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Am Fluß

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Er saß in der Falle.

Bisher war es ihm gelungen, sich vor seinen Verfolgern zu verbergen. Doch seine Zeit lief ab. Nur noch Minuten, bis die Kette der Soldaten sein Versteck finden würde. Der einzige Ausweg, der Sheen blieb, bot der zugefrorene Fluss, in dessen Richtung ihn seine Häscher trieben.

Dazu musste er allerdings sein Lager verlassen und ohne Deckung über das schon brüchige Eis laufen. Sein Tritt schüttelte einen kleinen Baum, unter dem er sich verkrochen hatte. Eine Ladung feuchten Schnees fiel auf seine graue Kutte. So hob er sich weniger gegen die aschfahle Eisfläche ab. Diese Tarnung sollte ihm etwas Vorsprung verschaffen.

Er würde jede Sekunde brauchen.

Die Reiter hetzen ihn bereits einen halben Tag. Er hatte den Fehler gemacht, sich allzu lange beim brennenden Kloster aufzuhalten. Doch er konnte von der Stätte, die so viele Jahre seine Heimat war, nicht ohne Abschied weglaufen. Im Feuer verbrannten auch die Körper seiner toten Freunde. Mit seinem Tod schlossen seine Verfolger ihren Mordauftrag ab. Danach gab es für ihr Verbrechen keinen Zeugen mehr.

Der Tritt gegen den Baumstamm stellte sich als Fehler heraus.

Das kurzes Zittern des Baums erregte die Aufmerksamkeit eines Soldaten. Ein kurzer Zuruf und die Disziplin und Ausbildung der Reiter zahlten sich aus. Der Kreis um Sheen zog sich zusammen.

Dann also über den Fluss.

Die ersten Meter waren einfach. Doch je mehr er sich der Flussmitte näherte, desto dünner und brüchiger wurde das Eis. Leises Knirschen begleitete jeden seiner Schritte. Er würde schneller laufen müssen.

Tschok!

Er kannte dieses Geräusch. Einer der Reiter besaß eine Armbrust und hatte sie abgeschossen. Die Distanz zwang den Schützen, sein Geschoss in einem Bogen abzuschießen. Es sollte nach 1-2 Sekunden nach dem Schussgeräusch einschlagen.

Sheen warf sich nach rechts. Der Bolzen traf neben ihm das Eis, prallte ab und schlitterte wenige Meter über die Fläche.

Die Eisdecke wurde immer dünner. Feine Risse bildeten sich bei jedem Tritt und der Novize beschleunigte seine Schritte.

Tschok!

Ein kurzer Sprung nach links. Der Schütze hatte sein Ausweichmanöver berechnet. Nur Zentimeter neben dem jungen Mönch schlug der Bolzen ein.

Ein hastiger Blick zurück. Ihr Anführer Vonhagen verstand sein Handwerk. Drei seiner Soldaten mussten auf seinen Befehl ihre schwere Kettenrüstung ausziehen. Das Eis war zu dünn für voll ausgerüstete Reiter. Aber es trug einen Novizen in Mönchskutte und einem Rucksack. Dann sollte es auch Krieger zu Fuß mit einem Schwert tragen können. Bald würden sie ihn über den Fluss verfolgen. Sein Vorsprung reichte aus, es bis zum Ufer zu schaffen. Doch dort blieb ihm gegen ausgebildete Schwertkämpfer keine Chance.

Tschok!

Ein Sprung nach rechts. Daneben.

Zur Flussmitte war es nicht weit. Hier lag die größte Gefahr nicht in dem Schützen, sondern in der immer dünneren Eisdecke. Es knirschte verdächtig unter seinen Füßen. Bei jedem Schritt bildeten sich feine Linien und Risse. Seine Kraftreserven hielten nicht mehr lange vor, doch um nicht einzubrechen, musste er schneller werden.

Tschok!

Nach links. Glück gehabt!

Dann trat das Befürchtete ein. Das Netz von Sprüngen in der dünnen Eisfläche verbreitete sich schlagartig. Das knisternde Geräusch warnte Sheen rechtzeitig. Er ließ sich in der Hocke nach vorne gleiten, breitete Arme und Beine aus und glitt bäuchlings weiter. So verteilte er sein Gewicht auf die brüchige Oberfläche.

Er hielt einen Moment den Atem an. Wartete, ob sein Manöver erfolgreich verlaufen war.

Tschok!

Es durfte nicht brechen. Brach er ein, brauchten ihn seine Verfolger nicht mehr zu töten. Die Strömung im Wasser würde seinen Körper flussabwärts unter die Eisdecke drücken und ertränken. Er hatte Glück. Es knirschte zwar beängstigend, jedoch wenn er die nächsten Meter auf dem Bauch weiterglitt, sollte er die kritische Stelle überwinden. Danach konnte er sich aufrichten und weiterlaufen.

In diesem Moment schlug der Bolzen ein.

Zentimeter neben seinem Kopf bohrte sich die Bolzenspitze in die Oberfläche. Sofort bildeten sich um die Einschlagstelle neue dünne Linien. Wanderten, vereinigten sich mit Rissen um seinen Körper, erweiterten das brüchige Netz. Doch es hielt.

Nur weg.

Die drei Verfolger über das Eis sollten ihn bald erreichen.

Er nahm alle Kraft zusammen. Er rannte, stolperte und fiel. Längst kümmerte Sheen das Abschussgeräusch der Armbrust nicht mehr. Die Entfernung zum Schützen war mittlerweile zu groß für einen sicheren Schuss. Aus seinen ausweichenden Haken wurden Kurven und der Einschlag des Geschosses klang jedes Mal weiter entfernt.

Endlich gelangte er ans Ufer. Zeit und Deckung genug, einen Blick zurückzuwerfen. Atem schöpfen.

Die Verfolger erreichten gerade die kritische Stelle in der Flussmitte. Der Novize erkannte den Armbrustbolzen, der knapp neben seinem Kopf eingeschlagen war. Die Soldaten ahmten sein Manöver nach und glitten langsam auf dem Bauch über die brüchige Oberfläche. Sie brauchten nur noch einige Meter zu überwinden, um festeren Boden zu finden und seine Flucht fände ihr Ende. Er besaß keine Kraftreserven mehr. Auch seine neu erworbenen Fähigkeiten als Feuermagier reichten im Kampf gegen drei Gegner nicht aus.

Sheen schloss die Augen. Er stellte sich das Abbild des Bolzens vor, wie er in seiner Erinnerung in der Eisdecke steckte. Konzentriert zog er das rissige Netzwerk nach, das sich um die Einschlagstelle gebildet hatte.

An diese Stelle schickte er seine Flamme.

Das Feuer gab dem brüchigen Eis den Rest. Alte und neue Linien vereinigten sich zu Rissen, Risse verwandelten sich in Spalten und Spalten in Löcher. Die Oberfläche in der Flussmitte brach ein, die von der starren Decke befreite Strömung drückte die Verfolger unter die Eisfläche und tötete sie. Ihr Todeskampf dauerte nicht lange.

Müde lehnte sich Sheen zurück.

Auf der anderen Flussseite drohte ihm Vonhagen mit der Faust. Der Armbrustschütze feuerte. Doch die Entfernung war zu groß für einen erfolgreichen Schuss. Kraftlos fielen die Bolzen weit entfernt zu Boden.

Die nächste Brücke lag drei Tagesritte im Norden. Die gleiche Anzahl an Tagen, bis seine Verfolger von da aus diese Stelle am Ufer erreichten. Das bedeutete, mehr als eine Woche Vorsprung, wenn er in Richtung Süden flüchtete.

Das würde knapp werden. Zu knapp!

***

Ausgerechnet Wölfe! Meister Kahlm verfluchte sein Pech.

Auf einer Reise traf ein Kaufmann immer wieder unangenehme Zeitgenossen. Er kannte sie alle. Sklavenhändler, Straßenräuber oder Soldaten, die Wochen zuvor ihren letzten Sold erhalten hatten. Gut, wenn man nicht alleine reiste. Am Besten im Schutz einer Gemeinschaft gleichgesinnter Händler.

Doch der Winter war dieses Jahr spät gegangen, so dass die schneebedeckten Straßen für Packtiere noch Probleme bereiteten. Die erfahrenen Reisenden warteten daher, bis die Sonne mehr Kraft besaß. Trotz ihrer Bedenken entschied Meister Kahlm, dieses Frühjahr als Erster aufzubrechen. Schaffte er es, vor den übrigen Kaufleuten die Fähre des alten Benjamin am Grenzfluss zu erreichen, verschaffte ihm der frühe Aufbruch einen großen Vorsprung. Und Vorsprung bedeutete in diesem Fall einen höheren Gewinn.

Gerade weil er so zeitig aufbrach, rechnete er nicht mit Wegelagerern. Auch die lauerten seiner Meinung nach auf besseres Wetter.

Aber mit Wölfen hatte er nicht gerechnet.

***

Sheen war hungrig. Nach dem langen Winter fand er nur wenig zu essen. Immerhin konnte er seine Fähigkeiten als Feuermagier an flinken Kaninchen erproben. Doch er musste seinem toten Lehrer Echzel Recht geben. Das Fleisch der kleinen Tiere besaß einen geringen Nährwert. Aber wenigstens füllten sie seinen Magen.

Sein Vorsprung dürfte nicht mehr groß sein. Ein oder zwei Tage, schätzte er, dann würden seine Verfolger ihn eingeholt haben. Es gab lediglich einen Zufluchtsort: die Fähre des alten Benjamin am Grenzfluss. Der Limat bildete die Grenze zur benachbarten Grafschaft. Dort hoffte er Schutz vor Vonhagens Männer zu finden.

Eine andere Gelegenheit, das Land zu verlassen, existierte nicht. Der für seine gefährliche Strömung berüchtigte Fluss verbreitete sich auf seinem Weg zum Meer. Jede Meile gewann er an Kraft und Heimtücke. Nur wenige Furten ermöglichten einen Übergang, doch Reisende konnten die seichten Stellen erst spät im Frühjahr wieder benutzen. Die seltenen Brücken lagen zu viele Tagesreisen entfernt. Bis er sie erreichte, hatten die Häscher Sheen längst eingeholt. Die Fähre war sein einzig denkbares Ziel. Vermutlich wussten das auch seine Verfolger.

Schaffte er es, vor ihnen die Grenze zu überqueren, mussten die Soldaten sich entscheiden. Drei Straßen führten von da aus jeweils nach Süden, Westen oder Osten. Entschied Vonhagen sich für die Falsche, gewann der junge Mönch einen wertvollen Vorsprung.

Der Kriegermönch beschleunigte seine Schritte. Er wollte noch bis Anbruch der Nacht in den Schutz der Bäume gelangen. Auf dieser Strecke sollte es Wölfe und zweibeinige Wegelagerer geben.

***

Meister Kahlm wusste: Mit zweibeinigen Räubern konnte man verhandeln. Sie verglichen Risiko und Gewinn, der zu erreichen war. Nicht selten ließen sie sich sogar auf einen Tribut, eine Abgabe oder Wegezoll herunterhandeln. Aber ein Wolfsrudel besaß zwar einen Anführer, jedoch kein Interesse an Verhandlungen.

Dieses lahme Maultier hatte die Raubtiere angelockt. Ihr untrüglicher Scharfsinn für die Schwachen in einer Herde führte die Wölfe direkt zu ihm. Meister Kahlm überlegte kurz, die Kisten auf die beiden anderen Lasttiere umzupacken. Er würde das kranke Tier als leichte Beute zurücklassen und fliehen können. So hielt sich sein Verlust in Grenzen. Doch es war zu spät. Das Rudel hatte sie bereits umzingelt.

***

Wolfsheulen. Sheens erster Gedanke galt der Flucht. Aber zu Fuß besaß er keine Chance. Das Heulen klang nicht mehr weit entfernt. Verzweifelt suchte er nach einem Baum. Hoch genug, dass er außerhalb der Reichweite ihrer Zähne kam. Nah genug, um hochzuklettern, bevor die Raubtiere ihn erwischten.

Doch in die Jagdrufe der Wölfe mischten sich menschliche Laute. "Kommt her, ihr Bastarde. Dieses Schwert aus Lukorstahl ist zwar von geringer Qualität, jedoch hinreichend scharf für euch verlaustes Pack."

Kein Zweifel. Dort kämpfte ein Mensch um sein Leben.

***

Die vernarbte Wölfin führte die Meute an. Bevor ihn die Raubtiere attackierten, war es dem Kaufmann gelungen, seine Maultiere in ein winziges Dorndickicht zu führen. Ihre dornigen Zweige boten ein wenig Schutz gegen Angriffe in seinen Rücken. Immer wieder stieß die Anführerin zu, Scheinangriff folgte auf Scheinangriff. Bisher zeigte sie ausreichend Respekt vor seinem Schwert. Offenbar kannte das Tier eine solche Waffe. Gut möglich, dass geschmiedetes Eisen einen Teil ihrer Narben verursacht hatte.

Jetzt wich die Wölfin zurück, doch ein anderer Räuber übernahm ihre Aufgabe. Der Händler erkannte ihre Taktik. Irgendwann würde sein Schwertarm ermüden, seine Kräfte nachlassen. Die Raubtiere konnten sich jedoch abwechseln. Sein Ende war nur eine Frage der Zeit.

Wieder wechselte der Gegner. Immer langsamer kamen die Abwehrbewegungen. Die Anführerin ahnte offenbar seine Schwäche. Mit einem kurzen Knurren verjagte sie den Wolf, der die Rolle eines Angreifers übernommen hatte. Ihr stand es zu, die Beute zu töten. Meister Kahlm nahm noch einmal alle Kräfte zusammen. Jetzt hatte sich der Kampf in ein Duell zwischen ihm und der Rudelführerin verwandelt. Die Entscheidung stand unmittelbar bevor.

Zwei Scheinangriffe, ein Dritter folgte. Doch diesmal schnappte die Wölfin zu. Es gelang ihr an seinem müde gewordenen Schwertarm vorbei zu kommen. Ihre Zähne verbissen sich in ein Hosenbein, ließen nicht mehr los. Ihr Kopf zuckte zurück, dann stürzte der Händler rücklings zu Boden. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Er durfte seine Waffe jetzt nicht loslassen.

Schnell biss der nächste Wolf zu. Er bekam eine Schulter des Kaufmanns zu fassen. Seine kräftigen Kiefern schüttelten seinen Fang, wie einen Hirsch oder ein anderes Beutetier. Die Schmerzen wurden unerträglich, Meister Kahlm schloss die Augen. Warum sich weiter gegen das Unvermeidliche wehren? Müde ließ er das Schwert fallen. Es war vorbei.

Die Wölfin ließ ihr Opfer los. Ihr Gegner besaß keine Waffe mehr, aus seiner Wunde sickerte Blut in den Schnee. Als Anführerin gehörte es zu ihren Aufgaben, am Ende für das Rudel zu töten. Sie verjagte das Rudelmitglied, das sich immer noch in die Schulter des Menschen verbissen hatte. Ihr stand der letzte Biss zu.

***

Meister Kahlm rechnete nicht damit, beim Wechseln in eine andere Welt vor einer Feuerwolke zu stehen. Er ehrte seit seiner Jugend die Gebote der Göttin Mebera. Ihr widmete er seine Gebete, jede zehnte Münze opferte er ihrem Tempel. Dafür erwartete er genug Gewinn zum Leben und ein sanftes Erwachen nach dem Tod. Die Priester hielten sich bei der Beschreibung des Vorgangs zurück. Aber in seiner Vorstellung begleitete der Übergang stets Musik, zusammen mit behaglicher Wärme.

Stattdessen verspürte er Schmerzen in der Schulter. Feuchte Wärme sickerte aus seiner Wunde, der Arm schmerzte, pochte. Nicht die freundlichen Blicke der Göttin begrüßten ihn, sondern er starrte in die verdutzten Augen einer hungrigen Wölfin, ihr Fell am Kopf verbrannt. Der Geruch von glimmenden Haaren stach in der Nase, wo er Weihrauch oder Parfüm erwartet hatte. Und keine ruhige Erleuchtung erfüllte seinen Geist, er konnte seine Todesangst immer noch riechen.

Eine zweite Feuerwolke umhüllte die Schnauze des Wolfes, der sich in seine Schulter verbissen hatte. Der Verstand der Raubtiere brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass aus dem Nichts beißende Flammen entstanden. Schmerzende, stinkende Wolken. Einen kurzen Moment rangen die Urangst der wilden Tiere vor Feuer und ihr Hunger miteinander. Dann floh das Rudel in den Wald.

Langsam entdeckte Meister Kahlm, dass er überlebt hatte. Zwar mit Blessuren, aber er war am Leben. Hinter einem Gebüsch erhob sich ein junger Mann in der Kleidung eines Kriegermönchs. Waffenlos, bis auf ein Messer an seinem Gürtel. Über seiner Schulter hing ein Beutel, ein Bücherbeutel, wie er erkannte.

"Mein Name ist Sheen“, begrüßte ihn der Mönch. "Gut, dass ich in der Nähe war."

"Ihr ward das? Wo kamen diese Feuerwolken her?"

"Ich beherrsche diese Kunst noch nicht lange. Seien wir froh, dass es funktioniert hat."

"Ihr hättet diese Teufelsbrut verbrennen sollen. Seht, was sie mit meiner Schulter gemacht haben." Ächzend versuchte der Händler, sich trotz seiner Verletzung zu erheben.

Der Mönch blieb ruhig. Vorsichtig zog er ihn am unverletzten Arm hoch. "Teufeln bin ich vor kurzem begegnet. Glaubt mir, die würden jetzt noch brennen. Das waren nur hungrige Tiere. Nach diesem Erlebnis wird die Wölfin die Nähe von Menschen meiden. Gleich wie groß ihr Hunger ist."

Zunächst versorgte Sheen die Wunden des Kaufmanns. Der Wolf hatte sein Opfer so geschüttelt, dass er die Schulter ausgekugelt hatte. Kleine Blessuren, sogar Brüche kamen in der einsamen Welt, in der der Novize bisher gelebt hatte, regelmäßig wieder vor. Daher verstand er sich darauf, eine solche Verletzung zu behandeln. Ein kurzer, wenn auch schmerzhafter Ruck, löste dieses Problem.

Die Versorgung der Bisswunden bereitete mehr Probleme. Abt Echzel betonte immer, wie wichtig, die Reinigung tiefer Wunden war. Ein Biss von einem wilden Tier musste sorgfältig gesäubert werden. Dazu verschwendete er, wie Meister Kahlm meinte, einen zu reichliche Menge seines Branntweins, den er in den Kisten mitführte. Nach der schmerzvollen Säuberung galt es die offenen Stellen sauber zu verbinden. Nach kurzem Überlegen griff Sheen in seinen Bücherbeutel und holte einen kleinen Tiegel hervor, den er aus dem Kloster gerettet hatte.

"Die Salbe hier schmiere ich vorsichtig auf deine Schulter. Es handelt sich um Bücherleim. Sie verklebt die Verletzungen und sorgt dafür, dass kein Dreck hineingelangt."

"Bücherleim. Bist du irre."

"Keine Sorge. Er wird bald fest und bildet eine dichte Kruste. Unter ihr wachsen deine Wunden zu. Am Ende fällt der Leim von selber ab. Wir haben Glück, dass die Bisse nicht bis zu den Knochen reichen."

"Und das hilft?"

"Wir machen das im Kloster immer so. Es brennt etwas. Später wird es jucken. Das ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass es darunter heilt."

"Und wenn es nicht juckt?"

"Dann hat der Wolf gewonnen."

"Also gut. Was habe ich zu verlieren. Bücherleim. Noch nie gehört!"

Anschließend kümmerten sie sich um die Maultiere. Dann war es Zeit für das Abendessen.

Sheen genoss die Abwechslung. Keine Kaninchen, diesmal gab es einen herzhaften Eintopf. Er beschloss, Meister Kahlm die Geschichte seiner Flucht und der Ermordung seine Mitbrüder zu erzählen. Die Erlebnisse belasteten den jungen Mann. Es tat gut, sich jemandem anzuvertrauen.

"Lord Sagenbredt. Ich habe von ihm gehört“, meinte der Kaufmann. "Er ist ein Anhänger des Grafen Tyhr. Beim Volk heißt er Tyhr, der Schöne."

"Was ist das für ein Mensch?"

"Tyhr steht im Moment an dritter Stelle in der Thronfolge des Reichs. Davor sind da seine Vettern Hergo und Thanbert. Beide noch unverheiratet. Doch jeder männliche Nachkomme drückt ihn eine Stufe runter. Und da ist noch seine Schwester, die Ansprüche auf seinen Platz in der Grafschaft besitzt. Eigentlich soll ihr der Grafentitel gehören. Man sagt, er habe Lust, weiter nach oben zu klettern."

"Wenn ich nur wüsste, was es mit diesem Pergament auf sich hat. Meine Freunde mussten dafür sterben."

"Vermutlich werden wir es nie erfahren. Lasst uns schlafen. War ein langer Tag."

Für den Fall, dass die Wölfe zurückkehren würden, wachten beide abwechselnd in der Nacht. Aber ihre Ruhe blieb ungestört. Nach einem kurzen Frühstück, verteilte Meister Kahlm seine Kisten auf die Maultiere.

Einer der grauen Vierbeiner brauchte weniger tragen. "Das lahme Tier ist Cora. Sie geht schon lange mit mir. Die anderen Lasttiere werden einen Teil ihres Gepäcks übernehmen müssen. Ich fürchte, auch wir zwei Zweibeiner bleiben davon nicht verschont."

So brachen nach einer Weile fünf beladene Wesen auf. Es traf sich gut für Sheen, dass sein neuer Freund ebenfalls zur Fähre des Benjamin unterwegs war. Dieser Knotenpunkt bildete bereits so früh im Jahr das Ziel vieler Wanderer.

Als der Novize unter seiner Last einmal stöhnte, nahm ihn der Händler beiseite. Mit einem Seitenblick auf die immer noch lahmende Cora raunte er ihm zu. "Keine Sorge. Spätestens zum Mittag nehme ich dir etwas ab."

"Ich schaffe das schon. Du brauchst meinen Teil nicht zu übernehmen. Du bist verletzt."

Meister Kahlm zwinkerte seinem Freund zu. "Du irrst. Dann legen wir eine Rast ein. Laden ab und essen. Wenn es gilt, neu zu beladen, bekommt unsere lahme Freundin ein wenig mehr auf ihren Rücken."

"Aber das Maultier lahmt doch."

"Wenn sie sich bis zum Mittag schonen kann, wird es besser werden. Ich kenne die alte Cora. Sie ist schlau wie ein Hund."

"Was meinst du damit?"

"Sie beobachtet uns genau. Sie hat gelernt, wenn sie lahmt, lade ich ihr weniger auf. Lasse wir ihr das durchgehen, wird Cora die ganze Reise ein Bein nachziehen. Nach der Rast bekommt sie unauffällig ein bisschen mehr auf den Buckel. Am Nachmittag wieder was und morgen auch. Spätestens übermorgen hat sie die volle Ladung. Ohne, dass sie es merkt."

Sheen musste lachen. Und wirklich. Coras Verletzung besserte sich fast stündlich und nach der Mittagsrast bekam das Tier eine kleine Kiste zusätzlich aufgeladen.

Der Novize war nicht sicher, ob das Maultier das Spiel durchschaute. Händler und Lasttiere schienen ihre eigenen Marotten zu haben. Bald ertappte er sich dabei, seine neuen Begleiter zu mögen.

Am Abend gab ihm Meister Kahlm einen Rat. "Deine Verfolger werden uns bald einholen. Zieh deine Mönchskutte aus. Sie wird dich verraten. Du bekommst etwas von meinen Handelssachen. Eine passende Hose wird sich finden. Dazu noch eine warme Jacke, damit du nicht mehr wie ein Novize aussiehst."

Als die kleine Karawane am nächsten Morgen aufbrach, trug Sheen zum ersten Mal seit langem keine Mönchstracht. Unterwegs reichte der Händler seinem neuen Gehilfen einen Streifen Stoff.

"Nimm diesen Leinwandfetzen. Wenn wir auf andere Leute treffen, spätestens an der Fähre, bindest du dir das Stoffstück um ein Auge. Als ob du es verloren hättest. Und noch etwas. Kannst du dich verstellen?"

"Was meinst du damit?"

"Vielleicht ist eine gute Idee, wenn du dich nicht wie ein gebildeter Klosterschüler verhältst. Viel mehr wie mein einfältiger Lehrling."

"Das macht Sinn. Aber solange wir alleine sind, unterhalten wir uns normal."

"Da bestehe ich darauf. Du kannst toll aus deinen Büchern erzählen. Dafür bringt dieser alte Mann dir alles über Maultiere bei. Cora mag dich ganz gut leiden. Wir können voneinander lernen. Vielleicht lerne ich auf meine Tage sogar noch schreiben und lesen. Das scheint ja ne feine Sache zu sein."

Am dritten Tag holten Vonhagen und seine Männer sie ein.

Eisen und Magie: Auf der Flucht

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