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2. Experten vor Gericht – Die Einsatzbereiche der Rechtsmedizin

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Medizinische Sachverständige spielen heute eine wichtige Rolle in der Aufklärung von Verbrechen und bei der Beurteilung der Täterpersönlichkeit. Der Gerichtsmediziner kann den Todeszeitpunkt und die Todesursache feststellen, was für die Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft von entscheidender Bedeutung ist. Ebenso wichtig ist seine Rolle bei der Beweissicherung im Fall von rechtserheblichen Körperverletzungen, z. B. von Misshandlungen und Notzucht.

Der Einsatz medizinischer Kenntnisse zur Klärung von rechtlichen Fragen hat eine lange Tradition, die sich bis in die Zeit der Antike zurückverfolgen lässt. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (s. Kapitel 1) war ein wichtiger Einschnitt, weil sie die gerichtsmedizinische Praxis für die nächsten Jahrhunderte festschrieb. Der Gesetzgeber der Frühen Neuzeit ließ sich von Ärzten als medizinischen Sachverständigen beraten, bestimmte aber Hebammen, Wundärzte und Chirurgen als Auskunftspersonen über Fragen der Schwangerschaft und des gewaltsamen Todes. Seit dem 17. Jahrhundert kämpften die akademisch gebildeten Mediziner gegen diese Gutachtertätigkeit von Chirurgen und Hebammen. Erst im späten 18. Jahrhundert setzten sie sich schließlich durch, als Chirurgie und Geburtshilfe in die medizinische Forschung und Lehre integriert wurden.1

Die zunehmende Autorität der Experten

In den Gerichtsverhandlungen des 17. und 18. Jahrhunderts begegnen uns medizinische Experten bereits häufig. Wie das Beispiel der angeblichen Hexe in Kapitel 1 gezeigt hat, waren die Ärzte nicht nur für die Untersuchung von Verletzungen, Mordopfern und Schwangeren zuständig, sondern auch für die Beurteilung des Geisteszustandes von Beschuldigten. Sie nahmen medizinische Untersuchungen vor, öffneten Leichen, besuchten Gefängnisse und schrieben anschließend Berichte. Seit der Einführung der mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung im 19. Jahrhundert erhielt der medizinische Experte eine neue Bühne. Er vertrat dort weder Anklage noch Verteidigung, sondern gab den Geschichten eine Stimme, die der tote Körper über seine Verletzungen und Misshandlungen erzählte. Die Rolle des Gerichtsmediziners war und ist jedoch nicht auf öffentlichkeitswirksame Auftritte vor Gericht beschränkt. Seine Expertise ist bereits im Stadium der Voruntersuchung entscheidend.

Die Medizin erweiterte ihren Einfluss auf die Rechtspflege während des 19. Jahrhunderts. Dazu trug die Einrichtung von gerichtsmedizinischen Instituten bei, in denen Spezialisten neben ihrer Gutachtertätigkeit in Forschung und Lehre involviert waren. Die Gerichtsmedizin entwickelte sich dadurch zu einem spezialisierten Wissensfeld, das allerdings schon bald das Monopol für gerichtlich relevante Expertisen verlor. Mit der Analyse von Giftstoffen und Blutspuren betrauten die Gerichte immer häufiger Chemiker. Im 20. Jahrhundert wurde die Analyse der Realien, d. h. der am Tatort vorgefundenen Spuren zu einem interdisziplinären Unternehmen, wie in Kapitel 6 ausführlicher dargestellt wird.

Seit dem späten 18. Jahrhundert erhielt die Zurechnungsfähigkeit des Täters einen wichtigen Stellenwert für die Festlegung des Strafmaßes und die Zuerkennung von mildernden Umständen. In dieser Zeit begann sich das psychiatrische Wissen deutlich gegenüber einem laienhaften Verständnis von Geisteskrankheiten abzugrenzen, in dem Verhaltensanomalien und Kommunikationsprobleme die wichtigsten Indizien waren. Die Psychiater beanspruchten auf dieser Grundlage die alleinige Autorität zur Feststellung von Geisteskrankheiten. Obwohl sie weniger für die Aufklärung von Verbrechen als für die Beurteilung von Verbrechern herangezogen wurde, ist die Psychiatrie ein wesentlicher Teil der forensischen Medizin, sie schaltete sich regulierend in die rechtliche Beziehung zwischen Kollektiven und Individuen ein.2

Ausgehend von der Begutachtung eines Kindesmords im 17. Jahrhundert schildert dieses Kapitel die unterschiedlichen Einsatzbereiche der Gerichtsmedizin und fragt dabei nach den Möglichkeiten und Grenzen des Austausches zwischen dem rechtlichen und dem medizinischen Blick auf Sachverhalte, Beschuldigte und Zeugen. Der Erfolg einer Untersuchung hing oft von der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Richter ab, wie der österreichische Kriminalist Hans Gross 1913 feststellte. Wichtig dafür erschien ihm neben der Kompetenz des Arztes die Fähigkeit des Richters, die richtigen Fragen zu stellen und Verständnis für die Arbeitslogik des Arztes zu haben.3

Die Lungenprobe – Nachweis für eine Totgeburt?

Am 8. Oktober 1681 wurde in dem kleinen Städtchen Zeitz, das unweit von Leipzig gelegen ist, eine grausige Entdeckung gemacht: Man fand die Leiche eines Neugeborenen mit blutigen Wunden am Kopf in einem Garten vergraben. Diese Entdeckung kam nicht ganz unerwartet. Die Nachbarn der Anna Voigt hatten gezielt nach dem Leichnam des Kindes gesucht, weil die Schwangerschaft eines 15-jährigen Mädchens zur damaligen Zeit kaum verheimlicht werden konnte.

Kindesmord gibt es heute noch; zur Zeit von Anna Voigt war das sogar ein häufiges Delikt. Wie neue Studien zur Sozialgeschichte von Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit zeigen, nahm die Zahl der Frauen, die wegen vorsätzlicher Tötung ihres neugeborenen Kindes verurteilt wurden, im Laufe des 17. Jahrhunderts beständig zu. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erreichten die Hinrichtungen von Kindesmörderinnen einen Höhepunkt. Wegen der Häufigkeit dieses Deliktes wurden in Danzig zwischen 1688 und 1717 sogar mehr Frauen als Männer hingerichtet.4

Kindesmord war ein Kapitalverbrechen. Die gesetzlichen Handhaben gegen die Täterinnen – sehr oft die Mütter der Kinder – wurden seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend verschärft. Ausgehend von Frankreich wurden unverheiratete Schwangere einer rigiden Kontrolle unterworfen, indem bereits die Verheimlichung einer Schwangerschaft kriminalisiert und als Indiz für einen geplanten Kindesmord gewertet wurde.5 Zur Aufdeckung des Kindesmords bediente man sich aller Möglichkeiten, die in der damaligen Zeit zur Verfügung standen: an erster Stelle wurden Hebammen und Ärzte zur sachverständigen Begutachtung der jungen Frauen bzw. der toten Säuglinge hinzugezogen, aber auch der Richter und seine Henker kamen zum Einsatz. Sie sollten ein Geständnis erzwingen und dadurch das Verfahren – im Sinne der Rechtsprechung – zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Nicht unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang die indirekte soziale Kontrolle und das Gerücht zur Identifizierung von Beschuldigten.

Anna Voigt wurde nach der Entdeckung des Leichnams verhaftet und galt als die Beschuldigte eines Kapitalverbrechens. Sie bestritt nicht die Schwangerschaft, aber die Tötung des Kindes. Ihrer Aussage nach hatte sie das Kind tot geboren und nach der Geburt im Garten vergraben, weil sie sich vor einer Strafe wegen verheimlichter Schwangerschaft bzw. wegen ihrer unehelichen sexuellen Beziehung fürchtete. Diese Notlage wurde von den Gerichten nicht berücksichtigt. Denn die Ängste der jungen Frauen vor der Schande und der psychische Stress, in dem sie sich vor und während der Geburt befanden, wurden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ernst genommen.

Anna Voigt hatte das Glück, nicht wie die meisten anderen Kindesmörderinnen aus einer armen Familie zu kommen. Sie war die Tochter eines „angesehenen Mannes“ und wohnte zudem in einer Stadt, in der mit Johannes Schreyer ein gebildeter und wissenschaftlich interessierter Stadtarzt wirkte. Er beschränkte sich nicht auf die üblichen Handgriffe, sondern wandte die neuesten physiologischen Erkenntnisse seiner Zeit zur Untersuchung des toten Kindes an. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 hatte den Hebammen und Ärzten empfohlen, bei der Untersuchung der Mutter vor allem auf die Veränderung des Körperumfangs nach dem Ende einer verheimlichten Schwangerschaft und auf die Muttermilch in den Brüsten zu achten, bei der Obduktion des Kindes die Lebensfähigkeit, die allgemeine Körperentwicklung und die Spuren der Anwendung von Gewalt zu erforschen. Wurden belastende Indizien gefunden, konnte die Folter gegen die junge Mutter angewandt werden.

Der Stadtarzt von Zeitz ließ sich von den Verletzungen am Kopf des Säuglings nicht beirren. Er glaubte der Erzählung der Angeklagten und interpretierte die Wunden als Folge der Suche nach dem Leichnam mit spitzen Stangen. Um die Glaubwürdigkeit von Anna Voigts Aussage zu unterstützen, musste er einen Nachweis finden, der eindeutig die Totgeburt belegen konnte. Eine Totgeburt war für die damalige Zeit nichts Seltenes. Mütter und Kinder starben häufig im Wochenbett. Bei verheirateten Frauen war ein solches Ereignis immer belastend, hatte aber kein gerichtliches Nachspiel. Die Hebamme konnte jederzeit den Hergang bezeugen, falls ein Verdacht gegen die Mutter entstehen sollte. Anna Voigt, die wie so viele Kindesmörderinnen ihr Kind alleine und ohne jede Hilfe zur Welt gebracht hatte, konnte jedoch auf keine Zeugen zurückgreifen.

Das Zeugnis ihrer Unschuld konnte so nur im Körper des toten Säuglings gefunden werden. Johannes Schreyer kannte die gerade entfachte Diskussion um die Beschaffenheit der Lunge von Neugeborenen und ihre Veränderungen durch das Einsetzen der Atmung. Bereits Galen, der einflussreiche Arzt der Antike, hatte den Unterschied zwischen der kompakten, unentfalteten Lunge von ungeborenen Kindern und der beatmeten Lunge festgestellt. Nach der Entdeckung des Blutkreislaufs durch den englischen Naturforscher William Harvey im Jahr 1628 gewannen diese Beobachtungen neue Aktualität. Sie wurden in den Schriften des dänischen Anatomen Thomas Bartholin und des niederländischen Forschers Johann Swammerdam weiter verfolgt. Zwei Jahre vor dem Fall Voigt hatte Swammerdam seine anatomisch-physiologische Abhandlung über die Atmung publiziert.6

Für einen Stadtarzt des 17. Jahrhunderts war es nicht üblich, sich umfassend und schnell über die neuesten Entwicklungen im Bereich der Medizin zu informieren. Johannes Schreyer war eine Ausnahme. Er nutzte die physiologischen Einsichten in die Veränderungen der Lunge durch das Einsetzen der Atmung und warf die bei der Obduktion entnommene Lunge des Kindes in ein Behältnis mit Wasser. Als sie unterging, stand für ihn die Unschuld von Anna Voigt fest. In seiner deutschen Publikation zu diesem Fall, die der so genannten Lungenschwimmprobe in der Gerichtsmedizin zum Durchbruch verhalf, fasste er seine Überlegungen nochmals zusammen. Das Kind musste tot geboren sein, weil „die aus dem Leibe des Kindes genommene und auf das Wasser hingeworfene Lunge untertauchte, welches, wie ich mich erinnerte die Curiosi und andere hochgelehrte Medici, für ein Zeichen eines in Mutter-Leibe gestorbenen Kindes angeben […]“7 Seit diesem Fall gehört die Lungenschwimmprobe zum festen Repertoire der Gerichtsmedizin. Sie wird auch heute noch eingesetzt, obwohl man mittlerweile weiß, dass sie nicht völlig zuverlässig ist. Eine Lunge kann als Folge der Verwesung leichter als Wasser sein, auch wenn sie niemals beatmet wurde.

Im späten 17. Jahrhundert war die Entscheidung von Johannes Schreyer, die Lunge des Säuglings ins Wasser zu werfen, ein mutiger Schritt. Durch die Nutzung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse wollte er eine junge Frau vor Folter und Hinrichtung bewahren.8 Die neuen experimentellen Verfahren setzten sich jedoch nur langsam in den Gerichtsbezirken der deutschen Staaten durch. Erst seit den 1760er-Jahren gab es ein weit verbreitetes Interesse an der Lungenprobe als einem physiologischen Kennzeichen der Totgeburt.9 Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kritisierte die medizinische Fakultät der Universität Tübingen das geringe Niveau der gerichtsärztlichen Gutachten zum Kindesmord. Aus der Sicht der Universitätsmediziner waren sie unvollständig und daher ungeeignet zur Feststellung des Sachverhalts.10

Der Blick auf die individuelle Notlage

Anna Voigt hatte nicht nur das Glück, einen fachlich interessierten medizinischen Gutachter zu haben. Sie wurde zudem von einer Koryphäe der damaligen Rechtswissenschaft, Christian Thomasius, verteidigt. Er unterrichtete an der Universität Leipzig positives Recht sowie Naturrecht und war einer der einflussreichsten Aufklärer Deutschlands. Sein Kampf gegen Hexenwahn und Folter lassen ihn als einen unerschrockenen Kritiker der Auswüchse des frühneuzeitlichen Rechtssystems erscheinen. In der Verteidigung von Anna Voigt konnte er dieses Engagement in einen konkreten Fall einbringen. Den gemeinsamen Bemühungen von Schreyer und Thomasius war ein voller Erfolg beschieden. Die Angeklagte musste nur für zwei Jahre die Heimat verlassen, um die verheimlichte Schwangerschaft und die uneheliche sexuelle Beziehung zu sühnen.

Das Auftreten von Christian Thomasius als Verteidiger einer vermeintlichen Kindesmörderin kann als Hinweis auf das starke Interesse der aufgeklärten Öffentlichkeit am Problem des Kindesmords interpretiert werden. Der kritische Blick auf die Bekämpfung des Kindesmords offenbarte den Aufklärern die Schattenseiten eines höchst ineffzienten und inhumanen Rechtssystems. Die bestehenden Gesetze und sozialen Institutionen schienen den Kindesmord eher zu fördern als zu reduzieren. Die öffentliche Kritik richtete sich ebenso gegen die Gerichtspraxis, vor allem gegen die Anwendung der Folter. Diese Debatte beeinflusste nicht nur die Richter, sondern erhöhte den Druck auf die medizinischen Gutachter, zuverlässige Anhaltspunkte für die Verurteilung der Frauen zu bieten.

Das Engagement der Aufklärer drückte sich in den fast 400 Antworten auf eine Preisfrage der Mannheimer Akademie des Jahres 1780 zum Thema Kindesmord aus. Die Preisschriften richteten die Aufmerksamkeit auf die Notlage der jungen Mütter, die aus Verzweiflung zu einem derartigen Schritt gezwungen waren, und forderten eine Bestrafung, die sich an der bisherigen Lebensführung der Angeklagten orientieren sollte. Der Blick auf die ‚Individualität‘ der Täterin sollte dem Beobachter den Zugang zu einer komplexen Notlage eröffnen, in der sich die tötende Mutter befunden hatte. Literarische Bearbeitungen dieses Themas, wie etwa die Figur des Gretchens in Goethes Faust, folgten demselben Erklärungsmuster.

Das Interesse der Fürsten und ihrer Regierungen an diesem Thema beschränkte sich nicht nur auf das Verständnis für die Notlage der Täterinnen, sondern war motiviert von bevölkerungspolitischen Überlegungen. Der Staat des 18. Jahrhunderts benötigte Arbeiter und Rekruten. In den Amtsstuben wurden zahlreiche Projekte entwickelt, mit denen die Bevölkerung erfasst, klassifiziert und möglichst vermehrt werden sollte.11 Beim Kindesmord setzten die Regierungen vor allem auf Prävention, wobei sie die Argumente der Aufklärer durchaus ernst nahmen. Um der sozialen Diskriminierung eines unehelichen Kindes zu begegnen, richteten sie Findelhäuser ein, die häufig mit Geburtsanstalten gekoppelt waren. Die Sensibilität für die psychische Notlage der Kindesmörderinnen veränderte zur selben Zeit die gerichtliche Beurteilung dieser Fälle, solange die Täterin noch nicht polizeilich oder gerichtlich auffällig geworden war.12

Gewalt- und Sittlichkeitsdelikte

Zusätzliche Expertise war vor Gericht vor allem dann gefragt, wenn der menschliche Körper zum Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung wurde. Die Constitutio Criminalis Carolina legte die Rolle der medizinischen Expertise genau fest. Im Fall eines gewaltsamen Todes musste der Richter in Begleitung von zwei Schöffen, einem Schreiber und einem oder mehreren Wundärzten den Leichnam genau besichtigen und die Art der Wunden beschreiben. Der medizinische Sachverständige sollte außerdem die Schwere der Verletzung und ihre Tödlichkeit feststellen; diese Wundbegutachtung war somit prognostisch ausgerichtet.

Zur Erstellung der Prognose stützten sich die Chirurgen auf die Lage der Verletzung am Körper, die als Hinweis auf Heilbarkeit bzw. Unheilbarkeit verstanden wurde (s. Abbildung 4). Im Laufe des 17. Jahrhunderts änderte sich der Blick auf die Wunde. Die Obduktion des gesamten Körpers wurde üblich. Verletzungen des Kopfes sowie der Bauch- und Brusthöhle galten nun als besonders gefährlich, weil dadurch innere Organe in Mitleidenschaft gezogen werden konnten. Mit der Rezeption des physiologischen Wissens veränderte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte die Bestimmung der Gefährlichkeit einer Wunde erneut, weil nun der Funktionsausfall von Organen in Betracht gezogen wurde.13

Dieser neue Blick auf Verletzungen ging mit neuen Praktiken der Wahrheitsfindung einher, die aus heutiger Sicht magische Qualitäten hatten. Zur Überführung des Täters war es üblich, die Bahr-Probe bzw. Cruentatio Cadaverum (Bluten der Leiche) anzuwenden, die auf eine lange Tradition als Gottesurteil zurückblicken konnte. Sie beruhte auf der Annahme, dass die Wunden des Opfers bei der Konfrontation mit dem Täter zu bluten begannen.

Aus heutiger Sicht erscheint dieses Nebeneinander von moderner physiologischer Argumentation und dem nahezu magischen Glauben an die ‚Zeugenschaft‘ des Leichnams im Angesicht des Täters unvereinbar. Für die Mediziner und Naturforscher des 16. und 17. Jahrhunderts war dies nicht der Fall. Bekannte Gelehrte dieser Zeit fanden für das plötzliche Austreten von Blut aus den Wunden bei der Konfrontation mit dem Mörder Erklärungen, die mit den damaligen wissenschaftlichen Vorstellungen vom Körper durchaus übereinstimmten: die Antipathie des Verstorbenen gegen seinen Mörder, der Wunsch nach Rache und die Kraft der Seele selbst nach dem Tode konnten das Blut des Toten gezielt in Wallung versetzen.14


4 Zur Beurteilung der Schwere einer Verletzung gingen die Chirurgen am Beginn der Frühen Neuzeit von ihrer Lokalisation aus, die eine Klassifikation in heilbare (curabilis) und unheilbare (incurabilis) ermöglichte. Zur Diagnose griffen sie auf bildliche Schemata, so genannte Wundenmänner wie diese Federzeichnung aus dem späten 14. Jahrhundert zurück.

Das Nebeneinander von zwei gänzlich unterschiedlichen Zugängen zum Körper von Verletzten und Toten lässt sich im Rückgriff auf eine interessante Beobachtung des Freud-Schülers Theodor Reik erklären. Aus seiner Sicht gab es in der Rechtsgeschichte keine lineare Entwicklung vom Gottesurteil über Eid und Folter hin zum modernen Indizienbeweis. Indizien wurden Reik zufolge immer gesammelt und ausgewertet. Die Deutung der Indizien bezog sich auf das Wissen um den Körper und die natürlichen wie übernatürlichen Kräfte, die auf ihn einwirkten.15 In der cruentatio sahen die Gelehrten eine natürliche körperliche Reaktionsweise, die denselben Status als Beweismittel für sich beanspruchen konnte wie die in der Obduktion gemachten Wahrnehmungen zur Tödlichkeit von Verletzungen.

Die zeitgenössischen Kritiker bezeichneten die cruentatio nicht als eine Form des Aberglaubens. Sie wiesen auf alternative Erklärungen für das plötzliche Austreten von Blut aus den Wunden von Ermordeten hin. Die Erschütterungen des Leichnams, die Fäulnis der Venen und andere Faktoren erklärten das Bluten der Wunden als einen natürlichen Vorgang, der von der Präsenz des Mörders völlig unabhängig verlief.16 Angesichts dieser Zweifel verschwand die cruentatio zunehmend aus der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis.

Bei der Beurteilung von Wunden waren die Gerichte vor allem an einer gutachtlichen Äußerung über die Tödlichkeit von Verletzungen interessiert. Denn nur im Fall einer absolut tödlichen Verletzung konnten die Richter die volle Strafe verhängen. Das Gutachten der Ärzte hatte daher einen entscheidenden Stellenwert für den Ausgang des Gerichtsverfahrens. Die Ärzte wurden dadurch zu „Schiedsrichtern über Leben und Tod“, wie der Gerichtsmediziner Adolph Christian Heinrich Henke im Jahr 1815 konstatierte.17

Mit dem heutigen Wissen um die Funktionszusammenhänge des menschlichen Körpers hat die Beurteilung von Verletzungen eine andere Basis gewonnen. Im 18. Jahrhundert waren die Kenntnisse über die „hydraulisch-vitale Maschinerie“ des Menschen noch sehr lückenhaft. Eine naturwissenschaftliche Kausalanalyse von Krankheiten und Verletzungen existierte noch nicht. Die Einsichten der Physiologie wurden zunehmend in ein komplexes Klassifikationssystem von Wunden integriert. Nach dem Grad ihrer Tödlichkeit wurden sie in Arten, Unterarten und Familien eingeteilt. Die Anwendung dieser Systeme in der Gutachterpraxis führte zu heftigen Kontroversen. Denn viele Verletzungen konnten gleichzeitig tödlich und nicht tödlich sein – je nach der körperlichen Konstitution, den Umweltbedingungen und der medizinischen Versorgung.18

Die Debatte um eine angemessene Systematik der Wunden erlaubt einen Einblick in die strukturellen Herausforderungen, mit denen sich die Kriminalistik bis heute auseinander setzen muss. Die Fragen der Richter, Staatsanwälte und Kriminalbeamten an die Ärzte und andere Fachwissenschaftler waren und sind von den rechtlichen Kategorien des Tatbestands bestimmt. Die Gerichtsmediziner mussten im 18. Jahrhundert auf diese Fragen eine Antwort finden, selbst wenn das mit dem Entwicklungsstand der Medizin nicht vereinbar war. Die Kooperation zwischen forensischer Medizin und Gericht änderte sich erst im 19. Jahrhundert. Die Richter konnten auf der Grundlage der neuen Strafgesetzbücher flexibler über die Schuldfrage entscheiden und waren nicht mehr so sehr vom Schiedsspruch der Ärzte über die Tödlichkeit einer Verletzung abhängig. Gleichzeitig erweiterte sich das Wissen der Gerichtsärzte auf den Gebieten der Pathologie, der Histologie und der Physiologie. Ihre Gutachten wurden differenzierter und lieferten nun auch wertvolle Hinweise für die Suche nach dem Täter.

Bei der Beurteilung und Begutachtung von Sittlichkeitsdelikten war der juristische und medizinische Blick zugleich von einem kulturellen Wissen bestimmt, das den betroffenen Frauen grundsätzlich misstraute. Da nur bei Jungfrauen die Möglichkeit einer Vergewaltigung in Betracht gezogen wurde – jeder uneheliche sexuelle Kontakt wertete eine Frau als leichtfertig ab –, konzentrierten sich die Mediziner auf die Zeichen der Jungfräulichkeit. Zu ihrer Feststellung waren in der Carolina die Hebammen bestimmt, die ihre Gutachten auf der Unversehrtheit des Hymens, des so genannten Jungfernhäutchens, auf bauten. Dagegen wandten sich die Ärzte des späten 16. und des 17. Jahrhunderts. Sie stritten die Existenz eines Hymens ab und versuchten dadurch die Expertise der Hebammen zu entwerten. Die Ärzte präsentierten alternative Kennzeichen der Jungfernschaft wie die Inspektion des Urins und das Räuchern der Genitalien. Eine Jungfrau – so glaubten sie – würde vom Räuchern nichts wahrnehmen, weil ihre Sexualorgane noch nicht geöffnet waren und deshalb keine Verbindung zwischen ihrem Unterleib und ihren Sinnen im Kopf existieren konnte.19

In der Zeit der Aufklärung setzte sich auch bei den Medizinern das unbeeinträchtigte Hymen als das wichtigste Kennzeichen der sexuellen Unberührtheit einer Frau durch. Gleichzeitig verstärkte sich die Skepsis der Ärzte gegenüber der Möglichkeit einer Vergewaltigung. Ausgehend von einem Gutachten der medizinischen Fakultät in Leipzig aus dem Jahre 1670 vertraten Juristen und Mediziner die Ansicht, dass ein gewisses Einverständnis vonseiten der Frau immer notwendig war, um einen Beischlaf durchzuführen. Nur unter besonderen Bedingungen ließ sich eine Vergewaltigung vorstellen: bei einem deutlich stärkeren Täter, der die Frau trotz heftiger Gegenwehr gefügig machen konnte, bzw. bei Kindern oder bewusstlosen Frauen.20 In der Gerichts- und Gutachterpraxis wurden Problemfälle meist durch eine männliche Solidarität gelöst, die einen offensichtlich zu geringen Widerstand der Frau mit einem grundsätzlich vorhandenen, vor Gericht aber geleugneten Einverständnis in die sexuelle Beziehung gleichsetzte.21

Den Frauen, die sich als Opfer von Vergewaltigungen vor Gericht präsentierten, wurde weder im 18. noch im 19. Jahrhundert großes Vertrauen entgegengebracht. Ihre Anzeigen hielt man häufig für Verleumdungen gegenüber den Männern, von denen sie Heirat oder finanzielle Abfindung erhofften oder an denen sie sich rächen wollten. Dieses Misstrauen gegen die Opfer führte dazu, dass sie und nicht die Männer zwangsweise medizinisch untersucht wurden. Für die vergewaltigten Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts war eine Untersuchung ihrer Geschlechtsteile sogar noch viel problematischer und beschämender, als dies heute in Zeiten regelmäßiger gynäkologischer Untersuchungen der Fall ist.22

Zurechnungsfähigkeit und Simulation

Die Gerichtsmedizin unterstützt nicht nur die Gerichts- und Polizeibehörden bei der Aufklärung von Verbrechen, sondern vertritt auch die Interessen des Beschuldigten gegenüber den Behörden, wenn dieser als körperlich oder geistig Kranker Anspruch auf Hafterleichterung, auf Befreiung von der Folter oder auf Strafmilderung hat. Für die Beschuldigten war diese Unterstützung von großer Bedeutung; sie unternahmen daher erhebliche Anstrengungen, sich dafür zu qualifizieren. Die Gerichtsärzte waren sich dessen bewusst. Ihre Kompendien enthielten daher Abschnitte, in denen Anzeichen der Simulation von Geisteskrankheiten, Epilepsie und Schwangerschaft beschrieben wurden.

Die Constitutio Criminals Carolina sah bereits eine Strafmilderung vor, wenn ein Mord oder Totschlag in einem krankhaften psychischen Zustand verübt worden war. Für die Beurteilung des Geisteszustandes war allerdings kein medizinisches Gutachten vorgesehen. In der Gerichtspraxis beauftragte man dennoch die Ärzte mit der Beurteilung eines zweifelhaften Geisteszustandes, wie auch das Beispiel des Hexenprozesses im Augsburg des 17. Jahrhunderts gezeigt hat (s. Kapitel 1).

Im 17. Jahrhundert stellten Dämonen die gerichtlichen Psychologen vor erhebliche Probleme. Die Dämonen tauchten sowohl in den Darstellungen von Patienten als auch in den Lehrbüchern der Rechtsmedizin auf. Als Gutachter mussten die Ärzte bei Verdacht auf Geisteskrankheit zuerst die Möglichkeit einer dämonischen Besessenheit, anschließend die Simulation der Krankheit ausschließen. Der italienische Mediziner Fortunatus Fidelis beschrieb aus eigener Erfahrung die daraus resultierenden diagnostischen Schwierigkeiten, weil jedes Symptom auf das Wirken der Dämonen, eine Simulation oder eine Krankheit hinweisen konnte.23

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellten die Mediziner die Geisteskrankheiten in enge Beziehung zu körperlichen Fehlleistungen und reklamierten die Psychiatrie als eine medizinische Spezialität. Man ging davon aus, dass Beeinträchtigungen durch körperliche Krankheiten, aber auch ausbleibende Menstruation bzw. Hämorrhoidalfluss Frauen und Männer rasend machen konnten.24 Seit dem späten 18. Jahrhundert führte die Übernahme aufklärerischer anthropologischer Konzepte zu der für die Rechtspflege folgenreichen Annahme, dass jede von einem vernünftigen Menschen begangene Tat verständlich und nachvollziehbar sein musste. Straftaten ohne Motiv riefen daher den Verdacht hervor, dass sie nur in einem unfreien Zustand verübt worden sein konnten.25 Vor allem bei Gewaltdelikten handelten die Täter aus der Sicht der damaligen Experten kaum vernünftig. Dennoch erschien es unzulässig, Gewaltverbrecher alleine deshalb als unzurechnungsfähig zu erklären.26

Die Mediziner betonten den Unterschied zwischen psychischer und moralischer Krankheit, um nicht jeden Straftäter entschuldigen zu müssen. Der Würzburger Mediziner Johann Baptista Friedreich argumentierte in seinem System der gerichtlichen Psychologie (1842), dass „[…] ein Individuum moralisch abnorm oder krank, zugleich aber ärztlich betrachtet durchaus psychisch gesund seyn kann […] Freier Wille ist immer da, er hat nur eine unrechte, vom Moralisten nicht gebilligte Richtung“.27 Diese Konzeption der Willensfreiheit bezog sich auf die Festlegung eines Lebensentwurfs und nicht auf die Entscheidung für oder gegen eine Straftat.28 Damit verlagerte Friedreich die Schuldhaftigkeit und das ‚Böse‘ von der Handlung in die Motive zur Tat und in das „Wesen“ des Menschen: „Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln […]“,29 wie Friedrich Nietzsche treffend in seiner Kritik formulierte.

Im späten 19. Jahrhundert veränderte sich der Blick der Psychiater und Juristen auf Personen mit abweichendem Verhalten. Die medizinischen Konzepte der Degeneration und der Neurasthenie (Nervenschwäche) bezogen sich auf das Gehirn bzw. Nervensystem und boten neue Anhaltspunkte für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. Mit diesen Konzepten erhielten die Psychiater einen neuen Zugang zu Verhaltensstörungen, die bisher nicht als Folge von krankhaften Zuständen erkannt worden waren. Der deutsche Psychiater Karl Wilmanns präsentierte in seiner Studie zur Psychopathologie der Landstreicher mehrere biografische Studien, in denen die dauernde Wiederkehr von Straftaten nicht moralischen Verfall, sondern eine pathologische Veränderung der Persönlichkeit anzeigte. Diese drückte sich eben in der Unfähigkeit zur sozialen Eingliederung, im Bedürfnis nach Ortsveränderung und in den Ausbrüchen von destruktiver Aggressivität aus.30

Degenerierte Straftäter stellten für die Psychiater und Kriminalisten der Jahrhundertwende und des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Herausforderung dar. Als Kranke konnten sie weder bestraft noch in Freiheit entlassen werden – sie mussten daher in spezialisierten Anstalten verwahrt werden.

Nicht jeder Degenerierte wurde straffällig. Ihre soziale Auffälligkeit konnte sich auf vielfältige Weise äußern. Hans Gross vermittelte seinen Lesern einen Eindruck von den unterschiedlichen Zumutungen, mit denen sich der Untersuchungsrichter vonseiten dieser krankhaft veranlagten Personen konfrontiert sah:

Die Degenerierten, psychisch Minderwertigen, Neurasthenischen, Psychotischen, endogen Nervösen bilden keine besondere Klasse der geistig nicht Gesunden: auch der Epileptiker, die Hysterische, der Landstreicher, der Exhibitionist und unzählige andere dieser Qualität sind degeneriert und weil sie es sind, hat sich eine der genannten Krankheiten bei ihnen entwickelt. Es gibt aber noch eine unabsehbar große Gruppe von Menschen, die zwar degeneriert sind, bei welchen sich aber die Epilepsie, Hysterie usw. nicht entwickelt hat […] Trotzdem sind sie nicht als normal anzusehen; auf dem Boden ihres nicht ganz, falsch oder vielleicht zu weit entwickelten Wesens schießt allerlei Seltsames, Unsoziales, strafrechtlich nicht zu Haltendes aus und so geben die Degenerierten dem Kriminalisten außerordentlich viele und ausnahmslos schwierige Arbeit.31

Der Untersuchungsrichter benötigte eine gewisse Vertrautheit mit den Erscheinungsformen von Geisteskrankheiten, um eine Simulation möglichst bald durchschauen zu können. Ein erster Verdacht ergab sich immer dann, wenn nur auffällige Symptome einer Krankheit reproduziert wurden. Der wenig geschickte Simulant entlarvte sich, indem er „überhaupt die Rolle der angenommenen Krankheit nicht durchzuführen [wusste]“.32 Zur Entlarvung der geschickteren Simulanten mussten die Mediziner auf die besonderen Zeichen der Simulation zurückgreifen. Sie verfügten über eine normative Vorstellung vom Erscheinungsbild bestimmter Geisteskrankheiten als einer Summe von Blicken, Gebärden, Bewegungen, Handlungen und Worten. Diese „eigenthümliche Physiognomie“ einer Krankheit konnte niemals vollständig nachgeahmt werden.33 Da die forensische Psychiatrie letztlich ein Referenzsystem verwendete, in dem jede somatische wie psychische Manifestation gleichzeitig als Zeichen von Krankheit wie Simulation gelesen werden konnte, waren die Patienten jedoch in ein Vorwissen um ihren Charakter eingebunden, das auf den biografischen Erhebungen der Kriminalisten beruhte.34

Identitätsermittlung

Ein wichtiges Aufgabengebiet der Gerichtsmedizin ist die Feststellung der Identität von unbekannten Toten. Die zahlreichen Opfer von Katastrophen wie Flugzeugabstürzen, Eisenbahnunfällen und kürzlich dem Seebeben in Südostasien werden heute mit den modernsten Techniken identifiziert. Das erfordert eine rechtsmedizinische Befunderstellung, die Erhebung des Zahnstatus, die Feststellung besonderer Merkmale am und im Körper sowie eine DNA-Analyse.

Die Identifizierung von unbekannten Toten hatte in der Frühen Neuzeit keinen hohen Stellenwert. Sie blieb auf einzelne spektakuläre Fälle beschränkt, wie etwa auf Karl den Kühnen, Herzog von Burgund, der in der Schlacht von Nancy im Jahr 1477 gefallen war. Die Leiche des Herzogs konnte erst zwei Tage nach dem Ende der Schlacht gefunden werden. Alle Gefallenen waren nackt, weil spezialisierte Einheiten unmittelbar nach dem Ende der Kampf handlungen den Toten die Kleider und Waffen abnahmen, um sie zu verkaufen. Grundsätzlich aber waren Kleider die ersten Bezugspunkte in der Identifikation einer Person bis zum späten 18. Jahrhundert. Wenn sie fehlten, musste der Körper einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden. Das Protokoll über die Identifizierung des Herzogs listete die folgenden Anhaltspunkte auf: fehlende Vorderzähne, Narben am Hals und auf der Schulter, ein Geschwür am Bauch und besonders lange Fingernägel.35

Informationen über die Zähne und die besonderen Kennzeichen stehen auch heute im Vordergrund bei der Identifikation von unbekannten Leichen. Seit dem 19. Jahrhundert sind es nicht die fehlenden Kleider, die eine erfolgreiche Identitätsfeststellung verhindern, sondern das Fehlen des Körpers selbst. Die Gerichtsmediziner gewinnen Hinweise auf die Identität von weit gehend verwesten Leichen durch die Untersuchung des Skeletts und die Rekonstruktion von Gesichtern durch Moulagen (Abdrücke) und letztlich auch durch den Einsatz des Computers.

Ein gutes Beispiel für die Ermittlung der Identität anhand des Skeletts findet sich in den Annalen der französischen Justiz. Dem bekannten Kriminologen und Gerichtsmediziner Alexandre Lacassagne gelang 1889 durch aufwändige Analyse einer Leiche der Nachweis, dass es sich dabei um den als vermisst gemeldeten Pariser Gerichtsvollzieher Alphonse Gouffé handelte. Während Lacassagnes Abwesenheit aus Lyon war die Leiche bereits von seinem Stellvertreter Paul Bernard im Leichenschauhaus einer Autopsie unterzogen worden. Bernard schätzte das Alter des Unbekannten auf etwa 35 Jahre und fand Hinweise auf einen Tod durch Strangulation. Wegen der Altersfeststellung schied der 49-jährige Gerichtsvollzieher Gouffé aus. Dennoch fuhr Gouffés Schwager nach Lyon, um diese Spur nicht ungenutzt zu lassen. Aufgrund der Haarfarbe konnte er keine Übereinstimmung mit seinem vermissten Verwandten feststellen. Dennoch gab Marie-François Goron, der Leiter der Pariser Sûreté, nicht auf. Er war überzeugt, dass Gouffé einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war; einige Indizien deuteten auf Lyon. Deshalb bat er Alexandre Lacassagne, den Professor für Gerichtsmedizin an der Universität von Lyon, um ein weiteres Gutachten.

Die Leiche wurde exhumiert und Lacassagne begann mit der Arbeit. Da die Verwesung bereits weit fortgeschritten war, konzentrierte er sich auf Haare und Knochen. Als erfahrener Pathologe und Anatom erkannte er schnell Deformationen an der rechten Kniescheibe – ausgelöst durch eine chronische Wasseransammlung – und am rechten Fußgelenk, die von einer tuberkulösen Entzündung verursacht schienen. An weiteren Besonderheiten stellte er ein Gichtleiden am rechten Fuß und das Fehlen eines Backenzahns fest. Die vergleichende Analyse der rechten und linken Hände und Arme bestätigte, dass der Unbekannte ein Rechtshänder war. Die Anatomie der Füße stimmte mit den Schuhen überein, die Gouffé trug. Die Größenbestimmung war nicht schwierig, stand doch das gesamte Skelett zur Verfügung. Selbst wenn nur ein Oberschenkelknochen von Gouffé erhalten geblieben wäre, hätte Lacassagne eine ziemlich genaue Schätzung vornehmen können.

Diese Schätzungen wurden durch vergleichende Forschungen an gefallenen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg immer präziser.36 Im Fall Gouffé bereitete die Altersbestimmung einige Schwierigkeiten. Lacassagne analysierte die Zähne, die sich im Laufe der Jahre in einer beobachtbaren Weise verändern. Aufgrund des vorliegenden Befundes schätzte er das Alter des unbekannten Toten auf 45 bis 50 Jahre, was mit dem Lebensalter des vermissten Gouffé übereinstimmte. Die heutigen Gerichtsmediziner nutzen weiterhin die Zähne zur Altersbestimmung. Sie verwenden dafür die so genannten Zahnzementringe, die eine Bestimmung des Alters auf 2,5 Jahre exakt ermöglichen. Dabei werden die jährlichen Zuwachsringe im Zahnzement unter dem Mikroskop bestimmt und ausgezählt.

Das Gutachten von Lacassagne brachte den lang erwarteten Durchbruch in dem Mordfall Gouffé. Als Täter wurden eine Prostituierte und ihr Zuhälter ermittelt, die schließlich auch festgenommen und in einem Sensationsprozess wegen Raubmord verurteilt wurden.37 Lacassagne nutzte in seiner gerichtsmedizinischen Untersuchung ein stochastisches Verständnis von Identität, indem die Individualität in der ganz spezifischen Nutzung des Körpers bzw. in seinen krankhaften Veränderungen gesucht wurde: Die Rechtshändigkeit von Gouffé zeigte sich in der stärkeren Ausbildung des rechten Armes und der rechten Hand, seine Knochenerkrankungen hinterließen keine einzigartigen, in ihrer Kombination jedoch eindeutigen Spuren, die von den behandelnden Ärzten des Opfers bestätigt wurden. Diese Annäherung an die Identität blieb nicht auf Menschen und deren Körper beschränkt. Wie in Kapitel 6 gezeigt wird, sucht die mikroskopische Analyse von Werkzeugen nach denselben aussagekräftigen Spuren individueller Abnutzung.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzten erste Versuche mit der visuellen Rekonstruktion des Gesichts anhand von Schädelfunden ein. Der Anatom Wilhelm His erhielt 1894 den Auftrag, die Gebeine eines älteren Mannes zu identifizieren, die beim Umbau der Johanneskirche in Leipzig gefunden worden waren. Nach mündlicher Überlieferung handelte es sich um die Überreste des Musikers Johann Sebastian Bach. Um diese Annahme experimentell zu überprüfen, ging His neue Wege. In früheren Forschungen hatte er die Weichteildicke von erwachsenen Europäern untersucht und war von ihrer weit gehenden Konstanz überzeugt. Er beauftragte nun einen Bildhauer, auf einem Abdruck des gefundenen Schädels die entsprechenden Weichteile zu modellieren. Die dabei entstandene Porträtbüste von Bach (s. Abbildung 5) glich zeitgenössischen Porträts so stark, dass eine Prüfungskommission zu dem Schluss gelangte, dass „die in einem eichenen Sarg aufgefundenen Gebeine eines älteren Mannes die Gebeine von Johann Sebastian Bach sind […]“38

Diese Methode wurde von Polizei und Gerichtsmedizin rasch übernommen und in die praktische Arbeit überführt. Bereits in den 1920er-Jahren gab es technologische Innovationen, wie die Entwicklung einer besonders gut geeigneten Abformmasse durch den Wiener Arzt Alfons Poller; es handelte sich dabei um ein reversibles, elastisches Hydrokolloid namens Negocoll, das aus Seetang gewonnen wurde. Seine Technik ermöglichte die Herstellung eines exakten und fehlerfreien Abgusses von den Überresten eines Gesichts. Auf dieser Grundlage konnten die Mitarbeiter des Erkennungsdienstes der Wiener Polizei anhand der Moulage-Technik die Gesichter von unbekannten Verbrechensopfern rekonstruieren. In den 1930er-Jahren wurden auf diesem Weg jährlich 120 Abgüsse von Gesichtern, Körperteilen sowie von Gegenständen und Spuren angefertigt.39


5 Der Anatom Wilhelm His trug 1894 auf den Gipsabguss eines Schädels eine solche Menge Gipsbrei auf, wie sie der mittleren Weichteildicke der einzelnen Schädelteile entsprach. Dadurch konnte er auf experimentellem Weg nachweisen, dass es sich um den Schädel des Musikers Johann Sebastian Bach handelte.

Heute erfolgt die Rekonstruktion der Gesichter auf digitalem Weg. Spezialgeräte vermessen den Schädel. Aus den etwa achtzig Messungen ermittelt ein spezialisiertes Programm die Gesichtsgeometrie und wesentliche Formmerkmale des Gesichts. Die Gesichtsform wird anschließend digital errechnet. Dazu greifen die Kriminalisten und Anthropologen auf eine Datenbank am Bundeskriminalamt in Wiesbaden zu, in der fast 2000 Gesichter und ihre Merkmale gespeichert sind. Im Institut für Anthropologie der Universität Freiburg werden so jährlich zwanzig bis dreißig Gesichter als Unterstützung für die polizeiliche Fahndung rekonstruiert. Im Jahr 2004 führte das in drei Fällen zum Erfolg, d. h. zu einer Identifizierung.

Zusammenspiel von Rechtssystem und Medizin

Die Geschichte der Rechtsmedizin eröffnet aufschlussreiche Einblicke in die Beziehung zwischen Recht, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Erkenntnisse der medizinischen Forschung über die Funktionsweise des menschlichen Organismus ermöglichten immer differenziertere Stellungnahmen zur Tödlichkeit von Verletzungen und eine präzisere Bestimmung des Todeszeitpunkts. Die medizinischen Verfahren der Herstellung von lebensechten Präparaten durch das Verfahren der Moulage inspirierte Rechtsmediziner und Kriminalisten zur Nutzung dieser Techniken für die Aufklärung von Verbrechen.

Medizinisches Wissen muss vom Rechtssystem gezielt für die Verbrechensaufklärung mobilisiert werden. Bereits zur Zeit der Jahrhundertwende forderte der Grazer Kriminalist Hans Gross die Untersuchungsrichter auf, sich gezielt über die Rechtsmedizin und ihre Möglichkeiten zu informieren. Persönliche Kontakte erschienen ihm die beste Strategie zu sein, um die beiden Wissensbereiche aufeinander abzustimmen: „Ist aber das Verhältnis zwischen UR [Untersuchungsrichter, PB] und Gerichtsarzt ein näheres und durch Interesse an der gemeinsamen Sache bedingt ein freundschaftliches, so wird auch die Behandlung der Sache das rege Interesse und das gemeinsame, eifrige Zusammenwirken beider Faktoren deutlich zeigen.“40

Die Rechtsmedizin bleibt nicht unbeeinflusst durch diesen Austausch. Die Mediziner sehen sich mit Anfragen konfrontiert, die nicht aus der Logik medizinischen Forschens entstehen, sondern anwendungsorientiert sind. Wie das Beispiel der Tödlichkeit von Verletzungen gezeigt hat, waren die Mediziner der Frühen Neuzeit von den Erwartungen der Gerichte deutlich überfordert. Die Richter und ihre medizinischen Sachverständigen operieren außerdem in einer spezifischen Kultur, die sie mit einem Alltagswissen über Menschen und deren Handlungsweisen ausstattet. Die Relevanz dieses kulturellen Wissens für die rechtliche und medizinische Beurteilung von Straftaten konnte am Beispiel der Kindesmorddebatte rekonstruiert werden.

Die Anforderung von medizinischen Gutachten durch die Gerichte folgt einer für die Wahrheitsfindung durchaus vorteilhaften Konstruktion der institutionell unabhängigen Experten, die nicht als Zeugen, sondern als Sachverständige einvernommen werden. Diese Konstruktion ist weiterhin tragfähig, wie man der Selbstbeschreibung des Departments für Gerichtliche Medizin an der Medizinischen Universität Wien entnehmen kann. Dort sieht man die institutionelle Unabhängigkeit von den Auftraggebern, d. h. von Justiz und Polizei, als Garant für die Anwendung modernster Forschungsergebnisse bei der Erstellung von „objektiven und weisungsfreien Gutachten“.41

Dem Täter auf der Spur

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