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»Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt«

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Deutschsprachige Lyrik nach 1945

Wer sich anschickt, die Entwicklung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik in einer auch nur einigermaßen repräsentativen Auswahl zu dokumentieren, der gelangt rasch an einen Punkt, an dem immer mehr Fragezeichen sein Unternehmen begleiten, zumal wenn dieses für lyrikverwöhnte amerikanische Augen bestimmt ist. Angesichts der Wohltemperiertheit, die das Gros jener Gedichte kennzeichnet, die in den letzten Jahrzehnten zwischen Berlin und Wien, Hamburg und Zürich entstanden sind, muss ihn ebenso Resignation befallen wie angesichts der sprachlichen Unvermittelbarkeit dessen, was aus der neueren deutschsprachigen Dichtung unverwechselbar und bedeutsam herausragt.

Deutsch ist offenkundig keine Weltsprache mehr. Ein deutsch schreibender Dichter ist nicht mehr von vornherein im Vorteil gegenüber einem polnisch, tschechisch oder schwedisch schreibenden. Im Konzert der modernen Weltpoesie wird jedenfalls eine englische oder romanische – auch eine russische – Stimme weit eher und besser vernommen als eine deutsche. So ging von keinem deutschsprachigen dieses Jahrhunderts, nicht einmal von Rilke (erst recht nicht von Benn und Brecht), eine vergleichbare epochale und d. h. innovatorische Wirkung aus wie etwa von Walt Whitmans »Leaves of Grass«, Wallace Stevens’ »The Man with the Blue Guitar«, T. S. Eliots »The Waste Land«, William Carlos Williams’ »Paterson«, W. H. Audens »The Age of Anxiety«, Robert Lowells »For the Union Dead« oder zuletzt noch von Allen Ginsbergs »Howl« (um nur die allerwichtigsten jener englischsprachigen Gedichtbände zu nennen, die das Bild der modernen Poesie weit über den englischen Sprachraum hinaus geprägt haben). Ironischerweise erzielte nur ein einziger deutscher Dichter – und zwar einer aus dem achtzehnten Jahrhundert – so etwas wie eine moderne Weltwirkung, es war Friedrich Hölderlin, der allerdings auch im deutschen Sprachraum erst von Dichtern unseres Jahrhunderts in seiner wahrhaft überragenden Bedeutung erkannt worden war.

Die Ursache für die mangelnde Welthaltigkeit der lyrischen Durchschnittsproduktion einerseits und die eingeschränkte Weltwirkung der bedeutenden Ausnahmeerscheinungen unter den modernen deutschsprachigen Lyrikern andererseits ist aber nicht nur im Sprachlichen gegründet, sondern mehr noch im Geschichtlichen, nämlich in der Diskontinuität ihres Erscheinungsbildes, die eine Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 ist. In einem Land wie den USA und aus einer Perspektive wie jener der Zeitschrift »Poetry«, die 1912 begründet wurde und bis zum heutigen Tage die englischsprachige Lyrikentwicklung kontinuierlich kommentiert und begleitet, kann man sich vermutlich nur schwer vorstellen, was es für einen jungen deutschsprachigen Dichter der vierziger und fünfziger Jahre bedeutete, von jeder Entwicklung der modernen deutschen und erst recht der modernen Weltpoesie abgeschnitten zu sein. So fragwürdig der Begriff von der »Stunde Null«, mit dem in Deutschland gern der Beginn der Nachkriegszeit belegt wurde, politisch auch war (weil er implizierte, es sei davor nichts gewesen, und also der Verdrängung diente), so fraglos traf er auf die literarische Situation zu.

In den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 hatte nicht nur nichts, woran man später hätte anknüpfen können, entstehen dürfen, es war auch alles, was von der Moderne der Vorkriegszeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung wert gewesen wäre, als ›entartet‹ geächtet gewesen. Und erst recht wurde der Blick über die Landes- und Sprachgrenzen hinaus unter Strafe gestellt. Das erklärt, warum dann, als Ende der vierziger Jahre Einflüsse von draußen ebenso wieder erfolgten, wie die Wiederfindung der eigenen Moderne möglich war, diese Einflüsse oft eine eher negative Wirkung ausübten. Sie waren so überwältigend neu, dass sie zumeist ziemlich ungefiltert und unreflektiert übernommen wurden und entsprechend epigonale Resultate zeitigten. Es gab in Deutschland plötzlich lauter kleine deutsche Eliots, Pounds, Éluards, Benns und Brechts.

Weit mehr noch als derartig formalästhetische Probleme machten aber moralische Aporien den deutschen und österreichischen Nachkriegsdichtern zu schaffen. Der Zivilisationsbruch, der soeben stattgefunden hatte, war so über alle Maßen unfassbar und ungeheuerlich, dass er eigentlich jedem Fühlenden die Stimme verschlagen musste. Nur noch der Schrei oder schamhaftes Verstummen schienen eine einigermaßen angemessene Reaktion darauf. Die »Tendenz zum Verstummen« attestierte denn auch Paul Celan, selbst ein Überlebender des Holocaust, dem neuen Gedicht insgesamt. Bezeichnenderweise wurde in den Lyrikdebatten der Nachkriegszeit und noch bis in die siebziger Jahre hinein kein anderer Satz so häufig zitiert und so heftig diskutiert wie jener des aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrten Kulturphilosophen Theodor W. Adorno, der besagte, es sei barbarisch, ja unmöglich, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben. Mit gleichem Recht hätte Adorno freilich dekretieren können, es sei barbarisch, nach Auschwitz noch weiter essen und atmen zu wollen.

So viel jedoch ist sicher: ohne Reflexion der anthropologischen Möglichkeit Auschwitz ließ sich kein deutsches – und wahrscheinlich überhaupt kein Gedicht mehr – beglaubigen. Wer nach 1945 das alte Wagnis des Gedichts noch einmal einging, musste mehr als artistisches Vermögen oder poetische Gestimmtheiten vorweisen können, er stand mit jedem neuen Gedicht auch auf dem moralischen Prüfstand. Doch ebendiese moralische Hypothek war es nun wiederum, die so viele Gedichte – und Dichter – erdrückte, sie ins völlige Verstummen trieb oder aber, noch schlimmer, ins Predigen. Das übermächtige Gefühl der Verantwortung für den Zustand des menschlichen Gewissens schlug sich genauso oft als ästhetisches Defizit nieder wie moralische Bedenkenlosigkeit oder naive Arglosigkeit.

Schon vor Kriegsbeginn hatte Bertolt Brecht sein programmatisches Gedicht »An die Nachgeborenen« geschrieben, in dem er die Unmöglichkeit, noch arglos zu sprechen, beklagte: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Diese Brecht-Zeilen wurden in den literarischen Nachkriegsdebatten fast so häufig zitiert wie Adornos Auschwitz-Verdikt, zumal wichtige Lyriker der Nachkriegszeit noch zur Schule des naturmagischen Gedichts in der Nachfolge Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns zählten und sich im Krieg mittels einer relativ unangreifbaren Naturlyrik in »das Gespräch über Bäume« gerettet hatten (so Peter Huchel, Günter Eich, Karl Krolow, Elisabeth Langgässer, Oda Schäfer, Horst Lange und Johannes Bobrowski). Spät in den sechziger Jahren, nicht lange vor seinem Freitod, hat Paul Celan noch mit einem Gedicht Brecht geantwortet, das schlechthin jede Form eines unschuldigen Sprechens verwirft: »EIN BLATT, baumlos, / für Bertolt Brecht: // Was sind das für Zeiten / wo ein Gespräch / beinahe ein Verbrechen ist, / weil es soviel Gesagtes / mit einschließt?« Die »Tendenz zum Verstummen« ist diesem Gedicht ebenso eingegraben wie die Forderung an den Dichter, das Unmögliche möglich zu machen und das Unsagbare zu sagen. Solches Sagen aber impliziert eine radikale Absage an jede geläufige Art des Sprechens, es verlangt eine neue, ganz andere, eine wahrhaft unerhörte Sprache.

Rekapituliert man heute die Lyriksituation nach 1945, ergreift einen Bestürzung, denn kaum irgendwo findet sich der Versuch, das Unsagbare zu sagen, vielmehr zeigt sich vorherrschend eine unsägliche Unversehrtheit, von der bereits die Titel der Gedichtbände künden, die damals herauskamen: »Des alten Mannes Sommer« (Rudolf Alexander Schröder), »Stern über der Lichtung« (Hans Carossa), »Entzückter Staub« (Wilhelm Lehmann), »Der Laubmann und die Rose« (Elisabeth Langgässer), »Die Silberdistelklause« (Friedrich Georg Jünger), »Mittagswein« (Anton Schnack), »Die Holunderflöte« (Peter Gan), »Unter hohen Bäumen« (Georg Britting) lauteten einige dieser Titel, und sogar »Die heile Welt« (Werner Bergengruen) wurde damals dem deutschen Lyrikleser, der inmitten der Verwüstung und Zerstörung hauste, allen Ernstes aufgetischt. Verräterisch auch noch der Titel der ersten repräsentativen Nachkriegs-Anthologie deutschsprachiger Gegenwartslyrik: »Ergriffenes Dasein«!

Um wie viel angemessener und das heißt weniger ergriffen als vielmehr entsetzt und empört hatten deutsche Dichter noch auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges reagiert. »Menschheitsdämmerung« betitelte Kurt Pinthus 1920 seine aufsehenerregende und folgenreiche Anthologie neuer deutscher Dichtung, in der die expressionistische Generation erstmals geschlossen auf den Plan trat und gewissermaßen als Vollstrecker von Nietzsches Testament eine gottlose und schuldbeladene Gesellschaft beklagte und anklagte.

»Abgelegene Gehöfte«: Auch dieser Titel eines 1948 erschienenen Gedichtbandes von Günter Eich wirkte eher idyllisch, signalisierte jedenfalls nicht, dass gerade ein Zivilisationsbruch wie nie zuvor stattgefunden hatte. Doch finden sich in diesem Eich-Gedichtband neben vielen vor dem Krieg und im Krieg geschriebenen Naturgedichten, die eher das Misstrauen gegen den Innerlichkeitskult der sogenannten Inneren Emigration zu nähren vermögen, erstmals auch Gedichte, die ihr Vokabular zwar weitgehend aus dem alten Fundus der Naturlyrik beziehen, aber von einer Schwermut durchwirkt sind, aus der eine tiefe Irritation der Welt- und Ich-Erfahrung spricht. Wenn diese auch ihren geschichtlichen Grund nirgends konkret benennt (was Günter Eich veranlasste, sich später von diesen frühen Gedichten zu distanzieren), so erscheint sie doch nicht nur als Affekt bloßer Furcht oder Ohnmacht, sondern enthält auch einen subversiven Kern, nämlich den der Verweigerung jeglicher Positivität.

Eichs Gedichtband »Abgelegene Gehöfte« enthält zudem zwei Gedichte, die neben Paul Celans »Todesfuge« zu den berühmtesten Nachkriegsgedichten überhaupt wurden: »Latrine« und »Inventur«. Beide verdanken sich der Erfahrung des Lagers, allerdings keines deutschen Konzentrationslagers, sondern eines amerikanischen Gefangenencamps am Rhein, und der Autor, der dort unter kläglichsten Bedingungen zu existieren gezwungen ist, weiß doch, dass er ein Recht auf Klage angesichts der Gräuel, die nicht zuletzt durch deutsche Armeen geschahen oder doch begünstigt wurden, nicht hat. Illusionslosigkeit ist daher erstes Gebot und zu dieser zählt vor allem die Einsicht in die Fragwürdigkeit des Guten, Alten, Wahren, Schönen, sprich: die Fragwürdigkeit einer humanistischen kulturellen Tradition, die Auschwitz zu verhindern weder die Kraft noch den ernstlichen Willen besaß. Wenn Günter Eich im Gedicht »Latrine« auch noch nicht auf den Reim und damit auf versöhnlichen Wohlklang verzichtet, so reimt sich in seinem Gedicht doch auf Hölderlin Urin (»Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin«). Das galt 1948 und auch noch einige Jahre später in Deutschland als ebenso unerhörte Provokation wie die nackte Aufzählung der lebensnotwendigen Utensilien eines Gefangenen im nunmehr reimlosen Gedicht »Inventur«, dessen hartnäckiges understatement bereits Eichs Bruch mit der naturmagischen Schule antizipierte.

Im selben Jahr 1948 wie »Abgelegene Gehöfte« erschien auch ein erster Band »Gedichte« des 1903 geborenen Peter Huchel, der mit dem vier Jahre jüngeren Günter Eich nicht nur die literarische Herkunft aus der Vorkriegs-Schriftstellergruppe, sondern auch das Schicksal der Inneren Emigration teilte, d. h., die meisten der Gedichte, die Huchel vorlegte, waren entweder vor dem Krieg oder unter den Bedingungen des Krieges und der Nazi-Diktatur entstanden. Auch Peter Huchel hatte, wie vorsichtig und hilflos auch immer, gesellschaftlich-politische Sachverhalte mit den Mitteln einer naturmagischen Metaphorik zu benennen versucht: »o öder Anhauch bleicher Lippen, / mit Blut und Regen kam der Tag, / da auf des Flusses steingen Rippen / das Morgenlicht zerschmettert lag«. Auch Huchels Gedichte legitimierte nur die verweigerte Positivität und die Schwermut, die sie gegen jede Vereinnahmung durch die Nazis geschützt hatte.

Eine wirklich adäquate Sprache für die Epoche der großen Verfolgungen und Verwüstungen fand Huchel erst dann, als er selbst zu den Verfolgten gehörte und Opfer einer neuen Gewaltherrschaft, diesmal einer kommunistischen, wurde, die sich in Ostdeutschland mit Hilfe Sowjetrusslands etabliert hatte. Huchel war ihr übrigens zunächst keineswegs ablehnend gegenübergestanden, wie sowohl sein 1948 entstandener Gedichtzyklus »Das Gesetz«, der die sowjetzonale Bodenreform preist, als auch die Tatsache zeigt, dass Huchel sich ab 1949 zum Chefredakteur der im Auftrag der Ost-Berliner Akademie der Künste erscheinenden Zeitschrift »Sinn und Form« küren ließ. Das Schlussgedicht seines Gedichtbandes, »Heimkehr« betitelt, endet entsprechend mit einer Hoffnungsperspektive. Aber die Figur, an die sich diese Hoffnung knüpft, ist keine konkrete, sondern eine mythische, und dieser zur Urmutter stilisierten wendischen Bäuerin, die in ihr zerstörtes Dorf heimkehrt, haftet – bei allem Respekt vor Huchel sei das gesagt – noch ein Rest jener Mütter- und Bauernverklärung an, wie sie nahezu nahtlos von der faschistischen in die kommunistische Ästhetik überführt wurde: »Aber am Morgen, / es dämmerte kalt, / als noch der Reif / die Quelle des Lichts überfror, / kam eine Frau aus wendischem Wald. / Suchend das Vieh, das dürre, / das sich im Dickicht verlor, / ging sie den rissigen Pfad. / Sah sie schon Schwalbe und Saat? / Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug. // Da war es die Mutter der Frühe, / unter dem alten Himmel / die Mutter der Völker. / Sie ging durch Nebel und Wind. / Pflügend den steinigen Acker, / trieb sie das schwarzgefleckte / sichelhörnige Rind«.

Heimkehrer ganz anderer Art gab es, als dieses Huchel-Gedicht entstand, nämlich jene Schriftsteller, die von den Nazis vertrieben worden waren und nun in ihre deutsche Heimat zurückkehrten. Der bedeutendste von ihnen, der von McCarthy-Hysterie aus den USA verjagte Bertolt Brecht, sollte in Ostdeutschland bald den stärksten, freilich auch den lähmendsten Einfluss auf die jüngeren Lyriker dort ausüben, die Brecht meist sogar habituell kopierten. Doch bevor hier Brecht und seine Folgen ins Blickfeld geraten, soll erst jener gedacht sein, die nicht mehr heimkehrten, entweder weil sie nicht mehr wollten oder nicht mehr konnten, wie etwa Gertrud Kolmar, die 1943 nach Auschwitz deportiert worden war.

Von Gertrud Kolmar, übrigens einer Cousine Walter Benjamins, brachte Peter Suhrkamp (der für Samuel Fischer dessen berühmten Verlag relativ unbeschädigt über die Nazijahre gerettet hatte und zuletzt selbst noch ein KZ-Opfer gewesen war) 1947 den Gedichtband »Welten« in seinem frisch gegründeten eigenen Verlag heraus. Leider ohne jedes Echo. Dabei handelte es sich hier um die Manifestation der wohl bedeutendsten modernen deutschsprachigen Lyrikerin nach Else Lasker-Schüler und neben Nelly Sachs, der späteren Nobelpreisträgerin. Meist in traditioneller Strophenform geschrieben, überbrücken die stärksten Gedichte Gertrud Kolmars den blutigen Zeitenraum bis zurück zu Kain und Abel mit der Inbrunst einer biblischen Stimme, wobei viele dieser Gedichte sogar einer Sphäre des Vormenschlichen, des Tellurischen und Anorganischen angehören – oder dort Schutz zu suchen scheinen. Viele werden nur von Pflanzen und Tieren bevölkert und hier wiederum vorwiegend von verachteten oder von Menschen gemiedenen Tieren – wie etwa der Kröte, die in einem späten Kolmar-Gedicht zum Inbild jenes wie Ungeziefer vernichteten auserwählten Volkes wird, dem die Dichterin angehörte: »Komm denn und töte! / Mag ich nur ekles Geziefer dir sein: / Ich bin die Kröte / Und trage den Edelstein«.

Nicht nur Gertrud Kolmars Gedichte fanden in den Nachkriegsjahren kein Gehör, auch auf die im Stockholmer Exil lebende Nelly Sachs, von der 1947 in Ost-Berlin der Gedichtband »In den Wohnungen des Todes« und 1949 bei einem Amsterdamer Emigranten-Verlag der Band »Sternverdunkelung« erschienen waren, wurde man in Westdeutschland erst in den späten fünfziger Jahren aufmerksam, als der zwar kleine, aber renommierte Verlag Heinrich Ellermann in München ihren Gedichtband »Und niemand weiß weiter« druckte. Im Gegensatz zu Gertrud Kolmar, die nur in ganz wenigen Gedichten unverschlüsselt vom Schicksal ihres Volkes gesprochen hatte, war nahezu jedes Nelly-Sachs-Gedicht eine unmittelbare Reaktion auf den Holocaust, war leidenschaftliche Klage und Flehen nach Erlösung von der »Totschlägerwirklichkeit«. Wie im Falle Gertrud Kolmars ist auch die Kraft der Gedichte von Nelly Sachs nicht aus Biblischem geborgt, sondern dort gegründet. Das wilde kosmische Sprechen und die verzückt visionäre Metaphorik der Propheten und Psalmisten feiern in diesen Gedichten Auferstehung und heben sie weit hinaus über jeden individuellen Kunstanspruch und jede ästhetische Doktrin.

Zwar wurde nach 1945 ein Wort wie »Vergangenheitsbewältigung« Mode, aber praktiziert wurde diese eher als Vergangenheits-Verdrängung. Das erklärt, warum Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und so viele andere verfolgte und emigrierte deutsche Dichter damals – und oft bis heute – ungehört blieben. Weder die erste frei gewählte westdeutsche Nachkriegs-Regierung noch eine spätere Bundesregierung kam je auf die Idee, die Vertriebenen und Überlebenden offiziell zur Rückkehr in die alte Heimat aufzufordern (im Gegensatz zum kommunistischen deutschen Teilstaat, der geradezu warb um emigrierte Künstler und sehr vielen auch eine neue deutsche Heimstatt bot). Also blieben die westdeutschen Autoren erst einmal unter sich und mithin auch abgeschnitten von der eigenen literarischen Tradition, die seit 1933 gewaltsam unterbrochen und nur von den vertriebenen jüdischen oder antifaschistischen Autoren fortgeführt worden war. (Um nur zwei Bedeutende von ihnen zu nennen, die bis heute auch vermeintlichen Lyrikkennern hierzulande unbekannt sind: Franz Baermann Steiner, 1909 in Prag geboren und 1952 in Oxford gestorben, und Jesse Thoor alias Peter Höfler, 1905 in Berlin geboren und 1952 in Lienz gestorben.)

Einen einzigen Dichter allerdings gab es, der nach 1945 so etwas wie den Anschluss an die Moderne der Vorkriegszeit zu garantieren schien und der in den fünfziger Jahren denn auch zur allseits bewunderten und imitierten Vaterfigur der jüngeren Lyriker des Westens avancierte. Es war dies der 1886 geborene Gottfried Benn, seines Zeichens Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin. Einst, in seiner expressionistischen Frühphase, hatte Benn mit seinem Gedichtband »Morgue« (1912) für Aufruhr gesorgt, fanden sich dort doch Gedichte, die den Geschmack des wilhelminischen Bürgertums tief verletzten (»Europa, dieser Nasenpopel / aus einer Konfirmandennase, / wir wollen nach Alaska gehn …«). Inzwischen schrieb Benn längst Gedichte von einer müden und mondänen Melancholie, die mühelos konsumierbar waren – und konsumiert wurden wie Drogen. Einem gerade noch einmal davongekommenen Bürgertum erschien Benn auch deshalb in einem fatalen Sinne ›vertrauenerweckend‹, weil er selbst mit dem Makel des Mitmachens behaftet war. In seinem Buch »Kunst und Macht« hatte Benn 1934 den Nationalsozialismus und seinen »Rassegedanken« emphatisch begrüßt (»Die weiße Rasse, das ist Deutschland, Jugend, vergiß es nie, ihre letzte Züchtung, ihr letzter Glanz bist du«).

Wenn Benns Begeisterung für den Nationalsozialismus auch bald gebremst wurde und er einsehen musste, dass nicht, wie er erhofft und verkündet hatte, eine geistige Elite in Deutschland die Macht ergriffen hatte, sondern das ressentimentgeladene Klein- und Spießbürgertum (»das Ganze kommt mir allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend ›Faust‹ ankündigt, aber die Besetzung langt nur für ›Husarenfieber‹«), so blieb doch das Lebensgefühl, das seine Gedichte nach wie vor transportierten, tief regressiv. »O daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor«, so hatte der frühe Benn gedichtet. Jetzt, nach dem großen Morden, knüpfte er wieder an diesen Rückwärtsträumen an und erteilte in seinen »Statischen Gedichten« (1948) dem Fortschrittsgedanken und der Geschichte eine schroffe Absage: »Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe des Weisen«. Und wenn der alte Benn reimte: »Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, / was alles erblühte, verblich, / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich«, so war ihm der Applaus derer sicher, die aus naheliegenden Gründen das große Vergessen und die große Leere ersehnten.

Es passt ins Bild, dass der mit Abstand erfolgreichste, ja geradezu populäre junge Dichter jener Jahre nicht nur Benn-Adept – und von diesem hochgelobt – war, sondern sich auch als Betrüger entpuppte. George Forestier, Verfasser des Gedichtbandes »Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße« (1952), hatte weder das abenteuerliche Leben in der Fremdenlegion geführt, mit dem der Klappentext seines Buches den Lesern den Mund wässerte, noch hieß er Forestier, ja, er war nicht einmal jung, sondern ein biederer älterer Verlagslektor namens Krämer hatte sich so kostümiert, wie es dem Zeitgeist gefiel. Heute kennt von den Jüngeren keiner mehr seinen Namen.

Dem Sog, den Benns Tonfall und Weltschmerz damals ausübten, konnten sich aber auch die seriöseren unter den tatsächlich jungen Dichtern nicht entziehen, die politisch links standen und gegen die regressive und restaurative Stimmung in Westdeutschland aufbegehrten, wie etwa Werner Riegel und sein Freund Peter Rühmkorf, 1925 und 1929 geboren, die 1952 in Hamburg die Zeitschrift »Zwischen den Kriegen – Blätter gegen die Zeit« gegründet hatten und ihre Art zu dichten »Finismus« tauften. Auch wenn Riegel und Rühmkorf andere Absichten als ihr Vorbild Benn hatten und sie ihren Finismus als Alternative zu jener Art Wald-und-Wiesen-Dichtung verstanden, deren Verfasser Benn als »Nüssebewisperer« verspottet hatte, so produzierten sie, indem sie sich von Benns Sound nicht lösen konnten, selbst doch auch nichts anderes als jene von Rühmkorf an Benn beobachtete »kandierte Romantik nach dem ges. gesch. Geschmack des Restauratoriums, das La Paloma der intellektuellen Demimonde«. Das klang dann etwa so: »Ich bin Europas verlorener Sohn. / Siehe die trübe Gestalt! / Ich komme und stelle zur Diskussion / Denken und Darminhalt«.

Gottfried Benn stand damals allerdings noch für etwas anderes als Geschichtsmüdigkeit und Regression, nämlich für den Absolutheitsanspruch der Kunst, den so vehement und extrem kaum mehr jemand seit Mallarmé und Stefan George vertreten hatte. Wenn Mallarmé propagiert hatte: »Schließe das Wirkliche aus, es ist gemein!«, so behauptete Benn: »Das Wort des Lyrikers vertritt keine Idee, vertritt keinen Gedanken und kein Ideal, es ist Existenz an sich, Ausdruck, Miene, Hauch«. Kunst als Refugium oder Enklave des Zeitlosen und als Abkehr von der gemeinen Wirklichkeit: Auch das musste eine Intellektuellen-Generation faszinieren, der die zeitliche Wirklichkeit fast nur Unangenehmes eingebracht hatte und die zugleich auch von der Aufbau-Euphorie ringsum mehr abgestoßen als angesteckt war.

Freilich gab es neben Gottfried Benn noch einen großen deutschen Dichter, der so etwas wie die Kontinuität der Moderne verkörperte, es gab Bertolt Brecht. Doch es gab Brecht, den erklärten Antipoden Benns, eben nicht in West-, sondern in Ostdeutschland, und es dauerte unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als für einen Westdeutschen Paris oder London wesentlich näher lagen als Ost-Berlin, ziemlich lange, bis Brecht auch in den Westen herüberwirkte. Zunächst beschränkte sich Brechts Einfluss ganz auf die jungen sowjetzonalen Lyriker. Propagierte Benn das Gedicht an niemand gerichtet, so forderte Brecht das eingreifende, das politisch bewusste Gedicht. Wo Benn die hehre Nutzlosigkeit von Kunst beschwor, glaubte Brecht an deren »gesellschaftlichen Gebrauchswert«, gegen Benns Kulturpessimismus stand Brechts politischer Optimismus. Das Gedicht des einen suchte, hochmetaphorisch, das Rauschhafte, die subjektive Erfahrungserweiterung. Das Gedicht des andern wollte objektiv überzeugen und entwickelte, unter Verzicht auf alle Metaphorik eine lakonische und epigrammatische Didaktik, die von Simplizität manchmal kaum zu unterscheiden war. Hermetismus und ›Offenheit‹ standen sich also in der westdeutschen Nachkriegslyrik ziemlich unversöhnlich gegenüber, fast so unversöhnlich wie die beiden deutschen Teilstaaten, und im Grunde sind bis heute diese Gegensätze in der deutschen Lyriklandschaft nie ganz verschwunden.

Die beiden B – Benn und Brecht – blieben für die jüngeren Dichter die großen Barrieren, die es irgendwie zu überwinden galt. Nur ganz wenigen gelang so etwas wie eine Synthese und damit eine Überwindung der unfruchtbaren Gegensätze von monologischem und appellativem lyrischen Sprechen. Jene beiden Dichter, denen es sicher am überzeugendsten gelang, kamen auffallenderweise von den Rändern des deutschen Sprachraums und setzten sich west- oder ostdeutscher Staatsrealität so gut wie nie aus: Paul Celan, 1920 in der Bukowina am Rande Osteuropas geboren, lebte nach dem Krieg ununterbrochen in Paris, Ingeborg Bachmann, 1926 in einem an Slowenien grenzenden Kärntner Tal geboren, lebte die längste Zeit ihres Lyrikerlebens in Italien, wo sie auch starb. Als sie 1953 mit ihrem ersten Gedichtband, »Die gestundete Zeit«, debütierte, da war – wenigstens in den besten Gedichten ihres Bandes – zum ersten Mal nach 1945 eine wirklich völlig neue, völlig eigene Stimme vernehmbar, deren Reinheit ebenso verzückte wie ihre Unbedingtheit beeindruckte und verstörte. Eines der Gedichte dieses Bandes bestach vor allen anderen durch seine kühne Dialektik und sein unterkühltes Pathos und wurde zu so etwas wie dem lyrischen Manifest der jüngeren Generation (die sich noch viel später, 1968, als die APO die erstarrten politischen Strukturen des deutschen Staatswesens erschütterte, auf dieses Gedicht berief). Während Wiederaufbau, Wiederbewaffnung – kurz: Restauration – auf dem Programm standen, betrieb dieses Gedicht die systematische Umwertung aller jener Werte, die überall noch oder schon wieder hochgehalten wurden, obwohl sie sich doch geschichtlich gerade noch so fürchterlich blamiert oder decouvriert hatten. »Alle Tage« heißt dieses Gedicht.


Der Krieg wird nicht mehr erklärt,

sondern fortgesetzt. Das Unerhörte

ist alltäglich geworden. Der Held

bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache

ist in die Feuerzonen gerückt.

Die Uniform des Tages ist die Geduld,

die Auszeichnung der armselige Stern

der Hoffnung über dem Herzen.


Er wird verliehen,

wenn nichts mehr geschieht,

wenn das Trommelfeuer verstummt,

wenn der Feind unsichtbar geworden ist

und der Schatten ewiger Rüstung

den Himmel bedeckt.


Er wird verliehen

für die Flucht von den Fahnen,

für die Tapferkeit vor dem Freund,

für den Verrat unwürdiger Geheimnisse

und die Nichtachtung

jeglichen Befehls.


Auch in anderen Gedichten ihres Debütbandes rief Ingeborg Bachmann in beschwörendem Ton zur Lösung des Menschen aus allen bestehenden und wertlos gewordenen Bindungen auf, der johanneische Anruf »Du musst dein Leben ändern« schwingt sozusagen in allen diesen Gedichten mit.

Gibt es in der »Gestundeten Zeit« aber auch noch manches Angelesene und Modische (wie etwa den Gebrauch ungewöhnlicher Genitivmetaphern), so hat Ingeborg Bachmann mit ihrem 1956 publizierten zweiten (und leider auch letzten) Gedichtband, »Die Anrufung des Großen Bären«, vollends zu sich gefunden, nahezu jedes der Gedichte dieses Bandes ist ein Wunder an lyrischer Erfülltheit und Vollkommenheit. Dabei ist die Sprache oft sogar eigentümlich schlicht, allerdings stets durchpulst von sinnlicher Energie: Hier spricht sich rückhaltlos ein weibliches Ich aus, dessen Glücksverlangen grenzenlos und dessen Verletzlichkeit explosiv ist. So leidenschaftlich Ingeborg Bachmann klagen kann, so lauter und ungestüm kann sie auch rühmen. Seit Rilke hat jedenfalls niemand mehr in deutscher Sprache auf eine legitime Weise feierlich gesprochen wie Ingeborg Bachmann, ihr Preisgedicht »An die Sonne« ist ein strahlender Beweis dafür. Und seit der Droste hat keine andere Dichterin Geheimnis und Gewalt des Eros in so vollendet schöner Strenge, in so gemeisterter Verzweiflung beschworen wie Ingeborg Bachmann in ihrem wohl bekanntesten Gedicht »Erklär mir Liebe«. Allein mit diesen beiden Gedichten hat Ingeborg Bachmann dem deutschen Gedicht noch einmal eine Klassizität erobert, die nach 1945 angesichts einer total verheerten Welt niemand mehr für möglich gehalten hätte.

Dass ein so reiner und hoher Ton, wie er mit Ingeborg Bachmann in die Welt kam, nicht lange durchzuhalten sein würde, war von Anfang an zu ahnen – und wusste die Dichterin selbst, die ab ihrem dreißigsten Lebensjahr nur noch Prosa schrieb (mit dieser aber nie mehr die Strahlkraft ihrer Poesie erreichte). Im Herbst 1973 starb sie an den Folgen einer Brandverletzung, die nicht so schwer war, dass man ihren Tod nicht mit ihrem Selbstvernichtungstrieb hätte in Verbindung bringen müssen. »Der ich unter Menschen nicht leben kann«, so lautet die Schlüsselzeile ihres Gedichts »Exil« (das zu den wenigen lyrischen Nachzüglern gehört, die nach dem Gedichtband »Die Anrufung des Großen Bären« noch entstanden). Ingeborg Bachmann reiht sich hier in die Schar jener ganz und gar Untröstlichen ein, für die es auf Erden nirgendwo Heimstatt gibt.

Zu dieser Art von existenziell Exilierten zählte auch Paul Celan, dessen Aufstieg in der Nachkriegs-Literaturszene nicht ganz so kometenhaft begann wie der Ingeborg Bachmanns (der sogar »DER SPIEGEL« eine Titelgeschichte gewidmet hatte), dessen absolute Ausnahmeerscheinung innerhalb der deutschen Lyrik sich aber jedem Lyrikkenner bereits mit seinem ersten, 1952 erschienenen Gedichtband, »Mohn und Gedächtnis«, ankündigte. In Czernowitz geboren, war Paul Celan, der eigentlich Antschel hieß und einer jüdischen Familie entstammte, die dem Holocaust nicht entkommen konnte, über Bukarest und Wien nach Paris gelangt, wo er an der École Normale Supérieure Deutsch unterrichtete und daneben Verse in deutscher Sprache schrieb, von deren rätselhafter Fremdheit magische Anziehungskraft ausging.

Ganz offensichtlich waren Celans frühe Gedichte vom französischen Surrealismus (der ja bis Prag und Bukarest ausgestrahlt hatte) beeinflusst, aber dieser Einfluss konnte ihnen nichts anhaben. Celans Sprachmagie war gespeist aus weit älteren Quellen, zurück über Rilke, Trakl, Mallarmé und Hölderlin, die chassidische Mystik (wie sie durch Martin Buber im deutschen Sprachraum vermittelt worden war) bis zu den jüdischen Psalmisten, deren Ton auch Nelly Sachs wieder aufgenommen hatte (an die Paul Celan später eines seiner eindringlichsten Gedichte richten sollte). Es ist aber vor allem anderen doch die Last des Entsetzens, aus der diese Gedichte geboren wurden und die zu tragen sie auf sich nahmen, welche sie mit einer solchen Aura des Unausweichlichen umgab, dass selbst noch Leser, die sich vergeblich mühten, in Celans Gedichtgeheimnisse einzudringen, doch keinen Augenblick lang deren Authentizität zu bezweifeln vermochten. Und auch jene, die an Celans Gedichten zunächst nur das Äußerliche, das Artifizielle oder Artistische, wahrzunehmen in der Lage waren und Celans Anspruch und öffentlichen Auftritt als unschickliches Hohepriestertum missverstanden, konnten sich doch seiner Ausstrahlung und der Beschwörungskraft seiner Verse auf Dauer nicht entziehen. Unübersehbar war ja zudem, dass Celans Gedichten Zweifel und Selbstzweifel tief eingegraben sind und sie unentwegt ihre eigene Möglichkeit oder Unmöglichkeit reflektieren.

Paul Celans lyrische Rede ist stets ein Sprechen in Widersprüchen, »das vor der Scheidung in Affirmation und Negation halt macht und nicht auf den glatten Aussagesatz hinauswill, sondern sich das volle Spektrum der Unentschiedenheit vor den Gegensätzen zu bewahren sucht« (Beda Allemann). Die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein, von Schrecken und Schönheit, von Leben und Tod, von Gottferne und Gottnähe ist innerster Beweggrund dieser Gedichte, was schon im Titel von Celans erstem Gedichtband, »Mohn und Gedächtnis«, anklingt, der die Antinomie des Verlangens nach Vergessen (Mohn) und der Unmöglichkeit, vergessen zu können (Gedächtnis), metaphorisch verklammert.

Paul Celan bestand stets darauf, kein hermetischer Dichter zu sein. Tatsächlich ist bei ihm nahezu jedes Wort zugleich konkret und symbolisch beladen, »jede Dunkelheit hat bei ihm ihre lichte Entsprechung« (Michael Hamburger). Dennoch bleibt seine Poesie, zumal die späte, deren Anspielungsreichtum kaum mehr zu erschließen ist und die an der Grenze des Sagbaren angesiedelt ist, weitgehend kryptisch. Manchmal gerät sie in die Nähe jenes Stammelns, das Celans Hölderlin-Gedicht im Gedichtband »Niemandsrose« (1963) geradezu zur Pflicht erhob: »Käme, / käme ein Mensch, / käme ein Mensch zur Welt, heute, mit / dem Lichtbart der / Patriarchen: er dürfte, / spräche er von dieser / Zeit, er /dürfte / nur lallen und lallen, / immer-, immer- / zuzu. // (›Pallaksch. Pallaksch.‹)« Auf beschränktem Raum über das wahrhaft Unerhörte von Celans Poesie auch nur einigermaßen Substanzielles auszusagen, ist leider ebenso unmöglich wie deren adäquate Übersetzung in andere Sprachen. Es sind da allenfalls Annäherungen möglich oder Echos. Doppelt erstaunlich, dass gerade Paul Celans Stimme außerhalb des deutschen Sprachraums früh Gehör fand und über seine Poesie in fremden Sprachen inzwischen weit mehr gelehrte Abhandlungen verfasst wurden als in Deutschland.

Eine kritische Anmerkung, Celans berühmtestes Gedicht betreffend, scheint an dieser Stelle unerlässlich. Gab Ingeborg Bachmann (die übrigens erst durch die Begegnung mit Celan als Dichterin ganz zu sich selbst kam) mit ihrem Gedicht »Alle Tage« der von der Restauration abgestoßenen deutschen Jugend so etwas wie ein poetisches Manifest an die Hand, so lieferte Paul Celan mit seiner »Todesfuge« den jungen Nachkriegsdeutschen das Gedicht, mit dem sich gleichzeitig die Schuld der Väter grell illuminieren und ästhetisch kompensieren ließ. Was später eine ganze Generation rebellischer Studenten von Herbert Marcuse lernte, nämlich dem »affirmativen Charakter der Kunst« zu misstrauen, hätte sich an der »Todesfuge«, deren allzu verführerische Metaphorik dem unerträglichen Leiden in den Lagern nachträglich ästhetischen Genuss abpresst, bestürzend exemplifizieren lassen. Celan war sich dieser Problematik bald bewusst, weswegen er den Abdruck der »Todesfuge« in Anthologien und Lesebüchern untersagte und sie bei seinen Lesungen nie mehr vortrug.

Ist Paul Celans Lyrik letztlich ein verzweifelter Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern und zu überschreiten, weswegen etwa Umgangssprachliches in sie so wenig Eingang fand, wie sie den Fundus alltäglicher Banalitäten berücksichtigt, so spielen ebendiese eine beträchtliche Rolle in den Gedichten zweier junger Dichter, die sich 1956 und 1957 erstmals mit Gedichten hervortaten (die ihr Wesentliches später aber in der Prosa, im Roman und im Essay, leisten sollten): Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger. Im Jahr 1956 waren sowohl Gottfried Benn wie Bertolt Brecht gestorben, aber nicht nur deswegen bedeutete dieses Jahr eine Zäsur in der Entwicklung unserer Nachkriegslyrik. Die Bundesrepublik hatte sich wirtschaftlich stabilisiert und ihr sogenanntes Wirtschaftswunder geschaffen, und die DDR, die den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 unbeschadet überstanden hatte, hatte sich politisch konsolidiert und war nicht, wie etwa Ungarn, von einer neuen Zerreißprobe bedroht.

Selbstbewusstsein also hier wie dort, und auffallend war denn auch, mit welchem Selbstbewusstsein der junge Grass und der junge Enzensberger hier und der junge Günter Kunert dort die jeweilige literarische Szene betraten. Schon die Titel der Gedichtbände von Grass und Enzensberger, die beide kurioserweise ein Tier im Wappen führen, signalisierten die neue Stimmung: »Die Vorzüge der Windhühner« (Grass) und »Die Verteidigung der Wölfe« (Enzensberger). Also Groteske und Ironie statt Pathos und Klage: der Titel von Grass ein Plädoyer für kindliche Einbildungskraft und für die Loslösung vom Boden der Tatsachen mittels Phantasie, der Enzensberger-Titel Indiz dafür, wie niederdrückende Betroffenheit nun einer neuen Unbefangenheit und einem Übermut gewichen ist, die den Umstand, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, ziemlich ungerührt ins Gesicht sehen. In der neuen Wohlstandsgesellschaft, so zeigen diese Gedichte, lässt sich wieder hedonistisch und lustvoll amoralisch sein. Beide Dichter verbergen nach Möglichkeit ihren aufklärerischen Impetus hinter der Clowns-Maske (Grass) oder der Zyniker-Maske (Enzensberger), beide geben sich gern vorsätzlich kindlich und liefern sich der Magie der gewöhnlichen Gegenstände und Dinge aus, die sie wie Spielsachen behandeln und durcheinanderwürfeln, nicht ohne gut gespieltes Entsetzen über den üblen Effekt, den ihre Aktivitäten anrichten. Auch dem Vergnügen am schlechten Geschmack lässt sich bereits frönen, es kündigt sich Pop-Art an.

Günter Grass, der in den fünfziger Jahren seinen Wohnsitz noch in Paris hatte und sich primär als Zeichner und Bildhauer verstand, nahm offenkundig den in Paris lebenden Bildhauer Jean Arp zum Vorbild, dessen dadaistische Gedichte damals eine Neuausgabe erlebten. Enzensbergers Vorbilder sind, trotz etlicher Benn- und Brecht-Reminiszenzen, schwerer zu bestimmen. Dieser eminent bewegliche Geist war von Anfang an in der weiten Welt zuhause und brachte von überall her Anregungen mit. Nicht von ungefähr wurde er Deutschlands ergiebigster Anthologist (der uns in seinem 1960 erschienenen »Museum der modernen Poesie« erstmals bekannt machte mit vielen Portalfiguren der Moderne, die wir bis dahin gerade nur dem Namen nach gekannt hatten). Nicht von ungefähr auch, dass Enzensberger den Begriff von der »Weltsprache der modernen Poesie« geprägt hatte (der damals so einleuchtete, wie er heute fragwürdig erscheint). Der gewandte Umgang mit dieser Weltsprache verlieh Enzensbergers frühen Gedichten ihren attraktiven Anstrich, erweist sich von heute aus gesehen aber auch als ihr Handicap. Enzensberger verlässt sich zu oft, übrigens auch im Essay, auf seine Kunst der Überraschung. Anders formuliert: Das Kostüm war ihm stets wichtiger als der Körper. Das verleiht seinem Werk bei aller Brillanz etwas merkwürdig Anämisches und erklärt dessen Hang zur Unentschiedenheit, wie ihn etwa Enzensbergers Bakunin-Gedicht verrät: »Es war damals wohl zu früh, wie immer, / oder zu spät. Nichts hat dich widerlegt, nichts hast / du bewiesen, / und darum bleib, wo du bist, oder, meinetwegen, / kehr wieder«.

Enzensberger hat viele Rollen durchgespielt, er hat ebenso die Autonomie der Kunst verteidigt wie den Tod der Literatur verkündet, er hat in Kuba den Revolutionär und anderswo den Reaktionär gespielt, für den die Apokalypse ein Aphrodisiakum ist. Mit dem jungen Brecht könnte er als Motto über sein Werk schreiben: »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.« Bei den jüngeren DDR-Dichtern machte zunächst dieser frühe anarchische B. B. Schule, sodann der späte didaktisch dürre Brecht, der vielleicht etwas zu genau zu wissen meinte, in welche Richtung sich der Weltgeist zu bewegen hatte. Was man bei Dichtern wie Grass oder Enzensberger an Entschiedenheit vermissen mochte, hatten die DDR-Dichter der fünfziger Jahre an Entschiedenheit entschieden zu viel. Wo die im Westen allzu selbstzufrieden und narzisstisch den Monolog pflegten, verwechselten sich die im Osten mit Missionaren. Sie hatten von Brecht zwar die Kunst des Verbergens der Kunst zu lernen versucht, kopierten seine Lakonie und sein understatement, aber die meisten ihrer Gedichte hatten sozusagen keine Halt gebende Mitte, weil sie die realsozialistische Realität mit ihren Widersprüchen ausklammerten und entweder nur nach rückwärts oder nur nach vorwärts gerichtet waren, entweder einen bereits besiegten Faschismus oder aber eine rosige sozialistische Zukunft beschworen.

Unfreiwillig verrieten allerdings auch die poetischen Antifa-Pflichtübungen noch etwas über die realsozialistische Misere, die Analogien zwischen beiden Systemen ließen sich auf Dauer kaum ausblenden. Weswegen die über sich selbst erschreckten Dichter sich immer häufiger in jene Sprache flüchteten, die Brecht – mit Blick auf die Innere Emigration der vierziger Jahre – »Sklavensprache« genannt hatte. Sie legten sich antike Masken an, bedienten sich der Parabel und Allegorie, schrieben Epigramme und schufen nicht etwa den offiziell geforderten sozialistischen Realismus, sondern einen sozialistischen Hermetismus.

Der eigenwilligste von ihnen, Günter Kunert, 1929 in Berlin geboren, hatte als Sohn einer Jüdin eine »staatlich verpfuschte Kindheit« erlebt. Er empfand die DDR mit ihrer antifaschistischen Führung und Programmgebung zunächst als Alternative zum restaurativen deutschen Weststaat. Seine frühen Gedichte, deren vorherrschendes Thema das Nichtvergehen der Vergangenheit ist, zeigen ihn als freundlichen Skeptiker, der alle großen und erhabenen Worte meidet und seine Gedichte im Sinne Brechts als Gebrauchsgegenstände versteht. Der Hang zum Parabelhaften ist früh ausgebildet bei Kunert und äußert sich, wie etwa im Gedicht »Unterschiede«, in der Form kunstvoller Simplizität: »Betrübt hörte ich einen Namen aufrufen: / Nicht den meinigen. // Aufatmend / Höre ich einen Namen aufrufen: / Nicht den meinigen«. Der Mensch als bloßes Aufruf-Objekt, der entgegen allen Verheißungen auch im Sozialismus entfremdete Mensch, rückt in Kunerts Lyrik dann zunehmend in den Mittelpunkt. Und je tiefer die Kluft zwischen der sozialistischen Verheißung und der sozialistischen Realität wird, desto subjektiver, monologischer und komplizierter wird Kunerts Kunst. Je entschiedener sie alle einmal erlernten Rituale abwehrt, desto mehr geht sie freilich auch ihrer früheren Leichtigkeit und Ironie verlustig. 1977 betitelt Kunert einen Gedichtband, der nicht mehr in der DDR, sondern nur im Westen erscheinen kann, »Unterwegs nach Utopia«, desavouiert aber diesen Titel im gleichnamigen Gedicht gründlich: »Unterwegs nach Utopia / wo keiner lebend hingelangt«. Er empfindet seine DDR-Existenz nun als »Belagerungszustand« und wendet sich im Gedicht dieses Titels implizit ab von Brecht und in Richtung Westen: »dorthin wo das Gespräch über Bäume / kein Schweigen mehr bindet / dorthin wo keiner einem / die Sprache verschlägt«. Der zum Dissidenten gewordene Kunert verlässt die DDR. Schon der Titel seines nächsten Gedichtbandes, »Abtötungsverfahren«, spiegelt die verzweifelte Anstrengung, die seine Auflehnung gegen die eigene Vergangenheit Kunert gekostet hat. In einem der Gedichte dieses Bandes heißt es: »Den Ausgestoßenen allein / gehört der Mut zum nötigen Verrat«.

Zu solcher Art von Verrätern werden mit der Zeit nahezu alle DDR-Dichter von Rang. Und mit Ausnahme von Johannes Bobrowski, Karl Mickel, Heinz Czechowski, Wulf Kirsten und Volker Braun wechseln die meisten von ihnen nach den langen Perioden eines erzwungenen Schweigens in den Westen: Peter Huchel, Reiner Kunze, Kurt Bartsch, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch, Thomas Brasch, Wolfgang Hilbig, Ulrich Schacht. Der älteste und bedeutendste von ihnen, Peter Huchel, hatte sich unter dem Druck der DDR-Verhältnisse, den er besonders massiv zu spüren bekam, fast völlig von der Tradition des naturmagischen Gedichts gelöst und erlangte in seiner späten Lyrik eine schwermütig-abgründige Weisheit, die aus antiken und biblischen Quellen ebenso wie aus mittelalterlicher Mystik und Huchels pantheistischer Privatmythologie gespeist ist. Wo Natur noch erscheint, geht es nicht um das Glück reiner Anschauung, sondern Natur wird zum Zeichen, bekommt gleichnishafte Funktion, wie etwa das auffallend häufig wiederkehrende Bild der Distel. Der lyrische Horizont hat sich gegenüber Huchels frühen Gedichten, die fast ausschließlich in seiner Heimat Mark Brandenburg angesiedelt waren, entschieden erweitert, er reicht von Griechenland und Italien über Frankreich, Schottland und Irland bis in den hohen Norden und nach Fernost und umschließt die Erfahrungen von Gilgamesch oder Odysseus ebenso wie die christlicher Heiliger oder Shakespeare’scher Figuren. Den Bildern der Vereisung, Verfinsterung und Verödung (»Die Öde wird Geschichte«), die in diesen späten Gedichten dominieren, entspricht die gottferne Verlassenheit, von der schon der Titel »Die Neunte Stunde«, den Huchel seinem letzten Gedichtband gab, kündet; die neunte Stunde war jene, in der Christus am Kreuz schrie: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Womöglich nicht weniger als sein alter Freund Huchel vom Gefühl völliger Verlassenheit und von Depressionen heimgesucht, nahm der ebenfalls aus der naturmagischen Schule kommende Günter Eich eine auffallend andere Entwicklung. Auch bei Eich geht ein Riss, ein Bruch durch sein Werk. Sein 1955 publizierter Gedichtband »Botschaften des Regens« markierte einen letzten Höhepunkt des deutschen Naturgedichts, wobei – wie bei Huchel – Natur auch hier vorwiegend Zeichencharakter trägt, rätselhafte Botschaften aussendet, die in der Mehrzahl äußerst beunruhigend sind. Wie fundamental der Bruch mit dieser Art Dichtung war, hat Eich selbst 1971 einmal formuliert: »In meinem Gedichtband ›Botschaften des Regens‹ war ich noch ein Naturdichter, der die Schöpfung akzeptiert hat. Heute akzeptiere ich die Natur nicht mehr, wenn sie auch unabänderlich ist. Ich bin gegen das Einverständnis der Dinge in der Schöpfung. Es ist immer der gleiche Gedankengang: das Nichtmehreinverstandensein.« Hatte Eich in einem seiner frühen Gedichte aus dem amerikanischen Gefangenencamp noch gereimt: »Ungerührt von allem besteht / die Vollkommenheit der Welt. / Gottes eisiger Odem weht / übers Gefangenenzelt«, so äußert sich in seinen späten Gedichten – meist Prosagedichten – das Nichtmehreinverstandensein Eichs mit der Schöpfung in einer anarchischen Lust am Nonsens und Sprachspiel. Je weniger Eich die Natur noch als das »Wörterbuch«, als das Baudelaire sie apostrophiert hatte, empfindet, desto häufiger greift er nun auf wirkliche Wörterbücher, Enzyklopädien und Atlanten zurück und verknüpft deren Inhalte willkürlich zu bizarren Gebilden, die – um ein Adorno-Wort anzuwenden – Chaos in die (vermeintliche) Ordnung bringen. Eich macht sich zum Narren und überspielt so seine Verbitterung. Dass am Ende seine »Maulwürfe« – so der bezeichnende Titel von Eichs letzter Veröffentlichung im Jahr 1968 – nicht nur den subversiven Bedürfnissen der Achtundsechziger-APO-Generation entgegenkamen, sondern gleichzeitig auch ein Maß an Weisheit ausstrahlen, das sie Huchels so anders geartetem Spätwerk ebenbürtig an die Seite stellt, ist so überraschend wie tröstlich. Nur von den ganz Untröstlichen – und Huchel wie Eich zählten zu ihnen – kommt zuletzt Trost.

Eine starke Affinität zu Eichs anarchischer Seite hatte der 1917 in Tilsit geborene Johannes Bobrowski, doch in seinen Gedichten, die 1961 und 1962 in den beiden Bänden »Sarmatische Zeit« und »Schattenland Ströme« erschienen, ist davon rein gar nichts zu spüren. Und auch der Huchel-Einfluss, den Bobrowski selbst bekannte, ist nur ephemer, zeigt sich allenfalls in Bobrowskis melancholisch verschatteter und religiös eingefärbter Naturbeschwörung. In Wirklichkeit jedoch war Bobrowski, der 1965 in Ost-Berlin als Achtundvierzigjähriger starb, einer der eigenwilligsten Einzelgänger der deutschen Nachkriegslyrik, der sich mit Vorliebe der Odenform bediente und mit Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts wie etwa Klopstock – dem »deutschen Milton« – mehr Gemeinsamkeiten hatte als mit Zeitgenossen (von denen er lange Paul Celan massiv ablehnte). Ein Sonderfall war er auch insofern, als er ein relativ unangefochtener Wanderer zwischen zwei Welten war, d. h., die DDR-Behörden gestatteten ihm, seine Gedichte gleichzeitig in Ost- und Westdeutschland herauszubringen. Heißt das, dass sie niemandem wehtaten? Der DDR-Macht hätten sie eigentlich schon deswegen empfindlich wehtun müssen, weil die politische und soziale Realität DDR so rigoros aus diesen Gedichten ausgesperrt ist und in ihnen eine so andere Zeit herrscht – eben die sarmatische Zeit, die Zeit der Nomaden (die Sarmaten waren ein Nomadenvolk, das mit der Völkerwanderung aus der Geschichte verschwand). Die meisten Bobrowski-Gedichte imaginieren jene verlorene und verwüstete östliche Landschaft, der Bobrowski entstammte und in der er als deutscher Soldat Schuld auf sich lud. Es ist die Landschaft der deutschen Ordensritter und der Ikonen, der Pogrome und des Chassidismus, der Pruzzen und Zigeuner, eine Landschaft unheilvollster Geschichte und frommer Legenden. Doch nicht nur auf Landschaften stößt Bobrowski im Labyrinth seiner Erinnerung, sondern auch auf die künstlerischen Gestalten seiner Sehnsucht: Buxtehude, Aleksis Kivi, Petr Bezruč, Joseph Conrad, Adam Mickiewicz, Isaak Babel, die Günderrode, Gertrud Kolmar … Im biografischen Gedicht hat so Eigenartiges wie Bobrowski nur noch der ihm in manchem verpflichtete Wulf Kirsten geleistet. Die Wirkung von Bobrowskis Gedichten beruht neben der beherrschten Trauer, von der sie getränkt sind, vorrangig in etwas Formalem: Die Bewegung des Gedichts wird immer wieder angehalten, gestaut durch überraschende Kommata, Gedankenstriche, neuen Zeilenfall, durch Worte, die Abkürzungen von Sätzen sind. Wenn Bobrowski einmal erklärte, der Vers müsse »wieder mehr Zauberspruch und Beschwörungsformel« werden, so hat niemand so viel für die Einlösung dieser Forderung getan wie er selbst – und Sarah Kirsch, deren Verehrung für Bobrowski sich u. a. in drei auf seinen Tod geschriebenen Gedichten niederschlug und die einen ihrer Gedichtbände ausdrücklich »Zaubersprüche« betitelte.

Die 1935 geborene und 2013 verstorbene Sarah Kirsch war eine unverbesserliche Romantikerin, die mit Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts wie der Günderrode, der Droste, den Arnims oder mit Heine quasi persönlichen Umgang zu pflegen scheint. Ihre Gedichte sind voll von Märchen- und Volksliedmotiven, literarischen Anspielungen und Anverwandlungen archetypischer Muster. Sarah Kirschs Kunst besteht in der angenommenen – also raffinierten – Naivität, mit der sie die Gewalttätigkeiten der Realität auf eine ebenso zarte wie beiläufige Weise ins dichterische Bild bannt, sodass diese gleichsam ihre Schrecken verliert. Der für Sarah Kirsch so charakteristische plötzliche Perspektivenwechsel, der unvermittelte Übergang einer heutigen umgangssprachlichen Diktion in ältere Sprachstile – und umgekehrt – ist bei diesem Verwandlungs- oder Besänftigungsprozess ein effektvoll kalkulierter Anachronismus, bei dem manchmal allerdings – begünstigt noch durch die vielen Diminutive in Sarah Kirschs Gedichten – die Gefahr eines neuen Biedermeier in greifbare Nähe rückt. Sarah Kirschs einzigartige Popularität bei den deutschen Lesern erklärt sich daraus ebenso wie aus der Tatsache, dass diese »Panerotikerin« (Marcel Reich-Ranicki) in ihrer Poesie »grüne« Positionen bezieht und die immer unüberwindlicher werdende Kluft zwischen Mensch und Natur reflektiert, wobei sie ihre Stimme im Namen der missbrauchten und beleidigten Erde erhebt: »… so sieht die Erde am Ende des Tages / Ungewiß wie ein fremder Planet aus / … und ich / Hier auf der Kugel ach wessen Stäubchen / Mit meinen ausgeworfenen Ankern / Kindern Katzen Geliebten einhundert / Tulpenzwiebeln im Erdreich Ranunkel- / Händchen daß ich nicht ausreißen kann / Und mich der Irrsinn nicht anfällt …«

Die Kulturfurcht- und -feindlichkeit der DDR-Machthaber bewirkte, dass sich die Dichter Ostdeutschlands viel enger zusammenschlossen als die im Westen. So war fast die gesamte in den dreißiger Jahren geborene Dichtergeneration nicht nur miteinander befreundet, sondern man bedichtete sich auch gegenseitig, verspottete und verteidigte sich und lebte in einer Art losem Kollektiv, das Sarah Kirsch gern »unsere Truppe« nannte (wobei sie mehr an Akrobaten und Gaukler als an etwas Militärisches dachte). Zu dieser »Truppe« zählte als Jüngster und Auffälligster auch der 1939 geborene Volker Braun, dessen Werk – Dramen, Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays – denkbar größten Gegensatz zu dem Sarah Kirschs darstellt, obwohl auch hier erst einmal die vielen Rückgriffe auf klassische Muster – auf Klopstock, Goethe, Hölderlin, Hegel – ins Auge fallen. Volker Braun bedient sich der Klassiker nicht in affirmativem, sondern in strikt aufklärerischem Sinn, wovon schon ein Buchtitel wie »Training des aufrechten Gangs« Zeugnis ablegt, der dem damals noch in Leipzig lehrenden Philosophen Ernst Bloch verpflichtet ist, dessen »Prinzip Hoffnung« als eine Bibel der Neuen Aufklärung und als Gegenentwurf zu Heideggers »Sein und Zeit« betrachtet wurde.

Von heute aus lässt sich sagen, dass Volker Braun der einzig authentische Dichter des DDR-Sozialismus war – und ist. Denn trotzig insistiert er bis heute auf Einlösung seiner Träume von einer Gesellschaft wahrhaft freier Menschen und ist nicht bereit, seinen Anspruch auf Totalität aufzugeben, auch wenn er erkennen musste, dass dieser total pervertiert wurde in der DDR, die dem westlichen Sozialdarwinismus seinen Sieg nicht gerade schwer machte. Die frühen Gedichte Volker Brauns, mit denen er in den sechziger Jahren sofort auch über die innerdeutsche Grenze hinaus gehört wurde, sind erfüllt von einem Pioniergefühl und einer Aufbruchstimmung, wie sie die Poeme Majakowskis und anderer Dichter der jungen Sowjetunion ausstrahlten. Volker Braun, selbst jahrelang in der Industrieproduktion tätig, spricht da zu denen, die wie er ein neues und besseres Deutschland errichten wollen. Sein Ton ist salopp, drastisch, polemisch, pathetisch. Die spätbürgerliche Welt wird dem Gespött preisgegeben. »Wir und nicht sie« ist ein Braun-Gedichtband betitelt – in Anlehnung an die Klopstock-Ode »Sie und nicht wir« von 1790, mit der dieser die Französische Revolution gefeiert und gleichzeitig betrauert hatte, dass nicht Deutschland »der Freiheit Gipfel« erstieg. Jetzt also soll, nach Braun, wenigstens die östliche Hälfte Deutschlands Klopstocks revolutionären Traum einlösen. Volker Braun bleibt stets ganz nahe an der DDR-Realität und der spezifischen DDR-Sprache, sodass viele seiner Gedichte im Westen geradezu exotisch wirken. Doch gerade weil dieser Dichter sich so genau und unbestechlich auf DDR-Realität einlässt, muss er immer mehr Widersprüche in das Raster seiner Dialektik aufnehmen, deren Scharniere immer schriller quietschen, deren Mechanik rattert und stottert, bis schließlich, nach dem Zusammenbruch der DDR, in Brauns selbstanklägerischem Gedicht »Das Eigentum« die dialektische Volte erfolgt mit dem Eingeständnis: »Und unverständlich wird mein ganzer Text: / Was niemals ich besaß wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen«. Glaubwürdiger und bewegender hat sicher niemand jener Utopie nachgetrauert, der den Totenschein auszustellen heute wie eh und je bequemer ist, als auf ihrer Erfüllung zu bestehen.

Im Westen Deutschlands – um noch einmal einen Blick auf die so anders geartete literarische Szene der sechziger und siebziger Jahre hier zu werfen – waren viele der jungen Dichter in den Sog der APO geraten, hatten den Tod der Kunst proklamiert und womöglich sogar zum bewaffneten Kampf gegen das Establishment aufgerufen. Das revolutionäre Posieren entpuppte sich freilich bald schon als fauler Zauber, der über die völlige Entzauberung der Welt hinwegtrösten sollte. Selbst noch die berechtigte Empörung über die Ereignisse in Vietnam diente größtenteils der Kompensation, entsprang dem Überdruss an einer Überflussgesellschaft, der zu entkommen unmöglich schien. Die »Kinder von Karl Marx und Coca-Cola«, wie Jean-Luc Godard sie apostrophiert hatte, hielten sich jetzt wieder mehr an Coca-Cola und ihre ganz privaten Bedürfnisse, zu denen unbedingt auch eine Amerika-Reise gehörte. Es brach die Zeit der literarischen Rückzugsgefechte und der Nachzügler an. Ebenso wie der revolutionäre war ja der avantgardistische Impuls fast verschwunden, »jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug«, dekretierte Hans Magnus Enzensberger.

Gemessen an den lyrischen Leistungen der fünfziger Jahre beherrschte nun eine ziemlich gesichtslose Generation das lyrische Feld, deren Gedichte einander zum Verwechseln ähnlich sind. Die Grenzen zwischen Poesie und Prosa haben sich bis zur Ununterscheidbarkeit verwischt, und so wenig wie sprachliche darf man reflektive oder gar philosophische Anstrengung von diesen grauen und grämlichen Gebilden erwarten. Die unartifizielle Gedichtsprache wird allen Ernstes von verwirrten Veteranen der Achtundsechziger-Bewegung als »Demokratisierung des Gedichteschreibens« (Jürgen Theobaldy) deklariert. »Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist«, fordert Nicolas Born, »weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern«. Entsprechend betitelt er seinen ersten Gedichtband so prosaisch wie denkbar »Marktlage«. Eindimensionalität und Punktualisierung der Wahrnehmung ist Trumpf, es regiert die Tautologie der Trivialität und der Fotorealismus (wie er gleichzeitig in der Malerei aufkommt).

Am überzeugendsten erscheint dieses gleichsam fotografische Sehen in den Gedichten Jürgen Beckers, die sich strikt dagegen sperren, mehr als einen jeweils ebenso zufälligen wie schmalen Ausschnitt der Alltagswirklichkeit wiederzugeben, aber durch die Konsequenz und die Kontinuität, mit der sie diese Art von gleichsam tagebuchartiger Wahrnehmung betreiben, den bloßen Oberflächenphänomenen dann doch einen spröden Reiz abgewinnen. Zweifellos den attraktivsten Appeal haben die Gedichte des 1940 geborenen Ralf Dieter Brinkmann, der in den sechziger Jahren die beiden Anthologien amerikanischer Pop- und Underground-Poesie »Acid« und »Silverscreen« herausgab und selbst mehr als jeder andere deutsche Dichter von den Errungenschaften der darin präsentierten Autoren profitierte. Auch Brinkmanns Gedichte sind meist »snap-shots«, doch diese stammen mehr aus dem medialen Milieu der Subkultur als aus jener Alltagswirklichkeit gesichtsloser deutscher Vorstädte, die Jürgen Beckers sprachliches Objektiv einfängt. Bestürzend ist die unterschwellige Aggressivität dieser Gedichte, die Ausdruck einer nur mühsam maskierten Verzweiflung ist und sich undifferenziert gegen alle und alles richtet. »Monster« und »Mumien« sind für Brinkmann gleichermaßen die oben und die unten, die Linken und die Rechten, er sieht sich umstellt von »Herdenmentalität« und eingesperrt in sprachliche Zwangssysteme, denen zu entkommen nur um den Preis des Verstummens möglich scheint. In seinen besten Gedichten gelang es Brinkmann aber, aus seiner von Ekel, Hass und Selbsthass genährten Abwehrhaltung herauszufinden und ganz luftige, gelöste lyrische Gebilde zu schaffen, in denen die Nichtigkeit und Flüchtigkeit der Dinge dieser Welt ohne Bitterkeit, ja mit einer Art von heiterem Wohlwollen hingenommen wird.

Es ist verständlich, dass in den siebziger Jahren angesichts der inflationären Ausbreitung einer ebenso unartifiziellen wie emotionslosen Lyrik das öffentliche Interesse an Poesie rapide nachließ. Gleichzeitig besannen sich jene wenigen, denen überhaupt noch an Lyrik lag, auf die bewussten Abweichler von der lyrischen Norm, auf Dichter wie etwa Rainer Brambach, Walter Helmut Fritz, Christoph Meckel, Rolf Haufs, Manfred Peter Hein, Alfred Kolleritsch, die unbeirrt durch literarische Moden oder mangelnde öffentliche Anerkennung schon immer das Existenzrecht der Poesie auf jeweils unverwechselbare und unspektakuläre Weise verteidigt hatten. Und es gerieten jetzt endlich auch jene ins Blickfeld, die sozusagen gar keine Wahl hatten und wie unter Diktat ihrer Not und inneren Bewegung ein Ventil im Gedicht schaffen mussten, wie etwa Christine Lavant. Diese 1919 als neuntes Kind eines Bergmannes geborene und zeitlebens schwer kranke und depressive Kärntner Dichterin, die sich und ihrem invaliden Mann mit Stricken den Lebensunterhalt verdiente, schrieb Gedichte von einer geradezu erschreckend elementaren Gewalt und halluzinatorischen Besessenheit. In diesen Gedichten wird Kafkas Wort, dem zufolge das Gebet die höchste Form der Dichtung sei, wahrhaft eingelöst, wenn es sich dabei auch eher um »Lästergebete« handelt (so hat der Trakl-Mentor Ludwig von Ficker diese Lavant-Gedichte umschrieben). In der uralten lazarenischen Sprache – der Sprache der Trunkenen, Irren, Besessenen und Aussätzigen – hadert die Dichterin mit der missglückten Schöpfung, in der Kain gesiegt hat, und mit einem Gott, der gegenüber der wehrlosen Kreatur »als Werwolf haust«. Es war Thomas Bernhard, der zuletzt noch seine ganze Reputation in die Waagschale warf und mit einer von ihm besorgten Lavant-Gedichtauswahl die Aufmerksamkeit auf diese von Gott und den Menschen geschlagene Metaphysikerin zu lenken versuchte.

Die Wiederentdeckung Ernst Meisters, eines anderen Dichters von vibrierender metaphysischer Unruhe, war Peter Handke und Nicolas Born zu verdanken, die 1976 den renommierten Petrarca-Preis für Poesie zwischen Sarah Kirsch und Ernst Meister aufteilten. Der 1911 geborene westfälische Dichter Ernst Meister, der von der Sprachphilosophie Martin Heideggers und von der Theologie herkam, hatte kurz vor Hitlers Machtergreifung bereits einen Gedichtband publiziert (der ihm den Ruf eines »Kandinsky der Lyrik« eintrug), nach 1933 aber geschwiegen. In der Nachkriegszeit blieb er, obwohl jetzt in kurzer Folge relativ viele Gedichtbände von ihm herauskamen, so gut wie unbeachtet, vermutlich weil man seine Lyrik für gedanklich überfrachtet hielt. Tatsächlich war für Ernst Meister Dichten immer – im Sinne Paul Valérys – identisch mit Denken. Seine Lyrik bezieht ihre eigene Tiefenwirkung vom endlosen »Erstaunen darüber, dass überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts« (E. M.). Sie ist in einer Art stoischer Meditation auf den endlichen Stillstand des Universums gerichtet, nicht auf Sozietät also, sondern auf Transzendenz. Ihr Charakteristikum ist die permanente Reduktion: Ernst Meister »löst die Extensität des Satzes auf zugunsten der Intensität des Einzelwortes und seiner ihm innewohnenden Bewegung« (Gregor Laschen). Dieses Reduktionsverfahren und die Konzentration auf das Unsagbare rückt Meisters Lyrik in die Nähe der späten Lyrik Paul Celans, auf die sie gelegentlich auch direkt antwortet.

In den Jahren der Rückbesinnung und Revisionen kamen auch einige jener unentwegt und unerschrocken experimentierenden Autoren wieder zur Geltung, die sich als Nachfahren des Barock, des Surrealismus oder Dadaismus verstanden und dem Ernst der Stunde ihren verspielten Unernst entgegensetzten, in Lautgedichten, Textcollagen, Dialektgedichten, Bildgedichten und öffentlichen Aktionen. Sieht man von dem Siebenbürgener Oskar Pastior ab, der wohl der radikalste unter ihnen war und bei dem die Lust am Sprachspiel sich stets mit einem erkenntnistheoretischen Impetus paart, so stammen die meisten von diesen Autoren aus der sogenannten Wiener Gruppe, so Gerhard Rühm und H. C. Artmann, beide Virtuosen der ironischen Aneignung fremder, verschollener oder verachteter literarischer Muster (H. C. Artmann darüber hinaus der Erwecker des Dialektgedichts, das bei ihm alle Gemütlichkeit abgelegt hat und aus Herzensgrund böse ist). Die größte Breitenwirkung unter allen experimentellen Autoren war dem 1925 geborenen Wiener Ernst Jandl beschieden, der tangential zur »Wiener Gruppe« seine Sprachexperimente entwickelte und mit seinem Gedichtband »Laut und Luise«, den jahrelang kein Verleger hatte drucken wollen, Ende der siebziger Jahre für gewaltige Irritation im literarischen Betrieb sorgte.

Die meisten der sogenannten seriösen Literaturkritiker hielten damals Jandls Gedichte überhaupt nicht für Gedichte, einer verglich sie sogar mit »Säuglingslallen«. Tatsächlich hat Jandl eine Vorliebe für primitive – besser: kindliche – Sprachgesten. Radikaler Sprachzweifel verbindet sich bei ihm mit einer enormen Lust am Sprachspiel, am Zerschlagen oder Verschieben der Syntax. Der Laut, die Lautwirkung, sind Jandl wichtiger als der syntaktische Sinnzusammenhang. Natürlich sind Jandls Lautgedichte ganz an seine Stimme, an den öffentlichen Auftritt gebunden, weswegen Jandl-CDs noch erfolgreicher sind als Jandl-Bücher. Übersetzbar sind leider lediglich jene Gedichte, die den syntaktischen Zusammenhang einigermaßen wahren. Ein Teil von ihnen ist – wie etwa der Zyklus »Der gewöhnliche Rilke« – amüsante Abwehr von Sakrosanktem und Sanktioniertem, die Jandl jener Gewöhnlichkeit preisgibt, die auch das Seinsfundament alles ästhetisch Ungewöhnlichen bildet: Auch Rilke tropft die Nase, auch ihn drückt der Schuh, auch er muss auf den Abort.

Und wie geht es nun weiter? Zu Beginn der neunziger Jahre scheint alles disparat, anything goes – rien ne va plus. Es herrscht ein buntes Treiben von Stilrichtungen und Autoren, denen nur noch eines gemeinsam ist: das verlorene Gott- und Weltvertrauen. Auch den jungen und jüngsten Dichtern, die übrigens in dem Maße an Zahl zuzunehmen scheinen, in dem Lyrik an öffentlicher Bedeutung abnimmt, ist nichts sakrosankt – und wenn sie sich ästhetisch überhaupt an Früherem orientieren, dann eher an Experimenten der Jandl-Art oder an amerikanischer Pop-Poesie als am hermetischen Gedicht der Paul Celans oder Ernst Meisters. Das appellative Gedicht ist diskreditiert, das hermetische hat alle Möglichkeiten erschöpft. Die Wahrheiten sind so gründlich verbraucht wie die Irrtümer, weithin herrscht jene blasse Beliebigkeit, die den Namen Postmoderne trägt.

Auch die Schubladen jener jungen DDR-Lyriker und DDR-Dissidenten, von denen man nach der Wiedervereinigung gehofft hatte, sie würden überquellen vor verborgenen verbotenen Schätzen, erwiesen sich als leer oder jedenfalls ziemlich unergiebig. Die meisten dieser Jungen hatten ihre Energie offenbar für die krampfhafte Nachahmung jener lyrischen Muster verbraucht, die im Westen schon wieder museal geworden waren. In der DDR, wo »alle entmündigt waren« und »die beste Zuflucht ein geschlossener Mund« war, wie es in einem Gedicht von Durs Grünbein heißt, durfte man sich vielleicht nur noch an jene »Ruinenwerte« halten, von denen in Grünbeins Dresden-Gedicht die Rede ist: Nur das Ruinöse in allen seinen Ausformungen schien dort imstande, der staatlich verordneten Positivität Widerpart bieten zu können. Wenn Durs Grünbein erklärte, »das Zeitalter Solschenizyns« sei »endgültig vorbei«, so sollte das heißen, dass die Schrecken und Katastrophen der Epoche nicht länger mit den Mitteln der Aufklärung oder mit Widerstand beantwortbar seien, sondern nur noch mit Sarkasmus und Zynismus oder am besten mit purer Idiotie, wie sowjetische Autoren der inoffiziellen Szene – etwa Wladimir Sorokin oder Dmitri Prigow – das vorgemacht hatten, die »mit dem spezifischen totalitären Material so frei umgingen wie jenseits des Atlantik die Pop-Art mit den Zeichen der Werbe- und Warenwelt« (Grünbein).

»Subversion durch Affirmation«, nach dieser Grünbein-Devise verfahren heute viele der jüngeren ehemaligen DDR-Dichter, für die Wirklichkeit nur noch als Wirklichkeit aus zweiter Hand existiert, in der die Synthetics herrschen und schlechthin alles Ersatz ist – sogar das Leben selbst: »Was heißt schon Leben? / Für alles gibt’s Ersatz« (Durs Grünbein). Anything goes – rien ne va plus.

November 1993 (Vorwort für eine nie erschienene Anthologie deutschsprachiger Lyrik nach 1945, die Joachim Sartorius für einen US-amerikanischen Verlag herausgeben sollte).

Die Welt verdient keinen Weltuntergang

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