfalle zusammen mit den Irokesen gegen die Aufständischen vorzugehen. Alle Achtung! Cornstalk muss in der Vergangenheit Großes geleistet haben, dass er die Indianer zu Kampfbündnissen vereinigen konnte und sich den Rücken stärkte. Was das bedeutet, Alter, brauche ich dir wohl nicht zu sagen?“ „Wahrhaftig nicht“, erwiderte Josuah Slem. „Sicherlich wusste Cornstalk auch, dass Pennsylvania einige Forts zum Schutz gegen die virginische Grenze bauen wollte und dass pennsylvanische Grenzer Pferden aus virginischen Beständen ihre Brandstempel aufdrückten und umgekehrt einige Händler aus Virginia einigen Pennsylvaniern den Skalp abnahmen. Sicherlich wusste er von der Uneinigkeit in den Staaten und von dem Misstrauen und dem gegenseitigen Begaunern und konnte seine Schlüsse ziehen. Sagen wir es doch offen, es ist viel faul im Staate, und die Indianer sind wachsam; ihnen kann so leicht nichts entgehen. Ihre Zeit ist reif, wir werden einen Krieg bekommen, einen Krieg, wie er zu Pontiacs Zeiten geführt wurde. Es hat so kommen müssen!“
Josuah Slem sprach nicht weiter. Die Stimme erstickte ihm in der Kehle. Er wandte sich ab, um nicht in die sich erstaunt öffnenden Augen des Drugstorebesitzers zu blicken. Was gingen diese Menschen schon seine Gedanken an! Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Slem war froh, als er wieder ins Freie treten konnte. Draußen blieb er stehen. Seine Fäuste ballten sich in unheimlicher Erregung.
„Großer Gott“, murmelten seine bebenden Lippen, „was soll noch werden! Auf der Seite Englands wird Simon bei den Irokesen kämpfen, auf Seiten der Indianer gegen alle Weißen, und gegen die Irokesen James, der Schawanese, der den Kriegsnamen 'Dreizehn Pfeile' trägt und von den Weißen 'Schwarze Schlange' genannt wird. Bei dem mit den Schawanesen verbündeten Volk, den Lenapen, soll George sein. Bruder steht also gegen Bruder. Wenn Gott es will, beendet die Kugel des einen das Leben des anderen. Oh, Simon, Weißer Tiger, du hast Kentucky an die Weißen verkauft, obwohl gerade du kein Recht dazu hattest. Du hast den Stein des Verderbens ins Rollen gebracht. Logan hat deine Tat als ein teuflisches Vergehen angeprangert. Logan erklärte öffentlich, dass du kein Recht dazu hattest. Aber was nützt das nun, Kentucky wurde verkauft.“
Weiß schimmerten die Fingerknöchel unter der Haut des alten Mannes. Ganz schmal zogen sich seine Augenlider zusammen, und das Atmen wurde ihm schwer. Er fühlte unsichtbare schwere Lasten auf seinen Schultern, spürte die Last seiner Jahre und wusste, dass er sich vergeblich gegen das Schicksal auflehnte. Mit hellen Augen blickte er in die Zukunft. Was er nicht wissen konnte, war, dass Lord Dunmore in diesem Augenblick bereits die Mitteilung erhielt, dass Weißer Tiger das Land zum zweiten Mal mit einigen Unterhäuptlingen an einen weiteren Interessenten, an Colonel Donaldson, verkaufte, was genauso ein Husarenstreich war wie der Kaufvertrag, den Chirokesee-Häuptlinge aufsetzten, die das Gebiet zwischen dem Ohio und Tennessee an den Kaufmann Henderson in Nordcarolina verkauften, und zwar für genau fünfhundert Pfund. Das Land gehörte weder den Irokesen noch den Cherokee. Das Maß war tatsächlich zum Überlaufen voll. Die Hölle musste aufbrechen, alles war getan, um sie zu entfesseln.
Josuah Slems Herz wollte vor Schmerz still stehen. In diesem Augenblick legte sich eine Hand auf seine Schultern.
„Wir haben aneinander vorbeigelebt, Josuah“, hörte er seinen Arbeitgeber hinter sich sagen. „Es tut mir leid."
„Jetzt, wo es in diesen Gebieten bald brennen wird? Nur keine Sorge, Boss. Ich werde nicht aufbrechen, ich bleibe und warte, ich fahre nicht Hals über Kopf in den Osten.“
„Gewisse Leute werden sich hier, wenn sie etwas von dem Besuch Cornstalks bei Lord Dunmore hören, nicht länger als eine Stunde mehr aufhalten“, erwiderte der Drugstorebesitzer. „Man kann keinen festhalten. Wer nicht ganz fest an die Grenze gebunden ist, wird sich aus dem Staube machen. Der große Sturm steht bevor!“
„Ich habe schon manchem Sturm getrotzt, Boss“, erwiderte der alte Mann ruhig. „Ich bin dennoch alt geworden, ein Mann, der in meinem Alter im Sturm umkommen wird. Was kann ich mir Besseres wünschen? Wann aber war Cornstalk bei Lord Dunmore?“
4.
Diese Frage konnte der Drugstorebesitzer nicht beantworten. Nach seinen Informationen war es schon eine Zeitlang her, und das ließ die Sache gerade nicht in einem rosigen Licht erscheinen. Was konnte inzwischen alles geschehen sein? Diese Frage stellte sich einem zwangsläufig. Es war doch sonderbar, dass alles, was an der Grenze ruchbar wurde, sich schnell wie ein Lauffeuer verbreitete. Dieses Schweigen jetzt war drohend, das spürten alle. Slem sprach mit seinem Arbeitgeber darüber und spürte dabei deutlich, wie die Besorgnis des Mannes wuchs, der sein Herz an sein Geschäft gehängt hatte. Als der Drugstorebesitzer ging, wusste Slem, dass er nun seine Freunde im Fort aufsuchen würde, die deutschen und irländischen Familien. Man würde diskutieren, und dann würde man sich gemeinsam mit dem Fortkommandanten, einem blutjungen Hauptmann, in Verbindung setzen, um über die drohende Gefahr zu sprechen.
Slem hatte sich für den Nachmittag beurlauben lassen. Die Einladung Sterlings konnte und durfte er nicht ausschlagen, denn schließlich war eine solche Einladung etwas Besonderes im Alltagstrott. Noch bevor er den Store verließ, bemerkte er, dass das Bild der Mittagsruhe, das sonst um diese Zeit hier herrschte, gestört war. Ein Grenzjägerposten hatte von einem Eckturm aus den Menschen etwas zugeschrien, und jetzt liefen Männer, Frauen und Kinder zum Palisadentor hin, als ob es dort etwas Besonderes zu sehen gäbe.
„Es kommen Reiter!“, hörte Slem einen Mann rufen. „Es sieht aus, als sei es ein Grenzertrupp.“
„Man kann nie wissen“, wurde ihm geantwortet. „Wenn ich an Pontiac denke, muss ich mich immer daran erinnern, wie er die Besatzung von Fort Mitschilli Mackinac hereinlegte mit seinem Schlagballmatch. Noch nie wurde ein so starkes Fort ähnlich erobert. Dieser gerissene Pontiac verstand es, den Fortkommandanten für ein Schlagballmatch zu interessieren, dass alle Vorsicht und jeder Argwohn vergessen wurde. Fast die ganze Besatzung verließ mit den Zivilisten das Fort, um die eigene Mannschaft kräftig gegen die Indianer zu unterstützen. Was dabei herauskam, ist nur zu gut bekannt. Das Fort ging verloren. Im richtigen Augenblick stürzten Pontiacs Begleiter auf das offene Tor los und waren in die Festung eingedrungen, bevor die Besatzung begriff, was vorging. Ohne einen Schuss abzufeuern, war die Festung verlorengegangen. — Also aufgepasst, Männer! Läutet die Glocke!“
Die Glocke wurde in Bewegung gebracht. Die Männer liefen zu den Waffen, Grenzjäger duckten sich hinter den Schießscharten des Palisadenzaunes. In diesem Fort lagen die Häuser der Zivilisten und die Baracke der Grenzjäger im Palisadengeviert. Man legte das Fort in jener Zeit so an, dass die Behausungen innerhalb der Palisaden lagen. Rings um das Fort hatte man die Mais- und Rübenfelder angelegt. Einen Streifen um das Fort herum ließ man frei, der weder bebaut noch bepflanzt werden durfte, um einem Feinde keine Deckungsmöglichkeit zu lassen.
Ein Reitertrupp, etwa ein Dutzend Mann stark, kam durch die Felder auf das Fort zugeritten. Die Männer trugen die Grenzertracht. Hellbraun und tabakbraun waren die Kleidungsstücke aus gegerbtem Hirschleder. Der Trupp, der sich langsam dem Fort näherte, war schon von weitem als Grenzertrupp zu erkennen. Die Pferde waren vom scharfen Ritt abgetrieben. Bei einigen der Tiere war das Fell dunkel von Schweiß, andere wieder hatten Schaum vor den Lefzen.
Slem hatte seine alte Büchse geholt und stand hinter den Palisaden. Neben ihm stand Sterling mit noch einigen weiteren Männern. Eine gespannte Erwartung lag über den Menschen. Das Tor war geschlossen worden. Der Fortkommandant beobachtete die herankommenden Reiter misstrauisch.
„Unser Treffen fängt gut an“, sagte Sterling zu seinem alten Bekannten Slem. „Und die ganze Aufregung nur darum, weil angebliche Eigentümer das Land Kentucky gleich dreimal verkauften, das noch keines weißen Mannes Auge sah.“
„Das Land soll dem Paradies ähnlich sein, Dick“, erwiderte Josuah Slem. „Es waren auch schon weiße Männer dort, unter ihnen Daniel Boone. Was der darüber sagte, übertraf alle Erwartungen, mein Freund. Dass der rote Mann sich ein solches Land nicht wegnehmen lässt, liegt wohl auf der Hand. Würdest du es zulassen, dass ein Fremder deine Wintervorratskammer plündert?“
„Wer kennt sich schon bei den Indianern aus, Josuah“, antwortete Dick Sterling. „Nun, die Männer dort wissen vielleicht etwas Neues zu berichten.“
Der Reitertrupp war draußen vor dem Palisadentor zum Halt gekommen.
„Öffnet das Tor, Leute!“, forderte eine tiefgrollende Männerstimme. „Wir kommen, um euch zu warnen.“
Das Tor wurde sogleich geöffnet. Einige der Männer hatten die Reiter erkannt, und es bestand keine Veranlassung, sie nicht in das Fort hereinzulassen.
„Hören wir uns einmal an, was es gibt“, wandte Dick sich an Josuah. „Es scheinen keine guten Nachrichten zu sein. Komm, Freund!“
Die beiden Männer zögerten nicht länger. Langsam schritten sie dorthin, wo auf einem freien Platz im Fort die Männer aus den Sätteln glitten. Sie waren steifbeinig vom langen Reiten, verschwitzt und verschmutzt. Niemand konnte übersehen, dass die Augen der Männer in einem kalten Zorn blitzten.
„Lord Dunmore hat die Bitte Cornstalks, die Landverkaufsverträge für nichtig zu erklären,
nicht erfüllt“, hörten sie den Sprecher der Reitergruppe zum Fortkommandanten sagen. „Cornstalk hat Dunmore darauf seine Feindschaft erklärt, und weiße Scouts haben bereits herausgebracht, dass der mächtige Schawanesenhäuptling mit einer starken Truppe ausgesuchter Krieger und Würdenträger nach Süden geritten ist, um auch das Volk der Seminolen für seine Pläne zu gewinnen. Nicht genug damit, dass dieser Mann mit seinem Gefolge die weite Reise in den unbekannten Süden nicht scheut, um McGillevrays Freundschaft zu gewinnen, hat er auch keine Furcht vor den ihm unbekannten fiebrigen Sümpfen. Er nimmt alles auf sich, um seine Macht zu stärken. Wie man die Seminolen einschätzt, hat man das Schlimmste zu erwarten. McGillevray, ihr Häuptling, ist ruhmsüchtig und eitel wie ein Pfau. Er träumt von einem Reich, wie es zu Montezumas Zeiten bestanden hat, und hält sich für den zukünftigen Kaiser, der alle indianischen Völker regieren wird. Cornstalk kommt ihm gerade recht. Die Waldindianer werden von der Pracht der Seminolenstämme, den prächtigen Gewändern ihrer Vornehmen und vor allem von McGillevray beeindruckt sein. Den ersten Weißen, die diesen Glanz noch nicht gesehen hatten, ging es ebenso. Er hat eine gewaltige Krone aus Pfauenfedern auf seinem Haupt. Sein Mantel ist aus schwarzem Samt, Spangen aus rubinroten Kolibribälgen und Flügeln verzieren den Mantel. Wertvolle Steine schmücken seine Kleidung. Er ist von einer solchen Pracht eingehüllt, wie die Waldindianer sie nicht kennen. Sicherlich wird es zu einem Vertrag zwischen den beiden Häuptlingen kommen. Das wird sich aber erst später auswirken. Im Augenblick haben wir es mit einer anderen Sache zu tun.“
„Einer schlimmen Sache, Brown?“, fragte der Fortkommandant gespannt. „Ist das, was sich vorbereitet, nicht schlimm genug?“
„Das wird dem Schrecken erst die Krone aufsetzen, Hauptmann“, hörte man den Sprecher mit heiserer Stimme sagen. „Ich werde den Gedanken nicht los, dass der Landverkauf Kentuckys absichtlich inszeniert wurde, dass die Irokesen- und Cherokee-Verkäufer nach bestimmten Anweisungen handelten, vielleicht zum Verkauf eines ihnen nicht gehörenden Landes bestochen worden sind. Mag man nun darüber denken, wie man will, denn die Wahrheit wird nie zu erfahren sein. Es liegt aber alles offen auf der Hand. Wir Grenzer haben unsere Stimme nach Unabhängigkeit zu laut erhoben. Jeden Tag wird der Ruf nach Freiheit lauter. Bald wird er nicht mehr zu überhören sein. England schallt es in den Ohren. Die Engländer haben das Geschrei nicht überhört. Wenn man bedenkt, dass alle Landkäufer Lord Dunmore persönlich bekannt sind, können sich einem seltsame Gedanken aufdrängen. Es kommt hinzu, dass Lord Dunmore dem schuftigen Hauptmann Conolly den Auftrag gab, sich eine Miliztruppe von besonderen Gaunern anzuschaffen, die mit Pferden, Kanonen, Gewehren und ausreichend Munition ausgerüstet ist. Wisst ihr, Leute, was das zu bedeuten hat?“
Der Sprecher sah sich mit rollenden Augen um. Niemand sprach. Geduckt und schweigend standen die Menschen da, als wären sie zu Stein erstarrt. Die Grenzer waren in ihren Herzen allesamt für die Unabhängigkeit. Nicht einer war unter ihnen, der auffuhr und sagte, dass seine Worte Verrat am Mutterland seien, Verrat am König von England.
„Was ist mit Hauptmann Conolly, mit diesem Säufer und Großsprecher, der sich sein Hauptmannspatent selbst ausstellte?“
„Er hat sich in die Dienste von Lord Dunmore gestellt“, antwortete der Sprecher dem Hauptmann. „Er hat eine Miliz geschaffen, die sich aus dem Abschaum der Grenze rekrutiert. Er hat ein neues Bündnis mit den Irokesen gemacht.“
Ein Raunen und Murmeln ging durch die Reihen der Zuhörer, dann hörte man Fluchen und Schimpfen. Mütter zogen ihre Kinder näher an sich heran, Männer ballten ihre Fäuste.
„Das gilt euch, Freunde“, fuhr der Sprecher weiter fort. „Euer Ruf nach Unabhängigkeit soll ein für allemal erstickt werden. Lord Dunmore handelt. Er will alle Gedanken an Freiheit und Unabhängigkeit im Keime ersticken. Es ist ihm gleichgültig, dass sich als Folge seiner Handlungen die Schawanesen, Lenapen, Miamis, Seminolen und andere Stämme erheben. Er glaubt nicht an einen Indianeraufstand, er glaubt vielmehr, dass er die Macht besitzt, mit seinen Verbündeten, den Irokesen und der neugeschaffenen Miliztruppe, das Grenzerproblem endgültig lösen zu können. Die Tatsachen sprechen bereits dafür, wie die Unterdrückung des Unabhängigkeitsgedankens vor sich geht. Conolly zieht mit seiner neuen Truppe wie ein Freibeuter an der Grenze entlang. Wo er durchzieht, geht manches Gehöft in Flammen auf, bleiben Erschlagene und Misshandelte zurück. Weiße töten Weiße, und wo nur der geringste Verdacht besteht, dass sich jemand ein freies und unabhängiges Amerika wünscht, wird er bestraft.“ Wutschreie wurden laut. Der Sprecher fuhr jedoch unbeirrt fort: „Siedlerhütten wurden zerstört und das Vieh fortgetrieben, die Menschen getötet oder misshandelt. Mit ihm zieht eine Irokesenbande, zweihundert Krieger stark. Es sind Senecakrieger, die von Weißer Tiger angeführt werden, wie wir mit eigenen Augen sehen konnten.“
„Von einem Abtrünnigen!“, gellte ein Zornesschrei. „Es ist Simon Girty!“
„Er gilt als besonders englandhörig, und wenn es nach diesem Häuptling ginge, müssten sich Cayuga-Irokesen, deren Häuptling Logan ist, längst angeschlossen haben. Dem ist aber nicht so. Logans Einfluss auf die Irokesenstämme ist noch immer so groß, dass Weißer Tiger keinen allzu starken Zulauf von roten Kriegern bekam. By gosh, was hat man uns da aufgeladen! Wir werden jetzt gegen England und die Irokesen kämpfen müssen. Wenn wir uns richtig verbissen haben, wird Cornstalk die rote Flut auf uns loslassen.“
In der Tat, die Zukunft war nie in ein so schwarzes Licht getaucht wie jetzt. Man hatte nicht nur mit England zu rechnen, man hatte auch gegen die Indianer zu kämpfen. Man brauchte wahrhaftig kein Hellseher zu sein, um die Lawine zu sehen, die auf die Grenzer zurollte. Was aber war die Kraft, die diesen Menschen innewohnte und sie nicht veranlasste, Hals über Kopf alles im Stich zu lassen und zu fliehen? Der unbändige Freiheitsdrang war stärker als die Furcht, die jeden ansprang und sich in ihm festkrallte. Die Wut und der Zorn legten sich aber schnell.
„Wo ist Conolly jetzt?“, fragte jemand.
„In wenigen Stunden kann er hier sein", erwiderte der Reiter schweratmend. „Was werdet ihr tun?“
„Kämpfen, ihm eine Lehre erteilen“, erwiderte der junge Fortkommandant ruhig. „Wer meldet sich freiwillig als Kundschafter? Wir müssen die Bewegungen des Feindes wissen und seine Stärke kennen, wie viele Kanonen er bei sich hat und vieles mehr, was für uns wichtig sein könnte.“
„Wie wollen Sie gegen die Kanonen ankämpfen, Hauptmann?“, warf ein Mann die Frage auf. „Gegen Kanonenbeschuss ist das Fort nicht gebaut. Man wird es zusammenschießen, wenn nur der geringste Widerstand geleistet werden sollte.“
„Wenn jemand bereit wäre, die Kanonenmunition zu stehlen, sähe es dann nicht ganz anders aus, Hauptmann?“ Es war der alte Josuah Slem, der diese Worte sagte. Tiefe Stille folgte diesen Worten. Alle Blicke richteten sich auf den Alten, der eine so großartige, aber wohl undurchführbare Idee hatte.
„Freunde“, meldete sich Dick Sterling, „was mein alter Partner sagt, ist die Lösung, eine andere gibt es nicht. Ich habe einmal gesehen, wie Kanonenkugeln die Palisadenwand eines Forts einrissen und sie zersplittern ließen. Einige Schüsse würden genügen, dann wäre eine Bresche in der Palisadenwand. Mein Freund Josuah Slem hatte die Idee, und ich bin bereit, sie auszuführen.“
„Ich selbst werde mich an dem Unternehmen beteiligen“, fiel Josuah Slem ihm ins Wort. „Ich bin ein alter Mann und nicht mehr viel nütze. Sollte es mich erwischen, so hat das nicht viel zu besagen. Eine solche Aufgabe lässt mich im Gegenteil vielleicht noch einmal aufleben. Herr Hauptmann, Sie haben jetzt zwei Freiwillige!"
Die düstere Entschlossenheit der beiden Männer blieb nicht ohne Wirkung. Der Fortkommandant stimmte dem Plan zu. Zwei weitere Männer meldeten sich zu dem gefährlichen Kommando. Der eine nannte sich Cook, der andere Rod Cameron. Auch sie waren nicht mehr ganz jung. Ob das ein Nachteil sein würde, musste sich herausstellen. Den freiwillig sich meldenden Männern fehlte zwar die Elastizität der Jugend, dafür hatten sie aber um so mehr Erfahrung. Der Hauptmann besprach sich noch eingehend mit den vier Freiwilligen, dann entließ er sie.
„Freund, ich weiß, woran du denkst, an deinen Neffen Simon, den Weißen Tiger“, sagte Dick Sterling. „Es wird dir aber kaum möglich sein, mit ihm zusammenzutreffen. Auch jetzt dürfte es dir nicht gelingen, diesen Mann daran zu erinnern, dass ihr blutsverwandt seid. Selbst wenn du es vorbringen kannst, so kannst du nicht hoffen, dass aus dieser Tatsache etwas für uns herausspringen wird. Wenn du etwas Derartiges im Sinn hast, dann schlage es dir aus dem Kopf, alter Freund. Es würde uns eher schaden als nützen.“
Die beiden Männer gingen davon, um sich rittfertig zu machen. Josuah Slem gab keine Antwort. Nur der Himmel mochte wissen, was er dachte und empfand. In seinem verwitterten Gesicht war keine Regung wahrzunehmen. Klammerte er sich noch immer an falsche Hoffnungen? Nein, so war es nicht. Josuah Slem hatte es längst aufgegeben, eine Verbindung zu Simon Girty, seinem Neffen, herzustellen. Seine missglückten Versuche in dieser Richtung waren in noch zu deutlicher Erinnerung in ihm. Es ging jetzt nicht mehr um Simon, es ging für ihn jetzt um die Siedler, um die Menschen seiner Hautfarbe, um Männer, Frauen und Kinder, die beim Misslingen des Unternehmens der Willkür preisgegeben sein würden. Es ging darum zu zeigen, dass man das gutmachen wollte, was durch das Schicksal der Girty-Brüder Böses über die Menschen gekommen war. Josuah Slem wollte es so und ahnte doch gleichzeitig dumpf, dass der Mensch viel zu klein war, um dem Schicksal etwas abzuringen und eine Wende herbeizuführen.
„Man wundert sich über dich“, sagte sein Begleiter, der Storebesitzer, als er sich von Dick Sterling für kurze Zeit getrennt hatte. „Ich bin stolz auf dich, Oldman, sehr stolz!“
„Erspare dir deine Gefühle“, erwiderte Slem und nahm seine alte Büchse von einem Haken im Pferdestall. Er reinigte sie sorgfältig und schien seinen Arbeitgeber, der bei ihm stehengeblieben war, völlig vergessen zu haben. Was zum Teufel störte ihn auch dieser Mann? Von jetzt an würde er die Wege, die er ging, selbst wählen. Niemand sollte ihn daran hindern. Kugelbeutel und Pulverhorn hatte er schnell gefüllt. Sein Arbeitgeber sorgte für die Ausrüstung, er stellte ihm auch ein Pferd.
„Es soll dir gehören“, sagte der Storebesitzer. „Es ist mein bestes Pferd.“
„Ich kann das Geschenk nicht annehmen.“
„Du kannst es, Oldman. All die Jahre habe ich dir nur das Essen gegeben und habe dich im Stall schlafen lassen, dazu einige Dollars, dass du dir die Pfeife stopfen konntest. Ich stehe in deiner Schuld, und alle hier werden bald in deiner Schuld stehen, wenn du dein Vorhaben verwirklichen kannst. Wir haben alle etwas gutzumachen, Oldman.“
„Schweig davon!“, unterbrach ihn der Alte mit heiser klingender Stimme. „Ich beklage mich nicht. Es gab auch Menschen, die mir keinen Vorwurf darüber machten, dass ich der Onkel der Girty Brüder bin. Ich bin lange darüber hinweg.“ Er lachte ein Lachen, das alle Demütigungen, die er erlitten hatte, in sich einschloss. Er nahm seine Büchse, durch deren Lauf er prüfend geblickt hatte, vom Haken herunter und richtete sich sehr gerade auf. Irgendwie schien er verwandelt zu sein. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann, der gebeugt durchs Leben ging, dem jeder auswich, sondern wie einer, der seine alte Elastizität auf wunderbare Weise wiedergefunden hatte. Seine selbstgewählte Aufgabe schien ungeheure Kraftreserven in ihm mobilisiert zu haben.
„Ich nehme die Geschenke doch an“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob unser Vorhaben glückt. Sollte es nicht der Fall sein, komme ich nicht mehr zurück.“ Er nickte seinem Gesprächspartner zu und verließ den Pferdestall. Draußen führten die anderen drei Freiwilligen bereits ihre Pferde hinter sich her zum Palisadentor. Josuah Slem schloss sich ihnen an. Wenig später sahen die Menschen im Fort den vier davonreitenden Männern nach.
5.
Es zeigte sich bald, dass die Reiter mit ihrer Warnung nicht nur das Fort alarmiert hatten, dass sie ihre Nachricht auch zu abgelegenen Siedlerstellen gebracht hatten. Zwanzig Meilen vom Fort entfernt kam den vier Reitern eine Familie entgegen, die gewarnt worden war und sich sofort zur Flucht entschlossen hatte. Sie hatte all ihre Habe auf einen Leiterwagen gepackt und hinter dem Leiterwagen ihre Milchkühe angebunden. Neben dem Leiterwagen ritten die vier Söhne des Siedlers.
Slem erfuhr von diesen Siedlern, dass keineswegs alle auf die Warnung gehört hatten. Einige waren fest entschlossen zu bleiben, und ihre Begründung hieß: Wir haben nichts getan und geben der Regierung keinen Anlass, dass unsere Blockhütten niedergebrannt werden könnten. England ist unser Mutterland und beschützt uns.
„Jeder ist frei und kann sich nach freiem Willen entscheiden“, antwortete Dick Sterling den Siedlern. „Den guten Leuten werden erst die Augen aufgehen, wenn sie Bekanntschaft mit Conollys Horden gemacht haben. Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.“
Die Siedlerfamilie zog weiter, um im Fort Schutz zu suchen. Sterling winkte dem Mädchen zurück, das auf dem Leiterwagen neben seiner Mutter saß.
„Man müsste noch einmal jung sein“, sagte er entzückt durch den Anblick des rothaarigen Siedlermädchens. „Zweimal habe ich mit meiner Familiengründung kein Glück gehabt. Meine erste Familie wurde bis auf mich durch die Indianer ausgelöscht; das zweite Mal wurde mir eine Frau beschert, die aus mir einen tugendsamen Mann machen will. Ausgerechnet mir musste das widerfahren!“ Er brach ab und lachte heiser. „Doch wer, Freund Josuah, kennt sich schon in den Frauen aus?“
Sterling erwartete keine Antwort auf seine Feststellung. Slem hielt es für zwecklos, darauf zu antworten. Die privaten Verhältnisse gingen nur den Betroffenen selbst etwas an. Was sollte ein Außenstehender darauf antworten? Er stellte nur fest, dass Sterling nicht mehr der war, der er vor vielen Jahren gewesen war, dass die Menschen sich im Laufe der Jahre kaum merkbar gewandelt hatten. An keinem ging das Leben spurlos vorüber. Bei diesem Ritt in ein ungewisses Abenteuer schien Sterling innerlich immer mehr befreiter zu werden. Dass er das Bedürfnis hatte, sich seinem alten Freunde mitzuteilen, war nur zu verständlich.
Am Nachmittag erblickten sie eine verlassene Siedlerblockhütte und entschlossen sich, eine Rast einzulegen. Die junge Saat stand grün leuchtend auf den Feldern. Im Hintergrund wogten die Wälder. Rothirsche zogen in Rudeln vor die Lichtungen, witterten und verschwanden wieder in den Wäldern. Friedlich und verträumt lag das Blockhaus da. Weder Milchkühe noch Pferde waren in den Corrals zu erblicken. Man sah weder Hühner noch andere Haustiere in den Einfriedigungen. Weit offen standen die Gatter, die Hütte war leer.
Dass sie sich darin getäuscht hatten, sollte sich gleich zeigen. Als sie bis auf wenige Pferdelängen an die Hütte herangeritten waren, grollte ihnen eine böse Stimme aus der Hütte entgegen:
„Haltet an, die Hände zum Himmel!“
Das kam so überraschend, dass Slem, Sterling, Cameron und Cook dem Befehl sofort nachkamen. Ein Gewehrlauf schob sich aus einer Wandschießscharte. Sonnenstrahlen ließen den Lauf in der Sonne aufblitzen. .Hinter dem Reitertrupp meldete sich jetzt eine zweite Stimme mit den zynischen Worten:
„Jetzt haben wie sie in der Falle, Tom. Jetzt haben wir Pferde, Ausrüstung und Proviant. — Keine falsche Bewegung, Männer!“
„Zum Teufel, was soll das?“, explodierte Sterling sichtlich aufgebracht. „Was soll das heißen? Wir haben es doch nicht etwa mit Wegelagerern zu tun?“
„Das ist gut!“, lachte der Kerl, der sich in der 'Deckung der Blockhütte befand. „Höre dir das an, Amb, man will uns schmeicheln. Diese vier alten Narren kommen wohl vom Mond? Zum Teufel mit euch! Haltet die Hände hoch und herunter von den Pferden! Wer die geringste Bewegung macht, bekommt eine Kugel!“
Einen Augenblick lang schauten die vier Reiter sich an und versuchten gleichzeitig den zweiten Mann zu erspähen, an dem sie vorbeigeritten waren. Er löste sich aus dem Gesträuch und stand mit angeschlagener Waffe hinter ihnen. Der Kerl machte einen verwahrlosten Eindruck. Sein Haar und sein Bart waren struppig, die Kleidung zerlumpt. Er sah aus, als hätte er sich im Morast gesuhlt und hätte höllische Strapazen hinter sich gebracht. Eine rot leuchtende Narbe quer über seinem Gesicht ließ erkennen, dass er vor nicht langer Zeit diese kaum geschlossene Wunde, die ihm ein fürchterliches Aussehen verlieh, erhalten haben musste. Die düstere Entschlossenheit und die fanatisch blitzenden Augen des Mannes zeigten nur zu deutlich, zu welcher Gattung von Menschen dieser Bursche gehörte. Sterling und auch Slem hatten genügend Menschenkenntnis, um keinen Augenblick lang daran zu zweifeln, dass dieser Kerl ohne zu zögern schießen und einen nach dem anderen aus der Welt bringen würde. Er gehörte zum übelsten Abschaum der Grenze, und gewiss war sein in der Hütte verborgener Partner von der gleichen Art.
In der Tat, sie waren in eine üble Falle geritten. Es sah nicht gerade rosig für sie aus. Wenn diese Kerle sie beraubten, war nicht mehr daran zu denken, die selbstgewählte Aufgabe zu erfüllen. Kanonenschüsse würden jeden Widerstand im Keime ersticken und Conollys Bande würde kein Hindernis mehr in den Weg gestellt werden.
„Ihr wisst nicht, was ihr uns zumutet“, sagte Sterling, „und sicherlich habt ihr noch nichts von Hauptmann Conolly gehört?“
„Conolly soll uns gestohlen bleiben!“, wurde Sterling erwidert. „Herunter von den Pferden, ihr nehmt unsere Zeit über Gebühr in Anspruch! Los, bei drei kracht es, und ihr findet euch in den ewigen Jagdgründen wieder!“
Es bestand kein Zweifel, die Kerle würden ihre Drohung wahrmachen. Grenzlandwölfe waren es, die der Grenze mehr schadeten als nützten, die immer wieder dazu beitrugen, dass die blutige Grenze ihren düsteren Charakter nicht verlor. Man konnte sich nur wundern, dass Kerle dieser Art nicht alle in Conollys Miliztruppe untergetaucht waren.
Was nützte der Zorn, der in den vier Reitern wie eine Woge emporstieg. Die Raubgier der Kerle war so stark, so deutlich fühlbar, dass man es lieber nicht erst auf einen Versuch ankommen ließ. Man musste, wenn auch schweren Herzens, von den Pferden absteigen, was mit zum Himmel gereckten Händen nicht einmal einfach war. Es wäre Wahnsinn gewesen, den Kampf zu wagen.
„Die Waffen zur Erde werfen!“, wurde ihnen befohlen. Das zynische Gelächter des hinter ihnen stehenden Kerls zerrte an den Nerven. „Schau nur, Tom, was für folgsame Burschen es sind! Es tut gut zu sehen, wie leicht man Kerle dieser Art zu Boden zwingen kann.“
Die Waffen wurden zu Boden geworfen. Bei den vier Männern stärkte sich das Gefühl, dass man sie nicht nur waffenlos machen wollte. Das laut schallende Gelächter des finsteren Burschen hinter ihnen schien ihre Vermutungen zu bestätigen.
„Tretet zur Stallwand zurück!“, wurde ihnen befohlen. „Stellt euch dort nebeneinander hin und lass die Hände oben!“
„Was habt ihr vor?“. meldete sich Cameron, der jüngste der Männer. „Genügt euch die Beute nicht?“
„Nimm an, dass wir keine Zeugen wünschen“, erwiderte der Kerl mit der Narbe in eiskalter Art. „Es passiert augenblicklich so viel an der Grenze, dass wir Conolly nur eine Arbeit abnehmen. — Los denn ...!“
Weiter kam er nicht. Es löste sich kein Schuss aus der hochgerissenen Büchse, die er auf Slem angelegt hatte. Die Kugel verließ nicht mehr den Lauf, denn bevor er noch den Finger krümmen konnte, geschah es. Ein Schrei gellte von den Lippen des Mannes. Er bäumte sich auf, und erst jetzt krachte der Schuss aus der Mündung über die Köpfe der vier Männer hinweg, die rechts und links davonwirbelten und sich fallen ließen, sich in den toten Winkel der Blockhütte rollten, so dass das von dort aufpeitschende Feuer sie nicht mehr treffen konnte. Allen vieren gelang es, sich blitzschnell zur Seite zu werfen, und Slem erwischte noch eine Pistole, die er vorher zu Boden geworfen hatte. Er riss die Waffe hoch, doch es war nicht mehr nötig, sie gegen den rotnarbigen Kerl abzufeuern, denn der taumelte schon. Deutlich sichtbar war der befiederte Pfeil, der ihn getroffen hatte.
Die Hände des Rotnarbigen waren kraftlos geworden, die Waffe entglitt seinen Händen. Der Schrei verlöschte auf seinen Lippen. Seine Augen waren blicklos ins Leere gerichtet. Einen Augenblick stand er schwankend da, dann brach er mit einem letzten Stöhnen vornüber zusammen. Dumpf schlug er zu Boden und blieb auf der Seite liegen.
Während Cameron und Cook sich fest an die Hüttenwand pressten, um dem mörderischen Beschuss des zweiten Mannes zu entgehen, hatten Slem und Sterling sich bereits gefangen und versuchten, um die Hütte herumzukommen. Auch sie waren erschrocken über die Einmischung von dritter Seite, der sie zweifellos ihr Leben zu verdanken hatten. Ob sie es nur einen Augenblick länger behalten würden, musste sich zeigen. Der Kerl in der Hütte schrie: „Jetzt werden euch die Rothäute mit Pfeilen spicken!“
Slem und keiner seiner Begleiter zweifelte daran, dass die Lage sich nicht für sie gebessert hatte, dass es jetzt darauf ankam, in die Hütte zu kommen, um sich eine Deckung zu verschaffen. Doch wie sollte das geschehen? Der Kerl, der in der Hütte war, würde sie nicht auffordern, Schutz in ihr zu suchen. Er würde im Gegenteil alles tun, um ihnen einen weiteren Aufenthalt auf dieser Welt unmöglich zu machen. Er würde sich nie dazu entschließen können, jetzt, in der Not, mit seinen Rassegenossen gemeinsame Sache zu machen.
Es war wirklich eine verzweifelte Lage, die an die Nerven aller höchste Anforderungen stellte.
Noch wusste man nicht, wie stark die neuen Angreifer waren, zu welchem Stamm sie gehörten und ob es nicht Irokesen waren, Seneca-Irokesen, die zur Vorausabteilung von Hauptmann Conolly gehörten. Diesen Irokesen würde es nur auf die Beute und die Skalps ankommen. Sicherlich kam ihnen der Streit zwischen den Weißen nur gelegen. Man war vom Regen in die Traufe gekommen.
In dieser heiklen Situation war es wie ein Wunder, dass alle ihre Nerven behielten, dass Cameron und Cook den Mut hatten, in einer Feuerpause, die der Schütze in der Hütte einlegen musste, blitzschnell ihre Waffen zu holen. Zum Glück hatten sie Kugelbeutel und Pulverhorn nicht abgeworfen. Was tat es, dass Cook dabei einen Streifschuss erhielt und Cameron der Stetson durchlöchert wurde! Ihr Mut brachte sie in den Besitz der Waffen zurück.
Sterling, der mit bloßen Händen gegen den Mann im Blockhaus vorgehen wollte, wurde von Cameron zurückgerufen, der ihm eine Waffe aushändigte. Jetzt war man nicht mehr zum ohnmächtigen Hinnehmen verurteilt, jetzt konnte man sich seiner Haut wehren; und man war gewillt es bis zum letzten Atemzug zu tun. Im toten Winkel, dicht an die Wand der Blockhütte gepresst, war man vor den Kugeln des Gegners im Innern der Hütte sicher. Doch wo waren die Indianer? Warum gellte kein ohrenbetäubendes Kriegsgeschrei in der Luft? In der Aufregung des schnellen Geschehens hatte man das nicht empfunden, doch jetzt ...
Slem hatte sich bereits bis zur Südseite der Blockhütte vorgearbeitet. Er tastete die Bohlen ab, um eine Lücke zu finden, wie sie bei der damaligen primitiven Bauweise oft vorkamen. Dabei spähten seine Augen unentwegt zu den Büschen, die an dieser Seite des Hauses dicht an das Haus heranreichten. Er wusste, dass es jetzt darauf ankam, den Feind im Inneren der Hütte so schnell wie möglich außer Gefecht zu setzen. Man musste ihn zwingen, den schweren Holzriegel vor der Tür zurückzuschieben. Es kam darauf an, so schnell wie möglich Deckung in der Hütte zu finden.
Kein Wunder, dass Josuah Slem von einer fiebrigen Hast und nervösen Unruhe erfasst war, so dass ihm das Herz schneller klopfte. Er wusste, wie gnadenlos das Land und die Menschen untereinander waren, dass an der Grenze die Gesetze der rauen Wildnis galten und dass gerade die Indianer keinen Grund hatten, dem weißen Mann gegenüber Gnade walten zu lassen. Der weiße Mann war es, der ihnen das Land nahm, der sie immer weiter verdrängte, ihnen die Jagdgründe und damit den Lebensraum nahm. Nein, der rote Mann hatte allen Grund, die Weißen zu hassen, gegen sie vorzugehen, wo immer er sie traf.
Josuah Slem machte sich keine Illusionen. Er war Grenzer und kannte die Grenze nur zu gut. Das sagte alles über seine Einstellung den Indianern gegenüber aus. Als er jetzt aufblickend nur wenige Schritte von sich entfernt die stolze Indianergestalt zwischen den Büschen sah, glaubte er, dass sein Herzschlag aussetzen müsse. Im ersten Impuls wollte er die Pistole in Anschlag bringen, doch dann sah er die über die Brust verschränkten Arme des Kriegers und unterließ sein Vorhaben. Alle Muskeln spannten sich in Slem. Mit schmal gezogenen Augenlidern blickte er auf die Rothaut, die an der Aufmachung als die eines Lenapenkriegers zu erkennen war.
Die Haltung des Kriegers verriet keine böse Absicht. Slem entspannte sich augenblicklich. Die Rothaut schien nur darauf gewartet zu haben, denn sie glitt jetzt lautlos näher. Dicht vor Slem blieb der Krieger stehlen, dann sahen sich die beiden Männer in die Augen. In Anbetracht der Gefahr, der sich der Indianer ausgesetzt hatte, als er frei und offen dastand, sozusagen dem Schützen in der Hütte preisgegeben, musste man sich fragen, mit welchem sicheren Instinkt er herausgefunden hatte, dass der Kerl, der von dem mit der roten Narbe gekennzeichneten Toten als Tom angeredet worden war, sich auf der anderen Seite der Blockhütte immer noch bemühte, Sterling, Cameron und Cook eine Kugel zu senden. Man konnte nicht umhin, diesen Krieger zu bewundern, der dem Tod so furchtlos ins Antlitz zu blicken vermochte.
Niemand brauchte Slem erst zu sagen, dass er da keinen Feind, sondern einen Freund vor sich hatte. Ein Feind hätte die eigene Überlegenheit mit tödlicher Sicherheit ausgenutzt. Slem wäre bereits aus dem Leben, mit einem Pfeil lautlos getötet worden, wenn der Indianer es gewollt hätte. Es war nicht geschehen. Von dem Augenblick an, da der Kerl mit der roten Narbe zu Boden gegangen war, waren nur wenige Minuten verstrichen.
Slem fiel bei näherer Betrachtung des Indianers auf, dass er eine verdächtig weiße Hautfarbe hatte, keineswegs die kupferfarbene Tönung, die bei den Angehörigen des Stammes der Lenapen zu finden war. Er hatte nicht die tiefdunklen Tieraugen, die von einer dunklen Melancholie erfüllt waren. Die Augen dieses Kriegers waren von einem dunklen Blau. Sein Haar war keineswegs strähnig und tiefschwarz, sondern dunkelblond und in weichen Wellen gelodet. Eine Feder steckte darin und ein breites Band aus Pantherfell schmückte es. Aus Pantherfell war auch der Köcher gefertigt, der vollgespickt mit Kriegspfeilen war. Der kurze Eschenholzbogen und die Kriegskeule waren die weitere Ausrüstung dieses Mannes, der so ganz und gar nicht der Vorstellung entsprach, die man sich von einem Indianer machte.
Unwillkürlich stieg eine dunkle Erinnerung in Josuah Slem auf. Die Erregung, die ihn befiel, war nur zu begründet, denn immer war er darauf bedacht gewesen, seine Neffen zu finden, um sie wieder zurück in die Zivilisation zu bringen. Im gleichen Augenblick fiel es Josuah Slem ein, dass es eine Menge hellhäutiger Indianer gab. Bei den Irokesenstämmen war das nicht einmal eine Seltenheit. Es war gut möglich, dass dieser Lenapenkrieger irokesischer Abstammung war.
„Ein Coyote ist in der Holzhöhle“, hörte Slem den Krieger in fehlerfreiem Englisch sagen. „Ich hole ihn mir, er gehört mir!“
Die beiden Männer standen dicht an die Holzwand gepresst. In diesem Augenblick kam Sterling um die Ecke. Er stieß beim Anblick des Indianers einen erstaunten Ruf aus. Wenig später kamen auch Cameron und Cook heran, die Sterling herbeigewinkt hatte. Die beiden waren genauso erstaunt wie die anderen Männer, in der Gestalt des Indianers einen Bundesgenossen zu erblicken.
„Ich gebe euch eine Viertelstunde Zeit", hörte man die grelle Stimme des Mannes, der sich in der Blockhütte festgesetzt hatte. „Verschwindet, sonst schieße ich eure Pferde ab!“
Es war wie ein Wunder, dass die Pferde bei der Schießerei bis jetzt ohne Schaden davongekommen waren. Die Drohung des Kerls war ernst zu nehmen. Sie war aber auch ärgerlich zugleich, denn wenn man dieser Aufforderung Folge leisten wollte, musste man sich in das Schussfeld des Schützen begeben. Man konnte sich ausrechnen, was dann geschah. Auf jeden einzelnen würde der Kerl feuern. Man konnte sich ausrechnen, dass einer oder zwei der Männer ihr Leben dabei lassen würden.
„Ich hole ihn“, sagte der Lenape leise. Im gleichen Augenblick schwang er sich katzenhaft auf das Dach der Blockhütte. Seine Gestalt hob sich einen Augenblick deutlich gegen den Himmel ab, dann verschwand er im Kamin.
Die vier Männer hielten unwillkürlich den Atem an. Es verstrichen einige Sekunden, dann hörten sie einen gellenden Aufschrei in der Hütte, dem ein dumpfer Fall folgte. Vier weiße Männer sahen sich erschrocken an.
„Ich weiß, was ihr denkt, Freunde“, sagte Slem. „Man sollte nicht zulassen, dass eine Rothaut einen weißen Mann vor unseren Augen tötet. Ich weiß, dass es niederdrückend ist. Der Lenape wird uns aber noch hören lassen, welche Schuftigkeiten die beiden begingen. Sie müssen ihr Leben verwirkt haben. Halten wir uns aus der Sache heraus! Der Lenape hat mir kein Leid zugefügt, obwohl mein Leben in seinen Händen lag.“
Er verstummte. Man hörte deutlich, wie der Holzriegel der Hüttentür zurückgeschoben wurde. Jetzt brauchte man nicht mehr in Deckung zu bleiben, man konnte den toten Winkel verlassen. Die Tür der Hütte öffnete sich vor den Augen der Männer. Der Lenape trat heraus. Wortlos winkte er den Männern zu, in die Hütte einzutreten. Ein wenig scheu folgten alle vier seiner Aufforderung. Es war schwer zu sagen, was für Gefühle sie bewegten, doch es war nicht anzunehmen, dass sie durch den Anblick eines Toten erschüttert wurden, denn einen solchen Anblick hatten sie schon oft gehabt. Jeder von ihnen war an der Grenze hart geworden.
Als sie jetzt einer nach dem anderen in die Blockhütte traten, blieben sie stehen, als hätte ihnen jemand ein dröhnendes Halt zugerufen. Es war nicht der Anblick des Toten, der sie erschütterte, ein Toter war ihnen kein ungewohnter Anblick. Der Tote interessierte sie nicht. Es war das Mädchen, das, von ihren Fesseln befreit, erstaunlich ruhig in der Ecke der Blockhütte saß und die weißen Männer mit ihren großen Samtaugen betrachtete.
„Das ist die Rote Sonne, die von den zwei weißen Schuften entführt wurde“, hörten sie den Lenapen sagen. Die Stimme des Indianers hatte einen heiseren Unterton. Man spürte deutlich, dass auch bei den Indianern nicht immer Selbstbeherrschung zu finden war. „Zwei weiße Schurken kamen zum Volke der Lenapen“, fuhr der Indianer fort, „sie brachten Decken, die verseucht waren, sie brachten Feuerwasser, Tod und Siechtum mit. Aus den Decken kam Krankheit und Tod. Über hundert Menschen vom Stamme der Lenapen starben.“ Er machte eine Pause. Sein Blick schien durch die Hüttenwand hindurch in eine unbekannte Ferne zu gehen. „Als sie zum zweiten Male kamen, wurden sie ergriffen und an den Pfahl gestellt. Rote Sonne war es, die sich schützend vor sie stellte. Sie achteten die Tat von Rote Sonne nicht. Sie übten Verrat an ihr. Rote Sonne wird mit mir zurückreiten, ich bringe sie ihrem Volk zurück.“
In der Lenapensprache unterhielt er sich jetzt mit dem Mädchen. Sie stand auf und lehnte sich an die Wand. Deutlich sah man, wie erschöpft sie war, wie stark die Strapazen ihr zugesetzt hatten. Sie erwiderte in ihrer Sprache die Fragen, die der Lenape an sie richtete. Nein, dieses stolze Indianermädchen weinte und klagte nicht. Sie bereute auch nicht, dass sie sich schützend vor die Todfeinde gestellt hatte und dann betrogen und verraten worden war.
„Sie war zum Sterben bereit“, hörte man den Lenapen sagen, „doch jetzt will sie leben. Sie sagt, dass die Todfeinde unseres Stammes in der Nähe sind und dass wir beide sterben können, wenn wir nicht auf der Hut sind.“
„Rote Sonne hat recht“, erwiderte Slem dem Lenapen. „Die Irokesen sind vom Stamme der Senecas und gehören zum Gefolge von Conollys Miliztruppen. Wir reiten ihnen entgegen.“
Josuah Slem berichtete dem Lenapen von dem Auftrag, den sie übernommen hatten. In den Augen des Indianers blitzte es auf.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, werden Rote Sonne und ich mit euch reiten“, sagte er. „Ein Kundschafter mehr sieht den Feind eher. Helles Auge wird sich die Skalps einiger Irokesen an den Gürtel hängen. Beratet, ob ihr uns mithaben wollt!“
Keiner hatte etwas dagegen. Man brauchte sich nicht erst lange zu beraten. Der Vorschlag von Helles Auge wurde einstimmig angenommen. Ihm hatten sie es zu verdanken, dass sie noch lebten, dass sie diesen beiden Mordbanditen nicht zum Opfer gefallen waren.
Zwei Schufte hatten für ihre Taten gebüßt und hatten ihr Leben lassen müssen. Was bedeutete schon ihr Tod, wenn man bedachte, dass durch ihre Taten Hunderte von Menschen ihr Leben lassen mussten, unter ihnen unschuldige Frauen und Kinder? Die Schufte hatten den Tod mehr als einmal herausgefordert, und es war nur gerecht, dass der Tod auch sie ereilt hatte, die ihn so oft selbst gebracht hatten.
Es zeigte sich bald, dass Pfeiles Auge, wie der Indianer sich nannte, zwei Pferde in der Nähe versteckt hielt, so als hätte er von Anfang an mit der Befreiung der Gefangenen gerechnet. Mit keinem Wort berichtete der Krieger über die Strapazen, die er selbst hatte hinter sich bringen müssen. Es war keineswegs leicht für ihn gewesen, durch das Gebiet feindlicher Stämme zu reiten, auf der Spur der Männer zu bleiben, die ihm das Liebste geraubt hatten. Seine Geduld und Ausdauer war letzten Endes von Erfolg gekrönt gewesen, und nur das allein zählte für ihn.
Man hielt sich nicht lange an diesem Ort auf, der den vier weißen Männern bald zur Falle geworden war. Ganz nahe waren sie dem Tod gewesen. Es dämmerte bereits, als sie in Begleitung der beiden Indianer davonritten. Das Mädchen und der Krieger ritten auf unbeschlagenen Pferden, die klein waren und ein drahtiges Aussehen hatten. Beide ritten auf einfachen Decken ohne Sättel und Bügel. Sie lenkten ihre Tiere nur mit der Hackemoore, einem Zaumzeug, das den Pferden nicht die Lefzen aufreißen konnte. Das Mädchen ritt hinter dem Indianer. Der Krieger wandte sich nicht einmal um und sprach auch nicht mit ihr. Sie folgte ihm wie ein Schatten, vornübergebeugt auf dem Pferd sitzend. Ihr blauschwarzes Haar flatterte gleich einer prächtigen Mähne im Reitwind. Ihr bronzegetöntes Gesicht hatte ein wenig zu hochstehende Wangenknochen. Es war von einer tiefen Schönheit und einem Ebenmaß, wie man es selten bei einer Indianerin sah.
Als die Schatten der Nacht sich über dem Land ausbreiteten, trieb Helles Auge sein Pferd schneller an. Ohne eine Erklärung ritt er dem Trupp voraus und war bald zwischen den Bäumen verschwunden. Das Mädchen war ihm nicht gefolgt und gab jetzt eine Erklärung für das Verschwinden des Indianers, ohne dass ein Wort vorher zwischen den beiden gewechselt worden wäre.
„Helles Auge hat eine Witterung bekommen, die weißen Männer sollten jetzt langsamer reiten.“
Man war nicht von dieser Erklärung überrascht, vielmehr war es die Tatsache, dass das Mädchen die Sprache der Weißen beherrschte. Slem wandte sich an sie: „Rote Sonne weiß sicherlich mehr als Helles Auge. Ich möchte gern erfahren, ob es noch mehr hellhäutige Lenapen gibt?“
„Nein“, erwiderte sie. „Helles Auge bildet eine Ausnahme. Er ist ein tapferer Krieger. Viermal hat er freiwillig die Mutprobe bestanden.“
Die Augen des Mädchens leuchteten. Die erstaunten Blicke ihrer weißen Begleiter schien sie nicht einmal zu sehen. In der Erinnerung schien sie jene Mannbarkeitsprüfungen nachzuempfinden, die sich die heranwachsenden Knaben bei den Indianerstämmen gefallen lassen mussten.
Die Mannbarkeitsproben waren eines der größten Feste in den indianischen Dorfgemeinschaften. Wer die äußerst schmerzhafte Prozedur aushielt und die Narben erhielt, galt als Krieger. Dass Helles Auge das viermal getan hatte, war geradezu unglaublich. Acht Narben bedeckten seine Brustseite.
Für die weißen Begleiter des Mädchens war es unglaublich, dass ein Mann eine solche Probe viermal aushalten konnte. Die Achtung vor dem Davongerittenen stieg.
„Weißt du nichts von seiner Herkunft, Rote Sonne?“, fragte Slem weiter. „Helles Auge spricht die Sprache der Weißen, wie sie nur ein Weißer zu sprechen vermag."
„Deshalb ist er noch lange kein Weißer“, erwiderte sie. „Es gibt viele rote Männer, die eure Sprache fließend sprechen. Ich weiß nichts von seiner Herkunft, ich weiß nur, dass er immer in unserem Stamme war.“
Slem schwieg. Sicherlich sprach sie die Wahrheit. Sie war viel zu jung, um über die Herkunft von Helles Auge Bescheid zu wissen. Als sie geboren wurde, war er bereits ein junger Mann gewesen. Es war nicht anzunehmen, dass die Lenapen entgegengesetzt aller indianischer Gewohnheit die Herkunft eines ihrer Krieger so interessierte, dass sie jahrelang Dorfgespräch sein konnte. Das Geheimnis dieses hellhäutigen Indianers war durch dieses Mädchen nicht zu lüften.
„Freund“, sagte Sterling im Weiterreiten leise zu seinem Partner, „hast du noch immer Hoffnung?“
„Ich dachte sie überwunden zu haben, Dick“, sagte Slem mit kehliger Stimme, „doch je länger ich diesen Indianer anschaute, umso mehr wurde ich an meine Schwester erinnert und an meinen Schwager Girty. Ich kann nichts dafür, dass die alte Wunde wieder aufbricht. Ich glaubte, alles sei längst begraben und vergessen, doch dem ist nicht so. Wunschgedanken schlummern unter der Oberfläche, und wenn man glaubt, dass man sie endgültig begraben hat, brechen sie immer wieder auf. Wie nun, wenn dieser junge Krieger mein Neffe George Girty wäre?“
„Josuah, man kann dich nur bemitleiden. Wie viele Jahre müssen noch vergehen, bis du deine Hoffnungen endgültig begräbst?“
„Ich weiß es nicht, Dick, ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht werde ich die Hoffnung bis zum letzten Atemzug in mir tragen, die Hoffnung, wenigstens einen meiner Neffen in die Welt der Weißen zurückzubringen, in die sie von Rechts wegen gehören.“
––––––––
6.
Bald war es so dunkel, dass man nur langsam vorwärtskam. Der lichte Wald gestattete zwar das Reiten, da nur wenig Unterholz vorhanden war, doch das Gelände wurde wellig, und jeder Huftritt wurde zögernd von den Pferden ausgeführt.
„Anhalten!“, hörte man das Indianermädchen sagen, wobei sie auch schon von ihrem Pferd glitt und mit den Händen den Boden abtastete. „Die weißen Männer sollten absitzen“, fuhr sie nach kurzer Untersuchung des Bodens fort. „Der Boden ist voller Kaninchenbaulöcher.“
Die vier Männer zögerten nicht und saßen ab. Sic wussten, wie gefährlich ein von Kaninchenlöchern untergrabener Waldboden war. Man musste die Pferde jetzt hinter sich her führen und die gefährlichen Stellen zu meiden suchen. Das Mädchen setzte sich an die Spitze des kleinen Trupps. Ihr nach folgten die vier Männer bis zu einer Geländeerhebung, wo sie über die Baumkronen in das tiefer gelegene Gelände blicken konnten. Sie gewahrten den Schein von vielen Kochfeuern, der durch die Bäume fiel.
„Conolly mit seiner Miliz und seinen Irokesen“, sagte Sterling schweratmend. Mit schmal gezogenen Augenlidern schauten die Männer dorthin, wo Lord Dunmores Kampfmacht für die Nacht lagerte. Ohne Zweifel hatte Helles Auge den Rauchgeruch der vielen Kochfeuer schon vor einiger Zeit wahrgenommen.
„Ich kenne das Gelände“, sagte Cameron. „Conolly hat sein Lager an einem kleinen Sumpf aufgeschlagen. Der Platz ist gut gewählt und braucht nur nach drei Seiten gesichert zu werden. Was tun wir jetzt?“ Mit dieser Frage wandte er sich an die drei anderen Männer.
Bevor einer von ihnen antworten konnte, sagte das Mädchen:
„Man sollte warten, bis Helles Auge zurückkommt!“
„Sie hat recht“, stimmte Slem ihr sofort ohne Vorbehalt zu. Er wusste selbst nicht, warum er ihr zustimmte.
Vielleicht bin ich ein Narr, dachte er. Es ist doch töricht, einem wildfremden Indianer vom Stamme der Lenapen zu vertrauen. Warum lasse ich ihn stillschweigend als Führer der Gruppe handeln? Aber ich kann nicht anders, ich vertraue diesem Mädchen und noch mehr dem Indianer. Ob das mit der Hoffnung zusammenhängt, meinem Neffen zu begegnen? Bin ich schon so weit, in jedem hellhäutigen Indianer einen meiner Neffen zu sehen? Wie komme ich dazu, ich, der Indianerhasser, einer Rothaut zu trauen? Herr im Himmel, du lenkst unsere Wege, wir sind zu klein, zu erkennen, warum dies und das so ist, warum wir erleiden und erdulden müssen. Ich will nicht mehr wettern und fluchen. Sollte mir die Lebenshoffnung versagt bleiben, einen meiner Neffen wenigstens in die Welt der Weißen zurückzuführen, so will ich auch nicht klagen.
„Warten wir auf Helles Auge“, sagte er zu seinen Partnern. „Sicherlich rechnet der Indianer damit, dass wir auf ihn warten und nichts voreilig unternehmen. Er kennt unsere Pläne und Absichten und wird schon Beobachtungen machen.“
„Helles Auge wird wie ein Adler mit scharfen Augen alles auskundschaften, was den weißen Männern von Nutzen sein kann“, sagte das Indianermädchen.
Es wurde immer deutlicher, das Vertrauen des Mädchens zu dem Indianer war unbegrenzt. Ihre Augen leuchteten. Wieder war sie es, die die Führung übernahm. Ihre Umsicht zeigte den vier Reitern deutlich, dass sie ihnen in der Wildnis überlegen war. Mit sicherem Instinkt fand sie bald einen Lagerplatz, der gute Deckung bot und ein unbeobachtetes Nähern des Feindes erschwerte. Sie riet den Männern, die Spuren so gut es ging zu löschen.
„Wie soll uns dann Helles Auge finden?“, fragte Cameron.
„Er wird bei uns sein, wenn es an der Zeit ist“, entgegnete sie dem Frager mit einer Zuversicht, als zweifele sie keinen Augenblick an dieser Tatsache. „Helles Auge hat die Augen einer Nachteule. Bei Tag und bei Nacht entgeht ihm nichts.“
„Das muss wohl so sein, denn sonst wäre es ihm sicher nicht gelungen, seine Feinde bis hierher zu verfolgen, sonst hätte er dich nicht befreien und aus einer schlimmen Falle holen können. Er ist ein erstaunlich großer Krieger“, stellte Slem fest.
Sie nickte mit leuchtenden Augen und schwieg.
Was ging es die weißen Männer an, dass sie glücklich und stolz war, dass sie alle Strapazen vergessen hatte, all das Leid nicht mehr spürte. Sie lebte in einer berauschenden Gegenwart, die keine Schrecken mehr für sie hatte. Sie war durch die Hölle dieser Welt gegangen, als sie sich in der Gefangenschaft der weißen Männer befunden hatte. Damals, als sie beide Weißen befreit, vom Tod am Marterpfahl erlöst hatte, hatte sie es in einer blinden Eifersuchtsregung Helles Auge gegenüber getan. Der Indianer hatte nie mit ihr gesprochen, hatte sich ihr nie genähert. Damals hatte sie geglaubt, dass er sie übersehe, denn er hatte ihr nie einen Blick gegönnt. Ein einsames, stilles Leben hatte er geführt. Die Achtung der Dorfbewohner war ihm sicher. Immer brachte er Jagdbeute für die Alten mit, die sich nicht mehr allein helfen konnten. Man sagte, dass sein geräumiges Erdhaus das schönste sei. Sein Haus war wie alle Erdhäuser der Indianer gebaut und auf dem Dach mit festgestampfter Erde versehen. Im Winter war es schön warm in einem solchen Haus und im Sommer schön kühl. Auf dem Dach konnte man sich sonnen. In einem unterschied sich seine Erdhütte von den anderen. Es gab einen Tisch in ihr, wie ihn die weißen Leute hatten und einen Stuhl. Beides hatte Helles Auge mit seinem Tomahawk selbst gefertigt.
Nun, Helles Auge war ein Außenseiter, ein stiller und besonnener Krieger, der alle Aussicht hatte, einmal ein berühmter Medizinmann und Häuptling zu werden. Niemals hatte er sich ihr erklärt und ihr die alten Liebeslieder gesungen. Sie hatte geglaubt, dass sie ihm nichts bedeute. Jetzt wusste sie, dass sie sich geirrt hatte, dass ihr banges Verzagen nicht gerechtfertigt war und dass er durch seine Tat ihr seine echte und große Liebe gezeigt hatte. Ja, sie hatte genau herausgehört, was der alte weiße Mann, der sich Slem nannte, von ihr wissen wollte. Ihr Herz hatte wieder in Furcht schneller geschlagen. Niemals durfte der weiße Mann erfahren, dass Helles Auge sich einen Tisch und einen Stuhl nach Art der weißen Männer gebaut hatte. Die Frage des alten Mannes hatte das Mädchen aufhorchen lassen, und wie ein geängstigtes Tier hatte sie eine unbekannte Gefahr gewittert. Sie war froh, dass sie dem alten Mann nicht mit Lügen seine Fragen zu beantworten brauchte.
Einmal aufmerksam und misstrauisch geworden, beobachtete sie Slem, ohne dass dieser etwas davon merkte. Ihr fiel eine gewisse Ähnlichkeit von Helles Auge und dem alten Mann auf. Da waren die hellen Augen, die beide gemeinsam hatten, die breite und hohe Stirn, die gleichen Fältchen an den Augen. Die Ähnlichkeiten in der Figur und die Gleichartigkeit der Bewegungen konnten den scharfen Augen des Mädchens nicht entgehen. Es war wie ein Wunder, dass weder Sterling noch Cook oder Cameron das festgestellt hatten. So war nun einmal das Leben. Die Menschen sahen an den wirklichen Dingen vorbei, und der alte Slem war zu sehr in seine eigene Gedankenwelt verstrickt, als dass er die Ähnlichkeiten wahrnahm.
Der Lenapenkrieger war seinem Bild aus der Jugend sehr ähnlich. Vielleicht war es Slems Fehler, dass er nur Vergleiche mit seiner Schwester und seinem Schwager zog und nicht im Traum daran dachte, dass ein Neffe dem blutsverwandten Onkel nachschlagen konnte. An eine solche Ähnlichkeit dachte er nicht.
Das Indianermädchen spürte immer mehr, dass keine Gefahr für sie vorlag, dass ein Zufall nicht ungeahnte Dinge aus der Vergangenheit enthüllen würde, dass sie den Mann ihrer Liebe nicht ein zweites Mal verlieren würde. Das stimmte sie froh. Sie wusste, dass ihr Mund versiegelt sein würde, wenn der alte Mann noch einmal nach der Herkunft von Helles Auge fragen würde. Seine Not war ihr Trost, und wenn er Trost bekommen würde, würde sie in Not sein. Wie bei jedem Menschen, und vor allem bei dem, der liebt und wiedergeliebt werden will, war auch in ihr genügend Egoismus, der nicht zulassen würde, dass ihr etwas genommen wurde, was schon zum Greifen nahe war.
Sie schaute zu den Männern hin, die sich aus den Sätteln schwangen und ihre Pferde zu einer Gebüschgruppe führten, wo sie an den tiefen Ästen mit den Zügeln angebunden wurden. Sie hörte, wie die weißen Männer leise beratschlagten, dann bezogen Cameron und Sterling Wachtposten an den Muldenrändern. Cook und Slem kamen zu ihr.
„Auf ein gemütliches Feuer werden wir wohl verzichten müssen, Rote Sonne“, wandte Slem sich an sie. „Aber das macht nichts, wir haben genug Proviant und laden zum Essen ein. Ich glaube, wir alle können eine Stärkung vertragen.“
Die Anrede von Slem machte das Mädchen stolz. Sie mochte diesen alten weißen Mann, der sich so höflich benahm und sie behandelte, wie weiße Männer zu ihren Squaws waren. Diese Männer waren ganz anders als die, die sie davor bewahrt hatte, den Tod am Marterpfahl zu sterben. Dies waren keine undankbaren und gewalttätigen Schufte, denen nichts heilig war, denen die Ehre dieses Mädchens nichts galt. Dennoch spürte sie instinktiv die Gefahr, die von Slem ausging. Es war eine Gefahr, die sie wohl spürte, aber nicht erklären konnte. Es war ihr, als könnte der weiße Mann ihr Böses antun, indem er sich zwischen sie und Helles Auge stellte. Diese Männer hatten die gleiche Hautfarbe wie Helles Auge, die Hautfarbe von leichter brauner Tönung, die durch Sonne und Regen, durch das häufige Leben im Freien hervorgerufen wurde.
Slem verteilte die Imbissrationen. Rote Sonne nahm dankbar das Dargereichte an und teilte ihre Portionen gleich in zwei Teile.
„Nichts da, das ist eine Mahlzeit und nur für dich!“, hörte sie den alten Mann sagen. „Helles Auge bekommt seine Portion bei seiner Rückkehr. Du musst jetzt etwas essen, damit du wieder zu Kräften kommst. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.“
Er lachte leise in sich hinein, als sie ihn mit ihren großen dunklen Augen anschaute, als wollte sie eine Erklärung seiner Worte hören, doch er schüttelte lächelnd den Kopf und sie lächelte zurück. Sie wusste jetzt, dass es nichts Böses gewesen war, was er gesagt hatte. Doch was hatte der Alte mit dem Wort „Seele“ gemeint? Dieser Ausdruck war ihr nicht geläufig. Die Weißen dachten und empfanden in vielen Dingen anders als die Roten, das wusste sie. Ihr Gott endete am Kreuz und wurde verehrt in Bildern und Gebeten. Aber es war auch ein Gott, der wie bei den roten Menschen über allen Dingen stand. Warum wollten die weißen Menschen die Gleichheit im Glauben an den Gott der Weißen und der Roten nicht anerkennen? Hatte nicht Manitu alles geschaffen, die Erde, den Himmel, die vier Winde, Pflanzen, Tiere und den Menschen? Das winzige Lächeln um die Lippen des Mädchens vertiefte sich. Ohne Hast begann sie zu essen. Ihr Hunger war gestillt, als Slem und Cook die beiden Wachposten ablösten, die jetzt zum Essen kamen.
„Helles Auge bleibt lange fort, Rote Sonne“, hörte sie Sterling sagen. „Bald ist Mitternacht. Solange warten wir noch. Wenn er dann nicht da ist, müssen wir herausbringen, was mit ihm geschehen ist.“
Es war ihm deutliche Unruhe anzumerken. Auch Cameron war bereits nervös geworden. Die beiden Männer konnten nicht umhin, die Ruhe des Mädchens zu bewundern. Sie fragten sich unwillkürlich, woher sie diese Ruhe nahm und mit welcher Kraft sie sie aufrecht erhielt. Hatte sie so etwas wie einen sechsten Sinn? Es sollte so etwas geben. Hatte sie die Ruhe nur, weil ihr Instinkt ihr sagte, dass nichts Schlimmes vorgefallen sei?
„Helles Auge wird gleich da sein“, sagte sie zu Sterling. „Er ist bereits in der Nähe. Deine Freunde sollten jetzt scharf aufpassen. Helles Auge wird vor ihnen aus dem Boden wachsen. Sie sollten sich nicht vor ihm erschrecken.“
In die alten Augen von Sterling kam ein ungläubiger Ausdruck, fragte er sich doch wiederum, woher sie das wissen wollte. Slem und Cook waren gute Beobachter und würden sich nicht überraschen lassen. Dennoch trieb Sterling etwas dazu, Slem und Cook mitzuteilen, was ihnen nach Ansicht des Mädchens bevorstehen würde. Die beiden lächelten nur.
Slem sagte: „Das würde an einen Spuk grenzen, und daran glaube ich nicht, alter Freund.“
Er lächelte. Sterling verließ ihn und ging zu dem indianischen Mädchen zurück. Cameron hockte auf dem Boden und kaute an einem Grashalm herum. Leise raunte der Wind in den Blattkronen der Bäume. Die Pferde verhielten sich still und ruhig.
Helles Auge würde es schwer haben, sich jetzt noch geisterhaft unsichtbar zu nähern. Er musste gesehen werden und die Pferde mussten ihn wittern. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn das Mädchen recht behalten sollte.
Der Schrei der Nachteule, der jetzt ertönte, sagte nichts Besonderes aus. Nachteulen gab es in diesem Walde sicherlich eine Menge und auf ihren nächtlichen Flügen stießen diese Tiere hin und wieder ihre hohlen Schreie aus. Dass solche Schreie sich oft wiederholen konnten, hatte nichts zu besagen.
„Jetzt ist Helles Auge vor dem Lager“, meldete sich das Indianermädchen so laut, dass sie auch von den beiden Wachposten gehört wurde. „Er hat sich angekündigt.“
„Etwa durch die Eulenschreie?“, fragte Sterling interessiert. Das Mädchen nickte bestätigend.
„Ich habe ein sehr gutes Gehör, Mädel“, sagte Sterling. „Ich bin mit den Stimmen der Natur vertraut. Diese Schreie waren keine nachgeahmten Eulenschreie. So täuschend echt vermag nicht einmal eine Rothaut den Eulenschrei nachzuahmen. Du musst dich geirrt haben.“
„Nein, weißer Mann, ich habe mich nicht geirrt“, entgegnete sie mit weicher Stimme und stieß dann den Eulenschrei aus, so täuschend echt und gekonnt, dass Sterling die Augen weit aufriss. Im nächsten Moment lief sie leichtfüßig wie ein Reh den Muldenhang hinauf. Am oberen Rand blieb sie stehen, und im gleichen Augenblick erhob sich Helles Auge vor ihr aus dem Gras. Slem und Cook konnten einen Ruf der Verwunderung nicht zurückhalten. Man hatte wirklich den Eindruck, als wüchse die schlanke Gestalt des Lenapen aus dem Boden. So sehr die beiden Wachposten auch achtgegeben hatten, der Indianer hatte sich so nah herangeschlichen, dass beide Männer sich verwundert fragten, ob sie träumten oder wachten.
Mit einigen Schritten war Helles Auge am Muldenrand und bei den Männern. Sie bestürmten ihn von allen Seiten mit Fragen. Er lächelte ohne zu antworten in die Runde. Erst als seine Begleiter etwas ruhiger geworden waren, sagte er: „Ich war bei den Feinden. Sie haben nur eine Kanone bei sich. Drei Kanonen sind im Sumpf steckengeblieben und konnten nicht mehr herausgebracht werden. Der Führer der Weißen wollte eine Wegabkürzung fahren und geriet dabei in den Sumpf. Die drei Kanonen musste er zurücklassen, eine hat er durchbekommen. Die Munition ist auf einem Bagagewagen, doch so verteilt, dass es unmöglich ist, sie in Besitz zu bekommen. Es kommt hinzu, dass die zweihundert Irokesenkrieger bei den Bagagewagen sind. Es dürfte unmöglich sein, an die Munition heranzukommen.“
„Du warst mitten zwischen den Feinden?“, fragte Cook verblüfft.
Der Indianer nickte, so als sei das das Selbstverständlichste von der Welt gewesen. Mit keinem Wort erwähnte er die ständige Gefahr, die ihn umlauert hatte. Es war nicht einfach gewesen, unsichtbar wie ein Geist zu bleiben. Er sprach nicht von den Nervenstrapazen. Das war Indianerart und ging niemanden etwas an.
Slem fragte: „Wo hast du dein Pferd gelassen?“
„An einem Ort, wo ich es bald holen kann. Wir sollten jetzt aufbrechen.“
„Wohin?“, fragte Cameron. „Du sagst doch selbst, dass es unmöglich ist, die Munition für die Geschütze zu stehlen.“
„Umso besser werden wir mit dem letzten Geschütz umspringen können“, erwiderte der Lenape in einer etwas kehligen Mundart. „Umwickelt die Pferdehufe mit Lappen.“
„Einen Moment, Freund“, sagte Slem. „Bist du ganz sicher, dass wir an die Geschütze herankönnen?“
„Man hat es auf einen Hügel gefahren. Wenn man es an der richtigen Stelle den Abhang hinunterrollen lässt, wird es in den Sumpf tauchen und verloren sein. Fünf starke Männer sollten es schaffen können.“
„Und welches Haar ist in der Suppe?“
Erstaunlicherweise verstand der Lenape genau, was Cameron andeuten wollte.
„Die einzige Schwierigkeit ist die, dass wir zwischen Lager und Sumpfgürtel hindurch müssen. Die Geschützwächter sind weniger zu fürchten. Es sind Weiße, die zu viel Brandy getrunken haben. Sie werden ihren Brandyrausch noch nicht ausgeschlafen haben. Ein weiterer Vorteil für uns ist der schmale Sumpfpfad, den ich entdeckte und auf dem ich mein Pferd zurückließ. Auf diesem Pfad werden wir uns davonmachen. Ich glaube kaum, dass die dünne Moorkruste mehr als sechs Reiter tragen kann. Gehen wir jetzt?“
Ein wenig betroffen sahen sich die Männer an. Jetzt, da sich die Entscheidung aufdrängte, zeigte es sich, dass die Angst jedem einzelnen zu schaffen machte. Wer garantierte dafür, dass sich im feindlichen Camp inzwischen nicht vieles geändert hatte, wer konnte voraussagen, ob der Sumpfpfad nicht allen zum Grab werden würde?
„Eine bessere Chance werden wir nicht bekommen“, sagte Slem nach kurzem Überlegen. „Vorwärts denn, Männer, wir tun, zu was uns Helles Auge rät! Umwickeln wir die Hufe der Pferde und dann los! Versäumen wir lieber keine Zeit, bringen wir es hinter uns!“
„Bravo, Slem“ meldete sich Sterling. „Ich hatte schon immer eine Vorliebe für kitzlige Abenteuer. Versuchen wir es!“
„Ich brauche nur an die Frauen und Kinder im Fort zu denken, dann weiß ich, dass wir es wagen müssen“, sagte Slem. „Es kommt nicht so sehr auf uns an, als vielmehr darauf, dass wir unseren Plan durchführen. Dich jedoch, Helles Auge, könnte es doch gleichgültig lassen, was hier geschieht?“
„Nein“, antwortete der Lenape. „Ich will nicht in die Erdhütten der Lenapen zurückkehren, ohne den Skalp von dem Weißen Tiger an meinem Gürtel zu haben. Der Weiße Tiger brachte uns die beiden schuftigen Händler, dafür hole ich ihn mir.“
„Freund, das kann doch nicht dein Ernst sein?“, unterbrach Slem ihn erregt.
Die Augen des Lenapen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Der Weiße Tiger und die Seneca-Irokesen haben sich den Engländern verschrieben. Der große König der Engländer liebt die Stämme nicht, die für Frankreich waren. Er liebt auch euch nicht, die ihr unabhängig sein wollt. Der Weiße Tiger tut alles, um den Engländern zu dienen. Er wird es noch mehr tun, wenn Logan tot ist, wenn der große Logan keine Hand mehr zum Frieden ausstrecken kann. Er wird das Irokesenvolk für die Sache der Engländer einsetzen. Der Weiße Tiger und seine Irokesen sind Englands Stütze.“
„Und mein Neffe?“, erwiderte Slem mit rauer Stimme. „Ich kann nicht zulassen, dass du ihn tötest.“
Die Augen des Lenapen weiteten sich vor Staunen. Er sah Slem lange an.
„Dieser Verräter kann nicht dein Neffe sein“, sagte er. „Wenn er es ist, dann vergiss, dass er dein Blutsverwandter ist. Die stärkste Liebe geht zu Bruch, wenn Blut gegen Blut aufsteht.“
„Freund, vielleicht ist in dir das Blut der Weißen“, erwiderte Slem ruhig. „Vielleicht bist auch du eins von jenen verschleppten weißen Kindern, die ihre Vergangenheit vergessen haben und Indianer wurden. Dann ist es umso schlimmer, dann kämpfst du gegen deine eigene Rasse.“
„Ich verstehe dich nicht, alter Mann“, sagte der Lenape. „Nicht die Rasse ist entscheidend, sondern die Tat eines Mannes. Wenn ein roter Mann aus seinem Stamm ausgestoßen wurde, wenn er feige war und Verrat beging, wenn er Unrecht tat, dann wird er geächtet. Niemand will dann mehr etwas mit ihm zu tun haben. Die Weißen sind anders, sie verbünden sich, wenn es gegen den roten Mann geht. Ehrliche und gute Menschen sind dann mit Schuften vereint. Wir verstehen das nicht, alter Mann, wir werden das nie verstehen!“
Was konnte man darauf erwidern? Die Wahrheit in den Worten des Lenapen war nicht zu leugnen. In vielen Jahren konnten die Indianer Erfahrungen mit dem weißen Mann sammeln. Diesem Lenapen war nichts vorzumachen. Er dachte und handelte wie ein Indianer. Falls er seine Kindheit wirklich bei den weißen Siedlern verbracht hatte, so war das alles in Vergessenheit geraten.
Slem erschauerte. Die Vorstellung, den weißen Haarschopf von Simon Girty, dem Weißen Tiger, am Gürtel dieses Lenapen sehen zu müssen, ließ ihn übel werden. Er spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken fegte. Es war trotz allem nicht die geringste Ahnung davon in ihm, dass er seinen jüngsten Neffen, George Girty, vor sich hatte. Wenn er es gewusst hätte, so hätte er den Indianer kaum von seinem Vorhaben abbringen können, die indianische Erziehung wurzelte zu tief in ihm. Nur der Himmel mochte wissen, wie Slem reagiert hätte, wenn er das Geheimnis dieses Lenapen gekannt hätte. Weder der eine noch der andere ahnten es. Sie fühlten wohl eine Sympathie, die von einem Menschen zum anderen schwang, doch solche Sympathien, die schon bei der ersten Begegnung reiften, gab es immer wieder.
„Der Weiße Tiger ist der Feind der Lenapen“, hörte er den Indianer sagen, „er ist auch dein Feind. Da drüben im Lager hast du ... haben wir keinen einzigen Freund.“
Auch auf diese bittere Wahrheit gab es nichts zu entgegnen. Simon Girty, der Weiße Tiger, hatte es immer wieder verstanden, ihn, Josuah Slem, aus seinem Bannkreis zu vertreiben. Das war niederschmetternd, aber wahr. Slems Kehle zog sich eng, er atmete schwer. Seine innere Bedrückung machte ihm schwer zu schaffen. Sie blieb auch, als er die Hufe seines Pferdes mit Lappen umwickelt hatte, und sie war noch in ihm, als sie aufbrachen.
Der Lenape machte den Scout und ging voran. Ihm nach folgte das Indianermädchen, dann Slem, Cameron, Cook und Sterling. Sterlings Pferd schleppte eine Decke hinter sich her, um die Fährte zu verwischen. Pferd und Menschen gingen hintereinander. Bald sahen sie den rot leuchtenden Flammenschein des Lagers und wurden vorsichtiger. Helles Auge führte sie im weichen Bogen nach rechts, bis sie zu dem Rohrgürtel kamen, wo der Boden unter den Hufen der Pferde und den Fußtritten verdächtig zu schwanken begann. Der Waldsaum blieb zur linken Hand liegen. Pferde und Menschen bewegten sich durch das mannshohe Rohr. Das Wasser gurgelte unter ihnen. Manchmal mussten sie anhalten, wenn einer der Mokassins im Schlamm steckengeblieben war und herausgezogen werden musste.
Die Pferde gingen unwillig. Das unsichere Gelände ließ sie nur langsam vorankommen. Der Schein der vielen kleinen Feuer des Lagers wurde immer stärker. Zur Linken hob sich das Gelände jetzt an.
„Rote Sonne und ich schaffen die Pferde auf den Moorpfad“, sagte der Lenape schließlich, nachdem die Truppe zum Halt gekommen war. Ringsum war es dunkel und ungemütlich. Vom Moor her kamen glucksende Geräusche.
„Wartet hier!“, sagte der Indianer, als keiner der Männer mehr etwas einzuwenden hatte. „Ich komme bald zurück. Rote Sonne wird bei den Pferden bleiben.“
Dem Indianer kam es mit seinem Vorschlag wohl nicht in den Sinn, dass er damit das Vertrauen der Weißen herausforderte. Durch dieses Vertrauen hatten sich die Weißen völlig in seine Hand gegeben. Er tat so, als sehe er die Betroffenheit seiner Begleiter nicht. Cook, Cameron, Sterling und Slem sahen sich stillschweigend an. Sie wussten, dass es für diesen Bundesgenossen eine tödliche Beleidigung sein würde, wenn sie Misstrauen zeigen würden. Andererseits fragten sie sich, ob es nicht zu viel verlangt war, einem Indianer grenzenloses Vertrauen zu schenken. Die List der Indianer war ihnen nur zu gut bekannt. Was würde sein, wenn der Indianer nicht mehr zurückkam, wenn er auf diese Art eine reiche Beute an Pferden und Ausrüstung machen würde? Dann waren sie die Genarrten und als solche bald den Irokesenspähern ausgeliefert. Ohne Pferd und Ausrüstung würden sie nicht allzu weit kommen, an die Durchführung ihres Unternehmens würde dann kaum mehr zu denken sein.
Keiner sagte etwas. Jeder hatte so viel Takt, dass er sein Misstrauen nicht kundtat und den Indianer beleidigte. Jeder versuchte jedoch mit seinem Blick die Last und Verantwortung dem anderen zu übertragen, denn vor der Verantwortung scheute ein jeder zurück.
Slem war es schließlich, der das peinliche Schweigen brach. Wortlos band er die Zügel seines Pferdes an den Schweif des Ponys von Rote Sonne. Die drei anderen Männer folgten seinem Beispiel. Einige Minuten später waren die Pferde eins hinter das andere gebunden. Helles Auge nahm das vorderste Tier am Halfter, und Rote Sonne ließ ihn mit den Pferden vorangehen, bevor sie sich anschloss. Wenig später waren Pferde und Indianer im Moor verschwunden.
„Wir haben unser Leben dem Indianer in die Hände gelegt“, sagte Sterling, als das Brechen im Rohr verklungen war. „Wir können nur hoffen, dass er zurückkommt. Vielleicht haben wir die größte Dummheit unseres Lebens gemacht.“
„Nein, Dick“, erwiderte Slem. „Ich gebe zwar zu, dass wir ein Risiko eingingen und dass dieses Risiko tödlich für uns werden kann, doch glaube ich nicht, dass der Indianer uns enttäuschen wird. Irgend etwas ist an ihm, das mich ihm vertrauen lässt.“
„Er ist eine Rothaut, Josuah“, erwiderte Dick Sterling. „Wir werden ja sehen, was er tun wird und ob er uns nicht im Stich lässt. Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass unsere Sache bei ihm in schlechten Händen sei, hätte ich wohl kaum zugelassen, dass er mit den Pferden verschwindet. Wir hätten ihn auffordern sollen, das Mädchen bei uns zu lassen, das hätte uns eine gewisse Sicherheit gegeben.“
„Wenn sie bei den Pferden bleibt, so ist das eine größere Sicherheit für uns“, meldete sich Cook.
„Ich muss auch zugeben, dass mir nicht ganz wohl bei dieser Sache ist. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass wir nicht enttäuscht werden und auf den Indianer bauen können. Es ist ein Jammer und eine Schande, dass dieser Wilde uns Christenmenschen zeigen muss, was Vertrauen ist. Warten wir also und hoffen wir, dass er das Richtige tut. Verhalten wir uns ruhig!“
„Das werden wir wohl müssen“, erwiderte Cameron und rieb sich die Stirn, die ihm schweißnass geworden war. „Hoffentlich kommt er bald. Es ist nicht angenehm, mit kalten Füßen im Moor zu stehen.“
„Es wird noch unangenehmer werden, Cameron“, erwiderte Cook leise. „Schau dort links zum Hügel hin!“
Er hatte das Rohr zur Seite gebogen und winkte Cameron zu sich heran. Alle vier Männer konnten jetzt von ihrem Versteck aus die Kanone auf der Flügelkuppe sehen, deren plumpe Silhouette sich deutlich gegen den helleren Nachthimmel abhob. Drohend und gefährlich sah das Geschütz aus. Über vierhundert Feinde lagerten am gegenüberliegenden Hügel. Das war keine Einladung, sondern im Gegenteil erschreckend anzusehen.
Mit schmalgezogenen Augen schauten die vier Männer aus ihrem Versteck zu der feindlichen Stellung hin. Vielleicht wurde sich jeder erst jetzt so recht bewusst, wie gefährlich der Auftrag war.
7.
Eine halbe Stunde verstrich. Den vier Männern dünkte es, dass seit dem Verschwinden der Indianer eine Ewigkeit vergangen sei, und schon wurden sie unruhig. Sie spürten deutlich die Kälte, die vom Moorgrund durch die Nässe aufstieg, die durch die nassen Mokassins drang und sich in den Füßen festsetzte. Finstere Wolken schoben sich immer dichter am Nachthimmel zusammen und löschten das Mond und Sternenlicht aus. Es wurde dunkler und ungemütlicher, doch den Männern konnte das nur recht sein.
Sie atmeten auf, als Helles Auge endlich zurückkam und damit zeigte, dass er des erwiesenen Vertrauens würdig war.
„Es wird Zeit“, sagte er, ohne auch nur mit einem Wort seine Begleiterin zu erwähnen. Er winkte den Männern zu, ihm zu folgen. Schweigend kamen die weißen Männer der Aufforderung nach, froh darüber, dass das lange Warten beendet war und dass es jetzt an die Erledigung der Aufgabe ging.
Der Indianer schritt voran. Er glitt mit der Geschmeidigkeit eines Pumas durch das Rohr. Jetzt brauchte man sich noch nicht sonderlich in Acht zu nehmen. Die Gedanken des Indianers schweiften ab, zurück in das Dorf der Lenapen, zu den Menschen, die sein Leben teilten. Er würde Rote Sonne zurückbringen und nach Lenapenart um sie werben. Er würde das Versäumte nachholen und mit ihr in die Gärten der Liebenden gehen, leise die Handtrommel schlagen und Liebeslieder singen. Er würde mit ihr Kanufahrten machen und ihr die schönsten Otterfelle, saftige Hirschkeulen, ausgesuchte Beeren und das schönste Obst auf das Pumafell vor ihrem Lager legen. Das würde ihm das Wohlwollen der Eltern des Mädchens einbringen, und er würde um Rote Sonne anhalten können, wie das schon seit Generationen der Fall war. Nach Brauch und Sitte würde sie in sein Wigwam einziehen. Die Zukunft stand in ein helles Licht getaucht vor ihm. Was bedeuteten schon die Schwierigkeiten, mit denen es jetzt fertig zu werden galt? Er, Helles Auge, würde nicht mit leeren Händen von diesem weiten Ritt zurückkommen. Er hatte die Skalps von Feinden vorzuzeigen. Er würde berichten können, dass seine Geduld und Ausdauer endlich doch zur Vernichtung der Feinde geführt hatten. Man würde seine Rede im Rat der Ältesten hören, eine Ehre, die nur sich ganz groß auszeichnenden Kriegern widerfuhr. Man würde ihn vielleicht zum Häuptling vorschlagen, und das würde seinem Werben um Rote Sonne die Krone aufsetzen. Bald würde dann der Tag kommen, an dem das Fest der heranreifenden Jugend gefeiert wurde. Die Männer würden der Sitte gemäß sich abgeschlossen von den Frauen im Tanz wiegen, und Mädchen und Frauen würden, für sich abgeschlossen, sich im Reigen wiegen, die Arme an den Leib gepresst, bis die Männer brummend um sie herumsprangen. Die Fackeln würden angezündet werden, und einer nach dem anderen würde in die Nacht hinaus tanzen, um zu verschwinden. Nur die Verwandten von Rote Sonne und Helles Auge würden bleiben. Sie würden das Wigwam mit Fellen des Hauses schmücken. Man würde darauf Platz nehmen, und ein Stab von vier Ellen Länge würde auf den Teppich gelegt werden. Die Brautleute, die sich gegenübergesetzt hätten, würden an je einem Ende anfassen. Der Mächtigste der anwesenden Verwandten würde das Brautlied anstimmen, und wenn er es beendet hatte, würde er den Stab in so viele Teile zerbrechen, als Zeugen für die Trauung vorhanden waren. Jedem Zeugen würde dann ein Stück des Stabes überreicht werden, und damit würde dann die Trauung vollzogen sein.
So sehr Helles Auge in Gedanken bei der Zukunft war, so ließ er doch die Gegenwart nicht außer Acht. Als das Rohr hinter ihm und den Männern lag, löschte sein Denken an die Zukunft aus. Jetzt durften seine Sinne nicht mehr abgelenkt werden, weder durch Zukunftsbilder noch durch Schreckensvisionen dessen, was auf sie zukommen konnte. Es hieß ein kaltes Herz und einen kühlen Verstand zu bewahren, jede nervliche Erregung niederzukämpfen. Mit jedem weiteren Vorwärtsdringen erhöhte sich die Gefahr.
Die fünf Männer hatten den halben Hang bereits hinter sich gebracht, als sie Stimmen hörten. Sogleich blieben sie stehen und warteten angespannt, doch es geschah nichts weiter.
„Wir müssen uns trennen“, sagte Helles Auge zu seinen Begleitern. „Jeder muss für sich versuchen, durch die Postenkette auf dieser Seite des Hügels zu stoßen. Wir treffen uns oben vor der Kanone, und dann muss schnell gehandelt werden.“
„Die Hauptstreitmacht Conollys liegt auf der anderen Hügelflanke?“
„So ist es. Weiter unten im Tal hat der Weiße Tiger mit seinen zweihundert Seneca-Irokesen sein Lager bezogen“, erwiderte Helles Auge. „Wir müssen die Kanone etwa zehn Schritte bis zum Südhang schaffen. Dann lassen wir sie den Hang hinunterrollen. Das an den Hang angrenzende Moor hat keinen Schilfgürtel. Jeder muss jetzt allein durchbrechen. Es muss bedacht werden, dass die Vorsicht jedes einzelnen das Leben der anderen garantiert. Ich mache den Anfang.“
„Um Zeit für Simon Girty zu gewinnen, Helles Auge?“, wandte sich Slem an den Lenapen.
„Ich war zu vermessen“, entgegnete der Indianer ruhig. „Allein hätte ich ihn herausgeholt. Ich will euch aber nicht mit in Gefahr bringen. Wir sind auf Tod und Leben aufeinander angewiesen. Ich werde warten und mir ein andermal den Skalp des Weißen Tigers holen. Gehen wir!“
Das klang rau und hart. Es zeigte deutlich, dass der Indianer seine eigenen Grenzen kannte und wie stark er seine Begleiter einschätzte. Letzteres war kein Kompliment für diese.
Nicht einer der vier weißen Männer nahm gegen diese Einschätzung Stellung. Was hätte es auch genützt? Die Todesbereitschaft, die die Indianer bei einem solchen Unternehmen an den Tag legten, lag den weißen Männern ganz und gar nicht. Nein, es war ihnen fremd, den sicheren Tod vor Augen, bis zur Selbstaufgabe zu kämpfen. Irgendwie entsprach das nicht dem Wesen des weißen Mannes.
„Also los!“, ließ Slem sich vernehmen. „Gott stehe uns bei!“
Slems Begleiter nickten, dann gingen sie auseinander. Jeder versuchte jetzt für sich allein durch die Postenkette zu kommen. Sie mussten hindurch, mussten um jeden Preis die Hügelkuppe erreichen. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Man konnte das Unternehmen nur gemeinsam durchführen. Nur in der Gemeinsamkeit lag die Stärke, nur in der Gemeinsamkeit hatte man Aussicht, sich nachher durchschlagen zu können, wenn man den Moorpfad zu erreichen suchte, wo die Pferde standen.
Jetzt erst, als jeden die Einsamkeit umfing, wurde Slem klar, wie sehr der Indianer das Ruder bei diesem höllischen Unternehmen in der Hand hatte. Dass die Hölle aufbrechen und sie alle verschlingen konnte, dessen war sich jeder bewusst. Nur der Indianer kannte den Pfad, ohne ihn würde man nicht entkommen können.
Wieder waren Zweifel da, wieder fragte man sich, ob der Indianer die Gelegenheit nicht wahrnehmen und verschwinden würde. Eine bessere Möglichkeit, um die weißen Männer abzuhängen, würde er so schnell nicht wieder haben. Während die Männer sich fast lautlos vorwärtsbewegten, ängstlich bemüht, trockenes Laub zu meiden und auf keinen Ast zu treten, regte das Misstrauen sich in ihnen. Während sie versuchten, zur Flügelkuppe zu kommen, konnten der Indianer und das Mädchen schon über alle Berge sein. Das Misstrauen war eine Belastung, die mehr hinderte als förderte, das deutlich verriet, wie sehr man am Leben hing. Die Angst steckte in ihnen, und die Furcht machte ihnen zu schaffen. Zum Schluss siegte doch in jedem der Gedanke, dass ihre Tat die Menschen im Fort vor dem Schlimmsten bewahren würde. Der Gedanke an die Allgemeinheit war es, der das Misstrauen ein wenig dämpfte.
Einer nach dem anderen passierte die Postenkette der Gegner. Es war wie ein Wunder, dass keiner der Männer von einem Posten bemerkt wurde. Das geringste Risiko wurde vermieden. Keiner der Männer brauchte einen Posten zum Schweigen zu bringen, denn zum Glück waren es keine Irokesenposten, sondern Leute aus Conollys Truppe. Die weißen Männer nahmen das Wachestehen nicht so ernst. Sie waren überzeugt davon, dass von dieser Seite nicht die geringste Gefahr zu befürchten war. Dem gemäß verhielten sich die Posten auch. Der eine hockte auf einem Baumstamm und rauchte, so dass die Glut seiner Pfeife ihn rechtzeitig verriet, der andere sang leise vor sich hin, so dass man ihm nur auszuweichen brauchte. Ein anderer lag im Gras und schnarchte laut. Slem kroch so nahe an dem Schnarchenden vorbei, dass er ihn hätte mit der Hand berühren können. Er brachte es aber nicht fertig, einen Mann im Schlaf zu töten. Er begnügte sich damit, die Pistole, den Kugelbeutel und das Pulverhorn dieses Mannes an sich zu nehmen. Dann schlich er weiter hügelan. Jetzt, nachdem er die Postenkette passiert hatte, ging es leichter.
Schwierig wurde es, als man, auf der Hügelkuppe angekommen, in das andere Tal blicken konnte. Das Herz konnte einem stillstehen beim Anblick der vielen kleinen Kochfeuer auf dem Osthang und im angrenzenden Tal. Die Feuer waren am Verglimmen. Der Rauchgeruch drang den Flügel herauf, vermischt mit Pferdeschweiß und anderen undefinierbaren Gerüchen. Die Zelte, die unten im Tal standen, waren Irokesenzelte, in Form und Farbe gut von den Zelten der Truppe Conollys zu unterscheiden. Überall an den Gehölzen standen kleinere und größere Pferdegruppen, angebunden oder angehobbelt. Sie waren nicht gesattelt. Aber das beruhigte nur wenig, denn die Übermacht der Feinde war nur zu deutlich zu erkennen. Nicht alle Männer von Conollys Truppe hatten ein Zeltdach über dem Kopf. Viele von ihnen schliefen im Freien, den Sattel unter dem Kopf und eine Decke über sich. Die Waffen hatten sie griffbereit neben sich liegen.
Die Furcht konnte einen überfallen, wenn man die Chancen abwog, die man hatte. Wie leicht war doch ein Plan gemacht, und wie schwer war es, ihn schließlich durchzuführen. Die raue, harte Wirklichkeit unterschied sich doch sehr von der Theorie. Jetzt war es allerdings zu spät, darüber nachzudenken, jetzt musste gehandelt werden!
Ein schneller Blick zu der Kanone zeigte, dass Conolly sie hatte unbewacht auf der Hügelkuppe gelassen. Sie hob sich jetzt bei der Dunkelheit nicht allzu deutlich ab. Conolly schien sich seiner Sache völlig sicher zu sein und keinerlei Befürchtungen zu haben. Er hatte es wohl für unmöglich gehalten, dass sich jemand an der Kanone vergreifen könnte. Die Dunkelheit war der Schutz, der Helfer der fünf verwegenen Männer, die sich jetzt leise verständigten, ohne dass sie bemerkt wurden. Sie schlichen sich jetzt so nahe an die Kanone heran, dass sie sich wenig später neben ihr erheben konnten.
Wie aus der Erde wuchsen sie, geisterhaft, wie Schemen der Nacht. Nicht eine Sekunde zögerten sie, sich in die Speichen zu legen, die Halteklötze von den Geschützrädern wegzunehmen und sich mit aller Kraft gegen die Kanone zu stemmen. Sehnen und Muskeln drohten zu zerreißen.
Diese Tat mitten im feindlichen Lager war ungeheuerlich, sie verlangte Nerven wie Drahtseile und einen unbeugsamen, trotzigen Mut. Jetzt, da die Männer einmal zugepackt hatten, war es, als bräche der Sturm gegen die Ungerechtigkeit in ihnen los. Jetzt hatte es sich herausgestellt, dass der Indianer wie kein anderer das Vertrauen verdiente, umso mehr, da er darauf verzichtet hatte, sich den Skalp von Simon Girty zu holen. Jetzt stemmten und zerrten sie, setzten alle Kraft ein, um das Geschütz in Bewegung zu bringen, es den steilen Südhang ins Moor hinunterrollen zu lassen.
Im Augenblick fragten sie nicht danach, was über sie hereinbrechen musste, dass sie auf einem Vulkan tanzten. Ihre Aufgabe in die Tat umzusetzen, das erfüllte sie so sehr, dass sie an nichts anderes dachten.
Das Geschütz ruckte unmerklich an, ganz langsam. Die klobigen Räder lösten sich nur schwer von der Stelle. Langsam kamen sie in Bewegung, dann wurden sie schneller. Die Männer aber schoben, keuchten, stemmten sich mit letzter Kraft in die Speichen. Nur vier Schritte, dann zwei noch waren bis zum Abhang zurückzulegen. Jetzt jedoch knarrte das Eichenholz der Geschützräder, knarrte so laut und böse, dass es als Signal wirken musste. Der kalte Schrecken durchfuhr alle.
„Zieht, stemmt euch fester ein!“, gellte der Zuruf des Indianers. Der Indianer hatte die plötzlich einsetzende Furcht der weißen Männer erkannt, hatte ihr Nachlassen gespürt. Sein Zuruf ließ sie sich erneut mit aller Macht gegen die Kanone stemmen. Vielleicht spürten sie aber auch von selbst, dass ein Nachlassen das Ende des Unternehmens sein würde. Alle Anstrengung wäre umsonst gewesen.
Alle Kraft vereinigte sich, das Geschütz kam in schnellere Bewegung. Am Hang, wo Conollys Truppen lagerten und weiter unten im Tal, wo der Weiße Tiger mit seinen Irokesenkriegern lagerte, brach Geschrei los. Hunderte von Teufeln schienen losgelassen zu sein, schienen der Hölle zu entfliehen. Das Geschütz aber rollte weiter. Am Hang flammte das Mündungslicht eines Schusses auf. Cook warf beide Arme in die Luft und brach lautlos neben dem Geschütz zusammen. Er war tot, als sein Körper die Erde berührte, tot in dem Augenblick, als sich das schwere Geschütz selbständig machte und mit dröhnendem Gepolter den Hang zum Moor hinunterraste.
Slem hatte sich nur kurz nach dem Kameraden gebückt, der sein Leben aushauchte. Neben ihm schoss Cameron seine Pistole auf die ersten hangaufwärtsstürmenden Männer ab. Sterling stand schießend neben dem Indianer, der sein Kriegsgeschrei ausstieß und seine Pfeile den Gegnern entgegensandte. Die ersten Angreifer wichen stutzig geworden zurück. Im nächsten Augenblick wirbelten die Männer der kleinen Gruppe herum und rannten hinter dem Indianer auf den Südhang zu. Der Hang war so steil, dass einer nach dem anderen eine Rutschpartie machte, bevor er sich fangen konnte. Vor ihnen klatschte, dumpf anzuhören, das Geschütz ins Moor hinein. Über ihnen flammten Schüsse auf, und Kugeln tasteten nach ihnen.
Obwohl die Fliehenden fast am Ende ihrer Kräfte waren, gab es kein Ausruhen und kein Verweilen. Man nahm sich nicht die Zeit, um den kalten, ätzenden Schweiß aus den Augen zu wischen. Weiter ging es, denn schon drängten die ersten Verfolger nach. Das Kriegsgeschrei der Irokesen gellte schaurig auf, die erst richtig durch das Kriegsgeschrei des Lenapen munter geworden waren und nicht schnell genug an den Feind kommen konnten. Helles Auge unterließ es zu antworten. Schnell und stumm stürmte er den weißen Männern voraus. Immer verharrte er kurz, dass die Weißen aufschließen konnten, besorgt darum, dass der Zusammenhalt der Truppe nicht verloren ging.
Diesmal folgten die drei weißen Männer dem Indianer blindlings. Es kam kein Misstrauen mehr in ihnen auf. Er würde den sicheren Weg wissen, er würde sie führen. Sie erreichten das Moor und folgten dem Lenapen ohne zu zögern auf dem schwankenden Grund nach. Manchmal gurgelte der Boden unter ihnen und schwankte so stark, als müsste im nächsten Augenblick die trügerische Kruste aufbrechen und sie verschlingen. Dumpfes Lärmen kam vom Hügel, spornte sie dazu an, nicht nachzulassen. Noch immer wurden Kugeln in Richtung der flüchtenden Männer abgefeuert, doch sie verfehlten zum Glück ihr Ziel.
„Die Irokesen werden uns folgen, sie werden sich nicht so leicht wie die weißen Männer abschütteln lassen“, hörten sie ihren indianischen Führer sagen, der jetzt Cameron unterhakte und mit sich zog. Cameron schien sich völlig verausgabt zu haben und einem Zusammenbruch nahe zu sein. „Wir sind bald bei den Pferden, dann haben wir es geschafft“, sagte der Lenape, ohne sich umzublicken.
Mit Erschrecken erkannten Sterling und auch Slem, wie wenig Kraft noch in ihnen steckte. Sie kamen nur schwer vorwärts und mussten all ihren Willen zusammenreißen, um nicht aufzugeben. Sie hätten Cameron nicht helfen können. Dumpf spürten sie das Alter, das wie eine erbarmungslose Last über ihnen lag. Vielleicht spürten sie auch, dass sie sich etwas zu viel vorgenommen hatten und mehr gewagt hatten, als sie körperlich schaffen konnten. Ohne den Indianer wäre jetzt ein zweiter Mann der Gruppe zurückgeblieben und dem Tod preisgegeben gewesen. Sterling und Slem fiel es schwer, die Füße voreinander zu setzen. Und doch, man musste weiter. Die Irokesen würden das Skalpmesser bereits in den Händen halten und nur darauf lauern, einen frischen Skalp in ihren Besitz zu bringen. Nur nicht schwach werden, nur nicht zusammenbrechen und liegenbleiben. Mochte das Herz noch so sehr klopfen, der Schädel noch so sehr dröhnen. Nur vorwärts! Das Leben war wert, erhalten zu werden. Nur weiter, dem indianischen Führer nach, dem es sicher nicht leicht fiel, den erschöpften Cameron mitzuschleppen.
Völlig ermattet kamen sie bei den abrittbereit dastehenden Pferden an. Mühsam hob man sich in die Sättel. Ein Pferd blieb reiterlos. Der traurige Zug setzte sich in Bewegung. Mit keinem Wort hatte das Indianermädchen sich bemerkbar gemacht. Sie hatte stillschweigend geholfen, die Männer in die Sättel zu bringen. Jetzt ritt man an, auf dem schwankenden Weg, den der Lenape entdeckt hatte. Den Reittieren war nicht wohl bei diesem Ritt. Sie schnaubten und stellten die Ohren hoch. Der schwankende Boden unter ihren Hufen machte sie ängstlich. Man kam jedoch vorwärts und konnte aufatmen. Im Sattel der Pferde konnte man sich von den Strapazen erholen.
Immer wieder wandte Slem, der letzte Reiter, sich im Sattel um, doch er gewahrte keinen Irokesen, jene Verbündete der Engländer, auf die diese nur zu gern zurückgriffen.
Nach dieser Tat durfte man jetzt hoffen, dass die Menschen im Fort sich erfolgreich verteidigen konnten. Sie konnten somit einem Strafgericht entgehen, das dieser unberechenbare Hauptmann Conolly nach eigenem Gutdünken verhängen konnte. Was aber wäre aus dem Unternehmen ohne den Lenapenkrieger geworden? Slem und Sterling machten sich Gedanken darüber, doch äußerten sie sich nicht. Drei Stunden dauerte es, bis man aus dem Moor heraus war und festeren Boden unter den Hufen hatte. Der Lenape war ein ausgezeichneter Führer gewesen. Die Tiere konnten jetzt schneller ausgreifen. Man hielt an, um sich und den Pferden ein wenig Ruhe zu gönnen. Man wählte ein verstecktes Lager, eine Lichtung, auf der die Pferde angehobbelt grasen konnten. Todmüde fielen die drei weißen Männer in einen tiefen Schlaf. Der Indianer wachte, er gönnte sich keinen erholsamen Schlaf. Er war es, der die Männer schließlich weckte und ihnen sagte: „Unsere Wege trennen sich nun. Ihr reitet nach Nordosten, ich werde in der entgegengesetzten Richtung davonreiten. Versucht eure Fährte so gut wie möglich zu verwischen und den Vorsprung auszunutzen. Am besten wäre es, wenn ihr nicht mehr zu eurem Fort zurückreiten würdet, denn man wird euch den Weg dorthin verlegen.“
Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Lenapen. Nach Art der Weißen gab er jedem die Hand, um sich zu verabschieden.
„Wir werden Freunde bleiben“, sagte Slem bewegt. „Irgendwann werden wir uns wiedersehen.“ „Wenn Manitu es will, gewiss“, erwiderte der Lenape freundlich. „Wir werden dann das Kalumet rauchen und unser Blut vereinen. Vielleicht aber kommt alles anders und dem großen Cornstalk gelingt die Vereinigung aller roten Völker. Dann werden wir in zwei feindlichen Lagern sein, die Indianer auf dieser, und die Weißen auf jener Seite sein. — Ich wünsche euch den Frieden.“
Er bestieg sein Pony und winkte Rote Sonne zu, es ihm nachzutun. Beide ritten ohne sich umzudrehen davon. George Girty ritt so aus dem Leben seines Onkels, ohne dass sie sich erkannt hatten. Zwei Menschen, die zueinander gehörten, hatten sich getroffen, ohne dass das Schicksal den Schleier des Geheimnisses gelüftet hätte. George Girty wusste nicht mehr, dass er ein Kind weißer Menschen war. Er hatte die Erinnerung daran verloren. Er dachte, fühlte und lebte wie ein Lenape. Seine Welt war die der Indianer und würde es bis an sein Ende bleiben.
Josuah Slem sah mit schmalgezogenen Augenlidern dem Paar nach, das in das Dunkel der Wälder hineinritt. Er betrachtete lange die Stelle, in der Rote Sonne und Helles Auge im Wald verschwunden waren.
„Ohne ihn wären wir alle tot“, sagte er zu Sterling und Cameron gewandt. „Wir drei haben unser Leben einer Rothaut zu verdanken. Auf unsere alten Tage werden wir noch hinzulernen müssen. — So long, Helles Auge, so long, Rote Sonne!“
––––––––
8.
Die drei Männer waren weitergeritten. Sic hatten dem Indianer vor dem Aufbruch Cooks Pferd geschenkt. Es war wenig genug gewesen, doch der Indianer hatte es mit Dankbarkeit angenommen. Die drei Männer ritten bis zum Mittag, dann mussten sie rasten. Cameron hatte fieberglänzende Augen und begann im Sattel zu wanken.
„Das hat uns noch gefehlt“, sagte Sterling leise zu seinem Partner Slem. „Wenn wir jetzt lange aufgehalten werden, dann ...“
Er sprach nicht weiter. Es wurde angehalten. Nachdem man abgesessen war, stellte Sterling fest, dass Cameron hohes Fieber hatte. Cameron klagte über Schmerzen in den Rippen und im Rücken.
„Nehmt keine Rücksicht auf mich“, sagte Cameron, der merklich schwer Atem holte. „Reiten wir weiter! Bindet mich im Sattel fest! Es ist nichts weiter. Die Überanstrengung hat mich ein wenig mitgenommen.“
Er bestand darauf, dass man sich seinetwegen nicht aufhielt. Willig ließ er sich im Sattel fesseln, dann ging der Ritt weiter. Am späten Nachmittag hustete er jedoch so stark im Sattel, dass er hin und her schwankte.
„Er hat eine schlimme Lungenentzündung“, stellte Sterling erschüttert fest. „Ich kenne hier in der Nähe ein gutes Versteck, es ist nicht mehr weit, nur noch einige Meilen. Dorthin werden wir dich schaffen und gesund pflegen, Cameron.“
Cameron gab keine Antwort. Das Fieber war so stark, dass er im Delirium unzusammenhängende Sätze sprach, in denen immer wieder der Name des an der Kanone gefallenen Freundes Cook vorkam. Nein, Cook würde sich nimmer um ihn kümmern können, Cook, sein Freund, war tot. Slem und Sterling trugen jetzt die Verantwortung für ihn. Die beiden Freunde sahen sich besorgt an. Sie wussten nur zu gut, was eine Lungenentzündung in ihrer jetzigen Lage bedeutete. Es war wichtig, den Kranken an einen trockenen Ort zu schaffen, an eine Stelle, an der man unbesorgt ein Feuer machen konnte. Man musste versuchen, das Fieber durch einen Pflanzentee herunterzudrücken. Mehr konnte man nicht tun, alles Weitere lag in Gottes Hand.
Jetzt war kein Gedanke mehr daran, zum Fort zurückzukehren, um dort zu melden, dass man den Auftrag ausgeführt hatte. Es ging um das Leben des Partners, und es musste alles getan werden, um es ihm zu erhalten. Man konnte nur hoffen, dass der Fortkommandant durch Späher rechtzeitig erfuhr, dass man mit keinem Geschützfeuer mehr zu rechnen habe. Das würde genügen, um den Menschen im Fort die Kraft zu verleihen, die gegen die Übermacht der Feinde nötig war.
Cameron durfte nicht im Stich gelassen werden, obgleich er das in Minuten klarer Besinnung von seinen Partnern forderte. Der Himmel mochte wissen, wie den beiden alten Männern zumute war. Nach kurzer Zeit schon während des Weiterrittes erkannten sie, dass sie Cameron nicht mehr im Sattel halten konnten. Sic fertigten nach Indianerart einen Schleppschlitten an und banden ihn darauf fest.
Jetzt kamen sie schneller vorwärts. Camerons Pferd zog den Schleppschlitten, der aus zwei langen Stangen und einigen Querbalken bestand, die mit Lederriemen zusammengebunden wurden. Auf der so erhaltenen Tragfläche hatten sie Cameron festgebunden. So schmerzlich dieser Transport durch das Hin- und Herrütteln auch sein musste, es kam kein Laut und keine Klage über die Lippen des Kranken. Nur in der Ohnmacht des Fiebers hörte man ihn stöhnen, und das gab Slem und Sterling jedesmal einen Stich.
Slem ritt als Letzter. Er ließ seine Schlafdecke durch sein Pferd nachschleifen, um die Stangengerüstspur zu verdecken. Stunde um Stunde verrann. Der fieberkranke Mann verlangte nach Wasser. In seinem Leibesinnern glühte ein Höllenfeuer. Nur mit Gewalt konnte man seine saugenden Lippen von der Feldflasche lösen.
Es dunkelte bereits, als Sterling Slem mit Zeichen andeutete, dass man das Bachbett verlassen sollte, in dem man seit einiger Zeit geritten war. Wenig später erreichten die Reiter einen steilen Hang, der von Efeu überwuchert war. Sterling teilte das Efeugewirr an einer Stelle, und es zeigte sich, dass die Pflanzen hier einen undurchdringlichen Vorhang gebildet hatten, hinter dem ein schmaler Pfad weiterführte.
„Bei einer Pumajagd entdeckte ich diesen Pfad“, sagte Sterling „Immer wieder wurde mein Köder geholt. Die Pumafährte führte bis zur Efeuwand. Dann hörte die Fährte auf, und alles weitere Suchen verlief ergebnislos. Reiten wir weiter, Josuah. Der Pfad führt an steilanstrebenden Felsen weiter zu einem Felsloch, hinter dem es Wasser und sogar genügend Gras für die Pferde gibt. Das ist das Versteck, von dem ich sprach. Es ist ideal für Menschen, die in Not sind und verfolgt werden. Wir können uns kein besseres Versteck wünschen.“
Was Sterling geschildert hatte, wurde durch die Wirklichkeit noch übertroffen. Es gab sogar einige Blumen in dem Felsloch, das etwa hundert Meter lang war. Es lag mitten im Gefels. Sicherlich war es vor Jahrtausenden durch eine Quelle ausgewaschen worden, deren Wasser sich einen Abfluss gegraben hatte.
Slem und Sterling betrachteten nicht lange das Gelände, sondern bereiteten dem Kranken eine Lagerstatt aus übereinandergeschichtetem Reisig. Bald lag Cameron auf dem Lager ganz nahe am Campfeuer. Über ihm wurde mit Decken ein provisorisches Zelt errichtet. Dann erst hobbelten sie die Pferde an und ließen sie grasen, nachdem man ihnen die Sättel und das Zaumzeug abgenommen hatte.
Während Sterling beim Campfeuer beschäftigt war, sammelte Slem einige fieberdämpfende Kräuter. Dabei machte er die Entdeckung, dass das Felsloch wie ein Fuchsbau mehrere Ausgänge hatte. Sie führten über ehemalige Wasserrinnen hinweg in die Höhe. Weiter oben wurden die Rinnen schmaler. Auf dem Kamm hörten sie auf. Der Kamm war ringsum mit dichtem Gestrüpp bewachsen, das so dicht war, dass nur Kleintiere hindurchschlüpfen konnten. Hier am Rande des Gestrüpps fand Slem die Pflanzen, die so dringend für die Behandlung des Kranken notwendig waren. Er sammelte sie und machte sich dann wieder auf den Rückweg.
„Ist das nun ein Versteck oder nicht?“, fragte Sterling.
„Ein besseres hätten wir uns nicht wünschen können. Was macht der Kranke?“
„Freund, es steht sehr schlecht um ihn. Es liegt in des Himmels Hand, ob wir ihn durchbekommen oder nicht. Was an uns liegt, werden wir alles tun, um sein Leben zu erhalten.“ Mit schmal gezogenen Augen schaute Sterling zu dem Lager hin, von dem leises Stöhnen kam. „Es gilt ihn zu retten, alles andere ist vorerst nebensächlich.“
Mit keinem Wort erwähnte Sterling das Fort und die Sorgen, die er sich um seine Frau und die Kinder machte. Auch Slem vermied es vom Fort zu sprechen, das die feindliche Streitmacht wohl jetzt beim Einbruch der Nacht erreicht haben würde. Was das Schicksal auch für die Verteidiger des Forts bestimmt hatte, sic konnten es nicht ändern. Sie hatten getan, was in ihren Kräften gestanden hatte. Die nächsten Tage würden voller Ungewissheit für sie sein. Man durfte die Nerven nicht verlieren, man musste Geduld haben.
Die Nacht kam mit dunklen Schwingen und hüllte das Land ein. Steil stieg der Rauch vom Lagerfeuer in den Nachthimmel. Von fern her tönte das Geheul eines Waldwolfes. Die Männer, betrachteten besorgt den Kranken, der sich unruhig hin und her wälzte.
„Es ist schlimmer als ich dachte“, gestand Sterling. „Wir können keine allzu große Hoffnung haben. Cameron ist alt und sein Körper nicht mehr widerstandsfähig.“ Er brach ab und schwieg. Sein Blick begegnete dem des Partners. In beider Augen stand die Sorge.
In dieser Nacht kamen sie nicht zur Ruhe. Oft mussten sie den Fieberkranken mit aller Kraft auf dem Lager festhalten. Um Mitternacht kehrte Camerons Besinnung für wenige Minuten zurück.
Seine Augen wurden klarer. Er erkannte die Kameraden.
„Ich mache euch nur Kummer und Verdruss“, sagte er. „Ihr hättet euch keine Mühe machen sollen, mit mir geht es zu Ende. Meine Zeit auf dieser Welt ist um, und ich bedaure es nicht einmal.“
„Rede nicht so herum, wir bringen dich durch, Rod“, unterbrach ihn Slem. „Man darf sich nicht selbst aufgeben, nie und nimmer. Man muss bis zum letzten Atemzug gegen den allmächtigen Schnitter, den Tod, ankämpfen. Das Wissen, dass wir alle sterben müssen, soll kein Grund sein, es dem Tod leicht zu machen!“
Cameron schüttelte den Kopf, als ob er sagen wollte: Ich bin viel zu zerschlagen, zu müde und todwund, als dass ich noch die Kraft zu einem aussichtslosen Kampf hätte. Laut sagte er: „Vielleicht ist es eine Gnade besonderer Art, wenn man genau weiß, dass es zu Ende geht, und mit klaren Gedanken dem Tod ins Antlitz sehen kann. Es ist vorbei, Freunde. Ich habe immer geglaubt, dass ein Pfeil, ein Skalpiermesser oder eine Schmetteraxt meinem Leben ein Ende setzen wird. dass es aber eine Krankheit sein würde, das kam mir nicht in den Sinn. Ich war nie im Leben richtig krank, von Masern, Zahnschmerzen und einigen Erkältungskrankheiten abgesehen. Es ist bald zu Ende, und ich bin froh, dass es so ist. Ich habe nichts zu bereuen und nichts zu berichtigen.“ Seine Stimme war leiser geworden. Ab und zu machte er eine Pause. Das Atemholen fiel ihm schwer, aber er hatte keine Schmerzen. Seine weit geöffneten Augen blickten seine Kameraden fest an. Leise bat er: „Nehmt das Zeltdach weg, damit ich den Sternenhimmel sehen kann.“
Man erfüllte ihm den Wunsch sofort. Ein kleines, glückliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Sie sind so nahe, so nahe, wie sie mir als Kind waren“, sagte er. „Als Kind glaubte ich sie mit meinen Händen fassen zu können.“ Er schwieg und blickte Slem an. „Freund“, sagte er, „du suchst noch immer deine Neffen. Du wirst sie bis zum letzten Augenblick deines Lebens suchen, denn es lässt dich nicht mehr los. Die Unruhe bleibt in dir und wird dich nicht verlassen, aber eines Tages wirst du erkennen, dass jeder von ihnen wie ein Stern dort oben ist, einsam seine Bahn ziehend.“ Er blickte Slem bei diesen Worten nicht an und streifte die Decke von seiner Brust. „Jeder hat seine Bahn“, fuhr er fort. „Jeder kommt in die Welt, lebt sein Leben und geht in das große Unbekannte. Das ist ein Gesetz, dem alles im Leben untergeordnet ist. Warum sollte man dagegen ankämpfen? Es würde ein lächerlicher Kampf sein. Stärker als unser Wille ist der Wille über uns.“
Weder Slem noch Sterling antworteten. Was sollten sie Cameron auch erwidern? Sie waren zu sehr damit beschäftigt, das zu begreifen, was der Sterbende gesagt hatte. In tiefem Schweigen versunken harrten die beiden Männer neben dem Kameraden aus, dessen Augen zum Sternenhimmel gerichtet waren, als müssten sie fern in der Unendlichkeit des Alls das Unbegreifliche ertasten.
Cameron starb, ruhig, ohne sich aufzubäumen. Er starb in Frieden mit sich und der Welt. Seinen Tod stellte man erst fest, als Sterling ihn ansprach. Als er keine Antwort erhielt, sagte Slem: „Er ist eingeschlafen.“
„Er ist für immer eingeschlafen“, sagte Sterling, der sich beunruhigt über Cameron gebeugt hatte. Die Augen des Kameraden waren geschlossen, so dass man in der Tat annehmen konnte, er schliefe.
Sterling nahm die Kopfbedeckung ab. Er blieb dabei auf den Fersen sitzen. Er blickte zum Sternenhimmel auf, als könnte er dort irgendwo die entschwebende Gestalt erkennen. Josuah Slem murmelte mit leiser Stimme ein Gebet neben ihm.
„Wenn die Sonne aufgeht, werden wir ihm eine letzte Ruhestatt verschaffen“, sagte Slem, als er sein Gebet beendet hatte. „Er wird einen stillen Ort für seine letzte Ruhe bekommen. Hier wird so schnell niemand seinen Schlaf stören.“
Er erhob sich vom Lager und zog die Decke über den Kameraden, dann entfernte er sich langsam in die Nacht hinein. Er wollte für einige Zeit mit seinen Gedanken allein sein. Sterling rief ihn nicht zurück, er hatte ebenfalls das Bedürfnis nach Alleinsein. Die Lippen des zurückbleibenden Mannes pressten sich fest aufeinander. Die Ahnung eines nahen Todes war in ihm.
Alt waren sie alle, alt und dem Grabe nah. Der Tod hatte keine Schrecken mehr für sie. Morgen würde man Cameron ein letztes 'So long' sagen, dann war wieder einer der Alten aus dem Lebenskreis herausgetreten. Einer nach dem anderen ging.
Sterling fröstelte. Er schlug seinen Kragen hoch und lehnte sich gegen die Felswand zurück. So saß er noch, als Slem zurückkam.
In dieser Nacht konnten beide nicht schlafen. Sie hielten die Totenwache. Gesprochen wurde nicht. Als die Sonne aufging, erhoben sie sich beide und suchten eine Stelle, die als letzte Ruhestätte für Cameron dienen sollte. Ohne Spaten war es nicht leicht, ein Grab auszuheben. Es wurde nicht tief. Sie suchten Steine zusammen, die sie über dem Toten auftürmten. Ein kleiner Hügel entstand, wie ein kleines Steinhaus anzusehen. Die Steine waren die Gewähr dafür, dass Raubtiere das Grab unbehelligt lassen würden.
„So long, Rod Cameron“, sagte Josuah Slem, als sie die Arbeit beendet hatten. „Vielleicht gibt es in einer besseren, friedlicheren Welt ein Wiedersehen.“
„So long“, sagte Sterling mit rau schwingender Stimme.
Sie kehrten zum Lager zurück und brachen es ab. Camerons Pferd wurde als Packpferd eingesetzt. Sie entlasteten so ihre Reittiere. Das Leben ging weiter, sie wollten keine Stunde länger bleiben. Wenig später ritten die beiden alten Männer davon. Sterling führte das Packpferd an der Longe mit. Sie verließen das Versteck und kehrten in die feindliche Welt zurück. Weder Slem noch Sterling nutzten die günstige Lage des Verstecks aus, um sich für einige Zeit in Sicherheit zu bringen. Die innere Unrast trieb sie weiter. Der lichte Frühlingswald nahm sie wieder auf. Vorsichtig, ständig sichernd, ritten die Männer davon. Gegen Mittag stießen sie auf Mokassinspuren und untersuchten sie gründlich.
„Ein Schawanesenjagdtrupp“, erklärte Sterling, als er seine Beobachtungen beendet hatte. „Sie haben einen Bär und zwei Hirsche erlegt und Frauen und Kinder bei der Jagd dabei gehabt. Obwohl alles friedlich aussieht, weiß man nie, was bei einer Begegnung herauskommt. Das abwartende Verhalten der Schawanesen ist mir nicht geheuer.“
„Im Augenblick leben sie in Frieden mit uns, obwohl Cornstalk Lord Dunmore den Krieg ansagte. Es ist anzunehmen, dass Cornstalk seine Vorbereitungen noch nicht beendet hat und seinen Leuten den Befehl gab zu warten. Das kann sich rasch ändern und schon in wenigen Tagen, ja wenigen Stunden können die Schawanesen den schwarzen Pfad des Krieges betreten.“
„Dann werden Indianer gegen Indianer kämpfen“, sagte Sterling. „Irokesen gegen Schawanesen, Lenapen, Miamis.“
„Sie werden sich gegenseitig umbringen“, erwiderte Slem. „Wer kommt in diesem Durcheinander überhaupt noch zurecht? Cornstalks vereinigte Stämme machen keinen Unterschied zwischen Engländern und Grenzern. Sie werden alles bekämpfen, was eine weiße Hautfarbe hat. Sie werden gegen jeden Stamm antreten, der sich mit den Weißen verbündet. Man kann von Glück sagen, dass es bei den Irokesen nicht nur Häuptlinge wie Weißer Tiger gibt, dass ein Logan existiert, der es verhindert, dass nicht alle Irokesenstämme englandhörig sind.“
„Freund, alles kann sich im Leben ändern. Logan ist alt und vielen Irokesen ein Dorn im Auge. Man weiß nie, was geschehen wird. Reiten wir weiter!“
––––––––
9.
Sie setzten den Ritt fort, achteten der Müdigkeit nicht und machten nur dann und wann kurze Rastpausen, um den Reittieren ein wenig Erholung zu gönnen. Währenddessen vertraten sie die vom Reiten steif gewordenen Beine und aßen von dem mitgeführten Proviant. Sie setzten auch in der Nacht ihren Ritt auf versteckten Pfaden fort und hatten am Nachmittag des folgenden Tages das Fort vor sich.
Schon der erste Blick in Richtung des Forts zeigte ihnen Menschen, die auf dem Todesstreifen rund um das Fort beschäftigt waren. Beim Näherkommen erkannten die beiden Reiter, dass sie lange Gräben aushoben. Es gab einen kleinen Auflauf, als man die Reiter gewahrte und sie erkannte. Viele setzten sich in Bewegung und kamen ihnen entgegen. Wenig später empfing man die beiden zurückgekommenen Männer mit überschwänglicher Freude.
„Sie kamen ohne die gefürchteten Geschütze“, sagte einer der Männer. „Sie belagerten das Fort und forderten die Übergabe. Wir haben ihnen den Gefallen nicht getan. Daraufhin griffen Conollys Miliztruppen und die Irokesen unter Führung von Weißer Tiger von allen Seiten an. Darauf haben wir nur gewartet. Sie mussten sich mit blutigen Köpfen wieder zurückziehen. Es nützte ihnen nichts, dass sie immer wieder ihre Angriffe vortrugen. Die Palisaden hielten stand und unsere Schützen zwangen die Gegner zum Rückzug. — Es lebe das freie Amerika!“
Hüte wurden in die Luft gewirbelt, und Geschrei umtobte die beiden Heimkehrer. Ihr Einzug in das Fort glich einem Triumph. Conolly hatte das Fort nicht niederwerfen können. Hier war er auf hartnäckigen Widerstand gestoßen. Der Widerstand musste ihn umso mehr überrascht haben, da er bisher keinen nennenswerten Widerstand zu überwinden gehabt hatte. Der Freiheitsgedanke war durch den Erfolg mehr denn je in den Herzen der Siedler lebendig. Es wurde hitzig über Englands Kolonialmacht diskutiert. Es zeigte sich, dass Conollys Ausschreitungen das Gegenteil von dem bewirkt hatten, was Lord Dunmore erreichen wollte. Je mehr der Freiheitsgedanke den Menschen an der Grenze aus dem Herzen gerissen werden sollte, desto stärker loderte er auf.
„Dieser Milizhauptmann Conolly darf nicht mehr aus den Augen gelassen werden“, sagte Sterling später, als die stürmische Begrüßung vorüber war und sich die Wiedersehensfreude gelegt hatte, zu seinem Partner Slem. „Er hat Lord Dunmore und dem König von England keinen Gefallen mit diesem Zug getan. Seine Tage als Milizhauptmann dürften nach dieser Abfuhr gezählt sein. Wie ich diesen gerissenen Conolly aber einschätze, wird er alles tun, um sich seine Macht zu erhalten.“
„Du glaubst also, dass er noch etwas unternehmen wird, um seine Stellung zu erhalten?“
„Genau das, Josuah“, sagte Sterling. „Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir hätten nicht das Geschütz ins Moor stürzen, wir hätten Conolly in eine andere Welt befördern sollen. Wir haben nur die halbe Arbeit geleistet. So bitter das klingt, Josuah, wir hätten Conolly stellen sollen!“
„Reiten wir, versuchen wir es nachzuholen, Freund! Versuchen wir, ihn daran zu hindern, noch mehr Unglück über die Grenze zu bringen!“
Der neue Plan war gefasst. Es war eigenartig, aber Slem wollte nicht mehr zu seiner Arbeitsstelle zurückkehren, obwohl ihm sein ehemaliger Boss Familienanschluss und ein menschenwürdiges Leben versprach. Slem wollte nicht mehr in die zermürbende Monotonie seines vorherigen Lebens zurück. Zu Slems Überraschung erklärte auch Sterling, dass er nicht daran dachte, in seine Siedlung zu seiner Familie zurückzukehren.
„Ich habe meiner Frau einen Brief geschrieben und ihr erklärt, dass sie die nächsten Monate ohne mich auskommen muss. Mein ältester Stiefsohn ist mit seiner Frau und den Kindern zurückgekommen. Sie hat also Hilfe und kann auf mich verzichten. Sie wird die Felder bestellt bekommen, und für den Braten wird auch gesorgt sein. Ich bin also frei, Josuah.“
„Sie wird dich sehr vermissen.“
„Nicht so sehr wie du glaubst, Freund“, lachte Sterling. „Grenzerfrauen sind von einem besonderen Schlag und daran gewöhnt, dass die Männer ihres Weges ziehen. Die Frau von Daniel Boone ist das beste Beispiel dafür. Wann ist ihr Mann denn schon zu Hause bei der Familie? Man sagt, dass er wieder mit einem gewissen Finley unterwegs ist, auf Landsuche irgendwo im Westen.“
Jeder an der Grenze kannte den Namen Daniel Boone. Er war berühmt und von allen geachtet. Ihm sollte es vorbehalten sein, das sagenhafte Land Kentucky zu entdecken, jenes Land, das so viel böses Blut verursacht hatte, noch bevor ein Weißer es gesehen hatte. Es hieß von ihm, dass es ein Paradiesland sei, die Wild und Vorratskammer einiger indianischer Stämme. Andere wieder behaupteten, dass es eine öde Wüste sei, nicht des Ansehens wert. Daniel Boone war also unterwegs, um sich das unbekannte Land näher anzusehen. Damals wusste kein Mensch, dass diese Entdeckung Daniel Boone unsterblichen Ruhm einbringen sollte.
Während Daniel Boone also unbeirrt seinen Weg zog, hatten die Menschen an der Grenze ganz andere Sorgen. Die Gewalttaten des Milizhauptmanns Conolly waren in frischer Erinnerung. Cornstalks Kriegserklärung war ein weiterer Punkt, der Unruhe schuf. Späher beobachteten immer wieder, dass die Schawanesen und ihre Verbündeten Lebensmittelvorräte anlegten, dass in den Indianerdörfern und vor allem in der Schawanesenhauptstadt Chillicothe Pfeilspitzen in Massen hergestellt, Eschenbögen bearbeitet und Lanzen und Kriegskeulen gefertigt wurden. Man meldete, dass Rauchsignale gesichtet worden seien und dass es im Hinterland starke Indianerbewegungen gäbe. Ganze Dorfgemeinschaften hätten Erdhütten und Zelte abgebrochen und befänden sich auf dem Marsch. Viele Jagdtrupps seien nach dem Lande Kentucky aufgebrochen. Überall würde fieberhaft Pemmikan bereitet.
In dieser hektischen Unruhe, die die Grenze durchfieberte, brachen Slem und Sterling erneut auf. Es war nicht schwer für die beiden Reiter, der Fährte von Conollys Miliztruppe zu folgen. Die Zeichen, die die Truppe dem Land aufgedrückt hatte, waren nur zu deutlich zu sehen. Verbrannte Stätten, an denen nur die Kamine noch in den Himmel ragten, Gräber am Wege und vor ihren niedergebrannten Hütten stehende Menschen wiesen ihnen den Weg, den die Truppe gezogen war. Die Menschen waren geflüchtet und kehrten jetzt allmählich wieder zurück. Nicht allen hatte die Flucht geholfen. Seneca-Irokesen hatten manchen weißen Mann und seine Familie aufgespürt und alle niedergemacht. Manche Familien waren zerrissen worden, die Angehörigen suchten einander. Wo Slem und Sterling auch hinkamen, überall wurde ihnen über die Schreckenstaten der weißen und roten Horden berichtet. Das Blut konnte einem allein beim Anhören der Gräueltaten in den Adern gerinnen. Das Blut, das Conolly vergossen hatte, stand gegen ihn und seine Auftraggeber. Der Freiheitsgedanke war so mächtig geworden, wie er nur in den Herzen von Menschen sein konnte, die die Freiheit über alles liebten.
„Bei Greathouse hat er sein Quartier aufgeschlagen“, wurde Slem und Sterling auf die Frage nach dem Verbleib des Hauptmanns und seiner Truppe von einem zurückgekehrten Siedler geantwortet. „Die Irokesen zogen schon vor Tagen ab. Ich selbst habe aus der Ferne ihren Skalptanz beobachten können. Mir war nicht gerade wohl dabei. Wenn ihr nach Greathouse reitet, trefft ihr Conolly sicher an.“
Nun, man hätte nichts anderes erwarten können, als dass sich die Milizbandentruppe zum äußersten Vorposten an der Grenze zurückgezogen hatte, dorthin, wo Greathouse seine üble Kneipe unterhielt. Dort war Hauptmann Conolly in der Gesellschaft, in die er und seine Truppe passte.
Die beiden Freunde ritten weiter. Ein Gewitter kam auf. Sie wurden völlig durchnässt. Am Ufer eines breiten Bachbettes bemerkten sie, wie der Boden unter den Hufen ihrer Reittiere zu wanken begann. Betroffen schauten sie sich an. Nur mit Mühe konnten sie ihre Pferde beruhigen.
„Umkehren!“, schrie Sterling von Schreck erfüllt und nahm sein Pferd sofort auf der Hinterhand herum. Slem folgte augenblicklich seinem Beispiel. Dann jagten beide über den schwankenden Boden, der plötzlich in Bewegung geriet, als hätte ein großes Stück Festland plötzlich tausend Hufe bekommen. Sie brauchten ihre Pferde nicht anzuspornen, die Tiere spürten selbst, dass es auf ihre Schnelligkeit ankam, um das eigene Leben und das ihrer Reiter zu retten. Mit wildflatternden Mähnen und Schweifhaaren stürmten die Reittiere davon. Erst als wieder fester Boden unter den Hufen zu spüren war, gelang es den Reitern, die Tiere zu beruhigen. Sie ritten auf einen Hügel und hielten dort an, um die Ursache der seltsamen Erscheinung zu ergründen.
Sorgfältig studierten sie das Vorgefallene und kamen zu dem Schluss, dass sie auf einer trügerischen Uferbank gewesen waren, die aus Wurzelzeug und Schlamm bestand und mit der Zeit von Sträuchern und Gras überwuchert worden war. Die durch das Gewitter angeschwollenen Wassermassen hatten die trügerische Uferbank aus der Verankerung gerissen und in Bewegung gebracht. Die Wurzelwerk und Schlammassen stauten den Bach. Es entstand ein Damm. Im Nu trat das Wasser über die Ufer und weitete sich mit rasender Schnelligkeit rechts und links im Walde aus. Im Walde knackte und barst es, viele Tiere ergriffen vor der Wasserwelle die Flucht. Im ersten Entsetzen wollte Sterling sein Pferd den Hügel hinuntertreiben, doch Slem fiel ihm in die Zügel.
„Es hat keinen Sinn“, sagte er. „Das Wasser ist schneller. Nur auf dem Hügel sind wir sicher, im Flachland kommen wir nicht weit.“
Sterling gehorchte, wenn auch widerstrebend. Er mochte einsehen, dass sein Partner recht hatte, denn es war unheimlich anzusehen, wie schnell sich das Wasser im Flachland ausbreitete. Flüchtendes Wild rannte einzeln und in Rudeln am Hügel vorbei. Manches Tier scheute wegen der Reiter auf dem Hügel sicherlich davor zurück, ihn als rettendes Ziel zu wählen.
Während das Wasser stieg, sich weiter ausbreitete und gegen den Damm prallte, während die Tiere in Todesfurcht Rettung vor dem Ertrinken suchten, hörte man plötzlich die Hufe eines Pferdes durch das Wasser platschen. Eine Reitergestalt tauchte am Fuße des Hügels auf.
„Ein Schawanese!“, sagte Sterling und brachte im nächsten Augenblick seine Rifle in Anschlag, gewillt, sein Leben so teuer wie nur möglich zu verkaufen. Auch Slem fingerte bereits an seiner Pistole herum. Der Indianer hatte die Gefahr erkannt und machte das Zeichen des Friedens. Er lenkte sein unbeschlagenes Pferd scheinbar ohne Furcht hügelan.
„Ich bin allein!“, sagte er in Rufnähe gekommen mit lauter Stimme im fehlerfreien Englisch. „Meine Brüder können die Donnerbüchsen sinken lassen.“
Slem betrachtete mit steigender Verwunderung den Reiter, der für einen Schawanesen zu klein und von viel zu heller Hautfarbe war.
„Dreizehn Pfeile?“
Slem fragte es unsicher und seine Stimme bebte dabei. Zu oft schon hatte er von Dreizehn Pfeile gehört und die Beschreibung passte genau auf den Indianerhäuptling in dem weiß gegerbten und mit Malereien verzierten Büffelfellmantel. Der Häuptling hatte den Namen „Dreizehn Pfeile“ nach seiner Fähigkeit bekommen, dreizehn Pfeile hintereinander abzuschießen, bevor der erste den Boden berührte. Als er jetzt mit seinem Kriegsnamen angeredet wurde, zuckte er zusammen.
„Ich bin Dreizehn Pfeile“, sagte er ruhig, „ein Weißer wie ihr. Nach euren Begriffen ein Abtrünniger, der zwischen zwei Lagern steht. Ich habe zweimal meine Heimat verloren, die des weißen und die des roten Mannes.“
„Du bist James Girty, mein verschollener Neffe“, kam es tonlos über Slems Lippen.
Der Häuptling hielt sein Pferd an, und wenn Sterling angenommen hatte, dass er sich in die Arme von Josuah Slem werfen würde, so sah er sich jetzt eines Besseren belehrt. Dreizehn Pfeile stieß nicht einmal einen Überraschungslaut aus. Ein wenig lässig hockte er auf seinem Pferd. Er zeigte wie ein echter Indianer keinerlei Gefühlserregung. Er blickte Slem nachdenklich, aber völlig gelassen an.
„Meine Haut hat mir viel Kummer bereitet“, sagte er nachdenklich. „Dann gewöhnten sich aber meine Freunde daran, dass sie heller war als die ihrige und fanden nichts Anstößiges daran. Der weiße Mann aber wird es immer anstößig finden, wenn ein Mensch eine dunklere Haut hat. Er gewöhnt sich nicht daran und kann sich schon gar nicht damit abfinden.“ In der Stimme von Dreizehn Pfeile schwang eine tiefe Bitterkeit mit.
„Du bist mein Neffe, mein Blutsverwandter!“, fiel ihm Slem ins Wort. „Du bist James — James Girty!“
„Das hat mir bereits Weißer Tiger, der Irokesenhäuptling, gesagt“, erwiderte der Schawanese. „Wir kannten einander nicht persönlich, und dennoch stellte es sich heraus, dass er mein Bruder war. Es stellte sich heraus, als wir uns im Zweikampf gegenüberstanden, als keiner den anderen besiegen konnte, als jeder bereit war, dem anderen den Todesstoß zu versetzen und ihm den Skalp zu nehmen. Mein Bruder, ein Irokese, der Weiße Tiger!“ Er lachte abgehackt. Sein Gesicht blieb dabei starr, wie eine Maske. „Wir Girtys wurden Indianer, richtige Indianer, die sich einander zerfleischen. Einer von uns wäre wohl in die ewigen Jagdgründe gekommen, wenn Simon Girty mich nicht plötzlich an einem Muttermal an meiner Schulter als seinen Bruder erkannt hätte.“
„Du hast gegen Simon gekämpft?“
„Im Namen meines Volkes, im Namen der roten Stämme, die er höhnte und denen er große Schmach antat, indem er unberechtigterweise Kentucky an einige weiße Männer verkaufte. Im letzten Augenblick dämmerte in uns beiden die Erinnerung an die Kindheit auf, die irgendwo tief im Verborgenen geschlummert hatte. Wir kämpften den Kampf daraufhin nicht mehr zu Ende. Mit dem Abbrechen des Kampfes ist es jedoch nicht besser für uns beiden geworden. Wir ritten eine Zeitlang zusammen, dann trennten wir uns. Er, um wieder ein Weißer zu werden, der England dienen will, und ich, um zu vergessen, dass ich ein Schawanese bin.“
„Du trägst noch immer die Kleidung der Indianer, du trägst deinen Skalp nach Schawanesenart, James. Bist du noch immer nicht mit dir ins Reine gekommen?“
„Nein!“, kam es herb über die Lippen von James Girty. „Ich war in eurer Welt. Dort bin ich fremd und werde als Fremder angesehen. Ich bin nicht mehr von eurer Art. Ich ritt zurück in die Wälder — und traf euch.“
„Der Herrgott selbst muss uns zusammen geführt haben!“, sagte Josuah Slem mit tief bewegter Stimme. „Dass ich dieses Wunder noch erleben durfte, kann nur eine Fügung Gottes sein.“
Er schwang sich aus dem Sattel, trat neben das Pferd von James und streckte ihm beide Hände entgegen. Einen Augenblick schien es, als wollte James sich wortlos abwenden und sein Pferd herumnehmen, doch es bestand keine Möglichkeit mehr dazu. Ringsum war ein großer See entstanden, so dass Neffe und Onkel sich nicht mehr ausweichen konnten.
„Wenn Manitu es so gewollt hat, dann muss es wohl so sein“, erwiderte James und nahm die beiden Hände des alten Mannes. Sie standen lange so, sich gegenseitig betrachtend.
Sterling schwieg, er wollte mit Worten das ergreifende Wiedersehen nicht stören. Er schluckte schwer und spürte, wie es heiß in seinen Augen aufstieg. Das hier, diese Begegnung, konnte nicht zufällig sein. Der Herrgott selbst hatte die Gebete des alten Mannes erhört. Was würde jetzt werden?
„Du wirst mit Simon in unsere Welt zurückkehren“, sagte Slem ergriffen.
„Wem würde damit gedient sein? Meinen Eltern, die getötet wurden? Wohl kaum mehr. Vielleicht dir, meinem Onkel? Niemandem würde damit gedient sein, am wenigsten mir. Von Simon erfuhr ich, dass unser dritter Bruder, George, irgendwo bei den Lenapen sein soll. Die Stämme der Lenapen sind groß, und Simon ist ein Irokese. Er konnte nicht zu den Lenapen gehen. Ich habe es getan und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Es gibt keinen hellhäutigen Lenapen.“
„Doch, es gibt einen! Er nennt sich Helles Auge. Wir sind ihm begegnet und stehen tief in seiner Schuld. Ich habe ihm verfängliche Fragen gestellt und bin zu der Annahme gekommen, dass es nicht George ist. George ist verschollen und verloren für uns, aber du — du und Simon ...“ Der alte Mann trat zurück, denn James glitt von seinem Pferd herunter. Im nächsten Augenblick entstand ein Getöse und Rumoren. Dort, wo der Damm sich gebildet hatte, war dem Wasser der Durchbruch gelungen. Eine Unmenge von Kleintieren schwamm in dem zurückfließenden Wasser zum Bach hin. Baumlaub und Äste schwammen mit.
„Wir leben in zwei verschiedenen Welten, du und ich“, sagte James zu seinem Onkel. „Simon hat sich entschieden, und George ist verschollen.“
„Und du, James?“
„Ich habe ein Weißer zu werden versucht, es war vergeblich. Die Anfeindungen waren zu groß. Ich habe nur noch eins mit euch gemeinsam, Onkel, die weiße Haut. dass ich ein Indianer wurde, das verzeiht man mir nie!"
„Man muss es nur ernsthaft wollen. Wenn Simon es aus eigener Kraft will, dann muss es auch dir möglich sein. James, ich werde dir helfen dabei. Ich habe eine alte Verpflichtung zu erfüllen.“
„Es ist zu spät, alter Mann, viel zu spät!“, erwiderte der Schawanese. „Der Sturm kommt, ich werde im Sturm sein.“
„Auf der anderen Seite, James?“
„Ja, auf der anderen Seite“, erwiderte James Girty leise. „Vorher will ich aber mit Logan sprechen, dem großen Irokesenhäuptling Logan. Wir haben uns bei Greathouse verabredet.“
„Um Gottes willen!“, entfuhr es Slem. „Bei Greathouse ist Conolly mit seiner Miliztruppe! Der Ort ist schlecht gewählt worden, James!“ James hob überrascht den Kopf. Tiefe Falten kerbten seine Mundwinkel.
„Als wir die Verabredung eingingen, konnte niemand ahnen, dass Conolly dort sein würde. Logan kommt mit der ganzen Familie. Wie ich ihn kenne, wird er einige Tage vorher seine Familie mit Booten zu Greathouse geschickt haben, seine weiße Frau und die Kinder.“
„Das macht das Unglück voll!“, mischte sich jetzt zum ersten Mal Sterling in das Gespräch. „Conollys Raureiter haben keine Achtung vor der Ehre, vor der Heiligkeit der Familie, vor nichts in dieser Welt. Meine Schwiegertochter, Logans Frau, ist in Gefahr. By gosh, ich habe nie besonderen Wert auf meine angeheiratete Verwandtschaft gelegt, doch jetzt ist das anders“, sagte Sterling. „James Girty, warum wolltest du Logan treffen?“
„Ich kann es euch sagen: Ich habe den Auftrag, Logan und seine Cayuga-Irokesen für den Schawanesenbund zu gewinnen. Logan ist gerecht, und wenn einer der Irokesenhäuptlinge in die Zukunft sehen kann, dann ist er es. Er weiß, dass die Indianer aufhören sollten, sich selbst zu bekämpfen. Er wird beim großen Sturm nicht abseits stehen können und wird sich entscheiden müssen, für welche Seite er kämpft.“
„Neffe, solche Worte aus deinem Mund sind eine Beleidigung für uns Weiße.“
„Ich weiß es, Onkel“, bekannte James Girty. „Wenn es zu einem Vertrag kommt und Logan sich Cornstalk anschließt, was immerhin möglich ist, ist das irokesische Volk zersplittert und Irokesen werden gegen Irokesen kämpfen. Die einen hören auf einen Mann wie meinen Bruder, Weißer Tiger, die anderen auf Logan. Es ist ein Fluch, Onkel, dass wir in die feindlichen Lager hineingekommen sind. Er haftet uns an und wird uns über unseren Tod hinaus begleiten. Ich kann kein Weißer mehr sein, Cornstalk ist mein Bruder. Wir wuchsen zusammen in einem Tipi auf, wir aßen aus einer Schüssel, wir teilten Freuden und Leiden. Man sagt, dass Blut dicker als Wasser sei und dass Blut binde. Nun, das ist ein Irrtum. Ich bin ein Indianer und werde es weiter sein, nichts kann mich daran hindern. Versuch mir nicht den Weg zu verlegen, Onkel! Ich kann nicht anders, ich muss der Stimme meines Herzens folgen. Diese Stimme sagt mir, dass ich reiten muss, dass sich bei Greathouse etwas zusammenbraut, dass Eile angebracht ist.“
„Wir reiten mit, mein alter Partner und ich“, sagte Slem. „Wir können uns doch jetzt nicht trennen!“
––––––––
10.
Was Immer auch Josuah Slem bewegen mochte, man sah ihm an, dass er dem Schicksal dankbar war, seinen Neffen James wiedergetroffen zu haben. Es war beinahe rührend anzuhören, als er beim Weiterritt, den man zu dritt unternahm, von längst vergangener Zeit erzählte, da Simon, James und George noch Kinder gewesen waren. Er berichtete von den Eltern der Girty-Brüder, von Verwandten und wie man zu der damaligen Zeit füreinander einstand. Seine Absicht, James von seinem Vorhaben abzubringen, war immer deutlicher zu erkennen. James hörte aufmerksam zu, doch sein wie in Stein gehauenes Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er war weiter nichts als ein geduldiger, höflicher Zuhörer, irgendein Fremder, der völlig abseits stand und keine Beziehung zu der geschilderten Vergangenheit hatte.
„Es tut mir leid, Onkel, ich habe keine Erinnerung mehr“, sagte Dreizehn Pfeile. „Mein Blut vergoss ich für die Schawanesen, es netzte die Erde des roten Mannes und vermischte sich mit dem Blut meiner roten Brüder. Ich denke, ich fühle und handele wie die Indianer, ich hoffe wie sie, dass uns die Heimat erhalten bleibt, dass es nicht den Tag geben wird, wo man uns immer weiter nach Westen zurücktreibt. Sicherlich werden die weißen Männer nicht ruhen, sie wollen mehr Land, unser Land. Sie gieren danach und werden keine Ruhe geben, bis sie den Letzten meiner roten Brüder umgebracht haben!“ Seine durchdringenden Blicke richteten sich auf Josuah Slem. „Nicht alle Weißen sind schlecht“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Es gibt auch einige Gute unter ihnen, doch die sind in der Minderheit. Die Schlechten sind bei den Weißen die Starken, denn sie regieren, sie befehlen, sie wünschen die Ausrottung der roten Rasse, sie sind die kalten Rechner und Planer, die nicht den Wald und das Wild sehen, sondern das Land, das sie ausbeuten wollen. Der rote Mann ist dem Untergang preisgegeben, wenn er sich nicht zusammenschließt. Aber ob ihm letzten Endes der Zusammenschluss etwas nützen wird, ist auch noch nicht sicher. Es wird keinen Frieden zwischen den Rassen geben, nie, solange sich noch ein Stamm erheben kann!“
Dem war nichts hinzuzufügen. James Girty kannte die Probleme der Indianer nur zu gut. Er sah sie aus der Sicht des roten Mannes. Was musste dieser Mann mit sich gerungen haben, der ein Weißer war und trotzdem bei den Indianern bleiben, notfalls mit ihnen untergehen wollte. Sah er nicht die Vorteile, die er bei den Weißen haben würde? Er schien darauf zu verzichten, wollte bewusst ein Indianer sein. Er wollte bei der Rasse der Unterdrückten bleiben, zu diesen Wahlverwandten bis zum letzten Atemzug gehören. Josuah Slem wusste nun, dass keine Überredungskunst etwas daran ändern konnte. James war für ihn, für die Welt des weißen Mannes verloren.
„Du brauchst dir keine Schuld zu geben, Freund“, hörte er Sterling sagen, der zu sprechen anfing, als ob er die Gedanken Josuah Slems gelesen hätte. „Kommt es denn wirklich auf die Hautfarbe an? Es gab eine Zeit, da habe ich das felsenfest bejaht, doch dann wurde die Einstellung zu dieser Frage erschüttert. Nicht die Hautfarbe, nicht die Rasse ist entscheidend, sondern der Mensch schlechthin, es zählen nur seine Taten, sein Handeln!“
Slem antwortete nicht. Er war sehr nachdenklich geworden. Er sah seinen Partner Sterling in einem ganz anderen Licht und fragte sich, ob das der gleiche Mann war, den er schon seit Jahren kannte. Josuah Slem war es unbehaglich zumute. Es war sicher besser, über dieses Problem, das einem brennend heißen Eisen glich, nicht weiter zu sprechen. Er hatte sich das Wiedersehen mit seinem Neffen ganz anders vorgestellt. Er hatte geglaubt, dass die Neffen nur einer guten Zurede bedurften, um zu den Angehörigen ihrer Rasse zurückzukehren. Die Wirklichkeit aber lehrte, dass sie sich eine eigene Welt geschaffen hatten, die wie ein starkes Gebäude war und von außen her nicht einzustürzen war. Slem war bescheiden geworden. Seine Wünsche und Hoffnungen hatte er begraben. Ihm genügte das Zusammensein und das Glück, sich aussprechen zu können. Er musste sich eingestehen, dass James in seiner Achtung gestiegen war, mochte er auch keinen guten Ruf an der Grenze haben und als Abtrünniger angesehen werden. Er, Josuah Slem, wusste, dass James einen festen Charakter hatte. Was er nicht wissen konnte, war, dass es James gelang, noch viele weiße Männer in letzter Minute vor dem Marterpfahl zu retten, dass sein selbstgewähltes Leben manchen weißen Menschen aus der Todesnot befreien sollte.
„James, du sagst, dass Simon ein Weißer bleiben soll, dass er England dienen will. Warum gerade England?“
„Du weißt doch, dass Simon bei den Seneca-Irokesen erzogen wurde und dass die Irokesenstämme englandfreundlich sind. Bei Simon kommt hinzu, dass Lord Dunmore ihm das Leben rettete und mehr als freundlich zu Simon war. Das kann er nicht vergessen und ist daher immer bemüht, sich des Vertrauens des Lords würdig zu erweisen. Das ist so tief in ihm verwurzelt, dass er seine Gesinnung nie wechseln wird. Was immer auch kommen mag, Simon ist auf seine Art treu. Jeder von uns glaubt, dass seine Meinung und die Art, die Welt zu sehen, richtig ist. Das führt nur zu leicht dazu, den anderen, der sich eine andere Meinung gebildet hat, zu verurteilen. Das Schicksal wollte es, dass wir Girtys dazu bestimmt sind, in den Augen der Öffentlichkeit, eurer weißen Öffentlichkeit, keine gute Rolle zu spielen. Wir alle sind nur das Werkzeug eines höheren Willens, und es kommt nicht darauf an, wie unsere Taten beurteilt werden. Jeder reitet seinen Weg, seinem ihm bestimmten Ziel entgegen. Was wissen wir schon, welche Rolle man uns für dieses Leben zu diktiert hat!“ Er schwieg und schaute auf den Reitweg, der sich vor ihnen durch den Wald wand. Mächtige Bäume berührten sich mit ihren Blattbaldachinen, die von schlanken Stämmen getragen wurden. Gewaltiges Wurzelwerk stemmte sich in den Waldboden ein. Ein Teppich von leuchtenden Blumen breitete sich nach allen Seiten aus. Diese Welt war schön, sie strahlte den vollen Zauber der unberührten Natur aus. Feucht und dunkel war der Waldboden. Hier und da standen noch einige Pfützen von dem vorher niedergegangenen Regenguss. Der Wald dampfte vor Frische. Ein Geruch voller Würze lag über der Natur.
Weich drückten die Hufe der Pferde sich in den Waldboden ein. Drei Reiter ritten in Schweigen versunken. Sie trieben ihre Pferde zur Eile an. Es schien eine Unrast über sie gekommen zu sein, die voller Vorahnung von etwas Bösem war, ohne dass ein Wort darüber gefallen wäre.
James Girty hätte seinem Onkel viel berichten können, er tat es nicht. Es lag in seiner Natur zu schweigen. Es fiel ihm nicht ein zu berichten, dass er Daniel Boone kannte, dass bei dem Zweikampf mit Simon Daniel Boone und Logan zugegen gewesen waren, dass die beiden damals alles getan hatten, um den Kampf zu verhindern, dass aber keiner der beiden auf sie gehört hatte, dafür aber jeder hinterher froh war, dass der Kampf unblutig zu Ende gegangen war. Als die beiden damals vom Kampfplatz davonritten, hatte er Daniel Boone sagen hören: „Zwei Brüder, zwei Abtrünnige, zwei Männer, die verloren sind!“ — An diese Worte Daniel Boones musste James immer wieder denken, denn sie brannten in seinem Herzen, sie verfolgten ihn Tag und Nacht. Jeder Hufschlag auf dem weichen Waldboden schien zu rumoren: Verlorener, Verlorener!
Der Wald lag ruhig und friedlich, doch bald sollte es sich zeigen, dass der Waldfrieden trügerisch war. Wieder konnte man die Heerstraße Conollys ausmachen. Blühende Landstriche waren da, wo Conolly mit seiner Truppe durchgezogen war, verwüstet worden. Mordbrenner hätten keine schlimmere Arbeit leisten können. Siedlungen waren dem Erdboden gleichgemacht, Rinder und Schweine niedergemetzelt worden. Dort, wo man Hauptmann Conolly harten Widerstand entgegengesetzt hatte, war man ohne zu rauben und zu plündern weitergezogen. Hauptmann Conolly schien das heiße Blei, das ihn selbst treffen konnte, nicht allzu sehr zu schätzen.
So übel und gemein wie Conollys Horde hätten nicht einmal die Indianer gewütet. Die drei Reiter ritten an Grabhügeln vorbei, und die Bilder des Jammers und des Elends häuften sich beim Weiterritt. Unwillkürlich ritten die Reiter schneller.
„Dieser Heerzug des Hauptmanns Conolly wird ein Fluch sein!“, sagte Sterling mit heiserer Stimme. „Kann er das vor unserem Herrgott verantworten?“
„Nein!“, erwiderte Slem, „in alle Ewigkeit nicht! Der Mensch vergisst zwar schnell und wütet weiter, aber das schreit zum Himmel! Warum lässt Gott so etwas zu? Das Herz könnte einem stillstehen vor Kummer und Gram. Warum hat der Mensch, der das Ebenbild Gottes ist, so wenig Göttliches an sich? Warum watet er immer im Dreck und versucht sich nicht daraus zu erheben? Der Mensch fügt sich selbst immer das größte Leid zu, er erkrankt an sich selbst. Wie lange wird das noch so sein?“
Slem bekam keine Antwort. Seine beiden Begleiter schwiegen. Wer konnte in die Zukunft schauen? Keiner von ihnen vermochte es.
Der Ritt ging weiter. Gegen Mittag trafen sie einen zerlumpt aussehenden Reiter, dessen wild wuchernder Bart ihn viel älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Von ihm erfuhr man, dass Conollys Heerhaufen sich bei Greathouse gemütlich eingerichtet hatte. Das aufsässige Söldnerpack hatte aus der Wirts- und Handelsstation ein übles Camp gemacht. Greathouse hatte nichts mehr zu sagen. Man war über seine Schnapsvorräte hergefallen und veranstaltete ein Gelage. Schießereien und Orgien waren an der Tagesordnung. Einige ruderten auf dem Fluss spazieren, andere lagen schnarchend und betrunken zwischen den Bagagewagen. Greathouse, der zwei Indianerinnen als Frauen hatte, wurde von ihnen verlassen. Sie flohen in die Wälder. Ob sie jemals zurückkamen, war ungewiss. Ihr Schicksal quälte ihn nicht so sehr wie die Drohungen, die er zu hören bekam, die Gewalttätigkeiten, die ihm kein Aufmucken ermöglichten. Man verhöhnte und verlachte ihn, erniedrigte ihn und behandelte ihn wie einen Sklaven.
Es kamen keine Kanus mehr den Fluss heruntergefahren, die Zeit der Geschäftemacherei war vorbei. Die Kinder der Wildnis hüteten sich in die Nähe jener Banden zu kommen, die sich arge Zweikämpfe untereinander lieferten. Dabei gab es häufig Verwundete und ab und zu einen Toten. Der bärtige Mann sagte wörtlich: „Sodom und Gomorrha sind sicher nicht schlimmer gewesen. Greathouse muss für alle Sünden schon hier auf der Erde büßen. Er wird so ausgeplündert, wie er die Rothäute gewissenlos ausplünderte und an die Luft setzte. Jetzt muss er denen noch die Stiefel lecken, die ihm Tritte versetzen. Recht geschieht ihm, vollkommen recht! Irgendwie ist das Schicksal gerecht und wir erleiden auf Erden bereits, was wir an Kummer säten. Wir brauchen nicht erst zu sterben, um in einer anderen Welt zu büßen.“ Ein raues Lachen kam über die Lippen des Mannes. Er schüttelte seine geballte Faust in die Richtung, aus der er gekommen war.
Dann erfuhr man auch, durch welches Leid dieser Mann selbst gegangen war, als die Conollytruppe ihm seine Siedlerhütte in Brand gesteckt hatte.
„Mary war jung, und ich liebte sie“, berichtete er. „Als alles vorbei war, war sie tot und konnte meine Fragen nicht mehr beantworten. Ich habe ihre Augen geschlossen und habe meine junge Frau mit dem Ungeborenen zu Grabe gelegt. Dann ritt ich davon. Ich verfluchte diesen Unmenschen Conolly, verfluchte diese Schufte, die sich unter sein Banner stellten, verfluchte Lord Dunmore, der einen solchen Schuft auf die Menschheit losließ!“ Die Stimme des Mannes erstickte, Tränen rannen ihm die Wangen herunter. Ohne Gruß zog er weiter seines Weges. Die drei Männer sahen ihm nach. Keiner sprach ein Wort. Auf allen lastete die Sorge: Wenn nur Logans Familie nichts geschieht!
James Girty forderte die beiden alten Männer auf, ihre Pferde in eine noch schnellere Gangart zu bringen.
„Wenn wir die Pferde zu sehr überfordern, könnte es sein, dass wir Grund haben, das zu bedauern“, sagte Sterling als Erwiderung. „Ich kann deine Ungeduld verstehen, aber vielleicht ist Logans Familie noch nicht eingetroffen. Man sagt, dass Logan für den Frieden unterwegs ist und dass er die Dörfer der verschiedenen Irokesenstämme aufsucht, um für den Frieden zu werben.“
„Das ist möglich. Doch Logan hält Wort. Es ist sicher, dass er seine Familie vorausschickte, im guten Glauben, dass niemand, der den Frieden will, seinen Angehörigen etwas antut. Er vertraut den Weißen zu sehr, und das wird bitter für ihn enden!“
––––––––
11.
Aus dem Abschaum der Menschheit bestand Conollys Miliztruppe. Hauptmann Conolly machte Schufte und Schurken zu Leutnants und Korporalen und entthronte den Stammgast bei Greathouse, den Hauptmann Cresap. Was Hauptmann Conolly in der Siedlung um Greathouse entfesselte, glich einem Inferno, zeigte aber auch, wie wenig Lord Dunmore den Mann kannte, den er angeworben hatte. Conolly prahlte, dass ihm das Schicksal der amerikanischen Kolonie von Lord Dunmore in die Hände gelegt worden sei.
Nun jedoch vollführte die gottlose Miliz, von einigen Männern angefeuert, im Brandyrausch eine Tat, die auch in Zukunft unvergessen bleiben sollte.
Die drei Reiter wussten nichts von den Vorgängen in der Siedlung um Greathouse, als sie nach einer ruhigen Nacht im Morgengrauen aufbrachen und flussaufwärts am Ufer entlangritten. Sie schonten ihre Reittiere nicht. In allen dreien war ein böse Vorahnung, die sich von Stunde zu Stunde verstärkte. Greathouse rückte schnell näher. Als sie die Station bald erreicht hatten, krachte eine Gewehrsalve, der eine zweite folgte. Ein einzelner Schuss klang noch auf, dann herrschte Stille.
Drei Pferde wurden zu höchster Eile angetrieben. Wenig später erreichten die Vorwärtsjagenden die Flussbiegung, von der aus man den Fluss weiter oben einsehen konnte. Was sich den drei Reitern darbot, war so niederschmetternd, dass sie alle ohne ein Kommando die Pferde anhielten.
„Großer Gott!“, nur diese beiden Worte stieß Slem mit kehliger Stimme hervor. Erschüttert hockte er im Sattel, unfähig sich zu bewegen. Sterling stieß einen eigenartig klingenden Kehllaut aus, und nur James Girty schwieg. In seinem unheimlichen Schweigen war die Ohnmacht eines Menschen, der tatenlos zusehen musste und nicht zu helfen vermochte.
Mitten auf dem Strom trieb ein Kanu, daneben die Leiche eines Indianerjungen, die im nächsten Augenblick in den Fluten versank. Das Kanu aber war mit Toten angefüllt. Nur einen Augenblick lang hatte man die Leiche des Jungen gesehen, dessen Haarschopf wie Goldgespinst leuchtete.
„Goldhaar, Logans Sohn“, kam es tonlos über James Girtys Lippen. „Logans Verwandte, alle tot ... tot ... tot!“
Dreimal brach das schreckliche Wort über seine Lippen. Es war nicht laut genug, als dass die Mörder es hätten hören können, jene Schufte, die, von Conolly angeführt, die Verwandten Logans ermordet hatten, die über die sich nicht Wehrenden hergefallen waren und sie bis auf die letzte Person getötet hatten. Sie waren noch weit vom Ufer weg, so dass sie das Freudengeheul der Schützen nur schwach vernehmen konnten. Erschüttert mussten die drei am Ufer haltenden Reiter zusehen, wie das Kanu gegen einen Felsen im Fluss trieb, zerschellte und mit seiner traurigen Last versank. Mit großen Augen hockten sie auf ihren Pferden und sahen dorthin, wo die Strudel die letzten Toten in die Flusstiefe hinunterzogen.
„Das kann doch nicht möglich sein, das ist ja Wahnsinn!“, schrie Sterling vor heiserer Wut. „So etwas heimtückisch Gemeines kann doch nicht am hellen Tage geschehen ...“
„Es ist geschehen!“, unterbrach ihn James Girty mit düster verzogenem Gesicht. „Dem besten und friedfertigsten Indianer haben sie das stärkste Leid zugefügt!“ Er winkte seinen Begleitern zu. Sie ritten weiter, ohne die Deckung zu verlassen. Als sie nahe an Greathouse herangekommen waren, erkannten sie Conolly, Cresap und Greathouse. Eine Schar von Milizsoldaten fiel über Greathouse her und schlug ihn nieder. Weitere Leute von Conollys Truppe begannen daraufhin mit der vollständigen Plünderung der Handelsstation.
„Wenn sie einen von uns erblicken, sind wir erledigt“, sagte Slem angeekelt vom Anblick des grässlichen Treibens, das sich seinen Augen darbot. „Conolly ermordete Logans Verwandte, um einen handfesten Grund zum Indianerkrieg zu geben. Was wirst du tun, James?“
„Abwarten“, erwiderte James. „Wenn Logan in der Nähe ist, wird seine grausame Abrechnung nicht lange auf sich warten lassen. Wir sollten die Ruhe bewahren. An dem, was geschehen ist, können wir nichts mehr ändern. Schaut nur, Conolly lässt seine Truppe antreten.“
Genau so war es. Auf ein Hornsignal kamen die Wegelagerer angetorkelt. Kaum einer der Schufte war nüchtern. Bei der Plünderung der Handelsstation mussten ihnen noch Brandyvorräte in die Finger gefallen sein. Einige schwangen ihre Feldflaschen und grölten, andere sangen wüste Lieder. Conolly selbst war ebenfalls nicht nüchtern. Seine laute Stimme übertönte den Lärm.
„Leutnant Gibson wurde von den roten Schuften ermordet, nur weil er sich einige Pelze ansehen wollte, die sie ihm verweigerten. Schaut, Leute, das ist unser guter Leutnant Gibson jetzt.“
Er zeigte mit der Hand auf den toten Leutnant, der, wie sich später herausstellte, mit seinem Partner mit Waffengewalt versucht hatte, sich die Pelze von Logans Verwandten anzueignen, dabei jedoch auf Widerstand gestoßen war und sein Vorgehen mit dem Tode hatte büßen müssen.
„Leutnant Gibson hatte nichts Böses im Sinn, als er die roten Schufte aufforderte, ihm die Felle zu zeigen. Was er bekam, war jedoch eine Kugel. Wir schossen zurück und haben die ganze Sippe niedergemacht.“
„Recht war es, unser gutes Recht!“, schrie ein betrunkener Mann aus der Truppe. „Es lebe England, es lebe unser großer Hauptmann Conolly! Tod den roten Schuften! Tod und Verdammnis!“
„Recht so, ganz recht!“, lallte Hauptmann Conolly. „Wir sind gezwungen, den Krieg mit den roten Schuften zu eröffnen. Meine Vollmacht besagt, dass ich dazu ausersehen bin, die weiße Bevölkerung vor den roten Schuften zu schützen. Ich beschütze die Bevölkerung, ich bewahre das Recht der Kolonie. Was Leutnant Gibson geschah, war Mord, der gerächt werden muss. Ich erkläre den Krieg und fordere alle weißen Männer von Pennsylvania und Virginia auf, die roten Schufte zu jagen, wo man sie trifft. Rache für Leutnant Gibson, Rache!“
Gebrüll klang auf. Alle Milizsoldaten brüllten in einem hektischen Rausch.
„Mir kommt es hoch“, sagte Slem mit bleichem Gesicht zu Sterling und James. „Man möchte hinreiten und diesen Conolly auf der Stelle niederschießen. Was ist das für ein gemeiner, blutrünstiger Teufel! Das ist doch kein Mensch mehr! Der Teufel geht um, er spricht aus Conolly. Es muss der Teufel selbst sein, der in diesen Schuft gefahren ist.“ Er ließ keinen Blick von der Versammlung. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Neben ihm hockte Sterling und atmete schwer. Nur James Girty zeigte keine Regung, In seinen Augen jedoch war ein düsteres Leuchten.
Was Conolly und seine Bande jetzt aufführten, war den indianischen Bräuchen nachgemacht. Sie hieben die Zweige von einem Apfelbaum herunter und schwärzten den Stamm, wie die Schawanesen oder Irokesen den Stamm vor der Marterungszeremonie schwärzten. Kessel, Schüsseln und anderes Zeug mehr wurde aus der Handelsstation geschafft und als Trommelinstrument verwendet. Trommeln, Pfeifen und Schreien vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Krach, als ob hundert geschwänzte Teufel losgelassen seien. Wenn man diese Meute ansah, diese hektisch erregte Horde, die um den Apfelbaum tanzte, konnte man wirklich zweifeln, ob man es mit normalen Menschen zu tun hatte. Wilde waren es, Enthemmte, die der Brandyrausch in eine anomale Stimmung versetzt hatte. Mit Geschrei schlugen sie Äxte in den Baum, dass die Holzsplitter flogen. Das taten sie so lange, bis der Baum, dünner geworden, schließlich abbrach. In diesem Moment kamen Frachtenplanwagen an, die für Greathouse Brandyfässer geladen hatten. Diese Fahrzeuge sehen, ihnen entgegenlaufen und sie beschlagnahmen, war das Werk weniger Minuten. Während die Kerle sich über den neuen Brandy hermachten und ihren Rausch steigerten, schrieb Conolly jenen berühmt gewordenen Brief, der als Kriegserklärung in der Geschichte eine traurige Berühmtheit erlangen sollte. Er hatte etwa folgenden Wortlaut:
Aufruf an die Kolonien!
Am heutigen Tage wurde durch die roten Schurken mein Leutnant Gibson bestialisch ermordet. Die Roten machen Miene, sich überall zu erheben. Sie werden die Siedlungen angreifen und alle Weißen umbringen. Jedermann hat Leib und Besitz mit Waffengewalt zu verteidigen!
Mit diesem Aufruf erklärte Conolly alle Indianer für vogelfrei. Von jetzt an war jeder Mensch der roten Rasse geächtet, war Freiwild, das man töten und vernichten konnte. Conolly hatte jetzt alles getan, um weiterhin Hauptmann zu bleiben. Dreimal schrieb er seinen Brief ab, dann befahl er zwei Ordonanzen loszureiten. Ein Brief sollte nach Fort Pitt, der andere nach Fort Wheeling gebracht werden, wo er im Namen Englands und des Königs öffentlich angeschlagen werden sollte. Ein Brief wurde an die Tür der Handelsstation geheftet, eine Arbeit, die Conolly persönlich ausführte.
Slem und Sterling sollten diesen Brief später mit eigenen Augen zu sehen bekommen, später, als das Mordbataillon abgezogen war. Vorerst zwang die Anwesenheit der Mordschar die drei Männer in ihren Verstecken zu bleiben und sich auf Beobachtungen einzustellen.
Was man zu sehen bekam, war nicht dazu angetan, einem das Herz höher schlagen zu lassen. Conolly war dabei, einen vierten Brief zu schreiben. Es war eine Kriegserklärung an Cornstalk und sein schawanesisches Volk, ein Schreiben, das von Beleidigungen und Gemeinheiten strotzte. Dieses Schreiben musste irgendwie nach Chillicothe, der Schawanesenstadt, befördert werden. Damit aber nicht genug, es musste noch mehr getan werden, um die Schawanesen zur Weißglut zu reizen. Als Conolly schließlich in Begleitung von Cresap aus der Schenke auftauchte und in der Nähe der Bagagewagen stehenblieb, sagte James Girty zu seinen Begleitern:
„Das gefällt mir nicht, sie scheinen weitere Schurkenstreiche geplant zu haben.“
„Kann es noch Schlimmeres geben, als das, was sie bereits getan haben?“, fragte Sterling mit rauher Stimme.
James gab keine Antwort. Er ließ die beiden Schufte nicht aus den Augen, die mit geschulterten Rifles über die Uferwiesen zum Fluss marschierten.
„Es ist kaum anzunehmen, dass die beiden angeln wollen.“
„Es ist unser Pech, dass die beiden in ein Gelände gehen, das wir ungesehen nur auf Umwegen erreichen können. Brechen wir trotzdem auf“, forderte James Girty seine Begleiter auf.
In diesem Augenblick ahnten sie alle drei nicht, dass der heutige Tag wie verhext für sie sein sollte, dass bei der Vorsicht, die sie walten lassen mussten, wieder so viel Zeit verlorengehen würde, dass sie ein zweites Mal an diesem Tage zu spät kommen sollten.
Für die drei Reiter war das Gelände sehr ungünstig. Sie durften es nicht darauf ankommen lassen, entdeckt zu werden. Sic mussten in Deckung bleiben und den langwierigen Umweg durch das Ufergehölz in Kauf nehmen. Die Greathousesiedlung lag offen da, der Wald war schon vor langer Zeit bis zum Ufer abgeholzt worden.
Was zum Teufel hatten die Schufte Cresap und Conolly vor?
Während die drei Reiter diese beiden aus der Sicht verloren, waren diese bereits am Ufer angelangt und sprangen in ein Boot, das sie vom Ufer abstießen. James Girty war voller dunkler Ahnungen, als er zu seinen Begleitern sagte: „In gewissen Zeitabständen kommen Schawanesenkrieger mit ihren Booten flussabwärts gefahren. Ob die beiden befürchten, dass die Krieger meines Stammes die ermordeten Angehörigen Logans finden?“
„Das ist möglich, James", erwiderte Slem. „Vielleicht sind sie nach der schaurigen Tat ernüchtert und versuchen sie zu verbergen. Logan war nicht dabei. Er wird bald von dem Vorgefallenen hören, ganz gleich, ob man es ihm verbergen will oder nicht. Diese ungeheuerliche Tat fordert Vergeltung. Großer Gott, wie schwer muss diese Tat Logan treffen! Wie tief muss ihn das Ungeheuerliche verletzen, ausgerechnet ihn! Ausgerechnet Logan, dem Weißenfreund, dem Friedlichsten von allen muss das angetan werden!“
Sterling hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Er sprach nicht davon, dass er durch die Heirat seiner Stieftochter sogar mit Logan verwandt war. Ein Ekelgefühl schnürte ihm die Kehle zusammen. Ohnmächtiger Zorn wuchs in ihm auf. Darin hatte er das gleiche Gefühl wie Slem, der immer wieder seine Rechte zur Faust ballte und sie wie nach einem unsichtbaren Gegner schüttelte.
Ein Detonationsknall ließ die drei Männer aufhorchen.
„Der Schuss scheint auf dem Fluss abgefeuert zu sein“, sagte James Girty, der zum ersten Mal seine Ruhe verlor. Er vergaß alle Vorsicht und lenkte sein Pferd durch das Gestrüpp. Die Zweige rauschten, und dürres Laub raschelte. Er trieb sein Pferd zu größerer Eile an. Seine Begleiter folgten seinem Beispiel. Aber auch jetzt kamen sie nicht schnell genug vorwärts. Als sie den Fluss erreichten, sahen sie mitten auf dem Fluss ein schwer beladenes Kanu und darin, an der Tracht zu erkennen, einen schawanesischen Häuptling, der tot in sitzender Stellung im Boot gefesselt worden war. Ein roter Kattunfetzen flatterte als blutiges Wimpel am Ruder.
In diesem Kattunfetzen war der Brief an Cornstalk, den Conolly geschrieben hatte. Der tote Häuptling im Boot war der schawanesische Oberhäuptling Kahler Adler, ein Häuptling, der zu James Girtys engsten Wahlverwandten gehörte.
Als James Girty das sah, ging eine unheimliche Verwandlung in ihm vor. Er verwandelte sich augenblicklich in einen echten Schawanesen. Seine Lippen zitterten, als er den Namen Kahler Adler nannte. Er hatte Mühe, seine Stimme in die Gewalt zu bekommen, dann jedoch sah er Sterling und Slem fest an.
„Jetzt scheiden wir“, sagte er rau. „Von jetzt an trennen sich unsere Wege. Ich werde am Ufer entlangreiten, bis der Totenengel mir das Kanu zutreibt, dann werde ich den großen Häuptling Kahler Adler zu seinem Volk zurückbringen. Der Totengesang wird an der ganzen Grenze zu hören sein. Vergesst, dass ihr mit gesehen habt, mein Schicksal ist nun entschieden. Ich gehöre zu den roten Männern, zu denen, denen man Unrecht tut, zu denen, denen man das Herz aus dem Leibe reißen möchte. Logan wird nicht mehr auf mich warten, doch der da, der wartet, dass ich ihn am Ufer begleite, dass ich ihm das letzte Geleit gebe, bis ich ihn auf mein Pferd heben und heimbringen kann.“
„James, ich habe eingesehen, dass ich dich nicht halten kann, ich habe eingesehen, dass ich dir keine Verhaltungsmaßregeln geben kann. Ich weiß jetzt, dass man seinen Weg gehen muss, jeder von uns auf seine Art. — So long, James!“
Die Hände streckten sich aus. Einen Momentlang standen sich die beiden Männer gegenüber und hielten sich bei den Händen. James war es, der sich zuerst abwandte, Sterling zunickte und davonritt. Die Uferbüsche schlugen hinter ihm zusammen.
„Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen“, sagte Slem mit heiserer Stimme. Seine Augen waren feucht geworden. Er schämte sich seiner Tränen nicht, die über sein verrunzeltes Gesicht liefen. Schwer legte sich Sterlings Rechte auf seine Schulter.
„James tut seine Pflicht, Josuah. Er kennt die Mörder, denen es nicht genug war, die Verwandten Logans zu ermorden. Der rote Sturm wird über die Grenze kommen, und viele Weiße werden das Leid zu tragen haben, das Schufte und Schurken über sie brachten. Du und ich, wir können nichts daran ändern, das Schlimme ist geschehen. Der Tod steht auf. Man könnte sich fürchten, Josuah, könnte sich vor Grauen schütteln. Reiten wir zurück?“
„Nein“, erwiderte Slem mit ruhiger und fester Stimme. „Wir sind mitten im Sturm, ich will bleiben, bis der Sturm mich wegfegt oder der Tod kommt.“
„Dann werde auch ich bleiben, Partner“, erwiderte Sterling feierlich. „Die Grenze lässt uns nicht los, mag auch die Hölle über uns kommen. Wir gehören hierher, bis zum letzten Atemzug.“
Ein Geräusch ließ Sterling aufhorchen, im nächsten Augenblick gellte ein Hilfeschrei auf, dem ein gemein klingendes Lachen folgte. Äste brachen und Laub raschelte.
Sterling brauchte seinen Partner nicht erst aufzufordern, sein Pferd ins nächste Dickicht zu ziehen. Sterling und Slem führten es gleichzeitig aus, und dann standen die beiden Männer in Deckung und spähten durch die Zweige. Sie spähten auf den schmalen Waldweg hinaus, auf dem sich rasch fliehende Schritte näherten.
Sie brauchten nicht lange zu warten. An der Waldwegkrümmung tauchte eine in bunte indianische Gewänder gehüllte weibliche Gestalt auf. Das blauschwarze Haar flatterte um den Kopf des weiblichen Wesens. Slem erkannte auf den ersten Blick, dass es eine von Greathouses Frauen war, eine starke, plump gebaute Indianerin, deren sonst so braunes Gesicht vor Schrecken und Angst grau geworden war. Die Frau rannte um ihr Leben, denn die Hölle war hinter ihr. Sie war durch Hauptmann Conolly und Hauptmann Cresap entfacht worden und galt allen rothäutigen Menschen. Für jeden Schuft in Conollys Gefolge waren die Indianer jetzt Freiwild. Die Frau schwebte in Lebensgefahr. Jeden Augenblick mussten ihre Verfolger auftauchen, Schufte aus Conollys Truppe, denen das Schlimmste zuzutrauen war. Es waren die Leute von Conollys Miliztruppe, die später, nach ihrem Abmarsch, von der Bevölkerung von Fort Pitt nicht aufgenommen werden sollten. Die Wut der Pennsylvaner auf Conollys Truppe kannte keine Grenze. Sie war stärker als die Angst der Bevölkerung vor den Indianern. Conolly war so gezwungen, vor dem Fort, außerhalb der Reichweite der Kanone, sein Lager aufzuschlagen, bis den Leuten endlich bekannt wurde, dass die Grenze in Aufruhr war, dass alle Höllen sich geöffnet hatten. Erst dann, als Simon Girty sich als Vermittler einschaltete und von Conolly die Zusicherung erhielt, dass seine Leute sich christlich verhalten würden, nahm man Conolly und seine Bande im Fort auf.
Das alles lag noch in der Zukunft. Hier aber, am Ufer des Flusses, versuchten zwei von Conollys Leuten die Kriegserklärung ihres Hauptmanns auf ihre Weise in die Tat umzusetzen. Als sie auftauchten, konnte man gleich beim ersten Anblick bemerken, dass sie angetrunken waren. Ekel flog Sterling und Slem an, als sie dieser Burschen ansichtig wurden, denen eine der Frauen des Handelsstationswirtes offenbar rein zufällig in den Weg gelaufen war. Nun waren sie ihr dicht auf den Fersen. Ihre Ausdauer war größer als die der Frau, die kaum noch Luft bekam und jeden Augenblick zu straucheln und umzufallen drohte. Sie rannte an dem Versteck der beiden Männer vorbei, stürzte und schrie gellend um Hilfe. Die beiden Verfolger aber wurden in dem Augenblick angesprungen, als sie das Versteck passieren wollten. Slem und Sterling hatten bis zu diesem Augenblick gewartet und handelten gemeinsam.
Sterlings Pistolenkolben traf den Gegner wie vorgesehen und fällte ihn auf der Stelle. Slem hatte weniger Glück, sein Schlag ging daneben und streifte nur die Schulter des Gegners, der wie ein Wiesel herumschnellte und sein Messer vorstieß.
Slem hatte die Pistole fallen lassen und duckte sich ab. Er führte das Wegducken und Zupacken instinktiv durch, bekam die Messerhand des Gegners zu fassen und schleuderte ihn über die Schulter zu Boden. Ein anderer Mann wäre vielleicht durch den harten Aufprall liegengeblieben, nicht so dieser hagere, pockennarbige Kerl, der das Leben eines Pumas in sich zu haben schien. Er rollte zur Seite, sprang auf und hetzte durch den Busch davon. Slem folgte ihm und trieb ihn in Richtung des Flusses weiter. Der Kerl stellte sich nicht, rannte blindlings weiter. Es zeigte sich, dass er im Kampf Mann gegen Mann ein Feigling war, zu allen Gemeinheiten fähig, nicht aber sich zum Kampf zu stellen. Slem folgte, so gut er konnte, aber es gelang ihm nicht, den Mann einzuholen. Er konnte nur das eine tun, ihn nämlich daran zu hindern, in Richtung der Handelsstation zu laufen. Der Gegner rannte zum Fluss und zögerte keinen Augenblick, sich in die Fluten zu stürzen.
Slem stoppte und wartete auf das Auftauchen des Gegners, doch der kam nur einen Augenblick an die Wasseroberfläche, sackte ab und blieb verschwunden. Slem verharrte ruhig und horchte, ob das Rohr am Ufersaum brechen würde, doch alles blieb ruhig. Der Gegner war entkommen. Die Frage, ob er ertrunken war oder so gewandt im Schwimmen und Tauchen war, dass er an einer entfernten Stelle unter Land wieder auftauchen konnte, war ungeklärt. War ihm die Flucht geglückt, dann würde bald Hauptmann Conollys Miliz ausschwärmen, es würde dann kein Entrinnen geben. Man durfte keine Zeit verlieren, Slem musste augenblicklich umkehren.
Alles Warten würde nichts mehr einbringen. War der Mann ertrunken, dann hatte dieser Fluss ein grausiges Menschennopfer mehr an diesem Tage bekommen. Slem machte kehrt und ging auf seiner Fährte zurück. Sterling erwartete ihn bereits. Er stand neben dem gefesselten Gefangenen, der noch nicht wieder aus seiner Ohnmacht erwacht war.
„Hast du ihn erwischt?“
„Er ist entkommen, Dick.“
Sterlings Vorwurf fiel aus. Er zog die Augenbrauen zusammen.
„Dann müssen wir sofort verschwinden“, sagte er. „Pack an, heben wir den Kerl in den Sattel! Ich werde hinter ihm aufsitzen.“
„Und die Indianerin?“
„Die nimmst du zu dir in den Sattel, Freund“, sagte Sterling. „Sie kommt mit, zurück darf sie nicht. Ihr Leben ist in Gefahr. Was diese beiden Schufte nicht schafften, werden andere versuchen. Beeilen wir uns!“
Es war keine leichte Arbeit, den Mann, der aus seiner Ohnmacht erwachte und wie wild an den Fesseln zerrte, in den Sattel zu heben. Sterling bändigte den Kerl sehr schnell.
„Wenn du dich weiter so verhältst, bekommst du einen Schlag auf den Schädel. Erspare dir das!“
Der Kerl sah ein, dass es seiner Gesundheit nur zuträglich war, diesem Rat zu folgen. Mit der Indianerin hatte man weniger Schwierigkeiten. Sie hatte schnell begriffen, dass weder Sterling noch Slem zu der Conollymeute gehörten. Sie ließ sich willig in den Sattel heben. So belastet ritten Slem und Sterling los.
„Ihr werdet nicht weit kommen!“, zeterte der Gefangene. „Conolly wird an euch ein Exempel statuieren, dass euch Hören und Sehen vergehen wird. Das könnt ihr mit Corporal Smith nicht machen.“
„Halte deinen Mund und mach ihn nur auf, wenn du gefragt wirst!“, antwortete Sterling mit rauer Stimme. „Jeder aus eurer Truppe, von Hauptmann Conolly angefangen, gehörte an die Wand gestellt und erschossen. Was ihr angerichtet habt, wird vielen Unschuldigen das Leben kosten. Wer gab den Befehl zum Niederschießen der Logan-Sippe?“
„Das geht dich einen Dreck an!“
Weiter kam der Kerl nicht. Sterling schlug mit der flachen Hand so fest zu, dass sich die Wange des Kerls sofort dunkelrot färbte.
„Hauptmann Cresap gab den Befehl“, sagte die Indianerfrau, ohne erst zum Sprechen aufgefordert werden zu müssen. „Conolly hatte nichts dagegen einzuwenden.“
„Dann berichte auch, dass es dein Mann Greathouse war, der Logans fünfjährigen Sohn Gelbhaar niederschoss“, meldete sich der Gefangene.
„Es war so“, erklärte die Indianerin. „Greathouse erschoss Gelbhaar, und Conolly setzte die Kriegserklärung auf. Conolly und Cresap ermordeten den Oberhäuptling Kahler Adler, um die Grenze in Aufruhr zu bringen. Eine Kriegserklärung hängt an der Storetür. Jeder kann sie sehen und lesen. Der Mensch, der eine rote Hautfarbe hat, ist Freiwild geworden.“
„Und mit Recht!“, erwiderte der Gefangene mit hämischem Grinsen. „Das rothäutige Pack muss mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden und alle Weißen, die mit den Roten halten, ebenfalls, doch zuerst die alten Narren, die ihr seid.“
Wieder bekam er einen Schlag mit der flachen Hand, und wieder stieß er einen Wutschrei aus.
„Partner“, sagte Sterling mit ruhiger und fester Stimme zu dem neben ihm reitenden Slem, „ich schlage nicht gerne. Ich hatte immer die Einbildung, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes sei. Für diese Sorte Kreaturen trifft das aber nicht zu.“ Er lachte bitter vor sich hin.
Slem antwortete nicht. Er spürte die Nähe der Indianerin, und etwas Fremdartiges flog ihn an. Sie blinzelte ihn mit ihren schräggestellten Augen an, als er sich einmal nach ihr umdrehte. Die Schrecken der letzten halben Stunde schien sie schon wieder vergessen zu haben. Nein, nie würde er, Slem, diese Roten ganz verstehen.
Wo mochte die zweite Frau sein? Als ob die Indianerin Slems Gedanken zu lesen vermocht hätte, lächelte sie ihn an.
„Die Gelbe Rose flüchtete mit einem Soldaten in die Wälder zurück, aus denen sie kam, bevor sie bei Greathouse blieb. Sie war schlauer als ich und nahm einen Kasten mit Glasperlen und Schmuck mit, Sachen, die Greathouse für Pelztauschgeschäfte bereit hielt. Sie hatte begriffen, dass die Zeit bei Greathouse vorbei war. Sie fürchtete die Rache Logans weit mehr, als das wüste Treiben der weißen Männer. Sie hatte recht, als sie floh. Der Tod kommt hierher.“ Als sie das sagte, zitterte sie am ganzen Körper. Ihre dunklen Augen blickten in die Richtung, in der die Handelsstation liegen musste.
„Man kann seinen Mann doch nicht einfach im Stich lassen“, sagte Slem. „Wir bringen dich zurück, wenn Conolly mit seiner Bande abgezogen ist. Die Frau gehört auch in schlimmen Zeiten an die Seite ihres Mannes, sie soll Leid und Freude mit ihm teilen. So steht es im Gesetzbuch, und so muss es sein.“
Die Indianerin gab keine Antwort. Kein Muskel in ihrem Gesicht zuckte. Sicherlich machte sie sich nichts aus Slems Worten. Sie entstammte einer anderen Welt, in der andere Gesetze galten. Wer konnte ihr übelnehmen, dass sie Greathouse davonlief und keine Neigung zur Rückkehr mehr verspürte? Nein, an ein Zurück dachte die Frau nicht mehr. Sie schwieg aber und ließ ihre Gedanken nicht laut werden. Sie verstand sich nützlich zu machen, und mehr noch, sie kannte ein Versteck am Fluss, eine kleine Insel, die durch eine flache Furt zu erreichen war.
Man gelangte gegen Mitternacht zu dieser kleinen Insel und blieb dort. Die Pferde fanden hier Grasnahrung, und einen Wapitihirsch konnte man mit der Schlinge fangen. Alles fügte sich so, dass man ohne besondere Schwierigkeiten mehrere Tage bleiben konnte.
In dieser Zeit erreichte Logan die Hiobsbotschaft vom Mord seiner Familie mitten in einer Friedensversammlung, in der er für die Weißen, als seine Brüder, um Frieden bat. Dieser Logan, der immer ein Freund der Weißen gewesen war, sandte nun öffentlich sein Rache-Totem.
Aber es geschah noch mehr. Während Logan die Friedensversammlung des Irokesenvolkes verließ, während sich die vereinigten indianischen Völker unter Cornstalk erhoben, ritten Boone und sein deutscher Freund Michael Storner die Wasserstraßen hinauf und herunter und schwenkten die roten Fahnen als Warnzeichen für Händler, Siedler und Waldläufer. Eintausendzweihundert Meilen legten die beiden Freunde innerhalb von sechzig Tagen zurück und vollbrachten damit eine einmalige Leistung. Ihnen war es später zuzuschreiben, dass die erste rote Welle gegen leere Häuser und verlassene Siedlungen prallte. Noch etwas war aber in der Zwischenzeit geschehen. Conolly war von Greathouse nach Fort Pitt abgezogen. Er hatte keine Suchaktion gestartet. Vielleicht war er so betrunken gewesen, dass er die Meldung nicht begriff, die ihm sein klatschnasser Corporal überbrachte. Wie dem auch war, Conolly brach auf und marschierte auf Fort Pitt zu, um dort Unterschlupf zu finden.
Das große Drama begann sich zu entrollen.
Auch Sterling und Slem sollten mit hineingezogen werden, und zwar schlimmer, als sie hätten voraussehen können.
––––––––
12.
Es begann an dem Tag, an dem sie die Flucht des Gefangenen entdeckten. Der Kerl war fort, verschwunden. Seine zerfaserten Fesseln lagen noch dort, wo er sie abgestreift hatte, neben dem Stein, der scharf genug war, um die Fesseln zu zerschneiden. Am helllichten Tag war der Kerl entwischt, während der Zeit, da Sterling und Slem im Lager beschäftigt waren. Der Kerl hatte nicht den Mut gehabt, sich eines der Pferde zu bemächtigen, da man das von der Lichtung aus gut hätte beobachten können. Er hatte auch nicht den Mut gehabt, sich Proviant und Waffen aus dem Camp zu holen. Er musste wohl eingesehen haben, dass die beiden alten wachsamen Männer sich nicht überrumpeln lassen würden.
Sterling und Slem folgten seiner Fährte so schnell sie konnten, in der Hoffnung, ihn recht bald wieder zu erwischen. Am Ufer sahen sie die Indianerin, die in einer stillen Bucht ihre Wäsche gewaschen hatte, im Sande liegen. Sie war tot, ermordet von dem Kerl, der ihr das eigene Messer entwunden hatte. Die Spuren im Sand zeigten deutlich, dass hier ein stiller, verzweifelter Kampf stattgefunden hatte.
„Großer Gott, wir haben sie vor diesem Schicksal bewahren wollen und haben elendig versagt“, kam es heiser über Slems Lippen.
„Wir wollten sie wieder zu Greathouse bringen, zu den vielen Kindern, die er mit seinen Frauen hat, und nun das hier! Für diese Schufte gibt es keine Gnade!“, entgegnete Sterling. Seine Augen waren dunkel geworden. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß aus der Stirn. Der Tod der Indianerin hatte ihn so erschüttert, dass er schwankend an ihr vorbeiging und der Fährte folgte. Sich aufrichtend deutete er über den Strom, wo ihr ehemaliger Gefangener gerade das andere Ufer schwimmend erreicht hatte.
Zu der Uferseite, nach der sich der Mann gewandt hatte, führte keine Furt. Der Gefangene hatte also jedes Risiko ausgeschaltet und das kalte Bad in der reißenden Strömung gewagt, um sich in Sicherheit zu bringen. Zwar war er weit mit dem Fluss abgetrieben worden, doch jetzt taumelte er ans Ufer, reckte sich und schwenkte drohend seine Faust gegen seine Widersacher. Er tanzte wie verrückt hin und her und schien etwas zu schreien. Der Strom rauschte laut, so dass man das Geschrei des Kerls nicht hören konnte. Die Entfernung war zu groß für einen Pistolen oder Büchsenschuss.
„Ihm nach!“, sagte Sterling.
„Gewiss, doch erst, wenn wir dieser Frau ein Grab gegraben haben. Mit den Pferden dürften wir den Kerl trotz des Vorsprungs bald einholen, und dann gnade ihm Gott. Bei mir wird er keine Gnade finden!“, erwiderte Slem.
Sterling gab nach. Er sah wohl ein, wie recht der Freund hatte. Zuerst musste die Frau unter die Erde gebracht werden, das war Christenpflicht.
Es dauerte nicht lange, dann hatten die beiden Alten ihre Pflicht erfüllt. Das Lager wurde abgebrochen. Sie wurden noch etwas aufgehalten, da sie die Ausrüstung und die Waffen so verpacken mussten, dass die Sachen beim Durchschwimmen des Flusses nicht nass wurden. Die Lasten wurden sorgfältig zusammengepackt und den Pferden aufgeschnallt. Dann zogen sie die Pferde an den Zügeln in den Fluss hinein und krallten sich, als die Tiere den Boden unter den Füßen verloren, in die Mähnen der Pferde fest.
Pferde und Menschen kämpften gegen die kalte Strömung an. Langsam näherten sie sich der Strommitte, wo die Strömung am stärksten war. Zäh kämpften die beiden alten Männer gegen die Strömung an, immer das Ufer im Auge. Endlich, als die Kälte fast unerträglich geworden war und ihnen der Atem ausgehen wollte, fassten die Pferde festen Boden unter den Hufen. Wenig später taumelten die beiden Männer aufs Trockene und mussten von der Anstrengung erschöpft ausruhen. Das Gepäck war trocken geblieben. Schnell wurde ein Feuer in Gang gebracht. Sie steckten Äste in den Boden, an denen sie die Kleidung zum Trocknen aufhängen konnten. Was spielte es für eine Rolle, dass die beiden Männer nackt wie am Tage ihrer Geburt um das Feuer hockten und sich aufwärmten, was tat es, dass der entflohene Gefangene durch diese Verzögerung einen weiteren Vorsprung erhalten würde.
„Es ist wie seit Tagen wieder kein Kanu auf dem Fluss zu erblicken“, sagte Sterling. „Dieser Fluss ist zu still geworden, viel zu still und unbefahren. Früher verging nicht ein Tag, an dem nicht ganze Kanuflottillen flussabwärts fuhren. Seit dem Mordtag ist es still geworden. Leg nur noch ganz trockenes Holz auf, Josuah! Die Flamme muss hell brennen, es muss ein nahezu rauchloses Feuer werden. Schau nach Westen über die Waldwipfel, was kannst du da erblicken?“
„Rauchsignale“, erwiderte Josuah Slem mit kehliger Stimme. „Die roten Stämme verständigen sich. Nie ist es dem weißen Mann gelungen, hinter die Bedeutung dieser Rauchsignale zu kommen. Es scheint, dass die Indianer ständig ihren Schlüssel zur Entzifferung der Signale ändern. Der schwarze Pfad ist offen, Freund Dick! Machen wir, dass wir in die Kleidung kommen und von hier verschwinden. Es ist nicht mehr geheuer hier.“
„Willst du den Mörder entwischen lassen?“
„Nein“, erwiderte Slem, „ich denke nicht daran, ich will aber auch nicht unverhofft einer indianischen Kriegsschar begegnen.“
„Wir holen ihn uns und brauchen nicht mehr lange zu warten, unsere Kleidung ist fast trocken.“
Schon bald konnten sie sich wieder ankleiden, aufsitzen und die Fährte des entflohenen Gefangenen aufnehmen. Ihr zu folgen war nicht einmal schwierig, denn der entflohene Mörder kannte die Tricks nicht, mit denen ein gewitzter Buschläufer seine Fährte unsichtbar machen konnte. Zum Erstaunen der beiden Männer führte die Fährte in Richtung auf Greathouse zu, sicherlich hatte der Kerl die Hoffnung, bei dem Besitzer der Handelsstation zu einem Pferd und einer Ausrüstung zu kommen. Gewiss glaubte er, einige von seinen früheren Kumpanen noch dort anzutreffen.
„Wenn er sich nur nicht täuscht!“, sagte Slem im Reiten zu seinem Partner Sterling. „Viel hat sich geändert, und das Gelichter spürt am schnellsten, wo die Gefahr am größten ist. Ich glaube kaum, dass unser Mann bei Greathouse noch Freunde treffen wird.“
„Seit ich Conollys Abzug beobachtet habe, scheint mir die Station sehr verlassen zu sein“, sagte Sterling ohne einen Blick von der Fährte zu lassen. „Nun, wir werden bald wissen, wie es sich wirklich bei Greathouse verhält.“
„Vielleicht floh Greathouse?“
„Nein, als ich die Station von weitem beobachtete, konnte ich ihn und seine Kinder erkennen. Einige seiner früheren Freunde waren noch bei ihm. Aber wie gesagt, es kann sich alles geändert haben. Wir können nur hoffen, dass es nicht zum Nachteil ist und dass wir den Mörder noch vor Greathouse erwischen.“
Sie trieben ihre Pferde an und hofften, dass der Kerl vom Fußmarsch ermüdet sein würde. Einmal hielt Sterling an, saß ab und untersuchte die Trittsiegelspur gründlich.
„Er hat schätzungsweise noch ein bis zwei Stunden Vorsprung. Die Angst sitzt ihm so im Nacken, dass er nicht pausierte und unentwegt weiterrannte. Er muss außerordentlich zäh sein. Zum Schluss wird ihm das nichts nützen, wir werden ihn holen. Vorwärts!“
Weiter ging der Ritt. Manchmal führte er am Ufer entlang, dann wieder durch lichtgrüne Wälder, über kleine Hügel und durch Talsenken. Sie scheuchten Wild bei ihrem Ritt auf, und schimpfend erhoben sich Elstern und Kolkraben von den Bäumen.
Gerade als sie um einen Wegknick ritten, erblickten sie die Gestalt des von ihnen Verfolgten. Er lag hingestreckt mitten auf dem Pfad, ein Pfeil ragte aus seiner Brust. Im Tode hatten sich seine Hände in das moosige Erdreich gekrallt. Ihm war das gleiche Schicksal zuteil geworden, das er oft anderen gebracht hatte. Vor dem Toten hielten die Reiter ihre Pferde an und saßen ab. Sterling näherte sich ihm, beugte sich über ihn und sagte heiser: „Logan!“
Er riss den gefiederten Pfeil aus der Brust des Toten und deutete auf die Federmarkierung. An ihm hatte er als den Pfeilschützen den Cayuga-Häiuptling Logan erkannt. Wer sich an der Grenze auskannte, konnte aus diesen Zeichen viel lesen.
„Logan“, flüsterte auch Slem, wobei sich seine Augen verdunkelten. Er sah sich beunruhigt um, doch ringsum stand der Wald schweigend da.
Es war, als hätte der Name des alten Häuptlings der Cayuga-Irokesen sich wie ein unheimlicher Bann auf die beiden alten Männer gelegt. Sie standen still und stumm, als zögerten sie auch nur noch einen Schritt weiterzumachen.
Logan hatte seinen Feind nicht von hinten wie ein Raubtier angefallen. Er musste wie ein Geist vor dem flüchtenden Mann erschienen sein und geschossen haben, so dass der Weiße das Angesicht desjenigen, durch dessen Hand er sterben sollte, noch erkennen konnte. Logan war den beiden Männern zuvorgekommen. Ihm gehörte die Rache, der er sich nun ganz und gar verschrieben hatte.
Logan, Taga Yuta, die Zweigende Eiche, wie man ihn nannte, hatte sich völlig gewandelt. Der Kinderfreund, der Mann, der die Weißen achtete und mit ihnen in Frieden leben wollte, war nun ihr Todfeind. An ihm konnte man deutlich erkennen, dass der, der hoch stand, besonders tief stürzen konnte, besonders grausam werden konnte. Es wehte die beiden Männer kalt an, denn hier hatte sich Logan, der Skalpverächter, den Skalp eines weißen Mannes genommen. Was würde er weiter tun?
Unwillkürlich drängte sich einem diese Frage auf.
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Heiser sagte Slem:
„Reiten wir weiter nach Greathouse.“
Sterling nickte nur. Ihm war die Kehle wie zugeschnürt, so dass er nicht antworten konnte. Sie stiegen in die Sättel und ritten weiter. Bald erkannten sie, dass sie unbewusst langsamer ritten, dass sie die Zeit mit vorsichtigem Beobachten vertrödelten. Sie hatten nicht mehr den Schneid wie zu Beginn ihres Rittes. Konnte nicht überall die große dunkle Gestalt des Rachehäuptlings auftauchen? Er würde auch ihnen seine Pfeile schicken, er würde sie allen Menschen mit weißer Hautfarbe schicken.
Zweimal hielten sie an, zögerten immer mehr und dehnten die Rastpausen aus. Noch nie waren sie so vorsichtig geritten. Die Dämmerung kam, und wieder legten sie eine Rastpause ein.
„Warten wir die Nacht ab“, sagte Sterling schwer atmend, „dann wollen wir Greathouse aufsuchen.“
„Du denkst an Gelbhaar, Logans Sohn? Du denkst an den Mann, der ein Kind niederschoss?“
„Ja“, gestand Sterling, „der Gedanke lässt mich nicht los, er quält mich und hält mich zurück. Logans Fährte zeigte, dass er vor uns auf dem Wege zu Greathouse ist. Der Himmel mag sich Greathouses erbarmen! Man sollte als Christenmensch für ihn beten, aber ich kann es nicht, nicht für diesen Menschen, der anstatt eines Herzens einen Stein in der Brust hat.“
––––––––
13.
Als die Nacht sich niedersenkte und die Dunkelheit sich ausgebreitet hatte, ritten die beiden alten Freunde weiter. Vor ihnen, dort wo Greathouses Handelsstation lag, loderte Feuerschein zum Himmel. Am Waldrand angekommen, hielten sie ihre Pferde an. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie schauten schweigend in die Flammen, die die Handelsstation gierig niederrissen. Funken sprühten in den Nachthimmel, Rauchwolken stiegen auf.
Die beiden Männer brauchten einige Zeit, um sich zum Weiterreiten zu entschließen, in das Gelände hinein, das vom Feuerlicht der Handelsstation erhellt wurde. Sie taten es zögernd und unwillig, als scheuten sie die Feinde, denen sie gut sichtbar werden mussten. Es geschah aber nichts, kein Pfeil wurde auf sie abgeschossen. Bei der brennenden Station angekommen, begegneten sie dem Grauen.
Josuah Slem war aus dem Sattel gesprungen, trat die Tür zur Station ein und verschwand ins Innere des Baues. Als er ein wenig später rußgeschwärzt wieder hervortaumelte, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Qualm und Hitze hatten ihn zur Umkehr gezwungen, hatten ihn wieder aus dem Raum hinausgetrieben, in den Logan eingedrungen war. Der einstmals so großherzige Cayuga-Irokesenhäuptling hatte die schrecklichen Zeichen seines Eindringens zurückgelassen.
„Freund, was ist los?“, fragte Dick Sterling ihn mit heiserer Stimme.
Josuah Slem schluckte schwer. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß aus der Stirn. Seine Augen waren groß und weit.
„Wir können nichts mehr ändern“, erwiderte er seinem Freund, wobei er keinen Blick von den Flammen ließ. „Logan hat Greathouse und vier seiner Freunde erwischt. Alle sind tot, im Kampfe niedergemacht. Der Innenbau steht in Flammen und kann jeden Augenblick einstürzen.“
„Wo um Himmelswillen sind Greathouses dreizehn Kinder?“
Josuah Slem gab keine Antwort. In den beiden Männern dämmerte eine furchtbare Ahnung auf. Nur einen Moment lang sahen sie sich in die Augen, dann sprang Sterling von seinem Pferd. Er sprach kein Wort, nahm nur sein Reittier am Zügel und gab Josuah Slem ein Zeichen, ihm zu folgen. Die beiden Männer setzten sich in Bewegung. Ein wenig später fanden sie die dreizehn Kinder des Stationswirtes, alle tot und erschlagen, von Logans furchtbarer Rache aus der Welt gebracht.
„Gott sei allen gnädig!“, murmelte Sterling erschüttert. „Das Leid ist über die Grenze gekommen. Verschwinden wir hier, ändern können wir nichts mehr.“ Ein kalter Schauer flutete Sterling über den Rücken. Die Rache Logans war entsetzlich. Der Himmel mochte wissen, was in diesem Manne vor sich ging, der allein den schwarzen Pfad gegangen war, der so furchtbar wütete, dass einen das Grauen anfliegen konnte. Noch nie in seinem Leben hatte Sterling sich so einsam und alt, so müde und zerschlagen gefühlt.
Das Grauen war so stark, dass es die beiden Reiter von dieser Stätte trieb, die doch schon so viel im Leben gesehen und erlebt hatten. Wortlos saßen sie auf und ritten davon.
Kaum hatten sie den Wald erreicht, als hinter ihnen gellend der Kriegsschrei der Cayuga-Irokesen durch die Nacht schallte.
„Logan!“, flüsterte Sterling. Seine Stimme war so kehlig, als müsse er an seinen eigenen Worten ersticken. Unwillkürlich hatten die beiden Reiter ihre Reittiere angehalten, wandten sich im Sattel um und blickten zurück. Beide erkannten den Irokesenhäuptling, der vor der Feuerkulisse den Kriegstanz seines Volkes aufführte. Unheimlich sah das aus, grotesk, wie der Tanz eines Wahnsinnigen. Seine Sprünge waren gewaltig, dabei schwang er sein Kriegsbeil über dem Kopf. Sein Kriegsschrei übertönte das Prasseln der Flammen.
„Ich bin sicher, dass er uns gesehen hat, uns aber davonreiten lässt, damit wir von seiner Tat berichten können“, sagte Josuah Slem schwer atmend. „Er hat uns anreiten sehen, er hat uns beobachtet, wie ich ins Haus ging, um nachzusehen,was geschehen war. Wir sollten uns aber lieber nicht darauf verlassen, dass er uns davonreiten lässt. So wie er jetzt ist, in diesem schrecklichen Zustand blutrünstiger Erregung, kennt er weder Freund noch Feind. Er ist ein Einzelgänger geworden, für den es keine Gemeinschaft mit anderen Menschen mehr gibt. Reiten wir!“
Slems Erregung konnte man nur zu gut verstehen. Im Weiterreiten sagte er zu seinem Partner: „Er war ein Mann des Friedens, er schickte seine Verwandten hierher, um sich dann später mit Dreizehn Pfeile hier zu treffen, um dann als Friedenssprecher vor Cornstalk zu treten. Es ist wie eine Ironie des Schicksals, dass gerade ihm, dem Fürsprecher der Brüderlichkeit, die Hölle bereitet wurde. Jetzt ist er mitten in dieser Hölle und kann nicht mehr heraus. Höre, Dick, wenn ich es mir so überlege, ist gerade meinem Neffen in dieser Verkettung tragischer Umstände eine große Aufgabe gestellt worden. Sicher wäre es James Girty im Verein mit Logan gelungen, den großen Häuptling Cornstalk umzustimmen. Es hat nicht sein sollen.“
Mit großen Augen schaute er vor sich hin. Sterling hatte das Gefühl, dass er in die Zukunft schaue. Slem schien zu ahnen, dass aus dem Unwissen um die wirklichen Begebenheiten die drei Girty-Brüder später einmal in den Augen der Grenzer verurteilt werden würden, wie man sie schon jetzt die Abtrünnigen nannte. Kein Wunder, dass dem alten Mann das Herz schwer wurde, dass er es heiß in sich aufsteigen fühlte, dass seine Schultern herabsanken, als hätte er schwere Lasten zu tragen.
Sein Partner schwieg. Dumpf rumorte der Hufschlag der Pferde unter ihnen. Der Flammenschein der brennenden Handelsstation war längst hinter ihnen geblieben, das Kriegsgeschrei Logans nicht mehr zu hören. Vor ihnen wurden in der Nacht plötzlich weitere Flammenherde sichtbar. Jetzt wussten sie es, überall brannte die Grenze. Aus den dunklen Wäldern kamen die Krieger in Rudeln hervorgebrochen. Der Schein der brennenden Siedlungen würde von nun an die Nächte erhellen und bis Richmond zu sehen sein. Aus den Wäldern kam der Tod. Jetzt zählte es nicht mehr, ob ein Mensch Freunde im anderen Lager hatte, jetzt trennten sich die Rassen. Alte Bindungen zerrissen, der Tod hieb die unsichtbaren Stricke durch. Der Tod geisterte durch die Wälder und aus dem dunklen Tann flogen die Brandpfeile. Wilde Gestalten tauchten vor einsam gelegenen Blockhütten auf. Rote Angreifer berannten die Siedlungen, schlugen mit ihren Schmetteräxten verschlossene Türen ein. Schüsse bellten durch die Nacht und Schreie gellten. Angst, Not, Leid und Kummer waren überall im Lande.
Zwei alte Männer mussten in das Lager zurück, zu den Menschen der weißen Hautfarbe. Sie würden mit den Menschen ihrer Rasse kämpfen. Ein anderes Gebot gab es nicht mehr. Das war der Widersinn des Schicksals, dass Verwandte gegeneinander kämpfen mussten, wie es bei Slem und seinen Neffen war. Warum musste das so sein? Es gab keine Antwort darauf. Die Entscheidung war von ganz allein gefallen. Jeder musste in das Lager hinein, in das er gehörte. Der Sturm war da!
Es galt so schnell wie möglich in ein Fort zu kommen, dorthin, wohin auch die Grenzer flohen, die nicht die Nerven hatten, es darauf ankommen zu lassen. Hinter den Palisaden eines Forts hatte man größeren Schutz, dort bildeten sich Kampfgemeinschaften, die auf Tod und Leben miteinander verschworen waren.
Um Mitternacht stießen die beiden Reiter auf eine Grenzerfamilie, die mit einem Leiterwagen unterwegs war. Das laute Knarren der Wagenräder hatte den beiden Männern schon von weitem verraten, wer da unterwegs war. Der Grenzer, seine drei Söhne und dessen Frau ließen die Läufe ihrer langen Büchsen sinken, als sie den Anruf der beiden Reiter hörten.
„Kommt nur näher“, forderte die Bassstimme des Grenzers die beiden Männer auf. „Wenn ihr keine roten Teufel, sondern Christenmenschen seid, dann seid ihr willkommen. Jeder Mann zählt.“
„Noch nie waren unsere Skalps so locker“, sagte Sterling, als er sein Pferd neben dem Wagen anhielt.
„Wem sagst du das?“, erwiderte der Grenzer, der neben seiner Frau auf dem Bock saß und selbst im Mondlicht einen finsteren Eindruck machte. „Die Hölle ist los! Unseren Nachbarn hat es erwischt. Es war ein Zufall, dass wir den Feuerschein sahen, dass ich noch einmal vor die Hütte trat, um nach dem Rechten zu sehen. Wenig später, und wir wären alle unsere Skalps losgeworden. Wir hätten auch den armen Bob nicht einmal gehört, als er aus dem Gebüsch taumelte. Er starb auf unserer Türschwelle. Zwei Pfeile steckten in seinem Rücken, Schawanesenpfeile. Bob war zu schwach, um den Mund auftun zu können. Er hatte noch die Kraft mit dem Kopf zu schütteln, als ich ihn fragte, ob von seiner Familie noch jemand lebe. Dem armen Teufel war nicht mehr zu helfen.“
Der Grenzer ballte die Faust und schüttelte sie in die Richtung, aus der er gekommen war. Seine drei Söhne hockten auf ihren Habseligkeiten auf dem Leiterwagen. Sie sprachen nicht und hielten ihre Büchsen fest umklammert.
„Jeder, der eine rote Haut hat, soll zur Hölle fahren!“, sagte der Grenzer mit rauer Stimme.
„Jeden Augenblick können sie auftauchen, und dann heißt es kämpfen. So leicht wird es nicht sein, sich unsere Skalps zu nehmen. Vorwärts!“, rief er seinen Pferden zu. Zu den beiden Männern gewandt sagte er: „Wenn ich mich nicht irre, dann seid ihr Sterling und Slem?“
„Du irrst dich nicht“, erwiderte Sterling.
„Dann freut es mich sehr, euch getroffen zu haben. Die Sache, wie ihr Conollys Geschütz im Moor versenkt habt, hat sich überall herumgesprochen. Ich denke, dass ihr uns nach Fort Wastle begleiten werdet?“
„Genau das hatten wir vor!“
„Umso besser! Es sieht sehr böse aus. Der Wald wimmelt von Rothäuten. Jetzt wird Lord Dunmore eingreifen müssen, wenn es diesem Herrn auch nicht gefallen wird. Er glaubt, dass er die Rothäute besser gegen uns aufsässige Grenzer einsetzen könnte. Jetzt wird ihm gegen seinen Willen eine andere Entscheidung aufgezwungen, und sicherlich passt ihm das keineswegs.“
Rau klang das Lachen des Fahrers durch die Nacht. Niemand stimmte ein, weder seine Familienangehörigen noch die beiden Begleiter. Mit einem Gurgeln endete das Lachen des Grenzers. Seine neben ihm sitzende Frau griff zu, als der Gatte zur Seite kippte. Sie verhinderte, dass ihr Mann, der von einem Pfeil getroffen wurde, vom Bock stürzte. Ein Schrei kam über die Lippen der Frau. Die beiden Zugpferde bäumten sich von einem Pfeilhagel überschüttet im Geschirr auf. Die Grenzerfrau sank einen Augenblick später über ihren Mann, und beide fielen vom Bock herunter.
Zur gleichen Zeit, als der Tod aus der Nacht kam, ohne dass man einen Feind wahrgenommen hätte, flammte Slems Rifle auf und einen Augenblick später krachte Sterlings Büchse. Die drei Söhne der Familie setzten über die Wagenplanken hinweg. Der Kräftigste der drei rief seinen Brüdern etwas zu, dann fassten sie gemeinsam an und kippten kurzerhand den Leiterwagen um, um sich einen Schutzwall zu schaffen. Zwischen den toten Pferden und dem umgekippten Leiterwagen schafften sie sich zur Verteidigung Raum.
Slem schwang sich aus dem Sattel. Er hatte nur einen Augenblick gezögert, hatte seinem Pferd schon die Sporen einsetzen wollen, um sein Heil in der Flucht zu suchen. Dann kam eine große Gleichgültigkeit über ihn, die Gleichgültigkeit eines Mannes, der die Furcht vor dem Tode verloren hat. Er schoss erneut auf die Schatten, die sich vor ihm bewegten und sich kaum vom dunklen Waldhintergrund abhoben. Er machte nicht erst den Versuch sein ausbrechendes Pferd zurückzuhalten.
Sterlings Pferd brach unter ihm zusammen. Mit einem Satz konnte er sich von dem zusammenbrechenden Tier befreien und in Deckung gelangen.
„Hierher, Josuah!“, rief Sterling im gleichen Augenblick seinem Partner Slem zu.
Slem löste sich von der Stelle und rannte nun ebenfalls in die Deckung. Ein Pfeil ritzte ihm die Haut, doch dann lag er hinter einem niedergebrochenen Pferd und lud seine Rifle nach.
„Jetzt, Freund, sollte man eigentlich beten“, hörte er die keuchende Stimme Sterlings. „Hier kommt keiner von uns lebend heraus!“
„Ich habe nie in einem Bett sterben wollen“, erwiderte Slem mit rauer Stimme.
„Wir hätten fliehen können, Josuah! Die Entscheidung lag in unseren Händen.“
„Tut mir leid, Didd. Das hier sind Menschen unserer Rasse, wir gehören zu ihnen. Durch eine Flucht hätten wir uns für den Rest unseres Lebens belastet. So aber sind wir frei.“
„Eine sonderbare Freiheit, Josuah!“, erwiderte Sterling kehlig. „Mach dir deutlich, dass wir in einer Falle sind. Die Lichtung ringsum ist umstellt. Die roten Teufel lassen sich Zeit, sie lassen uns zappeln, das liegt so in ihrem Wesen. Sie können grausam, furchtbar grausam sein!“
––––––––
14.
Wie grausam die Indianer waren, sollten sie noch erfahren. Der Jüngste der Brüder, Tom, wimmerte vor sich hin. Slem verließ seine Deckung und robbte zu ihm hin.
„Ich habe Angst!“, sagte der Junge, wobei er erschauerte und Slem sein verzerrtes junges Gesicht zuwandte. „Ich habe Angst!“ sagte er abermals. „Ich bin nicht wie meine beiden anderen Brüder“, sagte er, als Slem ihm beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. „Sie haben mich alle ausgelacht, weil ich nicht einmal einen Truthahn schießen wollte. Ich bin ein Feigling.“
„Das bildest du dir ein, Tom. Wie alt bist du eigentlich?“
„Zwölf Jahre“, sagte der Junge mit bebenden Lippen. „Sie haben mich immer ausgelacht. Jetzt sind Vater und Mutter tot, jetzt sind rings um uns herum Feinde. Es ist mir kalt.“
Der Junge kauerte sich zusammen und klammerte die Hände fester um das Gewehr. Seine Augen flackerten. Er konnte einem leidtun. Er war ein Junge der Grenze, aber er war nicht so stark, wie es die Grenzerjungen in diesem Alter sonst schon waren. Nur wenige Schritte von ihm entfernt lagen die toten Eltern, zu denen seine Blicke immer wieder hingingen. Seine beiden Brüder lagen hinter Deckungen, zwei richtige Männer, die bereit waren, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Sie kannten kein Klagen und Jammern und nahmen das, was kommen musste, erstaunlich ruhig hin. Sicherlich wäre ein Angriff, der nicht stockte, besser gewesen. Die Ruhe zerrte an den Nerven.
Sterling wischte den kalten Schweiß von der Stirn und rückte Kugelbeutel und Pulverhorn griffbereit neben sich. Seine Augen tasteten in die Nacht, doch es regte und rührte sich nichts. Slems Pferd war verschwunden. Es war anzunehmen, dass es bereits von den Feinden eingefangen worden war.
„Sie warten bis zum Morgengrauen“, sagte Slem zu dem Jungen neben sich. „Solange sie ohne das Risiko, nachts getötet zu werden, einen Überfall starten können, tun sie es. Der geringste Widerstand genügt allerdings, um den alten Aberglauben in ihnen lebendig zu machen, dass ein nachts gefallener Krieger die ewigen Jagdgründe nicht finden wird. Wenn der Morgen graut, Junge, werden sie ihren Kriegsschrei anstimmen und hervorbrechen.“
„Wir sollten fliehen“, erwiderte Tom mit zuckenden Lippen. „Wir sollten ausbrechen, es muss uns gelingen!“
„Darauf warten sie nur. Wenn wir das tun, schießen sie uns wie die Hasen ab, Tom. Wir werden dann nicht einmal einen von ihnen zu sehen bekommen.“
„Das heißt, dass wir alle sterben werden?“
„Das heißt, dass auch du kämpfen musst, junger Freund. Wir kennen die Anzahl der Gegner nicht und können nur hoffen, dass Milizreiter unterwegs sind, dass wir Hilfe bekommen.“
„Und wenn das nicht ist, was dann?“
„Dann?“ Slems Stimme bekam einen rauen Klang. „Ja, dann können wir nur eins tun, kämpfen und als Männer zu sterben versuchen.“
„Sterben? Ich will noch nicht sterben! Ich wollte immer von dieser Grenze fort, ich wollte in ein Land, in dem man in Frieden leben kann.“
„Ein solches Land gibt es auf der ganzen Welt nicht, Tom. Es gibt viele Menschen, die auszogen, um in einem solchen Land ihr Leben zu leben, doch wo sie auch hinkamen, überall gab es Kampf. Der Mensch muss kämpfen, er muss sich behaupten und durchsetzen. Nur Ruhe, Junge, du bist ein Mann und hast nur Angst, es dir einzugestehen. Furcht haben wir alle, deine Brüder und wir beiden alten Männer. Keiner ist frei davon. Du wirst schießen und kämpfen, dann vergisst du vielleicht die Angst.“
Tom nickte. Mit brennenden Augen schaute er zum Waldsaum hin, doch noch immer regte und rührte sich dort nichts. Der alte Trick, der die Verzweifelten glauben machen sollte, dass die Feinde abgezogen seien, verfing hier nicht. Die in der Falle sitzenden Männer dachten nicht daran, ihre kümmerlichen Deckungen aufzugeben.
„Wenn wir schon unsere Skalps verlieren sollen, werden wir einige von den rothäutigen Schuften mit auf die lange Reise nehmen!“, meldete sich der älteste Sohn der Familie. „Wir haben ihnen noch einiges zurückzuzahlen. Ich werde bis zum letzten Atemzug kämpfen.“
„In Ordnung, Bruder“, sagte der zweitälteste Sohn, Bill. Er kaute an seinen Fingernägeln herum, um seiner Nervosität Luft zu schaffen. Dann drehte er sich zu Slem um und schaute diesen durchdringend an. „Jeder andere wäre davongeritten und hätte uns im Stich gelassen. Was trieb dich dazu zu bleiben, Oldman?“
„Die Tatsache, dass sich in mir etwas dagegen sträubte, einfach davonzureiten, Bill.“
„Nun, es ist deine Sache. Hier ist nicht mehr viel zu machen. Es hat nicht sein sollen, dass wir das schützende Fort erreichten. Nun, stimmen wir unseren Totengesang an. Unsere Gegner sollen nicht glauben, dass uns die Furcht innerlich aushöhlt. Sie sollen erkennen, dass wir nicht weniger tapfer sind. Heh, Sterling, als du jung warst, sollst du ein großer Krieger gewesen sein. Was kann man denen da vorsingen?“
Bevor Sterling antworten konnte, mischte Slem sich ein.
„Es wäre besser, wenn wir beten würden, Freunde“, sagte er. „Es ist besser, wenn wir uns durch ein Gebet auf den Angriff vorbereiten und uns dem Herrn empfehlen.“
„Ohne uns, alter Mann!“, gab Jim, der Älteste der drei Brüder, zur Antwort. „Noch leben wir, und solange ich lebe, will ich das Gefühl, noch am Leben zu sein, auch auskosten. Es ist zwar nicht gerade ein erhebendes Gefühl zu wissen, dass mein Skalp in wenigen Stunden am Gürtel eines Kriegers hängen wird. Das Leben ist kostbar, und wenn es nur noch Minuten sind, die ich zu leben habe, an das, was nachher kommt, will ich nicht denken, Oldman.“
Slem antwortete nicht. Was sollte er diesen Brüdern sagen? Jeder Mensch hatte seinen Standpunkt und musste wissen, wie er es in den letzten Stunden seines Lebens halten wollte. Die Unterschiedlichkeit der Charaktere kam wohl in den Stunden eines solchen nervenaufreibenden Wartens besonders deutlich zum Ausdruck.
„Bereiten wir alles vor, was unserer Verteidigung nützen kann!“, sagte Sterling.
Jeder wusste, was er meinte. Wortlos gehorchte man ihm und zog den umgestürzten Wagen herum. Dann baute man mit dem Hausrat die Lücken ringsum zu, so dass man nach allen Seiten Deckung hatte. Jeder von ihnen wusste aber auch gleichzeitig, wie wenig die Deckung im Ansturm der Gegner nützen würde. Sie war gerade hoch genug, dass man sich dahinter ducken oder dahinter legen konnte. Pferdekörper, Leiterwagen, und Hausrat waren wenig genug, um einen wirksamen Schutz darzustellen. Der Nachthimmel spannte sich über den fünf Menschen, die sich eine Igelstellung verschafft hatten, in der einer dem anderen den Rücken decken musste.
Die unheimliche Ruhe ringsum konnte sie nicht täuschen, auch die Eulenschreie nicht, die ab und zu erklangen.
„So viele Eulen gibt es nirgends“, sagte Sterling in einem Anflug bitterer Ironie. „Man müsste sie schon aus dem ganzen Ohio-Waldgebiet an dieser Stelle zusammengebracht haben.“
„Wenn diese Nacht zu Ende ist, werden wir keine Eulenstimmen mehr zu hören brauchen, Partner“, erwiderte Slem.
„Richtig, denn für keinen von uns werden irgendwo noch Stimmen zu hören sein. Dabei war es immer mein größtes Vergnügen, den Stimmen der Menschen und der Natur zu lauschen. Wie wird es sein, wenn sie für immer verlöschen, was wartet auf uns drüben in der anderen Welt?“
„Hör auf, alter Mann!“, sagte Jim. „Siehst du denn nicht, wie es Tom immer elender wird? Reiß dich zusammen, Tom! Wenn du schon nicht auf Truthähne zu schießen vermochtest, jetzt wirst du auf zweibeinige Federträger schießen können. Denke dabei daran, was sie unseren Nachbarn, was sie unseren Eltern angetan haben! Wirf deine Angst über Bord, Tom! Sie nützt niemandem und schadet nur.“
Tom gab keine Antwort, aber er wimmerte nicht mehr in sich hinein. Ganz ruhig lag er in der Deckung, ein innerlich ausgebrannter junger Mensch, der sich mit der Situation abgefunden zu haben schien. Er atmete schwer, und das zeigte deutlich, dass seine nach außen hin sichtbare Ruhe nur eine Maske war.
„Dass Stunden zu Ewigkeiten werden können, habe ich nicht gewusst“, sagte Bill nach einiger Zeit. „Diese roten Teufel verstehen es meisterhaft, einen auf die Folter zu spannen. Wenn ich noch vorhin deiner Meinung war, Jim, dass man zu leben wünscht, und wenn es nur noch Minuten sind, so habe ich diese Einstellung jetzt nicht mehr. Je schneller die Entscheidung fällt, umso besser! Lebend sollen sie mich aber nicht bekommen! Ich weiß, was sie mit ihren Gefangenen machen. Sie haben besondere Methoden, um einen langsam in den Tod zu schicken. — Was ist das dort am Waldsaum, dort regt sich etwas. Schaut hin!“
Man folgte seiner Blickrichtung. Dann sah man zwischen zwei Ahornbäumen die aufrechte Gestalt eines Mannes. Er hielt sich außerhalb der Schussweite. Auf dem nach Irokesenart gestutzten Skalp waren schneeweiße Federn zu sehen.
„Der Weiße Tiger!“, flüsterte Jim entsetzt.
Der Name des gefürchteten Irokesenhäuptlings hatte eine besondere Spannung ausgelöst.
„Mein Neffe, Simon Girty, der Weiße Tiger“, kam es leise von Slems Lippen. Er wollte aufspringen und schreien, wollte den Namen des Mannes rufen, der sein Neffe war. Er bekam aber kein Wort heraus. Nur ein heiseres Gestammel kam über seine Lippen, das aber keinen Zusammenhang hatte. Er hatte sich aufgerichtet. Sterling zog ihn mit Gewalt in die Deckung zurück.
„Es ist vorbei, Freund“, sagte Sterling. „Wir haben uns entschieden, du und ich. Das da drüben sind unsere Gegner. Vergiss, dass du deine Neffen ein Leben lang gesucht hast, dass du alles getan hast, um sie zu finden. Es gibt keine Brücke mehr, zwischen uns liegt ein Abgrund. Er ist so tief, dass weder du hinüber noch er herüber kann.“
„Trotzdem, ich sollte es versuchen, Dick! Es geht um unser Leben.“
„Wir haben alle bis auf Tom damit abgeschlossen.“
„Und wenn es nur ein Menschenleben ist, das heil herauskommt! — Simon, Simon Girty!“ Slems Ruf drang laut durch die Nacht.
Tiefe, unheimliche Stille folgte. Dort, wo man eben noch die Gestalt des Irokesenhäuptlings gesehen hatte, war der Platz leer. Es hatte den Anschein, als hätte man eine Spukgestalt gesehen.
„Wer ruft?“, kam die Gegenfrage, als die Spannung kaum noch zu ertragen war. „Wer ruft den Namen, den ich abgelegt und vergessen habe?“
„Ich, Josuah Slem, dein Onkel, ruft dich, Simon Girty.“
„Ich habe keinen Onkel, ich habe nur noch Feinde! Das erste Morgengrauen kommt, macht euch zum Sterben bereit!“
„Ein Junge ist bei uns, Simon. Er ist so alt wie du damals warst, als man dich und deine Brüder in die Wildnis schleppte. Gib wenigstens ihm eine Chance, wir anderen kämpfen!“
Es erfolgte nicht sofort eine Antwort. Simon Girty schwieg, und als man bei den Männern hinter ihren Deckungen bereits glaubte, dass das Schweigen die Antwort sei, hörte man die dumpfe Stimme sagen: „Frage ihn, ob er ein Indianer werden, ob er wie ein Seneca-Irokese leben will!“
Bevor der Alte Tom fragen und die Antwort übermitteln konnte, hörte man Toms Antwort mit so fester Stimme, dass es einen kalt überlaufen konnte: „Girty, du bist schlimmer als ein reißender Wolf, du gibst deinem eigenen Verwandten keine Chance. Ich verfluche dich, du hast statt eines Herzens einen Stein in der Brust! Du bist weit schlimmer als deine Krieger. Komm nur und versuche die Skalps zu holen, komm nur!“
„Eure Zeit ist um! Josuah Slem, kämpfe und stirb wie ein Mann!“
Seine Worte gingen im Kriegsschrei unter. Kahl geisterte der Morgen herauf. Ringsum wurde es lebendig. Zarte Nebelschleier zogen über die Lichtung, als es aus dem Wald hervorbrach. Von allen Seiten gleichzeitig kamen die scheußlich bemalten Krieger heran. Pfeile überschütteten die Deckungen und blieben im Holz des Wagens und in den Pferdeleibern stecken. Schüsse krachten.
Slem warf einen schnellen Blick auf Tom, der seine Waffe herumdrehte und den ersten über die Deckung springenden Gegner mit dem Kolben traf. Ja, bevor man nachladen, bevor man das Pulver aufschütten und eine neue Kugel ins Rohr schieben konnte, waren sie schon heran.
Jim erhob sich aus seiner Deckung und sprang den Gegnern mit einem irr klingenden Lachen entgegen. Ihm nach folgte Bill. Sterling schrie auf und rollte vor Slems Füße. Im gleichen Augenblick traf Slem der Todespfeil mitten in der Brust. Er kippte vornüber, rollte auf die Seite und blieb still liegen. Er war noch nicht tot, als Simon Girty, der Weiße Tiger, sich schützend vor ihn stellte, damit man ihm sein Haar nicht nehmen konnte. Wie durch einen Schleier erkannte Slem seinen Neffen, der sich mit seinem grell geschminkten Gesicht über ihn beugte.
„Es tut mir leid, Onkel“, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme des Mannes, der sein Sohn hätte sein können. „Verzeih mir, wir gehen alle unseren Weg, bis zum bitteren Ende, verzeih mir!“
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ENDE