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1. Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Die jüngste Finanzmarktkrise hat uns unsanft aufgeschreckt. Ein zyklisches Auf und Ab mit Bildung finanzieller Blasen, die plötzlich platzen, ist zwar längst nichts Neues mehr. Wer die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre nur einigermassen aufmerksam verfolgt hat, wird bei den Turbulenzen 2007 bis 2009 kaum von einem «Schwarzen Schwan» sprechen wollen, der völlig unerwartet aufgetaucht sei (Taleb 2008). Dass der Boom auf dem amerikanischen Liegenschaftsmarkt irgendwann ein Ende haben würde, war für die meisten Beobachter klar. Dass das Platzen der Immobilienblase in den USA die Finanzmärkte global erschüttern und an den Rand des Abgrunds führen würde, war das Überraschende. Eine weltweite Systemkrise von solcher Vehemenz und mit dermassen verheerender Wirkung auf die Realwirtschaft hätte wohl kaum jemand erwartet.

Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz

Die Schweiz ist von der Finanzmarktkrise besonders hart getroffen worden. Seit Ausbruch der Krise im Sommer 2007 bis Februar 2009 hat der Finanzplatz Schweiz Abschreibungsverluste von 75 Mrd. USD hinnehmen müssen. In Relation zum Bruttoinlandprodukt von 2007 sind das 17,9 Prozent, verglichen mit 5,4 Prozent für die USA oder nur 2,3 Prozent für die Bundesrepublik Deutschland. Sind wir uns dessen voll bewusst, dass die schweizerische Volkswirtschaft also gut dreimal mehr einbüsste als diejenige der USA und fast achtmal mehr als jene Deutschlands? Die Schweizer Banken haben in derselben Zeit 53,8 Prozent ihres Eigenkapitals von 2007 verloren und stehen mit dieser verheerenden Einbusse an der Spitze aller Länder (vgl. Sinn 2009, 190 und 216).

Dabei sind wir noch nicht am Ende des gefährlichen Tunnels angelangt. Im April 2009 rechnete der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem zusätzlichen Abschreibungsbedarf im Bankensystem von weltweit 1000 Mrd. USD; inzwischen hat der IWF seine Warnung zwar etwas abgeschwächt, aber er hat noch keineswegs Entwarnung gegeben (IMF 2009). Im Sommer 2009 schätzte auch die Schweizerische Nationalbank die Möglichkeit von künftigen Bankverlusten als sehr hoch ein. Im Dezember 2009 stellt sie einen fragilen Aufschwung fest, sieht aber immer noch ein Deflationsrisiko und will eine erneute Verschlechterung der Lage nicht ausschliessen (SNB 2009). Die Situation hat sich in der zweiten Jahreshälfte 2009 zwar etwas aufgehellt. Aber ob das Licht, das wir zu erkennen glauben, vom Tunnelausgang oder von einem entgegenkommenden Zug stammt, liess sich auch im Herbst 2009 noch nicht mit Sicherheit bestimmen (Weder di Mauro, in Avenir Suisse 2009). Und fast alle Ökonomen sind sich einig, dass wir gegenwärtig die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren durchleben, deren äusserst problematische Auswirkungen auf Beschäftigung und Staatsfinanzen erst noch bevorstehen.

Die Schweiz als kleines Land gehört zu den grössten Finanzzentren der Welt. Sie ist mit sieben Billionen Franken der drittstärkste Vermögensverwalter und in Bezug auf die Verwaltung ausländischer Gelder (Offshore Banking) der weltweit wichtigste Tresor. Die Bedeutung des Bankenplatzes für die Volkswirtschaft ist in der Schweiz wesentlich höher als beispielsweise in den USA oder Grossbritannien; der ganze Finanzsektor (inkl. Versicherungen) generiert hierzulande nach den Berechnungen des Eidg. Finanzdepartements (EFD Kennzahlen 2008, 2009) einen ausnehmend grossen Anteil am Bruttoinlandprodukt (12 %), an der Beschäftigung (6 %) und am Steueraufkommen aller Staatsebenen (13 %).

Noch eine andere Eigenheit des Finanzplatzes Schweiz hat grosse wirtschaftliche und politische Bedeutung: Die Finanzindustrie ist so hoch konzentriert wie nirgendwo sonst. Die beiden Grossbanken hielten 2005 90 % der Bilanzsumme aller hiesigen Banken, was mehr als dem achtfachen Betrag der gesamten Jahreswertschöpfung der schweizerischen Volkswirtschaft entsprach (SNB 2007 429f.). Im Vergleich dazu entspricht die Bilanzsumme aller amerikanischen Banken zusammen nur gerade einem Jahres-BIP (Bruttoinlandsprodukt) der USA. Die Schweiz hat mit den zwei Grossbanken also ein gefährliches Klumpenrisiko am Hals, das sie im Falle eines GAU wohl kaum zu stemmen vermöchte. Aber die beiden sind so gross geworden, dass man sie in einer Krise auch nicht fallen lassen kann; ihre Insolvenz würde den Zahlungsverkehr lahmlegen und die ganze Volkswirtschaft erschüttern. Die UBS allein führt gut 70 000 Kontokorrentkonti von KMUs; wer möchte schon verantworten, dass sie alle die Löhne nicht mehr auszahlen könnten?

Das grosse Gewicht, der hohe Konzentrationsgrad und die Auslandverflechtung unseres Bankensystems erklären zum Teil, weshalb uns die Finanzmarktkrise besonders hart getroffen hat. Doch was ist der Grund, dass wir das Ausmass und die Bedeutung der Krise kaum zur Kenntnis nehmen wollen?

Manche Experten und die meisten Politiker schrecken davor zurück, die spezifischen Probleme unseres Finanzplatzes zu benennen. Viele zeigen erhebliche Mühe, den Stellenwert von Turbulenzen auf dem Finanzmarkt realistisch einzuschätzen. Selbst die Exekutive hat lange nicht wahrhaben wollen, in welch tiefe Krise unser Land geraten ist. Obwohl die Schweizerische Nationalbank die Lage schon 2007 als «sehr ernst» einschätzte, versuchte der Bundesrat noch am 7. März 2008 das Parlament zu beruhigen: «Der Bankensektor ist nicht gefährdet. Die weltweit tätigen Grossbanken (…) können auch schmerzhafte Verluste verkraften (…) Massnahmen zum Schutz der Schweizer Volkswirtschaft sind nicht erforderlich» (Antwort auf eine Interpellation der SP-Fraktion im Nationalrat vom 5. 12. 07). Noch im Sommer 2008 konnten das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) und das Volkswirtschaftsdepartement (EVD) in den Finanzmarktturbulenzen keine Bedrohung für die schweizerische Volkswirtschaft erkennen. Dabei hätte man die speziell hohe Anfälligkeit unseres kleinen Landes auf Krisen im globalisierten Finanzsektor längst thematisieren müssen. Selbst der Wachstumsbericht von 2008 lässt sich durch die Blasen und die scheinbar hohe «Produktivität» der Finanzwirtschaft blenden. Er ortet – gleich wie seine Vorgänger – die zentrale politische Herausforderung für die Schweiz nicht in ihrer Abhängigkeit von internationalen Märkten, sondern darin, den angeblich überbordenden Staat in die Schranken zu weisen. Durch die neoliberale Brille erscheint die Welt manchmal doch in eigenartiger Verzerrung.

Unmittelbar vor Bekanntwerden der massiven Eingriffe seitens der Behörden haben bedeutende Exponenten einflussreicher Wirtschaftsverbände die Schweiz noch als glücklichen Sonderfall gepriesen, der Staatsinterventionen im Finanzbereich nicht nötig habe. «La crise n’existe pas!», titelte die Weltwoche am 16. Oktober 2008. War das schlichte Ignoranz oder eine schlechte PR-Übung für überholte ideologische Positionen? Immerhin, die Öffentlichkeit war durch die Medien über die gefährliche Situation der Grossbanken so weit informiert, dass der Paukenschlag des staatlichen Eingriffs zwar mit einer gewissen Konsternation des Publikums, aber doch eher mit Erleichterung als mit grundsätzlicher Ablehnung aufgenommen wurde.

Mit den Beschlüssen vom 15. Oktober 2008 haben Bundesrat, Eidgenössische Bankenkommission und Schweizerische Nationalbank SNB dann doch erkennen lassen, dass sie die Probleme auf dem Finanzmarkt für gravierend und volkswirtschaftlich gefährlich halten. Dass sie deshalb ausserordentliche Massnahmen ergriffen und Notrecht in Anspruch genommen haben, will ich überhaupt nicht kritisieren. Diese Überraschungsaktion zeugt immerhin von Professionalität und einem politischen Mut, den man den Behörden nicht immer zutraut. Aber ich vermisse eine (selbst-)kritische Analyse, weshalb es zu einer solch «schweren Störung der Sicherheit» nach Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung gekommen ist. Auch die gesetzliche Grundlage für das elegante Handeln der Notenbank scheint mir etwas schmalbrüstig zu sein. Nach Nationalbankgesetz Art. 5 soll die SNB zwar zur Systemstabilisierung beitragen; erlaubt sind ihr aber nur abgesicherte Hilfen bei Liquiditätsproblemen, nicht Ein griffe bei Insolvenzproblemen einer einzelnen Bank. Worum es sich im Herbst 2008 beim Fall der UBS konkret gehandelt hat, scheint zumindest fraglich.

In seiner Botschaft vom 5. November 2008 zeigt der Bundesrat wenig Bereitschaft, die tieferen Ursachen der Bankenkrise und ihre für die Schweiz ganz besonders gefährlichen Auswirkungen auszuleuchten. Noch viel weniger ist er geneigt, das Versagen der staatlichen Aufsicht offen zu diskutieren und Vorkehren in Aussicht zu stellen, die derart gravierende Fehleinschätzungen in Zukunft verhindern. Er begnügt sich mit der Absicht, das Vertrauen in das heutige Finanzsystem möglichst rasch wiederherzustellen. Verzichtet er deshalb auf die Behandlung von tiefer greifenden Fragen, die das Publikum eventuell verunsichern könnten? Oder will er nur davon ablenken, wie tief die Behörden in die Finanzmarktkrise verstrickt sind? Die Botschaft soll die Öffentlichkeit beruhigen, gut. Aber wenn man verlorenes Vertrauen wieder aufbauen will, darf man dem Publikum nicht Sand in die Augen streuen. Zwischen den Zeilen lesen wir, dass bei einer für die Zukunft gar nicht auszuschliessenden erneuten Krise eines der beiden Bankgiganten wohl wiederum Vater Staat in die Bresche springen müsste. Nicht einmal der etwas verbesserte Einlegerschutz ist so ausgelegt, dass er das Insolvenzrisiko einer Grossbank abdecken könnte.

Auch ein Jahr später zeigt man sich von Seiten der Behörden immer noch resistent gegenüber jeder Krisenperzeption, die eigene Fehler aufdecken könnte. Die FINMA, Nachfolgerin der Eidg. Bankenkommission, geht mit ihrem ausführlichen Bericht vom 14. September 2009 zu «Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht» stracks in die Vorwärtsverteidigung: Es könne «kein spezifisches Fehlverhalten schweizerischer Aufsichtsbehörden» festgestellt werden, schreibt sie (S. 14), obwohl doch gerade die Absegnung aggressiven Risikoverhaltens von überdimensionierten Grossbanken ein kleines Land wie die Schweiz in eine besonders heikle Situation bringen musste; die Eidgenössische Bankenkommission habe im Juli 2004 bloss eine risikoadäquatere Modellierung des Value at Risk, eine verbesserte Risikomessung und damit ein besseres Risikomanagement für die UBS erzielen wollen. «Diese Bewilligung ist auch rückblickend vertretbar», behauptet die FINMA unverfroren (S. 31). Aber genau diese Bewilligung hat dazu geführt, dass die UBS ihre Schulden massiv erhöhen durfte und trotz Warnungen der Nationalbank mit der weltweit tiefsten Eigenkapitalquote von 1,8% in die Finanzmarktkrise rasselte. Den Absturz hat die UBS deshalb nicht mehr aus eigener Kraft überstehen können, was sicher nicht die Absicht, aber doch eine Folge problematischer Entscheidungen auch der EBK war. Den Gipfel der Verharmlosung erklimmt das Eidgenössische Finanzdepartement mit dem Bericht vom 11. September 2009 an die WAK (Wirtschafts- und Abgaben-Kommission) des Nationalrats zu «Situation und Perspektiven des Finanzplatzes Schweiz»; es schwafelt sogar von einer «guten Kapitalisierung [der UBS] zu Beginn der Krise» (S. 22), ohne sich aber um eine einleuchtende Erklärung zu bemühen, warum die UBS von der Krise doch dermassen stark betroffen wurde. Eine ausreichend kapitalisierte Bank hätte wohl keine Staatshilfe beanspruchen müssen. Hier wird eindeutig Mitverantwortung von der Bankenaufsicht abgeschoben. Dürfen wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Behörden vertrauen, die eine Beschönigung offensichtlicher Fehlurteile für nötig halten?

Ausmass, Bedeutung und Gefahren der Finanzmarktkrise werden hierzulande nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Man versucht hauptsächlich, die systemischen Aspekte und Zusammenhänge herunterzuspielen, und blendet die Tatsache aus, dass sich die Schweizer (Gross-)Banken mit ihren globalen Finanzgeschäften in einem ganz besonderen Masse übernommen haben. Sie sind – im Wissen und mit dem Segen der Aufsichtsbehörde – mit extrem wenig Eigenkapital versehen in die Finanzmarktkrise geschlittert und stellen damit ein Paradebeispiel für den «Casino-Kapitalismus» dar, der dank hoher Fremdfinanzierung mit riskanten, spekulativen Geschäften höchste Gewinne erzielt, massive Verluste aber weitgehend sozialisiert respektive verstaatlicht (Sinn 2009).

Das will nicht heissen, die Schweizer Behörden hätten die UBS im Herbst 2008 in den Konkurs schicken sollen. Grösse und besondere Struktur des Finanzplatzes, seine volkswirtschaftliche Funktion, aber auch seine ökonomische, juristische und politische Einbindung in globale Zusammenhänge machten eine Rettung der UBS durch den Staat wohl unausweichlich. Damit ist aber das systemische Problem noch lange nicht gelöst. Es hat sich eher noch verschärft, weil nun alle wissen, dass der Staat systemrelevante Banken nicht fallen lassen kann. Daraus resultiert nicht nur ein wettbewerbsverzerrender Konkurrenzvorteil für die Grossbanken, sondern ein geradezu perverser Anreiz, die Hochrisikospiele wieder aufzunehmen, sobald die Krise überwunden scheint. Noch wissen wir nicht, wer aus der Krise was gelernt hat. Ohne Änderungen des Finanzsystems könnten wir deshalb schon bald wieder vor derselben Problematik stehen wie im Oktober 2008.

Aber wer die Systemkrise nicht wahrhaben will, ist zu Systemänderungen kaum bereit. Oder umgekehrt: Wer das System nicht ändern möchte, muss versuchen, die systemischen Probleme möglichst auszublenden. Und genau das erleben wir heute in der politischen Debatte unseres Landes. Gegen Vorschläge, durch markante, für die Grossbanken spürbare Erhöhungen des Eigenkapitals oder durch Deckelung von Löhnen und Boni genau jene Anreize etwas abzubauen, die zum verheerenden Casino-Kapitalismus führten, tritt sofort der Finanzminister auf den Plan. Und stellt die Nationalbank für unsere Geldinstitute eine Grössenbeschränkung zur Diskussion, wehrt sich gegen derlei Ansinnen umgehend die Volkswirtschaftsministerin. Und alle Forderungen, mit einer Banklizenz für die Postfinance tragfähige Parallelstrukturen im schweizerischen Finanzierungsund Zahlungssystem aufzubauen, werden schon im Parlament beerdigt. Das schwächt den Wettbewerb und die Krisenresilienz in unserem Finanzsystem und zwingt die Post, das viele Geld der kleinen Kunden, das ihr gerade auch in kritischen Zeiten zufliesst, teilweise im Ausland anzulegen.

Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung

Wie kann man erklären, dass die offizielle Schweiz die tiefe Krise gar nicht richtig wahrhaben will? Warum werden die Grossbanken so geschont und gehätschelt? Lassen sich die Schweizer Behörden korrumpieren oder steht der Bankenplatz als nationales Kulturgut unter Denkmal- und Heimatschutz? Labt sich die kleine Schweiz an der schieren Grösse und an der Macht ihrer Bankgiganten? Möchten die Eliten ihr «Unbehagen im Kleinstaat» (Karl Schmid, 1963) mit weltweit geachteter (oder besser: gefürchteter) Bankenmacht kompensieren? Neben rein wirtschaftlichen Interessen scheinen jedenfalls auch psychologisch und kulturell interessante Elemente mit im Spiel zu sein. Vielleicht handelt es sich beim Finanzplatz um eine ähnlich tabuisierte Geschichte wie bei der überdimensionierten Schweizer Armee. Beide, Finanzplatz und Armee, haben eine Grössenordnung und eine Bedeutung erreicht, die sich rein aus ihrer wirtschaftspolitischen respektive sicherheitspolitischen Funktion kaum mehr rechtfertigen lassen. Beide sind zu einem nationalen Mythos verklärt worden und prägen unser Bild von der Schweiz als einem Sonderfall.

Welchen Stellenwert hat der Finanzplatz für unsere nationale Identität? Wie wichtig ist uns ein rigoroses, auch die Steuerhinterziehung begünstigendes Bankgeheimnis? Selbst wenn es die Schweiz auf dem internationalen Parkett zu einer «Hehlernation» stempelt und sie in immer grössere Schwierigkeiten bringt? Oder ist es gerade die Kritik aus dem Ausland, die uns als Nation zusammenschweisst? Was verbindet Genf und Lugano mit Zürich, Basel und St. Gallen, zum Teil sogar über Partei- und Sprachgrenzen hinweg? Was wollen der Finanzminister mit verbalen Drohgebärden und die Aussenministerin mit ihrem theatralischen Einsatz für ein wohl eher überholtes Geschäftsmodell im Schweizer Banking demonstrieren? Das Bankgeheimnis hat auf symbolischer und politischer Ebene zuweilen fast noch grössere Bedeutung erlangt, als ihm im wirtschaftlichen Kalkül der Finanzindustrie zukommt. Zwar gehört das Bankgeheimnis seit jeher zum Geschäftsmodell der Privatbanken, dem sich nun auch die Grossbanken wieder stärker anzunähern scheinen, seit ihnen das Private Banking die grössten Gewinne verspricht. Noch in den 1990er Jahren, als das lukrative Geschäft mit den institutionellen Anlegern im Vordergrund stand, konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Bankgeheimnis für die Grossbanken nicht mehr ganz so wichtig sei.

Doch das Bankgeheimnis ist für die Schweiz längst zu einem nationalen Mythos geworden. An ihm soll nicht nur unser Land (finanziell) genesen; manche möchten damit auch das Ausland neoliberale Mores lehren, wie der Staat seine Steuerzahler zu behandeln habe. Gewisse Kreise verlangen gar, das Bankgeheimnis als Symbol der schweizerischen Unabhängigkeit auf Verfassungsstufe zu verankern. Für sie ist dieses historische Relikt aus den Dreissigerjahren zum Inbegriff für die «Swissness» geworden. Aber man kriegt den Eindruck, dieses Ansinnen sei selbst den Banken etwas peinlich. Zumal den beiden Grossbanken, die mit Patriotismus nicht mehr viel am Hut haben, seit sie sich von nationalen Institutionen zu globalisierten Finanzkonzernen gewandelt haben. Doch der nationale Mythos Bankgeheimnis hat sich auf der symbolischen Ebene gleichsam verselbständigt und erweist sich oft als stärker als nüchterne Interessenabwägung. Mythen erzeugen, wenn sie erfolgreich sind, ihre eigene Wirklichkeit.

Etwas fällt auf: Je mehr sich unsere Finanzindustrie von den Bedürfnissen der Realwirtschaft ablöst und die Schweiz in ihre riskanten Spiele auf globalisierten Märkten verwickelt, desto dreister wird die Abhängigkeit unseres Landes vom Ausland geleugnet, ja, gewissermassen politisch tabuisiert. Je mehr uns Wirtschaft, Konsumverhalten und Wissen mit Europa und der übrigen Welt eng verbinden, umso penetranter wird nicht unser Finanzplatz, sondern die Schweiz als ein «Sonderfall» zelebriert, der nur im Unterschied und als Gegensatz zum politischen und kulturellen Mainstream Europas zu verstehen sei. Damit lassen sich die Besonderheiten des schweizerischen Bankensystems, die auch aus volkswirtschaftlicher Sicht als fragwürdig erscheinen, gegen jede Kritik immunisieren. Wer unsere (Gross-)Banken in Frage stellt, stellt unser Land, stellt uns in Frage.

Spannend ist, aus welchem Geschichtsbild unsere nationalen Mythen aufzusteigen scheinen. Es ist die Abwehr gegen äussere Feinde, gegen die Arglist der Zeit, die uns zusammenschweisst. Die Schweiz ist keine Nation. Sie ist ein Konglomerat aus verschiedenen Kulturen und kleinräumigen Entitäten. Ihre Widersprüche kann sie dann am besten überwinden und zu einer Einheit wachsen, wenn sie sich von aussen bedroht fühlt. Deshalb spielt der Zweite Weltkrieg in unserem historischen und politischen Bewusstsein eine besonders grosse Rolle. Denn es gab weder vorher noch nachher eine Phase der Schweizer Geschichte, in der die Gegensätze und Konflikte zwischen deutsch und welsch, katholisch und protestantisch, ländlich und städtisch, arm und reich, oben und unten, links und rechts so gut überbrückt (und unterdrückt) werden konnten wie in dieser Bedrohungslage. Es war die grosse, die hehre Zeit für die Schweiz mit einem gemeinsamen existenziellen Ziel und mit einem Militär- und Arbeitsdienst, der sinnstiftend und identitätsbildend wirkte. Eine Zeit, in der man schon fast von einer Nation hätte sprechen können. In der Abwehr gegen das Böse und Fremde empfand man sich jedenfalls als eine Schicksalsgemeinschaft und echte «Willensnation» (vgl. Villiger 2009). Deshalb ist hierzulande noch 1989 der Beginn des Aktivdienstes 50 Jahre zuvor weit stärker gefeiert worden als 1995 das Kriegsende. Und deshalb muss auch heute noch damit rechnen, des Verrats an der Schweiz bezichtigt zu werden, wer aufzeigt, dass die Abwehr des Bösen immer auch mit Elementen der Kollaboration durchsetzt war.

Hinter dieser verklärenden Sicht der Schweiz im Zweiten Weltkrieg tauchen Bilder auf, die schon in den Dreissigerund Vierzigerjahren den Widerstandswillen festigen sollten: die Gründungssaga der Eidgenossenschaft. Es ist geradezu unheimlich, wie reflexartig im Streit um das Bankgeheimnis das Bild der fremden Vögte aufscheint. Hitler – Moskau –

Brüssel symbolisieren eine Kontinuität der Bedrohungslage. Aber dahinter stehen immer gleich 1291 und die Schlachten von Morgarten bis Sempach: Schon damals haben wir uns erfolgreich gegen fremde Ritter und Richter gewehrt, und wir werden uns auch gegen EU, G 8 und G 20 behaupten. Was uns bei diesem Gebrauch von Geschichte vielleicht doch zu denken geben sollte: In Europa benutzt neben der Schweiz einzig noch Serbien mythisch verklärte Bilder aus dem Mittelalter, um die nationale Identität zu beschwören (vgl. Marchal 2009).

Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit

Dieser sonderbare Regress auf Geschichten über das Mittelalter und den Zweiten Weltkrieg blendet vieles aus, was für das Verständnis und die Interpretation unserer gegenwärtigen Probleme weit wichtiger wäre. Namentlich die Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte nehmen wir kaum differenziert zur Kenntnis, wenn wir die historische Dimension unserer politischen Identität ausloten. Was hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg, seit den 1970er, den 1990er Jahren wesentlich verändert? Welche Kontinuitäten und welche Brüche beeinflussen unser Denken und Handeln? Wie hat sich die Schweiz gewandelt und wohin steuert sie heute in einem rasch sich ändernden Kontext, der die globale Interdependenz zur zentralen Herausforderung werden lässt? Da stehen doch bedeutend relevantere Fragen an als Mutmassungen darüber, ob wohl die Kriegsgurgeln der Innerschweiz vor 700 Jahren in nur scheinbar ähnlichen Situationen zur Hellebarde gegriffen hätten.

Zur Begründung des Sonderfalls Schweiz wird meist die Geschichte unseres Landes als Argument ins Feld geführt. Aber man vergisst dabei gerne, dass Geschichtsbilder die Ergebnisse von Interpretationen und damit unsere Konstruktionen sind. Wohl das gescheiteste Buch, das ich während meines Studiums in den späteren 60er Jahren gelesen habe, hiess «Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen»; der Philosoph Theodor Lessing hatte es schon 1919 publiziert. Seine Thesen nahmen Erkenntnisse des modernen Konstruktivismus vorweg und schienen mir damals revolutionär: Die Geschichte als solche hat keinen Sinn, sagt Lessing; wir müssen den Sinn in die Geschichte hinein interpretieren. Oder besser: Erst unser Denken und Handeln verleihen der Geschichte Sinn. Und: Die Vergangenheit beeinflusst zwar unsere Perzeption der Wirklichkeit und damit unser Entscheidungshandeln; das tut sie aber weit weniger durch objektive «Fakten» als vielmehr mit den subjektiven Vorstellungen und Bildern, die wir uns davon machen. Die Geschichte wirkt also vor allem durch die Geschichten, die wir über sie erzählen.

Die historische Rekonstruktion (vergangener) sozialer Wirklichkeit ist ein zentraler Bestandteil der sozialen Konstruktion von (gegenwärtiger) Wirklichkeit. Unsere Sicht des «Seins» ist geprägt durch unser Bild des «Geworden-Seins». Deshalb tendieren historische Betrachtungen zur Legitimation des Gewordenen. Geschichten haben meist konservierenden Charakter. Indem sie nach möglichst stringenten Erklärungen dessen suchen, was sich real durchgesetzt hat, stellen sie Entscheidungen und Entwicklungen oft als alternativlos oder als Ergebnis menschlicher Planung, wenn nicht sogar göttlicher Vorsehung dar. Diese Art von «Grossen Erzählungen» oder «Meistererzählungen» eignet sich vorzüglich für Biografien mächtiger Männer, für Festschriften erfolgreicher Firmen und bis vor kurzem auch für nationalstaatliche Epen, die den Staatsbürgern politische Identität vermitteln wollen. Wirtschaftlicher und zivilisatorischer Fortschritt in nationalstaatlichem Rahmen – dieses erfolgreiche Narrativ der Moderne hat das Geschichtsbild im 19. und 20. Jahrhundert tief geprägt.

Aber gerade Erscheinungen wie die Finanzmarktkrise zeigen deutlich, dass es heute schwierig, ja, eigentlich unmöglich geworden ist, wichtige historische Entwicklungen wie etwa auch den Aufstieg der Schweiz zu einem Finanzplatz von internationaler Bedeutung im Modus nationalstaatlicher Erfolgsgeschichten zu beschreiben. Denn einerseits sprengen die globalen Entwicklungen und Vernetzungen den nationalen Rahmen für die Perzeption von Modernisierungsprozessen. Anderseits sehen wir heute auch die Widersprüche und Entwicklungsbrüche in solchen Prozessen wesentlich deutlicher. Die einstigen Erfolge und märchenhaften Gewinne unserer Grossbanken erscheinen uns nach deren dramatischem Fall in einem etwas fahleren Licht, und die klägliche Figur, die unsere Magistraten in der Verfolgung vermeintlich nationaler Interessen abgeben, lässt berechtigte Zweifel aufkommen, ob eine traditionelle Interpretation nationaler Souveränität immer noch zeitgemäss ist. Krisen machen uns hellhörig und kritischer; hoffentlich sogar auch selbstkritischer. Manchmal machen sie uns offener für mögliche Alternativen, die sich historisch bisher nicht haben durchsetzen können, aber immer noch als Potenziale im Schoss unserer Gegenwart schlummern. Nicht selten erkennt man neue Chancen für die Zukunft beim ernsthaften Versuch, die Vergangenheit in einem etwas anderen Lichte zu sehen. Dann kann plötzlich als sinnvoll, ja, als wünschbar erscheinen, was bisher als sinnlos galt und unbeachtet blieb oder gar als Unsinn vehement bekämpft wurde. Sinn ist die wichtigste Ressource mentaler Orientierung; er kommt in sozialen Prozessen überall dort zum Zug, wo die Sinne allein überfordert wären. Doch was macht Sinn und was bedeutet Sinn?

Die Begriffe sinnlos und Unsinn brauchen wir dann, wenn wir etwas nicht in einen vernünftigen Zusammenhang einfügen können. Sinn entsteht also aus Kontexten. Erst vor relevanten Hintergründen und aus der Deutung wichtiger Zusammenhänge kann man etwas als sinnvoll verstehen. Sinn hat eine narrative Struktur; er wird erzählend (re-)konstruiert und mit Hilfe von Geschichten transportiert. Und allen Geschichten vom Kindermärchen über Autobiografien bis hin zur Geschichte als Wissenschaft eignet eine zeitdifferente Betrachtungsweise: Sie beschreiben ihre Objekte, wie sie zeitgleich kaum hätten beobachtet werden können. Denn sie stellen die geschilderten Ereignisse und Vorgänge in Zusammenhänge, die man oft erst im Nachhinein erkennt (vgl. z. B. Rüsen 2001). So konnte etwa der «Grosse Krieg» 1914–1918 erst zum «Ersten Weltkrieg» werden, als sich ein zweiter daraus entwickelt hatte. Und erst nach einer unerwarteten Wende fällt einem manchmal auf, was man schon lange als Vorboten der Entwicklung hätte wahrnehmen können.

Geschichten dienen mit ihrer narrativen Struktur auch der Legitimation politischen Handelns, indem sie Entscheidungen und Entwicklungen im Lichte ihrer erwarteten, offensichtlichen oder doch vermeintlichen Folgen die einzig richtige, die «wahre» Bedeutung zu verleihen suchen. Im Prozess des Erzählens können Geschichten auch eine Art Eigenleben entwickeln. Denn die in Sprache geronnenen Erkenntnisse werden als sinnvolle Erzählungen gegen mögliche Einwände gleichsam immunisiert. Gedächtniskritik und moderne Hirnforschung kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Etwas zugespitzt: Wir sind unsere Erinnerung, aber wir erinnern uns weniger an das, was effektiv war, sondern vielmehr an den sinnvollen Reim, den wir uns über die Realität schon immer gemacht haben. Und ob die Erfahrung der Gegenwart, also was uns an Neuem widerfährt, uns auch wirklich zu ändern vermag, wird sich erst in der Zukunft weisen: nämlich darin, ob sich unsere Erinnerung geändert haben wird (vgl. Roth 2001 und Fried 2004).

Diese Erkenntnisse über die Funktion von Geschichte und Geschichten sind in den letzten Jahrzehnten durch Wissenschaft und Praxis ausgebaut und verfestigt worden. Aus den USA stammt beispielsweise ein Führungsverständnis, das voll auf das «Story Telling» setzt. Auch in Pädagogik und Identitätsarbeit hat man den hohen Stellenwert von Geschichten erkannt. Mit Geschichten vergewissern wir uns der eigenen Identität. Wenn Sie gefragt werden, wer Sie sind, beginnen Sie eine Geschichte zu erzählen. Und achten Sie mal darauf, welch grosse Bedeutung Geschichten am Arbeitsplatz, in der Familie, im Freundeskreis, in Ihrem täglichen Leben zukommt. Wie oft müssen wir unseren Kindern immer wieder die gleichen Geschichten erzählen? Geschichten sind Vehikel für die Sozialisation und Bausteine unserer Identität. Vor allem gemeinsam (immer wieder) erzählte oder besser noch: gemeinsam erlebte Geschichten bilden die Grundlage für erfolgreiches gemeinsames Handeln. Wenn etwa die Mitglieder eines Teams ihren Projektauftrag mit möglichst identischen Geschichten erzählen können, ist die Chance gross, dass ihr Vorhaben nicht an Kommunikationsproblemen scheitert (dabei ist interessant: nach glaubhaften Schätzungen sind bisher ca. 80 Prozent aller erfolglosen EDV-Projekte nicht etwa an technologischen, sondern an kommunikativen Problemen gescheitert).

Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse

Was nun die Finanzmarktkrise betrifft, so sind ihre Ursachen noch wenig diskutiert und ihre Folgen heute nur schwer abschätzbar. Wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die noch nicht abgeschlossen und selbst unter Spezialisten umstritten sind. Wir sind noch nicht sicher, welche Geschichten über die Gegenwart wir in Zukunft als relevant betrachten werden. Trotzdem möchten wir das Geschehen in Perspektive sehen und als eine Geschichte verstehen, ohne uns in Details zu verlieren. Vor allem möchten wir erkennen, wo wichtige Prozesse ihren Bifurkationspunkt erreicht haben, wo also eine Wende der Entwicklung wahrscheinlich oder möglich wird.

Wenn ich als Zeithistoriker die Finanzmarktkrise verständlich machen will, dann muss ich eine einleuchtende, eine sinnvolle Geschichte erzählen, die unsere heutigen Probleme als Folge früherer Entscheidungen und Prozesse begreifbar macht; eine Geschichte auch, die den chaotischen Strom der Ereignisse in eine strukturbildende Periodisierung bettet und die geschilderte Entwicklung zum besseren Verständnis in relevante Kontexte fügt. Ob es mir dabei gelingt, die wirklich wichtigen Ereignisse auszuwählen und den richtigen Zusammenhängen Bedeutung zu verleihen, wird erst die Zukunft weisen. Dort liegen nämlich die Referenzpunkte für eine zeitdifferente Betrachtung unserer Gegenwart. Erst in der Zukunft wird klarer erkennbar, ob wir heute die richtigen Entscheide fällen. Deshalb fliessen Erwartungen, Ängste und Hoffnungen in die Analyse mit ein und machen Zeitgeschichte zu einem eminent politischen Geschäft.

Zeitgeschichte trägt Verantwortung dafür, dass die politischen Debatten Anschluss finden können an einen historischen Diskurs, der die unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart nicht ausblendet. Einen Diskurs, der im Fluss gesellschaftlicher Entwicklungen realistischere Orientierungen ermöglicht als die mythisch überhöhten Kriegsgeschichten. Wir können doch heute nicht mehr bei jedem Problem sofort zum Zweihänder greifen und so tun, als gäbe es nur «Anpassung oder Widerstand». (Das konnten übrigens auch unsere Vorfahren nicht, wie die seriöse historische Forschung längst nachgewiesen hat.) Wir müssen auch den Grautönen in unserer komplexen Welt Rechnung tragen, wenn wir den historischen Ort unserer Gegenwart und die Chancen und Risiken für unser politisches Entscheidungshandeln besser erkennen wollen. Das geht nur, wenn wir Brüche und Widersprüche akzeptieren, wenn wir das Konflikthaltige vielleicht sogar bewusst aufspüren und auf seine Triebkräfte befragen. Zeitgeschichte ist hochpolitisch; sie muss streitbar sein. Mit vorschneller Einebnung von Sichtweisen und Meinungsvielfalt ist weder der wissenschaftlichen Erkenntnis noch dem politischen Frieden gedient. Zeitgeschichte kann – im besten Fall – einen Konsens bewirken, aber sie darf bei ihrem Bemühen, eine Orientierung im zeitlichen Ablauf zu schaffen, den inhaltlichen Konsens nicht als schon gegeben voraussetzen.

Das gilt auch für unser Vorhaben. Wenn wir über den arg gebeutelten Finanzplatz Schweiz und über eine vernünftige Finanzmarktpolitik diskutieren wollen, sollten wir die Entwicklungen studieren, welche die gegenwärtigen Probleme verursacht haben. Ich bevorzuge dabei eine Sichtweise, die als dialektisch und zugleich als systemisch bezeichnet werden kann. Ich versuche, die Entwicklungen aus ihren Widersprüchen und ihrer Konflikthaltigkeit zu erfassen und sie zugleich in grössere Zusammenhänge zu fügen, aus denen sich ihr möglicher historischer Sinn ergibt. Aus solch dialektisch-systemischer Sicht erscheint die aktuelle Finanzmarktkrise als ein Wendepunkt in der Geschichte der Moderne: In Konsequenz der kapitalistischen Durchdringung der modernen Gesellschaften und ihres globalen Ausgreifens ist die Finanzwirtschaft zum dominanten gesellschaftlichen Subsystem avanciert. Mit ihrer Orientierung am immer kurzfristigeren privaten Gewinn löst sie aber Konflikte und Krisen aus, die nachhaltige Entwicklung verunmöglichen. Die Finanzwirtschaft muss deshalb an lebensdienliche, sozialverträgliche und ökologisch sowie demografisch vertretbare Wachstumsziele politisch zurückgebunden werden. Dazu sind die Nationalstaaten jedoch kaum mehr fähig, denn sie befinden sich infolge der rasanten Globalisierung in einem ruinösen Standortwettbewerb um Steuervorteile und um die Finanzierung ihrer öffentlichen Güter. Für die Zukunft hat deshalb absoluten Vorrang, dass diese verheerende Rivalität durch internationale Kooperationen gedämpft und überwunden wird. Eine interdependente Welt entscheidet mit der Aussenpolitik von heute über die Chancen der Innenpolitik von morgen.

Das soll kein Plädoyer für einen neuen Etatismus, sondern für einen wirkungsvollen ordnungspolitischen Rahmen sein. Ich kann – was unsere Gegenwart betrifft – bei aller Sympathie für radikale Systemkritik keine realisierbare und humane Alternative zum marktwirtschaftlich organisierten Kapitalismus erkennen. Dieses System am privaten Gewinn orientierter dezentraler Entscheidungen bringt mit seiner Dynamik und Kreativität eindrückliche Leistungen hervor; es generiert den permanenten Wettbewerb als Motor im Prozess der Modernisierung. Zugleich produziert es aber Konflikte und systemische Risiken, die seine Selbststabilisierung immer wieder gefährden. Ein starker politischer und ethischer Rahmen ist nötig, wenn das ganze Programm der Moderne, zu dem neben wirtschaftlichem Fortschritt auch politische Demokratie und soziale Gerechtigkeit gehören, eine Realisierungschance haben soll. Das ist keine sozialistische Erkenntnis; das war schon den bürgerlichen Demokraten des 18. und 19. Jahrhunderts und selbst noch den Ordoliberalen um die Mitte des 20. Jahrhunderts völlig klar. Aber dieser immer noch stark auf das Nationale fixierte Rahmen muss jetzt neu gestaltet werden. Im Zeitalter des globalen Finanzmarkt-Kapitalismus reichen nationale Regeln nicht mehr aus, weil globale Spiele international wirkende Spielregeln notwendig machen. Das gilt nicht nur im Sport, aber dort scheint es heute schon allen einsichtig zu sein. Die Finanzmarktkrise ist eine echte Chance für eine internationale Sicht der Dinge, weil sie die grenzüberschreitenden systemischen Gefährdungen drastisch aufzeigt und deshalb eigentlich eine Wende zur weltweiten Kooperation in der Marktregulierung und Marktaufsicht erzwingen müsste.

Aber Krisen sind Phasen grosser Unsicherheit; sie bergen auch die Gefahr, dass sich ein System noch verhärtet. Die relative Zukunftsoffenheit unserer heutigen Situation kann höchst unterschiedlich beantwortet werden. Es wäre politisch naiv zu glauben, ein Re-Design der globalen Finanzmärkte nach der Krise führe automatisch zu systemisch vernünftigen internationalen Regelungen, die Nachhaltigkeit und mehr Gerechtigkeit garantieren könnten. Konstruktive Lösungen müssen politisch erstritten werden, und man darf dabei das Zeitfenster nicht verpassen, in dem radikale Änderungen des geltenden Regimes noch möglich sind.

Ob die Schweiz die Notwendigkeit engerer internationaler Zusammenarbeit als eine Chance begreifen kann und ihre Zukunft entsprechend zu gestalten versteht, ist eine politische Schicksalsfrage. Sie entscheidet sich nicht zuletzt daran, wie wir diese Krise vor dem Erfahrungshorizont unserer Zeitgeschichte interpretieren. Als Land, das von der Finanzwirtschaft stärker profitierte als andere Länder, das aber diesem globalisierten gesellschaftlichen Subsystem auch stärker ausgeliefert ist, sind wir wohl gut beraten, wenn wir die Finanzmarktkrise ernsthaft analysieren. Dazu gehört, dass wir die Entwicklung des Finanzsektors aus einer historischen Perspektive zu erfassen versuchen. Das Aussergewöhnliche, für das wir Erklärungen finden sollten, ist nämlich nicht die Finanzmarktkrise an sich, sondern ihre markante Vorgeschichte: der Wandel der Banken und Finanzintermediäre von traditionellen Dienstleistern zu erfolgreichen und alles beherrschenden Geldmaschinen. Die Ursachen der Krise, ihre Auslöser und ihr Verlauf sind vergleichsweise einfach zu verstehen, wenn wir begreifen, warum und wie die ausserordentlichen Gewinne in der Finanzindustrie zustande kamen. Nicht der Absturz ist das historisch sehr schwierig zu erklärende Phänomen, sondern der rasante Aufstieg der modernen Finanzwirtschaft auf solch schwindelerregende Höhen.

Das eigentlich Skandalöse bei all diesem Treiben war nicht etwa die Gier der Banker, sondern der Umstand, dass man sie ihre riskanten Geschäfte fast unwidersprochen machen liess. Dass die meisten Ökonomen die spekulativen Gewinne beklatschten, gehört zu den Peinlichkeiten einer Wissenschaft, die mit beinahe religiöser Inbrunst das Heil des (quantitativen!) Wachstums predigt und hohe Profite als einen vermeintlich rationalen Ersatz für Sinn begreift (Nelson 2001). Im Volk regte sich zwar schon früh der Unwille über wachsende Bezüge und exorbitante Boni gewisser Manager, was die NZZ als «Neidökonomie» verspottete. Auch für die akademische Zunft waren die merklich verschobenen Einkommens- und Wohlstandsrelationen kaum Anlass, die tieferen Ursachen und die relevanten Auswirkungen solcher Veränderungen kritisch zu hinterfragen. Dabei hätte man in den absurden Lohnspreizungen das Indiz für ein gestresstes oder gar «krankes» System erkennen können, in dem finanzielle Erfolge immer weniger den Leistungen im traditionellen Sinne entsprachen. Man hätte doch sehen müssen, dass solche Praktiken die Werte der Arbeitsgesellschaft unterminieren, deren moralischen Zerfall man gleichzeitig beklagte. Hohen Profitraten selbst im zweistelligen Bereich haftete nichts Fragwürdiges oder gar Unanständiges an. In einer Art von säkularisiertem Calvinismus legitimierte der Profit jegliches Tun und jegliche Form von Wachstum. Wer die Verteilungsfrage zu stellen versuchte oder nach den Verlierern in diesem Gewinnspiel ohne Grenzen zu fragen wagte, störte den Wachstums-Gottesdienst. Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung liessen sich von hohen Gewinnen korrumpieren, in der Hoffnung, davon mit profitieren zu können. Manche für den gesellschaftlichen Kitt und für eine nachhaltige Entwicklung wichtige Werte wurden durch den Geldwert rasch realisierbarer Gewinne diskreditiert und verdrängt. Der Verlust bisher gültiger Massstäbe und die Verzerrung traditionell als «gesund» geltender Relationen in Wirtschaft und Gesellschaft sind Ausdruck einer politischen und kulturellen Krise, mit der wir künftig auch dann noch konfrontiert sein werden, wenn die Finanzmarktkrise rascher überwunden sein sollte als noch vor wenigen Monaten angenommen.

Die hier vorgetragene Interpretation ist zugegebenermassen nicht frei von subjektiver Einschätzung und persönlichen Werthaltungen. Historische Analysen gesellschaftlicher Veränderungen können schon aus Gründen der Erkenntnistheorie nie in einem strengen Sinne objektiv sein. Sie sollten jedoch einen hohen Grad an Intersubjektivität anstreben, um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Das heisst nicht, dass wir ein Bild der Vergangenheit zeichnen müssen, das auf möglichst breite Zustimmung stösst. Es heisst vielmehr Nachvollziehbarkeit (und damit auch Kritisierbarkeit) der wichtigen Denkprozesse und Entscheidungen, die unserem Bild der Vergangenheit zugrunde liegen. Der Zeithistoriker droht im Meer der bekannten Daten zu ertrinken. Sein Hauptproblem ist die Auswahl der relevanten Fakten und Deutungen. Er muss entscheiden, worauf er verzichten will, denn er kann unmöglich alles Wissenswerte zur Darstellung bringen. Dabei steht die Relevanz seiner Fragen und Antworten auf dem Prüfstand: Die Rückschau auf die Vergangenheit muss für das Verständnis der Gegenwart und die Vorschau auf die Zukunft bedeutsam sein.

Jede Analyse, jede Beschreibung geht von Theorien aus oder doch von Modellen und Konzepten, also von Bildern über den Zusammenhang der Dinge und Prozesse in unserer Welt. Wer eine Geschichte erzählt, ist darauf angewiesen, dass er aus dem Vorverständnis seiner Zuhörerschaft Unmengen gespeicherter Erfahrungen und Erkenntnisse abrufen kann, ohne die seine Geschichte kaum verstanden würde. Er kann umgekehrt mit seiner Geschichte – bewusst oder unbewusst – auch Urteile und Einsichten transportieren, ohne dass er diese offen aussprechen muss. Unsere alltägliche Kommunikation ist voll von solch impliziten Botschaften, die in unserem Bewusstsein nur zum Teil explizit gemacht werden. Bei wissenschaftlichen Analysen geht man aber davon aus, dass sie die wichtigen Denkmodelle offenlegen, die sie verwenden. Sie machen ihr eigenes Vorverständnis explizit und kritisierbar, weil wissenschaftlicher Fortschritt nur so möglich scheint.

Was die vorliegende Studie betrifft, so muss ich gestehen, dass mein Vorverständnis als eher diffus zu taxieren ist. Natürlich war auch ich beeindruckt vom beispiellosen Erfolg der Finanzwirtschaft in den letzten Jahrzehnten, aber gleichzeitig besorgt, weil die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und die Monetarisierung aller Werte den Modernisierungsprozess immer mehr dominierten. Als Personaldirektor einer grossen Verwaltung seit 1989 musste ich miterleben, wie die Finanzen in Politik und Wirtschaft, in der Öffentlichkeit, in der Betriebsführung und in der Privatsphäre vom Mittel zum Zweck avancierten. Selbstredend war finanzielle Steuerung auch im Bereich der Humanressourcen eine Notwendigkeit. Aber im knallharten Konflikt der Interessen wurde Geld vom Wertmassstab immer mehr zu einem Wert an sich, als Quelle von Macht und Ansehen geschätzt und gefürchtet, behaftet mit Hoffnungen und Ängsten, in seiner Motivations- und Kontrollfunktion manchmal wohl auch etwas überschätzt. Die Finanzen prägen heute jeden Entscheidungsprozess und sind zum mächtigsten Treiber einer Gesellschaft im raschen Wandel geworden, die man ohne eine entsprechende Analyse kaum mehr verstehen und adäquat beschreiben kann.

Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus

Grosse Teile dieser Studie waren schon skizziert, als ich bei meinen Recherchen im Bereich der Wirtschaftssoziologie auf ein neues Konzept stiess, mit dem ich wichtige Erkenntnisse gleichsam im Nachhinein in einen logischen Zusammenhang und auf den Begriff bringen kann: das Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus. Es handelt sich hier um eine «Theorie mittlerer Reichweite», die nicht wie naturwissenschaftliche Gesetze weltweite und ewige Erklärungskraft reklamiert. Ihr Geltungsanspruch ist wesentlich bescheidener: Es geht um eine integrierte Sichtweise der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen nur gerade der allerjüngsten Vergangenheit, eine Sichtweise, die uns aber dank ihrer interdisziplinären Fragestellung besser begreifen lässt, was sich in den letzten drei Jahrzehnten Grundlegendes in unseren westlichen Gesellschaften verändert hat. Dieses Konzept soll im Folgenden in seinen grossen Zügen kurz vorgestellt und als ein Modell skizziert werden, das sich für den Zeithistoriker als äusserst hilfreich erweist, weil es den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede vergleichbarer Länder zu schärfen vermag.

Wie die meisten Kapitalismus-Konzepte (so jene von Karl Marx, Max Weber, Werner Sombart, Karl Polanyi oder Joseph Schumpeter bis hin zum «Spätkapitalismus» der Neomarxisten) versucht auch das Konzept des Finanzmarkt-Kapitalismus, Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Widersprüchen und in ihren gegenseitigen systemischen Abhängigkeiten als einen spannungsreichen historischen Prozess zu verstehen. Es verbindet ökonomische mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden und lässt sich als interdisziplinärer Ansatz nicht in zu enge Fachgrenzen zwängen. Basierend auf der Politischen Ökonomie der modernen Finanzmärkte (Huffschmid 1999 bzw. 2002), werden die wirtschaftlichen und politischen, die sozialen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte so miteinander verknüpft und beleuchtet, dass die spezifischen Konturen eines durch die globalisierten Finanzmärkte gesteuerten «Produktionsregimes» und damit eines neuen gesellschaftlichen Handlungssystems deutlich hervortreten (vgl. Windolf 2005, aber auch schon Kühl 2003 und namentlich Deutschmann 2008). Interessant finde ich dabei, dass der markante Machtgewinn des Finanzsektors in einen historischen Kontext gestellt und aus neu entstandenen funktionalen Zusammenhängen heraus begriffen wird. Wer die verheerenden Vorgänge der jüngsten Epoche erklären will, muss deshalb nicht nur mit der fehlenden Moral oder der grenzenlosen Gier der Banker argumentieren.

Historischen Ausgangspunkt für den vom Konzept des Finanzmarkt-Kapitalismus ins Visier genommenen sozialen Wandel bildet der koordinierte oder kooperative, durch (Gross-)Industrie, Fordismus, Keynesianismus und Sozialstaat geprägte Kapitalismus der Nachkriegszeit, der seit den 1970er und namentlich in den 1990er Jahren durch einen mehr kompetitiven und viel stärker von den weltweiten finanziellen Prozessen getriebenen Kapitalismus zusehends verdrängt und abgelöst worden ist. Das rasante Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte war vor allem über festverzinsliche Kredite der Grossbanken finanziert worden. Diese Institute waren bestrebt, ihre Schuldner (rück-)zahlungsfähig und bei Laune zu halten. Unter dem Einfluss ihrer konservativen Hausbanken strebten die Unternehmen nicht nach Profitmaximierung, sondern verfolgten ihre Wachstumsziele mit eher risikoaversen Strategien. Banken und Unternehmen waren beide an einer langfristigen Stabilisierung ihrer Ertragslage interessiert, weshalb sie einer Begrenzung der Konkurrenz durch Kartellierung der Märkte nicht abgeneigt waren. Diese Konstellation der Interessenlagen sah jener im «Organisierten Kapitalismus» vor 1914, in Rudolf Hilferdings «Finanzkapital» glänzend analysiert, in vielem ähnlich, aber der Staat hatte in der imperialistischen Epoche eine wesentlich dominantere, die sozialen Konflikte meist nach aussen ablenkende Funktion.

Nach einem halben Jahrhundert der Weltkriege und Krisen bot die amerikanische Vorherrschaft eine neue Chance für die kapitalistische Durchdringung der Welt. Erst im Zeichen des Kalten Krieges machten die nationale Schliessung und die politische Vermachtung der Produkte-, Kapital- und Arbeitsmärkte wieder einer internationalen Öffnung und Liberalisierung Platz. Im kooperativen (oder auch: (neo-) korporativen) Kapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte waren es neben dem Staat vor allem die grossen Verbände, welche die Gesellschaft zusammenhielten. Auf der Grundlage des durch die Banken finanzierten Wachstums ermöglichten die Sozialpartner einen gesellschaftlichen und politischen Konsens, der Arbeiterschaft und Kapitalismus zu versöhnen vermochte – allerdings mit merklichen Unterschieden von Land zu Land. Massenkonsum und sozialstaatliche Absicherung der Lohnarbeit verschafften dem kapitalistischen System eine breite Loyalität der Massen, aber auch genug Nachfrage für die rasch wachsende Produktion.

Dieses System war lange Zeit äusserst erfolgreich. Es geriet letztlich durch seine Erfolge in Schwierigkeiten: Gewinne und Vermögen wuchsen noch rascher an als Löhne und Konsum. Tendenziell sanken deshalb die Investitionen, denn auf den realen Gütermärkten liessen sich nicht mehr so hohe Profite erzielen. Bereits Ende der 1960er Jahre kriselte die keynesianische Konjunktursteuerung und «Eurodollars» unterliefen die Währungspolitik. Die 1970er Jahre brachten dann das Ende der fixen Wechselkurse, die Ölpreiskrise und schliesslich den markanten Einbruch des realen Wirtschaftswachstums, der sich auch als Strukturbruch erweisen sollte. Trotz der Staatsintervention versank die Wirtschaft in einen Zustand der Stagflation, also in eine Stagnation kombiniert mit sehr hohen Inflationsraten. Wo Wachstum noch oder wieder möglich war, konnte dieses bescheidene Wachstum fortan Lohnanstieg, Sicherheit der Arbeitsplätze und Vollbeschäftigung nicht mehr garantieren. Die Folgekosten des raschen Wachstums vor der Krise kumulierten mit den Kosten des Marktversagens in und nach der Krise, was zu hohen Defiziten der öffentlichen Hände führte und schliesslich den (Sozial-)Staat arg in Bedrängnis brachte. In den angelsächsischen Ländern brachten die 1980er, in den kontinental-europäischen erst die 1990er Jahre den Wechsel zu einem Regime, das stärker dem Monetarismus und Neoliberalismus verpflichtet war (zumindest verbal; die hohe (Staats-)Verschuldung in den USA könnte man mit guten Gründen auch als «Keynesianismus durch die Hintertür» bezeichnen). Eine intakte Konsenskultur der Sozialpartner war unter solchen Bedingungen kaum mehr aufrechtzuerhalten.

Gleichzeitig liess sich in der Wirtschaft eine markante Gewichtsverlagerung von der Kreditfinanzierung zur Finanzierung über den Kapitalmarkt beobachten. Die rasch wachsenden Privatvermögen wurden vor allem in Aktien angelegt, und international agierende Investmentfonds sowie Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften spielten dabei als Interessenverwalter der neuen Eigentümer eine zentrale Rolle. Diese institutionellen Anleger dominierten bald die Finanzmärkte, die in den 1970er und 80er Jahren stark liberalisiert wurden und kräftig expandieren konnten. Das zentrale Interesse der Fonds ist die Steigerung ihrer kurzfristigen Rendite. Sie nehmen meist nur kleine Unternehmensanteile in ihr Portfolio auf und können diese auch jederzeit wieder abstossen, wenn sie mit der Performance nicht zufrieden sind. Im Durchschnitt halten Investment-Fonds die Aktien kaum länger als ein Jahr. Die Kurzfriststrategie ist Folge ihrer Finanzmarkt-Orientierung, denn im Wettbewerb um Kundengelder zählt der rasch realisierbare Gewinn. Dieses Profitdenken überträgt sich vor allem in börsenkotierten Unternehmen auf Verwaltungsrat und Management, die mit Aktienoptionen geködert und belohnt oder mit Exit-Strategien, also dem Verkauf von Aktien, respektive mit feindlichen Übernahmen bedroht und sanktioniert werden können. An technischer Kompetenz orientierte unternehmerische Innovationen und die nötigen langfristigen Investitionen verlieren an Bedeutung. Dafür rücken Effizienz, Kostenminimierung, Restrukturierungen und Konzentration auf das Kerngeschäft, Leanmanagement und Personalabbau oder (andere) gezielte Manipulationen zur raschen Steigerung der Aktienkurse in den Fokus.

Diese neue «Finanzialisierung» der Wirtschaft wirkt sich auf Gesellschaft und Politik verheerend aus. Arbeitsplätze verlieren an Sicherheit, Reallöhne sinken, und es entsteht auch in den reichen Ländern trotz Flexibilisierung der Arbeitskraft bis zur Selbstausbeutung in der Ich-AG ein Prekariat, eine Schicht von Menschen, die auch in Anstellungsverhältnissen zumindest zeitweise auf Versicherungs- oder Sozialleistungen angewiesen sind. Nach Jahrzehnten des Abbaus ungleicher Chancen während der Epoche von Wohlfahrtsstaat und Keynesianismus nimmt die soziale Ungleichheit neu wieder zu. Trotz Shareholder-Value und dem lauten Ruf nach «Eigentümerdemokratie» sind es eben nicht die vielen Kleinaktionäre, die sich im Finanzmarkt-Kapitalismus bereichern können, sondern die Topmanager und Börsenhändler mit der exorbitanten Steigerung ihrer Einkommen. Der überforderte Sozialstaat gerät unter Druck, nicht zuletzt auch von Seiten der Finanzmarktakteure: Diese verschärfen die Standortkonkurrenz zwischen den Nationalstaaten. Es geht um Steuervorteile, weitergehende Marktliberalisierungen und um Privatisierung von Staatsaufgaben, Letztere natürlich interessant als Investitionsmöglichkeiten für das anlagesuchende Kapital. Der neue Finanzmarkt-Kapitalismus ist ein weitgehend globalisiertes Regime. Es braucht weder den aktiven Staat noch kümmert es sich um einen nationalen Konsens der Interessen. Aber seine Zwänge werden bis in die lokalen Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte spürbar und setzen zusehends auch politische Behörden unter Anpassungsdruck, seit den 1990er Jahren praktisch rund um den ganzen Globus.

Was heisst das für den Bankensektor? Das traditionelle Kommerzgeschäft mit seiner Einbettung in regionale und nationale Finanzmärkte erleidet einen Bedeutungs- und Machtverlust. An die Stelle gegenseitigen Vertrauens in den Beziehungsnetzwerken tritt die Performance, ausgedrückt in nackten Zahlen, jederzeit weltweit greifbar dank modernster Informatik; nun prüfen global orientierte Rating-Agenturen die Bonität der Unternehmen. Seit Mitte der 1990er Jahre verkaufen die (Gross-)Banken schrittweise ihre Industriebeteiligungen und ziehen sich aus den Aufsichtsund Verwaltungsräten der Grossunternehmen zurück. Um ihre Führungsposition im Finanzsektor zu sichern und auszubauen, versuchen sie in das lukrativere Geschäft des Investment-Banking umzusteigen. Denn nur wer sich anpasst, selber erfolgreiche Fonds betreibt, einen Eigenhandel aufbaut und Dienstleistungen für internationale Grosskunden erbringt, kann aus dem Transformationsprozess der Finanzmärkte fette Gewinne schlagen.

Finanzmärkte sind wie alle Märkte Institutionen zur Reduktion von Komplexität. Auch sie verarbeiten relevante Informationen letztlich zu Preisen. Finanzmärkte sind aber keine gewöhnlichen Märkte, die Angebot und Nachfrage rasch in ein Gleichgewicht bringen. Auf ihnen werden nicht normale Güter oder Dienste gehandelt, sondern Zahlungsversprechen, also künftig zu erwartende Erträge. Sie transformieren hohe Unsicherheiten durch fiktive Kapitalisierung in handelbare Risiken. Die Preisbildung für Zahlungsversprechen ist das Ergebnis von Erwartungs-Erwartungen, also von Einschätzungen der Investoren und Analysten, wie die Marktteilnehmer auf mögliche Ereignisse in der Zukunft reagieren werden. Finanzmärkte sind hypersensibel und anfällig für Emotionen; sie neigen zum Herdenverhalten und verstärken permanent ihre eigenen Erwartungen, was Überund Unterbewertungen zur Folge hat. Sie können sich von der Realökonomie weit entfernen, ehe sie aufgrund so genannter Fundamentaldaten wieder an die realen Gütermärkte rückgekoppelt werden. Diese Volatilität illustriert ihre spezifische Anreizstruktur: Die Marktteilnehmer sind mehr an kurzfristigem Gewinn als an langfristigem Wachstum interessiert. Ihr spekulatives Verhalten fördert die Blasenbildung, was über kurz oder lang zu Finanzmarktkrisen führen muss. Und erst nach dem Platzen dieser Blasen wird dann jeweils deutlich, dass die monetären Aufblähungen kaum je echtes Wachstum generierten, sondern vielfach gar einen Verlust an ökonomischer Substanz verschleiert haben.

Der hier idealtypisch skizzierte Übergang vom kooperativen oder (neo-)korporativen Kapitalismus der Nachkriegsepoche zum Finanzmarkt-Kapitalismus der Gegenwart hat sich real auf unterschiedliche Weise vollzogen. Gesellschaftliche Entwicklungen sind pfadabhängig. Die liberale Tradition hat in den angelsächsischen Ländern den früheren Übergang zum «Shareholder Kapitalismus» (Rappaport 1986/ 1994) begünstigt, aber auch hier waren vorher korporative Tendenzen am Werk, wenn wir z. B. an den amerikanischen New Deal oder an die Macht britischer Gewerkschaften bis in die 70er Jahre denken. Umgekehrt hat in Kontinentaleuropa, vor allem in Deutschland, (und etwa auch in Japan) der starke Hang zu staatlichen Regelungen und sozialem Ausgleich den späteren Übergang zum Finanzmarkt-Kapitalismus teilweise überlebt. Erfolgreiche Institutionen sind zäh. Der «Rheinische Kapitalismus» und die Soziale Marktwirtschaft haben Politik und Sozialverhalten der Wirtschaftswunderkinder tief geprägt, so dass die Globalisierung zwar eine gewisse Konvergenz, nicht aber eine totale Konformität der Systeme erzwingen konnte. Seit Auflösung der sowjetischen Herrschaft spielt sich nun die Systemkonkurrenz unter verschiedenen Ausprägungen des Kapitalismus ab. Ob sich das zunächst erfolgreichere amerikanische Modell und damit der Finanzmarkt-Kapitalismus in Reinkultur weltweit wird durchsetzen können, ist nach der verheerenden Finanzmarktkrise von 2007 bis 2009 wieder völlig offen.

Der Finanzmarkt-Kapitalismus als idealtypisches Modell der jüngsten Entwicklung ist für den Zeithistoriker äusserst hilfreich. Das Konzept liefert uns einen interessanten Raster, um die schweizerische Finanzwirtschaft der letzten Jahrzehnte auf ihre Eigenheiten zu befragen und damit zu testen, inwiefern die Schweiz als «Sonderfall» zu bezeichnen ist.

Auf den ersten Blick scheint unser Land bezüglich Finanzmarkt-Kapitalismus eher ein Paradebeispiel als ein Sonderfall zu sein. Wirtschaftlich hat sich dieses Regime hierzulande weitgehend durchgesetzt. Die Implementierung fand aber vor einem speziellen politischen und kulturellen Hintergrund statt, der den Strukturen und Orientierungsmustern des kooperativen Kapitalismus noch immer stark verhaftet ist. Auf diesen Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Überanpassung und politischer Nostalgie werden wir unsere Analyse auch auszurichten haben.

Die Banken und ihre Schweiz

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