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Blonde, gelockte Haare, schwer zu bändigen, über einem ebenmäßigen Antlitz, mit braunen, strahlenden Augen und einen sinnlichen Mund, übten eine besondere Anziehungskraft aus. Die geheimnisvolle Dame in einer eleganten, sehr gut sitzenden Fantasieuniform eines Offiziers, ist die Hauptperson in unserer Erzählung. Die Uniform betonte ihre tolle Figur, war aber wenig geeignet ihr Geschlecht zu verschleiern.
In ihrem Auftreten war sie ganz Dame der adligen Gesellschaft. Taktvoll und höflich, aber auch selbstbewusst, achtete sie darauf, dass ihr die ihrem Rang entsprechend Ehre entgegengebracht und die Etikette eingehalten wurde. Sie war hochgebildet, intelligent, geistreich, schlagfertig aber auch, dem Geist der Zeit entsprechend, frivol und sexuell zügellos. Die Schöne konnte auch eine große Liebe ihrem Verstand unterordnen und besonders wichtig: Sie konnte vergessen. Sie war eine ungewöhnlich emanzipierte Frau für die damalige Zeit.
Die Schöne war auch ein echtes Kind der Provence. Die Sonne des Südens mit ihrem einzigartigen Licht, die Düfte und Farben, aber auch der stürmische Mistral waren ihr Lebenselixier.
1 Lenticularis Wolke – Vorbotin eines schweren Mistrals
2 Uhrenturm aus den 16. Jahrhundert in Aixen-Provence. Die Glocke hängt frei in einem „Glockenkäfig“, genannt Barbarotte
Sie wusste, wenn am azurblauen Himmel weiße, linsenförmige Wolken erstrahlen, ist der Herrscher der Provence urplötzlich da. Er fegt dann mit brutaler Wucht, das Rhônetal als Düse nutzend, zwischen den Alpen und den Cevennen in einer tagelang anhaltenden Böenwalze in Richtung Mittelmeer.
Die Menschen in der Provence sind auf den „Himmelsfeger“ eingestellt. Ihre romanischen Kirchen haben auf der Nordseite keine Fenster und anstelle eines ummauerten Glockenturmes, hängen ihre Glocken in einem Metallgestell, der den Wind nur eine geringe Angriffsfläche bietet. Die Schäfer versuchen ihre Herde rechtzeitig vor den Böen in den Stall oder unter den Vor-
sprung einer Felswand in Sicherheit zu bringen. Die Wochenmärkte werden geschlossen und die sonst so belebten Gassen sind leer gefegt.
Der Mistral ist aber zu manchen Zeiten auch sehr willkommen. In den Herbstwochen, wenn das Weinlaub durch Regentropfen und den Tau nicht trocken will, warten die Winzer sehnsüchtig auf seinen mächtigen Föhn. Er pustet Schädlinge weg, entzieht dem Ungeziefer mit seinem trockenen Atem den Nährboden, senkt die Temperatur im Sommer und verhindert Fäulnis. Er lüftet die Provence und weht die Ausdünstungen des dicht besiedelten Rhônetals weg. Wenn der Mistral dann drei, sechs oder neun Tage geweht hat, wie die Bauernregel besagt, ist er so plötzlich, wie er gekommen ist, auch wieder verschwunden.
Die Lebensfreude der traditionsbewussten, geselligen und stolzen Provenzalen erwacht wieder. Unsere weibliche Hauptperson, teilte mit ihnen ihren fröhlichen Sinn und ihre Gelassenheit, abseits der Hektik des Nordens. Im Verlaufe der Erzählung wird sich der Mistral immer wieder in Erinnerung bringen.
Diese Hinweise auf ihre Heimat, ihre Äußerlichkeiten und die wenigen Eigenschaften sind bereits alles, was wir im Moment über sie wissen. Sie wahrte nämlich ihre Geheimnisse konsequent. Wir kennen weder ihren tatsächlichen Namen noch ihre Herkunft, wissen nicht genau, wo sie lebte und wie sie lebte, können auch nicht mit Gewissheit sagen, warum sie nach Italien geflüchtet ist.
Ihr bisheriges Leben ist ihrem Liebhaber völlig verschlossen. Sie verpflichtet ihn, nach ihrer Trennung, nicht nach ihr zu forschen. Sollte er ihr zufällig einmal begegnen, hätte er so zu tun, als kenne er sie nicht. Erst nach vielen Jahren, gegen Ende der Erzählung, ist sie endlich bereit, ihre Geheimnisse zu lüften.
Sie nennt sich Anne d’Arci. Um ihren Namen zu verschleiern, hat ihr Geliebter sie
Henriette
genannt. Ihren tatsächlichen Namen haben Wissenschaftler erst 250 Jahre später herausgefunden.1
Die männliche Hauptperson entstammt der Lagunenstadt Venedig, der „Serenissima“ („Die Durchlauchtigste“). Wir lernen einen 24-jährigen etwa 1,87 Meter großen, kräftigen Venezianer kennen, mit gebräunter Haut, kastanienfarbigen, gelockten Haar über schwarzen Augen, einer Nase mit kühnen Haken und einem starkknochigen Kinn. Lediglich die roten, sinnlich gewölbten Lippen mindern den männlich, entschlossenen Ausdruck in diesem Gesicht.
In Gesellschaft zeigte er sich auf das Kostbarste gekleidet, in Samtkleid, Brokatweste und teuren Spitzen, mit juwelenbesetzten Degen, Orden und großen Solitär an seinem Finger. Er ist ein brillanter Unterhalter, von Vater und Mutter, einem Schauspielerehepaar, belastet, macht er ganz Europa zur Bühne und hat höchste Freude zu narren, blenden und düpieren.
Er beherrscht Latein, Griechisch, Französisch, Hebräisch und etwas Spanisch und Englisch. Nach dem Studium „Beider Rechte“ (römisches und kirchliches Recht) wird er Kleriker der römisch-katholischen Kirche und hält mit 16 Jahren seine erste Predigt in einer venezianischen Kirche. Schon mit 18 erwirbt er den Doktortitel an der Universität Padua. Seine kirchliche Laufbahn endet in seinem 20. Jahr.
Neben seinen Studien beschäftigte er sich frühzeitig mit Gebieten wie Alchemie, Goldmacherei und Astrologie, weil sich diese besonders gut eigneten, gutgläubige Menschen zum Narren zu halten. Der raffinierte Blender und Improvisationskünstler hat den sechsten Sinn für die Wünsche der anderen Menschen. Er zeigt sich immer als Wissender und Eingeweihter. Wenn er etwas vorschlägt, tut er es immer so, als hätten es bereits die anderen gedacht, was deren Selbstgefühl natürlich schmeichelt.
Trotz seiner intensiven Ausbildung bleibt ihm genügend Zeit, um sich mit seinem eigentlichen Hauptstudienfach zu beschäftigen. Er nennt es „anatomische Erkundungen am weiblichen Körper“. Der Lebenskünstler, Draufgänger und Abenteurer ist weltweit als der größte Frauenverführer des 18. Jahrhundert bekannt.
Wir lernen ihn im jugendlichen Alter kennen, als er noch einen festen Wohnsitz in Venedig hat, eher noch unentschlossen umherzieht, sein Handwerk bereits exzellent beherrscht aber noch nicht der mit allen Wassern gewaschene Verführer ist.
Er nennt sich Chevalier de Seingalt, in Cesena und Parma gibt er auf der Torwache den Namen Farussi an, den Familiennamen seiner Mutter. In seinen späteren Jahren nutzt er auch Antonio Pratolini als Pseudonym. Bekannt ist er aber als
Giacomo Casanova.
Dieser große Verführer wird im Verlaufe der Erzählung mit der wunderschönen Dame zusammentreffen. Wird er seine Rolle auch bei ihr spielen können? Ist er ihr überhaupt gewachsen?
Die Hauptpersonen dieser Erzählung lebten in der Zeit des Rokokos, einer Stilrichtung der europäischen Kunst zwischen 1730 und 1790, welche sich vor allem in den erotischen und sexuellen Dingen deutlich von unseren heutigen Anschauungen unterschied. Ihre Handlungen kann man nur aus der Sicht der damaligen Sitten verstehen.
Am Beginn dieser Epoche stand der Tod Ludwigs XIV. 1715. Da König Ludwig XV. noch nicht volljährlich war, verwaiste der Hof. Der Hochadel, der sich möglichst nahe beim König in Versailles aufgehalten hatte, zog sich in Palais, Stadtschlössern und Appartements zurück. Das gesellschaftliche Leben des Adels nahm immer mehr Einzug in den Salons der feinen adligen Damen. Anders als am Hofe, bevorzugte man nun die Bequemlichkeit. Zierliche Möbel, Sofas, Glas und teure Keramik nahmen Einzug in die Châteaus und Lusthäuschen.
Ehemals hatte Ludwig XIV. die höfische Kleidung vorgeschrieben, nun fiel die Rolle des Königs in der Mode weg. Die Frauen sollen nun keine „Rubensfiguren“ mehr haben, sondern eine Wespentaille.
Jeden Morgen wurden sie in Fischbeinmieder zu dieser Idealform gepresst. In ihren Palais zogen sie dann, so schnell wie möglich, ein loses bequemes Kleid an. Die immer größeren Reifröcke (Panier = Hühnerkorb) sollten vor allem einen Kontrast zu der Wespentaille bilden. Ausgestaltet waren die Damen mit einem Fächer, manchmal auch mit bebänderten Spazierstöcken und zusammenklappbaren Regenschirmen (Parapluies).
Die Männer trugen Seitenröcke, Kniehosen, Jabots (Spitzenrüschen) und häufig einen Galanteriedegen (eine Art Spielzeug). Die Perücke verlor bei den Herren in Frankreich immer mehr an Bedeutung. Ersetzt wurde sie durch ein zierliches Säckchen, den Haarbeutel, der mit einer Schleife zusammengehalten wurde. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde der Zopf modern, der ganz selbstverständlich, bei jeder Morgentoilette gepudert werden musste.
Bei den Damen kamen hochgesteckte Haare, oft mit Haarteil, in Mode. Sie waren verziert mit Federn, Schmuck und Bändern. Allein das Frisieren vor einem Fest soll mindestens drei Stunden gedauert haben. Spiegel und Puder waren im Grunde die Symbole der Rokoko Gesellschaft. Die Spiegelleidenschaft als Ausdruck der Eitelkeit und des Narzissmus wurde befriedigt durch kleine Taschenspiegel, mannshohe venezianische Spiegel und ganze „Spiegelkabinette“.
Das Rokoko war vor allem die Genusskultur der Aristokratie. Das Leben sollte eine ununterbrochene Freude sein. Man wollte seinen Reichtum ohne Arbeit genießen, seine Machtstellung, ohne die damit verbundenen Pflichten wahrnehmen und die Freuden der Liebe ohne Trennungsschmerz. Es entwickelte sich ein durch und durch dekadenter Lebensstil, in dem Leichtigkeit, höfische Etikette, dauerndes vielsagendes Lächeln und galante Umgangsformen wichtig waren.
3 Kleidermode des Rokokos, Jean Francois de Troy: Liebeserklärung, 1731
Was früher anrüchig und obszön war, jetzt war es erlaubt. Zweideutige Witze waren kein Tabu mehr. Entscheidend: nur keine Langeweile!
Es war die Zeit des ungehemmten Auslebens der Sexualität. Während in der Gegenwart, das gegenseitige Kennenlernen, Gefühle für den anderen und Liebe, im Allgemeinen vor dem Sex kommen, war man in dieser Zeit viel offener und wenig verschämt. Man hatte Sex um den Sex willen und Emotionen waren zweitrangig oder kamen danach. Der Liebesakt besaß kaum eine größere Bedeutung als Essen und Trinken.
Wenn man eine Nacht miteinander verbracht hatte, war das noch kein Grund, um sich am nächsten Morgen deshalb noch zu kennen. Jemanden darauf anzusprechen oder ihm eine Szene zu machen, hätte einen bedauerlichen Mangel an Takt und Erziehung bewiesen.
Die Liebe reklamierte man für den Verstand und den einzigen Zweck der Ehe sah man im Ehebruch. Wenn eine Frau ohne Liebhaber als unattraktiv angesehen wurde, ein Ehemann ohne Mätressen in den Verdacht geriet, impotent zu sein, entstand der Eindruck, dass das Ausleben von Sexualität eines der Hauptkennzeichen des Rokokos darstellte. Die Liebe hatte sowohl ihre gesunde Triebhaftigkeit als auch ihre dramatische Leidenschaftlichkeit verloren; sie war raffiniert und amüsant, aber aus einer Leidenschaft zu einer Gewohnheit geworden.
Aber nun schnell zu unserer Erzählung!
Die unbegreiflichen Launen des Schicksals lenken die Wege der schönen adligen Dame und des ruchlosen Abenteurers bereits in die italienische Region Emilia Romagna zu einem Gasthaus in der „Stadt der drei Päpste“, Cesena.
1 André, Louis Jean: Sous le Masque d’Anne d’Arci: Adélaide de Gueidan. In: L’Intermédiaire des Casanovistes, Nr. 13, Genf 1996.