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Alte Kameraden
ОглавлениеAls der Literaturgeograph das Palais des Congrès in Verdun betritt, hat ein deutsch-französisches Schlachtengetümmel begonnen.
Der Präfekt des Départements Meuse lässt den Ur-Vater aller Europäer, Charlemagne, in französischer Sprache hochleben. Karl der Große sei durch und durch ein Lothringer gewesen, wovon die Pfalz in Thionville und das Bistum Metz zeugen.
Die Kulturministerin eines deutschen Bundeslandes knüpft in ihrer Grußadresse allzu gern an das Erbe des Karolingerreichs an, ohne sich freilich den Hinweis zu versagen, dass Aachen der Lebensmittelpunkt des Kaisers und seines Hofstaates war. Für sie ein Grund, in Deutsch vorzutragen, zumal ihr Schulfranzösisch dringend der Auffrischung bedürfe.
Aber auch die Politikerin von jenseits des Rheins will an einer geschichtsbeladenen Stätte wie Verdun versöhnlich enden. Sie schließt daher mit der pathetischen Formel von Charles de Gaulle, für sie ein authentischer Sohn Lothringens: Vive la France! Vive l’Allemagne! Vive la coopération franco-allemande!
Zwischenzeitlich hat der zu spät Gekommene einen freien Platz erspäht. In der vorletzten Reihe, am Gang. Auf Zehenspitzen pirscht er an, ergattert ihn, ist erleichtert. Vorsichtig setzt er sich auf den ächzenden Stuhl, legt die Aktentasche und einen überdimensioniert großen Folienband auf den Nachbarsitz.
Von seinem Platz kann er rund zweihundert zumeist grauhaarige und kahle Hinterköpfe betrachten, allesamt der männlichen Spezies zugehörig. Dazu rot-braun gefärbte oder blondierte Frauenhaare.
Eminenzen und Exzellenzen bevölkern die erste Reihe im Saal. Ihre schiere Anwesenheit verleiht der Versammlung öffentliche Wahrnehmung und Reputation.
Die Beine über Kreuz, Arme vor der Brust verschränkt, Hände auf dem Schoß gefaltet. So verfolgen die Honoratioren jedes Wort der Eröffnungsreden. Dies routiniert, mit einer bei ungezählten Ereignissen antrainiert würdigen Haltung und gespielten Geistesgegenwart.
Dahinter in den Reihen zwei bis vier kraftvolle Claqueure, die der ersten Reihe möglichst nahe sein wollen. Der eine und andere von ihnen mochte früher selbst einmal ganz vorne platziert worden sein, sogar namentlich.
Zu dieser Gruppe Altgedienter gesellen sich hoch motivierte Aufsteiger der Historikerzunft. Durch ersichtliche Präsenz versprechen sie sich für die Zukunft einen Platz im Scheinwerferlicht.
Ab Reihe fünf die an den Vorträgen, Debatten und Inhalten Interessierten. Von den Organisatoren wenig hofierte Personen beiderlei Geschlechts, ob jung oder alt, mit großem Wissensdurst.
Diese erhoffen sich nichts von der ersten Stuhlreihe, dafür aus erster Hand neue Antworten auf alte Fragestellungen. Am Ende der Zusammenkunft wollen sie geistig inspiriert nach Hause fahren, das Vernommene vertiefen, selbst recherchieren und intensiv forschen. Geknüpfte Fachkontakte um neuer Erkenntnisse willen pflegen.
Der Gastredner schätzt die Abgeschiedenheit und private Atmosphäre der hinteren Stuhlreihen. Oft hat er erlebt, dass Gleichgesinnte bei aufkeimender Langeweile E-Mails lesen, Korrespondenzen erledigen, Grüße versenden.
Auch das Blättern in Magazinen von handlichem Format ist hier Sitzenden nicht fremd. Keine Seltenheit, renommierte Wissenschaftlerinnen beim Feilen rotlackierter Fingernägel zu erwischen.
Das Eingangsreferat hält eine Professorin für Neueste Geschichte an der Sorbonne. Die schmächtige Dame ragt hinter dem Rednerpult kaum hervor, ordert eine Fußbank. Eloquent lässt sie hiernach das 20. Jahrhundert Revue passieren.
Der illustren Gesellschaft ruft sie ins Gedächtnis, dass bei den Kämpfen um Verdun und an der Somme 1916 mehr Soldaten ihr Leben verloren als 27 Jahre später in Stalingrad. Sie zitiert den Luxemburger Jean-Claude Juncker, wonach nur derjenige Europa verstehe, der seine Soldatenfriedhöfe besucht habe.
Nach detailreichen Schilderungen zu Robert Schuman, einem aus Lothringen stammenden Gründungsvater der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, endet die wissenschaftliche Expertise mit der politisch korrekten Feststellung.
«Der eingeschlagene Weg zur Politischen Union Europas ist für den Erhalt des Friedens auf dem Kontinent alternativlos.»
Frenetischer Beifall im Saal ist der Lohn.
Nach dem gewollt harmonischen Auftakt der Veranstaltung ist das Auditorium plötzlich hellwach. Nicht nur des Klatschens wegen, auch aufgrund des sich anschließenden Vormittag-Panels.
Sogar die letzten Reihen im Saal fiebern einem Duell in englischer Sprache und anthrazitfarbenen Maßanzügen entgegen. Laut hörbar wird es von zwei heißblütigen Hochschullehrern ausgefochten, die kurz vor der Emeritierung stehen. Über eine Stunde wüten Angriff und gegnerische Attacke, persönliche Animositäten mehr schlecht als recht verbergend.
In dieser Heftigkeit hat niemand das Streitgespräch erwartet, sind doch die Argumente der Kontrahenten seit langem publik und auf vielen Foren ausgetauscht. Aber eine nach Verdun einberufene Historikertagung scheint wie geschaffen für Wortgefechte alter Widersacher.
Es geht um die über fünfzig Jahre währende Kontroverse, ob das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg «bewusst vom Zaun gebrochen hat, womit die Kriegsschuld geklärt ist». Hierfür macht sich die deutsche Koryphäe stark.
Sein französisches Pendant plädiert hingegen, unter Bezug auf neuere angelsächsische Arbeiten, dass es sich bei den Regierenden der kriegsführenden Staaten um Sleepwalkers gehandelt habe. Also um Schlafwandler, die 1914 eine heraufziehende europäische Katastrophe nicht erkannten oder sehen wollten. Allein durch ihr verantwortungsloses, kollektives Tun seien die Nationen in die Apokalypse geschlittert.
Der Franzose setzt das Attentat von Sarajewo mitsamt den Folgen in eine Parallele zum 9. September 2001, vergleicht die Ermordung des österreichischen Thronerben Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 mit den terroristischen Anschlägen von New York City und Washington D.C. Dabei verurteilt er die seiner Meinung nach desaströse Rolle der USA nach 2001. Die Destabilisierung des Nahen Ostens sei Ergebnis des von Amerika propagierten Kampfs gegen die Achse des Bösen.
Er komme nicht herum zu warnen, dass die bürgerliche Gesellschaft heute für populistische Parolen und simple Lösungen anfällig sei, wie 1914 und 2001. Mit schlafwandlerischer Sicherheit taumele sie dem eigenen Untergang entgegen, am Ende gar befördert und besiegelt durch demokratische Wahlen.
Der deutsche Kollege will hingegen seine Aussagen allein auf lang Vergangenes beschränken. «Geschichte wiederholt sich nicht.» So die dezidierte Überzeugung.
«Da stoßen ja wohl zwei Historikerschulen unverblümt aufeinander.» Der Pressevertreter von Le Monde windet sich genüsslich auf dem Sitz, hat das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Mit dem Zeigefinger tippt der Journalist seinem Vordermann auf die Schulter. «Pardon, was meinen Sie?»
Der Literaturgeograph schrickt zusammen, reagiert reflexhaft und gestelzt. «Kein Kommentar! Als Laie fehlt mir schlichtweg das Rüstzeug für eine profunde Äußerung.»
Stattdessen vergräbt er sich in einem Papierstapel. Für die Gastvorlesung am Abend muss er noch Vorbereitungen treffen. Ursprünglich war dafür der vorangegangene Tag eingeplant. In Le Petit Bonheur ist es schlussendlich anders gekommen.
Zerstreut und zerfahren wälzt er in mitgebrachten Vorarbeiten. Ordnet Seiten, gruppiert sie um, eliminiert ganze Abschnitte, fügt Sätze ein. Als Stichwortgeber und Gedankenstützen sollen neu angelegte weiße Karteikarten dienen.
Wie stets ist es sein Anliegen, ein maßgeschneidertes Referat abzuliefern. Nicht von der Stange, sondern auf die jeweilige Zuhörerschaft und den Anlass bezogen, dies möglichst in freier Rede.
Mit einem Ohr lauscht er den Vorträgen, nimmt das Fluidum im Saal wahr, jedes Scharren, Hüsteln, Knistern. Seine Augen überfliegen unentwegt die handschriftlichen Aufzeichnungen, bekommen jedes Kopfschütteln der Kongressteilnehmer spitz, deren Zu- und Abnicken.
Die Gedanken aber sind woanders.
Die Begegnung mit ihr, der kunstbeflissenen Tramperin, hält ihn auf Trab. Er vermag es nicht, ihre Existenz wenigstens für den Moment zu verdrängen. Abstruse Wünsche schwirren durch den Kopf.
‹Konzentriere dich gefälligst auf das Referat, du Narr. Die Frau ist viel zu jung›, mahnt er sich. Eine Petitesse bleibt ihm als Hochschullehrer allerdings nicht verborgen. ‹Sie ist dem Studentenalter gottlob entwachsen. Dadurch kein verbotenes Terrain.›
Nach fast drei Stunden vom Protokoll verordneter Sesshaftigkeit versammeln sich die Teilnehmer des Meetings im Foyer zum Déjeuner. Bei Speis, Trank und Small Talk ist ein jeder zur Mittagszeit aktiv.
«Das war mal wieder typisch für zwei Streithähne. Gockeln als Wichtigtuer über das Parkett», ereifert sich eine Dame mit trendigem Kurzhaarschnitt. «Frauen in der Runde hätten die Situation entschärft und den Disput versachlicht.»
Die Frauenbeauftragte einer Exzellenz-Universität kostet an ihrem Glas Sancerre, jongliert den Partyteller geschickt mit der anderen Hand. Auf der Pappscheibe die Tranche einer Paté à la Champagne, Senfgurke und ein abgebrochenes Stück Fisselle.
«Wir müssen den Ersten Weltkrieg unter Gender-Aspekten endlich neu bewerten.» So ihr Credo. «Auf die hier zum Besten gegebenen ollen Kamellen sollte man schnellstmöglich verzichten.»
Ein im akademischen Mittelbau hängengebliebenes Talent sekundiert der Berlinerin. Eine Pollenallergie reizt die Schleimhäute.
«Ihre Arbeiten zur sozialen Verflechtung der europäischen Adelshäuser sind schlechthin bahnbrechend. Sie konkretisieren trefflich die supranationale Bedeutung von Eheschließungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, damit einhergehend die herausragende Stellung von uns Frauen in der Politik.»
«Dass ein derart innovativer Ansatz heute Morgen nicht einmal erwähnt wurde, ist bezeichnend.» Die nach einer neuen Assistentenstelle Ausschau Haltende näselt. «Wie können wir neue Wahrheiten gewinnen, wenn der Männerwirtschaft nicht schleunigst ein Ende gemacht wird?»
«Falls ich mir den Quatsch von der Alternativlosigkeit der aktuellen Politik noch länger antue, glaub’ ich am Ende noch selbst daran», entrüstet sich andernorts ein jüngerer Gelehrter aus dem Rheinland. Für seine messerscharfen Analysen wurde Heribert Küppers mehrfach prämiert.
«Das ist doch alles Kokolores», brandmarkt er vernehmbar. «Völlig ahistorisch, was da von der Kollegin aus Paris verzapft und beklatscht wurde.»
«Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was nicht unumkehrbar wäre. Sonst hätte die westeuropäische Geschichte womöglich mit dem Reich Karls des Großen geendet. Ist aber nicht geschehen.»
«Und die Europäische Union wird irgendwann ebenfalls Vergangenheit sein», prophezeit er den um einen Stehtisch Gruppierten. «In zig Teile zerfallen, wie so mancher Vielvölkerstaat. Denken Sie an die Sowjetunion, an Österreich-Ungarn, vom Römischen Reich ganz zu schweigen.»
Die Geschichte kenne viele Wege und gebe verblüffende Antworten – auch positive. Heribert Küppers genehmigt sich ein Radieschen, knabbert daran mit der Arroganz des Wissenden.
«Wer von Ihnen hätte im Herbst 1989 eine Vereinigung der damals zwei deutschen Staaten für möglich gehalten? Das binnen Jahresfrist? Wohl niemand.»
Ein sich als Sachse outender Sechzigjähriger verweist schalkhaft auf Erich Honecker, auf dessen dem Gespött und Hohn anheimgefallenen Glaubenssatz: Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.
Das Aperçu des ehemaligen Vorsitzenden des Staatsrats der DDR trifft bei französischen Historikern auf Belustigung. Ebenso die als Dessert angebotenen Petits Fours in Schwarz, Rot, Gold.
Der eine und andere Franzose erinnert beim Mittagstisch an Charles de Gaulle und das von ihm als Staatspräsident postulierte Europa der Vaterländer. Man fragt sich, ob die Idee noch zeitgemäß ist? Oder gerade jetzt?
Bei allen Unterschieden von männlichen und weiblichen Interpretationsversuchen der Vergangenheit, ob von berühmten Vielrednern vorgebracht oder nach einem eigenen Profil strebenden Youngstern: Das Ambiente des Déjeuner entspricht der Gediegenheit einer traditionsreichen Disziplin.
Geschichtskundige wissen, dass alles seine Zeit hat. Auch und vor allem das auf Tagungen Gepredigte. Manchmal wird alter Wein in neuen Schläuchen kredenzt, ein anderes Mal junger Wein in alten.
Der Gastreferent stochert, abseits vom fachhistorischen Diskurs, mit der Gabel im Zwiebelkuchen. Mit Appetit verspeist er eine Salade Vosgienne. Verlangt nach einem Glas Wasser statt des roten Burgunders, den die meisten Männer ab Vierzig favorisieren.
‹Das Savoir vivre ist heute nicht mein Ding›. Nach schlaflosen Nachtstunden kämpft er gegen zunehmende Erschöpfung.
Mit ‹Ein Gutes hat die Müdigkeit ja›, stimmt er sich für seinen Auftritt am Abend positiv. ‹Das Sprechtempo reduziert sich von allein. So kann der vorproduzierte rote Zettel mit dem Appell SPRICH LANGSAM getrost in der Jacke stecken bleiben.›